Ein bekennender Opponent

«Das linke Ohr» ist ein umfangreiches Porträt des Komponisten Jacques Wildberger, das auch einige Werke exemplarisch vorstellt.

Vor vier Jahren gedachte die Musik-Akademie Basel ihres einstigen Lehrers Jacques Wildberger (1922–2006) mit der Ausstellung Das linke Ohr (SMZ 1_2/2018). Nun, zum hundertsten Geburtstag des Komponisten, lässt sie unter dem gleichen Titel einen dicken und reichhaltigen Dokumentationsband folgen. Der Herausgeber Michael Kunkel, Leiter der Forschung an der Hochschule für Musik und damals schon für die Ausstellung verantwortlich, kann hier auf einen reichen Quellenschatz an Texten, Skizzen, Partituren und Bildern zurückgreifen, konnte das Material aber auch einer renommierten Autorengruppe zur Verfügung stellen. Diese geht, mit liebevollem, aber durchaus auch kritischem Blick, auf einzelne Aspekte in Leben und Werk ein.

Da ist gewiss zuvorderst der politische Komponist – was dem Buch ja auch seinen Namen gibt. Wildberger war Kommunist, wenn auch nur kurz in der Partei, er interessierte sich brennend für aktuelle Fragen, die er ins Zentrum seiner Musik stellte. Wenn er sich später seltener mit konkreten politischen Äusserungen hervortat, so war sein existenzialistischer Ansatz doch deutlich vom Zeitgeschehen geprägt – ähnlich wie bei Bernd Alois Zimmermann, mit dem ihn eine Freundschaft verband. Früh schon ging er aber auch musikalisch auf Opposition, etwa dadurch, dass er bei Wladimir Vogel Komposition, genauer: Zwölftonkomposition, studierte und sich damit vom helvetischen Mainstream wegbewegte. Vielen galt er deshalb als «Nestbeschmutzer»: «In den meisten Rezensionen meiner ersten Werke ergoss sich der Kübel des Zorns über mein armes Haupt.» In Darmstadt und Donaueschingen hingegen war er gern gesehen, aber auch da folgte er nicht einfach den Trends. Einzelne Werke werden hier exemplarisch porträtiert, etwa seine mathematisch-politische Action documentée Epitaphe pour Evariste Galois (1962) oder sein sechsteltöniges Kammerkonzert (1995/96).

Daneben war Wildberger ein engagierter Hochschullehrer sowie ein stets offener Gesprächspartner – was sich in einigen Briefen an Komponistenkollegen wie Luigi Dallapiccola oder Helmut Lachenmann dokumentiert. Wunderschön etwa, wie er letzterem antwortet, als dieser in ihm einen «tiefreligiösen Humanisten» vermutet: Er könne nicht glauben, «dass dieser Gott [des Christentums] existiert, weshalb ich zum Atheisten geworden bin – eine unkomfortable Situation übrigens». Wildberger war ein bekennender Opponent. Der schöne, fast 1,7 Kilo schwere Band enthält so auch zahlreiche Selbstzeugnisse Wildbergers, nicht nur ein spätes Interview mit dem Herausgeber, sondern auch einige Texte, die sich nicht im bislang massgeblichen Wildberger-Buch von Anton Haefeli finden (Jacques Wildberger oder die Lehre vom Andern, Hug 1996). Alles in allem: ein optimaler Grund, sich wieder einmal in die Musik Wildbergers zu vertiefen.

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Das linke Ohr. Der Komponist Jacques Wildberger, hg. von Michael Kunkel, 555 S., € 50.00, Pfau, Friedberg 2021, ISBN 978-3-89727-556-0

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