Impulse und Gemeinplätze

Sammelband mit zwölf Aufsätzen zu neuen Impulsen für den Konzertbetrieb.

«Musikvermittlung» ist en vogue, steht aber in Anführungszeichen. Schon in der Schule wird manchen Kindern Klassik nähergebracht, hoffentlich auch mal Beatles gehört, rhythmisch spielerisch gerapt oder gesungen. Im klassischen Konzert gibt es den Einführungsvortrag für Erwachsene, auch das Programmheft, unter Umständen kurze Moderationen der Interpreten. Als «Musikvermittler» sind nebst Musikjournalisten auch Kuratoren tätig. Letztere stellen Programme möglichst sinnvoll zusammen, suchen vielleicht mal ungewöhnliche Konzertformate, neue Orte, neue Rezeptionsformen.

Das Konzertpublikum der Zukunft nennt sich ein Sammelband des Bielefelder Verlags Transcript, der vorwiegend Texte einer 2019 durchgeführten Tagung an der Hochschule der Künste Bern bietet. Im Wesentlichen kreisen die Inhalte um letztgenannten Punkt: Wie können «spannende», neue Formate aussehen, die eben nicht dem Mainstream traditioneller Konzertinstitutionen folgen? Der Ausgangspunkt ist für die meisten Autoren klar. «Künstliche Hüftgelenke» hatte das «klassische Konzert» schon vor Corona, konzediert die Mitherausgeberin Barbara Balba Weber, «Corona hat ihm den Todesstoss verpasst» (S. 219).

Nun ja, das ist nicht mehr als eine steile These, die schon merkwürdig klingt, wenn Abertausende Musiker jährlich die Hochschulen und Akademien verlassen. Dazu kommt: Viele Menschen sehn(t)en sich angesichts überwiegend trauriger Live-Streams nach Live-Aufführungen, nach Begegnungen, auch nach einer Klangqualität, die nicht annähernd mit Kopfhörern oder noch so teuren Surround-Heimanlagen reproduzierbar ist. Zudem gibt es Orte, wo Konzerte weiterhin gut funktionieren, wo Säle gefüllt sind nicht nur mit Menschen jenseits der Siebzig. Kurz: Der forsch-sendungsbewusste Ton Webers und manch anderer Autoren verstört.

Dessen ungeachtet bietet der Sammelband mit zwölf Aufsätzen erhellende Einsichten. Oft von Impulsen aus der Neuen Musik gespeist, geht es auf 229 Seiten um Mitmachkonzerte, um Improvisation, vor allem auch um neue Orte. Anja Wernicke berichtet vom Festival Zeiträume in Basel, wo man seit 2015 Outdoor-Konzerte – in der Tradition ländlicher Konzerte beim Festival Rümlingen – in den städtischen Raum verlagert und so Bezüge schafft zur Architektur und zu bestimmten Sozialmilieus. Catriona Fadke, Hannah Schmidt, Juri de Marco und Viola Schmitzer stellen ihr Stegreiforchester vor. Im ausverkauften Berliner Radialsystem spielte, improvisierte man mit Elementen aus Beethovens IV. Symphonie – offenbar zur Freude des Publikums, das sich frei im Konzertraum bewegen konnte.

Natürlich dürfen Schlagworte der aktuellen Kulturpolitik nicht fehlen: Begriffe wie «Digitalität, Nachhaltigkeit, Diversität, Prozessoffenheit, Partizipation» spielen verschieden gefärbt immer wieder ihre Rollen. Die Soziologin und Musikwissenschaftlerin Susanne Keuchel schreibt von «vielen spannenden didaktischen Musikkonzepten», die erreicht werden könnten, wenn über «Apps zusätzlich zum Klang des Orchesters partizipative digitale Mitspielaktivitäten geschaffen werden» (S. 36). All das mag gut gemeint sein, scheint sich tendenziell jedoch zu entfernen von jenen (nicht nur älteren!) Menschen, die einfach nur eines wollen und dürfen: Konzentriert mit anderen Menschen Kunst erleben. Ohne viel Worte, ohne Fragen nach Sinn und Zweck, letztlich auch ohne Fragen nach einer Zukunft, die per se schwer einschätzbar ist.

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Irene Müller-Brozovic, Barbara Balba Weber (Hg.): Das Konzertpublikum der Zukunft – Forschungsperspektiven, Praxisreflexionen und Verortungen im Spannungsfeld einer sich verändernden Gesellschaft, 229 S., € 33.00, Transcript, Bielefeld 2022, ISBN 978-3-8376-5276-5
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