Der grosse Unbekannte

In einer brillant geschriebenen Biografie verortet Laura Decurtins den Komponisten Gion Antoni Derungs in einem reichen kulturhistorischen Panorama.

Trotz seines immensen kompositorischen Schaffens gehört der Bündner Komponist Gion Antoni Derungs (1935–2012) zu den grossen Unbekannten in der Schweizer Musiklandschaft. Sein Œuvre umfasst mehrere hundert Kompositionen, darunter zehn autobiografisch deutbare Sinfonien und mehrere abendfüllende Opern. Und dennoch: Ausserhalb Graubündens wird Derungs’ Schaffen – mit Ausnahme einiger Chorkompositionen – wenig gewürdigt. Einen gewichtigen Beitrag hin zu einer adäquaten Anerkennung liefert nun die Bündner Musikwissenschaftlerin Laura Decurtins mit einer Biografie über den Komponisten. Diese enthält zugleich ein gut strukturiertes Werkverzeichnis, das von Thomas Järmann erstellt und von Decurtins überarbeitet wurde. Die in Chur aufgewachsene Decurtins ist keine Unbekannte in der Erforschung der Musik ihres Heimatkantons. Mit der Derungs-Biografie legt sie nach ihrer 2019 publizierten Dissertation Chantai rumantsch! innert kürzester Zeit ein weiteres Buch über die Musik Graubündens vor.

Bunte Kulturgeschichte

Laura Decurtins zeichnet in der rund 220 Seiten umfassenden Biografie nicht nur die Lebensabschnitte Derungs’ nach – von seiner Herkunft in der Sursevla, über seine Ausbildung in Zürich bis zu seinen Wirkungsstätten Lichtensteig und Chur –, sondern verortet den Komponisten in einem bunten kulturhistorischen Panorama, was die Lektüre des Buches zu einem grossen Vergnügen macht. Über den Schulalltag in der Klosterschule Disentis erfährt man im Buch ebenso etwas wie über das musikalische Milieu im Zürich der Fünfzigerjahre mit seiner Affinität zur Unterhaltungsmusik oder über die Musikpflege am Lehrerseminar in Chur.

Decurtins verlässt dabei oftmals geschickt das chronologische Erzählen und leuchtet verschiedene Themenfelder ergiebig aus, etwa mit einem Blick in Derungs’ Komponistenwerkstatt oder der Einordnung seines Wirkens als Instrumentallehrer, Chordirigent und Domorganist.

Im Romanischen verwurzelt

Innerhalb der in acht Kapitel gegliederten Biografie flicht Decurtins erhellende Werkanalysen ein, die von ihr subjektiv gewichtet werden. Derungs interessierte sich für die neuen musikalischen Wege, die an den Darmstädter Ferienkursen eingeschlagen wurden. Er durchlief die Schule der Avantgarde, liess jedoch die romanische Kultur nie hinter sich. Dadurch entstanden Kompositionen in einer ganz eigenen Stilistik, die aus der Auseinandersetzung mit seiner Heimat gespeist werden.

Sein vierstimmiges, im Jahr 1959 komponiertes A-cappella-Stück Sut steilas geniesst in der Chorszene schon jetzt Kultstatus. Mit Il cerchel magic wiederum gelangte Mitte der Achtzigerjahre die erste romanische Oper überhaupt auf die Bühne. Derungs Œuvre umfasst von sehr zugänglichen Stücken bis zu avancierten Klängen eine grosse Bandbreite. Die brillant geschriebene Biografie von Laura Decurtins verführt zu dessen Neuentdeckung.

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Laura Decurtins: Der Bündner Komponist Gion Antoni Derungs (1935–2012). Eine musikalische Biografie, 416 S. (davon ca. 200 S. Register und Werkverzeichnis), Fr. 48.00, Chronos, Zürich 2022, ISBN 978-3-0340-1666-7

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