Gesang im 20. und 21. Jahrhundert

Im Handbuch «Stimmen – Körper – Medien» stehen die Anforderungen aktueller Musikstile an die Stimme und pädagogische Aspekte im Zentrum.

Nelly Melba singt 1920 in ein Mikrofon. Foto: Library of Congress

Ein Foto der legendären Nelly Melba bei einer Radioaufnahme 1920 ziert als Titelbild den zweiten Band des «Handbuchs des Gesangs» aus dem Laaber-Verlag. Dieses Foto hält einen grossen und entscheidenden Moment fest, der der Entwicklung der Gesangskunst und ihrer Rezeptionsgeschichte eine neue Bahn öffnete.

Einer der Herausgeber dieses Buches, Thomas Seedorf, legte erst 2019 ein Handbuch der Aufführungspraxis Sologesang vor, das eine Fülle von Informationen für das Singen Alter und Neuer Musik enthält (Bärenreiter). Es widmet sich der Vokalpraxis von 1600 bis zur Gegenwart, Stimmtypen, Gesangsästhetik, Ornamentik und Deklamation, setzt aber seine Schwerpunkte im 17., 18. und 19. Jahrhundert. Die Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts werden eher am Rand mit einem Kapitel über Neue Musik und moderne Notation gestreift.

So schliesst das neue Handbuch mit dem Titel Stimmen – Körper – Medien, Gesang im 20. und 21. Jahrhundert inhaltlich an die bereits vorliegende Arbeit an. Es öffnet einen neuen Blickwinkel auf Stimme und Körper auf der Bühne, und zwar in Song und Chanson des populären Musiktheaters wie auch auf der Opernbühne, widmet sich dem Singen als kultureller Praxis, dem Chorgesang als globalem Phänomen. Nicht mehr wegzudenken ist die Auseinandersetzung mit modernen Medien, mit Transformationen der Gesangsstimme durch Tonträger, Studiotechnik und Digitalisierung. Die Ästhetik populären Gesangs im 20. und 21. Jahrhundert stellt andere und neue Anforderungen an eine Gesangsstimme, wo Sprechen, Rufen und Schreien in Pop- und Jazzgesang nicht nur erlaubt sind, sondern dem vokalen Ausdruck von Gefühlen dienen, wo ihre Mitspieler Mikrofone und Toningenieure sind.

Ein grosses Kapitel widmet sich den Fragen der Pädagogik und Therapie. Nie war die Vielfalt von Klangästhetik und stilistischer Erweiterung grösser als heute. Man denke an Pop, Rock, Soul, Jazz und Musicalgesang, an Tango und Indie -Gruppen, an Obertonsingen und Jodel, an experimentelle Geräuschhaftigkeit und Klangkreationen der Neuen Musik – neben dem Ideal des klassischen Gesangs, der offensichtlich nichts an Attraktivität eingebüsst hat; man schaue sich die Anmeldezahlen an den Hochschulen an …

Das Kaleidoskop stimmlicher Vielfalt spiegelt sich in einem äusserst pluralistischen Angebot von Gesangsunterricht, das im Buch thematisiert wird, reichend von chorischer Stimmbildung über funktionale Stimmarbeit, über verschiedenste Pop-Gesangsschulen und sogenannter Belcantotechnik hin zu Stimmarbeit verbunden mit Körper- und Atemschulung. Methodenvielfalt wird zu einem attraktiven Qualitätsmerkmal gesangstechnischer Unterweisung, Vernetzung statt Abgrenzung heisst das Zauberwort.

Das Handbuch endet philosophisch: Macht Singen glücklich? «Ja», lautet die Antwort! Die Frage ist, warum… Weshalb wirkt das Tönen, das Erschallenlassen der eigenen Stimme, das ungehinderte Sich-Entfalten derselben, euphorisierend?

Stimmen – Körper – Medien: Gesang im 20. und 21. Jahrhundert, hg. von Nils Grosch und Thomas Seedorf, (= Handbuch des Gesangs 2), 396 S., € 98.00, Laaber, Lilienthal 2021, ISBN 978-3-89007-906-6

 

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