Röntgen? Ein Musiker?
Diese späten Streichtrios liefern nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten spätromantischer Musik nach.

Wer bei Julius Röntgen zuerst an die diagnostischen Möglichkeiten radioaktiver Strahlen denkt, liegt nicht ganz falsch. Der deutsch-niederländischer Pianist und Komponist (*1855 in Leipzig, †1932 in Utrecht) war entfernt verwandt mit dem Physiker Wilhelm Conrad Röntgen (1845-1923). Julius Röntgens jüngster Sohn Joachim wirkte ab 1928 als Konzertmeister des Stadttheaters Winterthur und war 1938/39 Erster Violinist im Festspielorchester Luzern unter Toscanini.
Als Komponist ging Julius Röntgen aus der konservativen Leipziger Schule hervor, war mit Brahms verbunden, nahm aber auch Einflüsse von Grieg, Reger und Debussy auf. Er schrieb 21 Sinfonien, 14 Konzerte, zwei Opern sowie Lieder und Kammermusik. In jüngster Zeit werden seine Kompositionen neu entdeckt. Bereits liegen auf neun CDs die Sinfonien 3, 8, 15 und 18 sowie die Violin-, Violoncello- und Klavierkonzerte vor (alle bei cpo).
Und nun hat das Offenburger Streichtrio Röntgens späte Streichtrios eingespielt. Der Cellist Martin Merker, seit Jahren auch als Cellist der Camerata Bern tätig, schreibt in seinem informativen Booklet-Text: «Die Streichtrios komponierte Julius Röntgen ausschliesslich für das gemeinsame Musizieren im Familienkreis mit seinen Söhnen, wobei der Komponist selbst die Bratschenstimme übernahm.»
Eingespielt wurden die Trios Nrn. 13 bis 16 aus den Jahren 1925–1930. Sie stehen stilistisch ausserhalb ihrer Zeit, sind weit entfernt von dissonanter oder gar atonaler Harmonik, wirken aber nie langweilig oder gar abgedroschen. Es handelt sich durchwegs um Kompositionen auf hohem handwerklichem und künstlerischem Niveau. Röntgen verfügte auch über neuere kompositorische Techniken, wie seine letzten Werke zeigen, in denen er mit Atonalität, Bitonalität und Jazz-Einflüssen experimentierte. In den Streichtrios kommen sie aber nicht zum Einsatz.
Das Trio Nr. 13 in A-Dur (1925) klingt ein wenig – wenn auch ohne direkte stilistische Reminiszenzen – nach Schubert, Mendelssohn und Brahms. Im Trio Nr. 14 in c-Moll (1928) wird der eigene Tonfall Röntgens schon deutlicher, ein delikates und originelles Ausloten nicht ausgeschöpfter harmonischer und struktureller Möglichkeiten spätromantischer Musik. Das Trio Nr. 15 cis-Moll (1929) entstand auf einer fünfwöchigen Autoreise, die Röntgen mit seiner Familie auch durch die Schweiz führte. Im «Finale automobilistico: Allegro energico» sind Zwischenfälle in Reichenbach und Meiringen eingeflossen. Das Trio Nr. 16 in cis-Moll (1930) krönt sein Schaffen für diese Besetzung in der Tiefe des Ausdrucks und der stilistischen Homogenität.
Das Offenburger Streichtrio hat diese Werke emotional berührend sowie klanglich und technisch ausgefeilt eingespielt und damit gezeigt, dass die Begegnung mit Röntgens Musik noch heute ein Erlebnis sein kann.
Julius Röntgen: The Late String Trios. Offenburger Streichtrio (Frank Schilli, Violine; Rolf Schilli, Viola; Martin Merker, Violoncello). Naxos 8.573384