450-jährige St. Galler Kirchenmusik

Die «Barbarini Codices» dokumentieren die Anfänge der Mehrstimmigkeit. Das Ensemble Ordo Virtutum hat die Messen, Hymnen und Sequenzen eingespielt.

Ausschnitt aus dem CD-Cover

Die einstimmigen Mess- und Vespergesänge für die Festtage des Kirchenjahres, die Manfred Barbarini Lupus im Auftrag des Klosters St. Gallen von 1561–1563 vierstimmig ausgesetzt hatte, mögen für ihre Zeit als rückständig erscheinen, dokumentieren in der lokalen Musikgeschichte aber eine Innovation. Der Komponist aus Correggio wurde nämlich eigens in die Abtei gerufen, um mit dieser A-cappella-Musik die Mehrstimmigkeit einzuführen. In der Vorrede zum Codex 443 von 1561 wird berichtet, die ans einstimmige Singen gewöhnten Mönche hätten gegen die plötzlich verordnete Polyfonie Widerstand geleistet.

Nachdem sich das klösterliche Leben im frühen 15. Jahrhundert auf zwei Mönche beschränken musste und die vormals im Kloster St. Gallen gerühmte Kultur sozusagen abgestorben war, bemühte sich Abt Diethelm Blarer von Wartensee von 1530–1564 im Zeichen der Gegenreformation um eine Wiederbelebung. Die Barbarini Codices (542 und 543) der Stiftsbibliothek sind denn auch prachtvoll illustrierte Pergamenthandschriften, die in Chorbuch-Anordnung (vier Stimmen auf je einer Doppelseite) vierstimmige Musik in Hufnagel- und Mensuralnotation überliefern. Obwohl der Buch- und Notendruck ja schon im 15. Jahrhundert erfunden worden war und Stimmhefte für jeden Sänger anstelle eines auf einem Pult aufgeklappten Folianten für die ganze Schola eine Erleichterung gewesen wäre, wurde Wert auf Repräsentation gelegt.

Nachdem Therese Bruggiser-Lanker in ihrer Dissertation Musik und Liturgie im Kloster St. Gallen in Spätmittelalter und Renaissance 2004 auf die 204 Kompositionen in den Barbarini Codices aufmerksam gemacht hatte, erlaubt es nun eine Koproduktion des Ensembles Ordo Virtutum unter der Leitung von Stefan Johannes Morent mit SWR 2, SRF 2 Kultur und der Stiftsbibliothek St. Gallen, Festmesse und Vespersätze zum Gallus-Tag, einen Hymnus zu Ehren des Heiligen Othmars und eine Sequenz von Notker I in beispielhafter Qualität zu hören.

Die Einspielung erfüllt historisch orientierte Vorstellungen mit acht Männerstimmen und Interludien, gespielt von Roland Götz auf dem Nachbau einer Baldachinorgel von 1559 durch Johannes Rohlf.

Die Neuerscheinung von Musiques suisses empfiehlt sich als wundersame Musik nicht nur in der Osterzeit.

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Manfred Barbarini Lupus: Cantus coagulatus – vierstimmige Kompositionen für Messe und Offizium für das Kloster St. Gallen (um 1560). Musiques suisses MGB CD 6286

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