Wo Glocken stundenlang läuten

In England existiert sein Jahrhunderten eine besondere Tradition des Glockläutens: das Wechselläuten. Zu Besuch bei der University Guild of Change Ringers von Cambridge.

Wenn in einer südenglischen Stadt am Sonntagnachmittag oder am Abend die Glocken läuten, dann oft nicht, um die Stunde zu schlagen oder gar die Gläubigen zum Gottesdienst herbeizurufen. Möglich nämlich, dass das Geläute über eine ganze Stunde fortdauert oder in Ausnahmefällen gar drei Stunden, ohne Unterbruch notabene. In solchen Momenten ist «eine englische Besonderheit» zu erleben, die «wie alle englischen Besonderheiten der übrigen Welt unbegreiflich» ist. So zumindest schrieb einst die englische Krimiautorin Dorothy Sayers in The Nine Taylors (Der Glockenschlag, 1934). Dort dauert das Glockenläuten ganze 15 Stunden. Und währenddessen stirbt natürlich jemand. Das ist Literatur.

Es handelt sich hier also nicht um ein gewöhnliches Geläute, sondern um einen typisch englischen Spleen, wie er wohl nur auf dieser Insel vorkommen kann: das Change Ringing, das Wechselläuten, ein Brauchtum, das eine lange Tradition hat. In seinem Heimatland hat dieser musikalische Sport zahlreiche Anhänger, darüber hinaus ist er wenig bekannt. Er kommt in den ehemaligen Kolonien vor; und in Norditalien soll etwas Ähnliches existieren. Aber es bedarf wohl auch einer gewissen britischen Toleranz, dass sich niemand daran stört. Als ich die Change Ringers der Universität Cambridge besuchte, probten sie am Freitagabend von 20 bis 22 Uhr, zunächst mit gedämpften, dann aber mit ungedämpften Glocken – und das in der Kirche von St. Benet mit dem ältesten Turm, der noch aus sächsischer Zeit, aus dem 10. Jahrhundert, stammt und mitten im Städtchen steht. Das Geläute dann sonntags in der grossen Kirche von St. Mary dauerte vormittags eine Stunde und nachmittags nochmals.

Bildlegende

Change Ringing in der National Cathedral in Washington DC (von St. Mary in Cambridge gibt es leider keine Fotos der Glöckner in Aktion). Die kleine Glocke im vordergrund dient als Modell zur Erklärung der Läuttechnik: Beim ersten Zug schwingt der nach oben geöffnete Glockenmund nach unten, beim zweiten Zug vollendet die Glocke den Kreis.
Folgende Mitglieder der Washington Ringing Society läuten: Ed Donnen, Carleton MacDonald, Paula Fleming, Haley Barnett, Rob Bannister, Mary Clark (von links nach rechts).

Besten Dank an Robert Kendall und die Washington Ringing Society

Tonkombinatorik, die an serielle Musik erinnert

Das alles hat System: Die britischen Change Ringers sind in Guilds organisiert, die sich regelmässig zu Proben und «Aufführungen» treffen, sie haben einen Dachverband, den 1891 gegründeten Central Council of Church Bell Ringers, dazu eine wöchentlich erscheinende Zeitschrift und diverse Websites, auf denen von erfolgreichen Peals (to peal = läuten) berichtet wird; sie führen regelmässig regionale und nationale Treffen und Wettbewerbe durch. Der Weltrekord liegt bei 17 Stunden 58 ½ Minuten, aufgestellt 1963 in der Loughborough Bell Foundry nach zwei erfolglosen Versuchen.

Die Ursprünge reichen bis ins 17. Jahrhundert (oder sogar noch weiter) zurück. 1668 jedenfalls gab Fabian Stedman, einer der Gründerväter des Change Ringing, zusammen mit Richard Ruckworth ein Buch mit dem Titel Tintinnalogia heraus, in dem er das Verfahren erläuterte. Stedman läutete einst im Turm von St. Benet. Eine Tafel erinnert daran, und ¬einige der vielgespielten Methoden sind nach Fabian Stedman benannt. Denn es geht hier eben nicht um ein wildes Drauflosbimmeln, sondern um mathematische Verfahrensweisen mit Methode, um eine Tonkombinatorik, die an die serielle Musik erinnert. Die Glocken werden nacheinander geläutet, aber nie in der gleichen Reihenfolge, sondern bei jedem Durchgang, bei jedem Change, in einer anderen Abfolge. Dabei soll keine wiederholt werden, was einige Anforderungen an die Kombinatorik stellt, denn die Reihenfolge lässt sich nicht beliebig verändern, eine Glocke kann bei jedem Durchgang nur um eine Position wechseln. Die zum Teil sehr schweren Glocken lassen sich nämlich nur kurze Zeit kontrollieren, wenn sie nach dem Aufschwung kopfüber stehen. Der Change Ringer gibt ihr dann im richtigen Moment wieder einen Impuls, indem er am Seil zieht. Beherrscht man diese Bewegungen, entsteht ein völlig harmonisch wirkender, ja mühelos scheinender Ablauf. Am Seil zielen – loslassen – wieder fassen – ziehen, schön regelmässig.

Bei vier Glocken ergibt das nun zum Beispiel folgende Sequenz: 1-2-3-4, dann 2-1-4-3, dann 2-4-1-3, dann 4-2-3-1, dann 4-3-2-1 usw. Die Anzahl der Changes ist begrenzt. Bei zwei Glocken gibt es zwei Möglichkeiten des Wechsels, bei drei sechs, also drei Fakultät, bei vier schon 24, was nur wenig Zeit in Anspruch nimmt. Bei sechs Glocken sind es aber schon 720 Changes, bei sieben 5040 Wechsel. Über 5000 Wechsel aufzuführen ist in der Sprache der Change Ringer ein Peal – und dauert gute drei Stunden. Das durchzustehen ist schon eine Leistung. Bei acht Glocken sind es über 40 000 Changes, bei zwölf wären es fast eine halbe Milliarde, aber derlei hat bislang nie jemand gewagt. Der Weltrekord zählte 40 320 Changes an acht Glocken, die ohne jeden Unterbruch von einem Team ohne jede Auswechslung gespielt wurden.
 

Glocken von St. Mary in Cambridge

Sport, Hobby, Geselligkeit und ein wenig Musik

Durch diese Changes muss man nun einen Weg finden, eine Methode. Und ihrer gibt es unzählige; ständig werden neue entwickelt und veröffentlicht. Kein Wunder, finden sich unter den Change Ringers zahlreiche Mathematiker und Naturwissenschaftler. Musikalität nämlich ist keine Voraussetzung dafür. Es geht darum, möglichst gleichmässig und fehlerlos zu läuten. Und das will geübt sein, in der Kirche oder auch zuhause, denn die Methoden lassen sich auch mit Handglocken, hand bells, umsetzen. Eine junge Wechselläuterin der 1879 gegründete University Guild of Change Ringers von Cambridge erzählte mir, sie arbeite oft an neuen Methoden und probiere sie dann mit Kollegen und Kolleginnen in ihrem Schlafzimmer aus.

Ein erfahrener Wechselläuter bringt es auf ein paar Tausend dreistündige Peals in seinem Leben. Was uns nochmals die Spleenigkeit zeigt – ein wenig «geeky» sei es ja schon, meinte Claire Barlow, meine Fachexpertin in Cambridge, lachend: eine Mischung aus Sport, Hobby, Geselligkeit und ein wenig Musik. Dabei ist die Tradition durchaus auch in den kirchlichen Zusammenhang eingebunden. Das Wechselläuten umrahmt den Gottesdienst, und der Pfarrer kommt jeweils für ein kurzes Gebet in die Turmstube hinauf. Gespielt werden etwa zehnminütige Abschnitte, geleitet von einem Master oder, wie in Cambridge mit Liz Orme, einer Masterin. Ähnlich wie ein Trainer ordnet sie an, wer beim nächsten Durchgang welche Glocke und welche Funktion übernimmt (denn ein Change Ringer gibt per Zuruf die Wechsel – die Dodges, die Hunts, die Jumps – in der Methode an). Schliesslich soll jeder mal drankommen. Das ist eine Frage der Balance. Über die gespielten Changes wird dabei genau Buch geführt.

Es gebe übrigens, so sagte mir ein Change Ringer in Cambridge, durchaus ein kleines Revival bei der jüngeren Generation. Offenbar ist das für einmal eine Tätigkeit ohne Nachwuchsprobleme. Aber jenseits der Insel ist sie nur wenigen vertraut, oft nicht einmal Komponisten, die sich mit Kombinatorik und Permutationen beschäftigen. Aber es gibt durchaus auch Kenner, zum Beispiel den Amerikaner Tom Johnson, einen Spezialisten für logische Musik (er hat ähnliche Permutationstechniken in eigenen Stücken entwickelt). Detlev Müller-Siemens hat sich damit beschäftigt, Alfred Zimmerlin, von dem ich den Tipp bekam, oder auch Regina Irman, die dem Läuten einen ihrer Songs von 2009 widmete. Sie lernte das Change Ringing in einer kleinen Gruppe in Winterthur kennen – ja, es gibt sie auch in der Schweiz. Da jedoch die geeigneten Glockentürme fehlen, wird meist mit Handglocken gespielt. Übrigens hat auch Pierre Boulez, wie er mir einmal erzählte, einige Passagen seines Meisterwerks Répons nach der Methode des Change Ringing gestaltet. Das sei aber das einzige Mal geblieben, weil er diese Methode dann doch etwas simpel finde.

Als mathematische Methode stösst das Change Ringing bei vielen zeitgenössischen Komponisten auf Interesse; die Praxis bleibt vorderhand den Angelsachsen vorbehalten. Und wohl nur, wer zufällig an einem Sonntagnachmittag in einer südenglischen Stadt einem solchen Geläute begegnet, wird die eigentümliche Faszination leibhaftig erfahren: die gewaltige Intensität des repetitiven und sich doch ständig verändernden Glockenklangs, dieses Heraustreten aus dem Alltag, diese scheinbar wildgewordene und doch gebändigte Kombinatorik.
 

RADIOSENDUNG
Thomas Meyer hat das Change Ringing in Cambridge in einer Radiosendung dokumentiert:
www.srf.ch/player/radio (Suchbegriff: Wechselläuten)


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