Das Theater Jungbrunnen bringt Bühnenerlebnisse zu Menschen, die nicht mehr in Aufführungen gehen können. Zurzeit ist es mit der «Lustigen Witwe» unterwegs.
Pia Schwab
- 03. Okt. 2025
Vorstellung vom 24. September 2025 mit Graziella Contratto, Katharina Willi und Eric Müller (v.l.). Foto: Pia Schwab
Gegen Schluss sind die Gesichter belebter, der Applaus weniger zögerlich als am Anfang. Rund dreissig Personen haben hier im Gesundheitszentrum für das Alter Langgrüt in Zürich soeben das einstündige Musiktheater nach Franz Lehárs Operette Die lustige Witwe verfolgt. Nun verlassen sie den Raum, der auch gleich wieder in eine Cafeteria zurückverwandelt wird. Überschwänglich ist die Stimmung nicht. «Es hat uns sehr gefallen», erklärt mir ein Ehepaar, das den Rollatoren und Rollstühlen beim Hinausgehen den Vortritt lässt. Sie seien beide erst 89, aber viele der Besucherinnen und Besucher im Saal hätten die Hundert überschritten. «Auch wenn sie es dann oft nicht mehr zeigen können: Die Freude über ein solches Erlebnis geht tief. Früher sind wir immer in die Volksvorstellungen des Theaters und der Oper gegangen, aber jetzt liegt der Besuch einer Aufführung gesundheitlich nicht mehr drin.» Sie seien sehr froh über Darbietungen gleich hier im Haus.
Man spüre, wie das Publikum das Geschehen aufsauge und dankbar sei, bestätigen Katharina Willi und Eric Müller, die eben noch auf der Bühne sangen und spielten. Olivier Tambosi, künstlerischer Leiter des Theaters Jungbrunnen, hat die Operette, eigentlich eine «grosse Kiste» mit vielen Solisten, Chor, Ballett und grossem Orchester zu einem Kammerspiel umgeschrieben, in dem die Ohrwürmer als Solostücke oder Duette erklingen, Melodien, die diese Generation wenn nicht von eigenen Theaterbesuchen, so doch aus dem Radio kennt: das folkloristische Vilja-Lied, bei dem man mitsummen kann, «Da geh’ ich ins Maxim», «Lippen schweigen» oder der «Weibermarsch», der mit einem neu getexteten Pendant in die Gegenwart geholt wird: «Ja, das Studium der Männer ist leicht …»
Dass Sängerin und Sänger «auf der Bühne» stehen, stimmt eigentlich nicht. Es gibt hier weder ein Podest noch spezielle Beleuchtung, bloss zwei Stühle. Die beiden haben in einer neu konzipierten Rahmenhandlung die nötigen Requisiten und Kostümteile in je einem Rollkoffer gleich selbst vors Publikum hingestellt. Ab und zu greift die Pianistin mit einem Kommentar in die Handlung ein oder steht kurz auf und spielt mit. Heute hat es Graziella Contratto, die den üppigen Klavierauszug zu eher chansonartigen Begleitungen reduziert hat, mit einem etwas verstimmten Instrument zu tun. Auch ist der Raum eigentlich zu niedrig für die Stimmen. Aber das spielt hier einfach keine Rolle. Die Nähe zum Publikum zählt.
Das Theater Jungbrunnen bringt schon seit bald 70 Jahren Theater und Musik zu Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Dafür tourt es durch die ganze Deutschschweiz, am häufigsten gastiert es aber im Kanton Zürich. Der Kanton trägt viel zur Finanzierung bei, ebenso die Stadt Zürich. Das Angebot sei begehrt, sagt Sinnika Jenni, die administrative Leiterin. Zwar schreibe sie Institutionen an, aber etliche kämen auch von sich aus auf sie zu, sie könne gar nicht alle berücksichtigen. Solche Vorstellungen sind wertvolle Bausteine in den Aktivierungsbemühungen von Gesundheits- und Alterszentren. Und in der Tat: Hier an der Langgrütstrasse wurden soeben Erinnerungen wachgerufen, Ohren umschmeichelt und Augen zum Leuchten gebracht.
Gesellschaftlicher Spiegel der Schweiz
Vor 125 Jahren wurde der Schweizerische Tonkünstlerverein gegründet. Ein kurzer Abriss seiner bewegten Geschichte bis zur Auflösung vor acht Jahren.
Thomas Gartmann
- 02. Okt. 2025
Der Schweizerische Tonkünstlerverein (STV) war seit seiner Gründung 1900 für die Entwicklung zeitgenössischer Musik in der Schweiz zentral. Mit jährlichen Tonkünstlerfesten, Zeitschriften, Tonträgern und Preisen prägte er Kanon und Diskurs bis zur Auflösung 2017. Die Tätigkeiten haben sich in einem Archiv niedergeschlagen, das seit Kurzem zugänglich ist, und wurden dank einem unlängst abgeschlossenen Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds an der Hochschule der Künste Bern aufgearbeitet. Die Aktivitäten des STV ebenso wie sein Funktionieren verweisen auf Entwicklungen, Kontinuitäten und Brüche. Heute, acht Jahre nach seiner Auflösung, lässt sich die Vereinsgeschichte von hinten her lesen. Was hat den STV in den Untergang gerissen, nachdem er 117 Jahre funktionierte? Hat er sich selbst erfolgreich überflüssig gemacht oder haben sich einfach die Zeiten geändert?
Als der STV 1975 sein 75-jähriges Jubiläum feierte, war er auf dem Höhepunkt nationaler Ausstrahlung. Dass der langjährige Ehrenpräsident Paul Sacher sondierte, ob sich der Bundesrat in corpore einladen liesse, zeigt die Selbsteinschätzung. Immerhin: Bundesrat Hans Hürlimann hielt eine Rede, versprach mehr Subventionen und schrieb auch einen Beitrag zur Festschrift.
Misslungene Reformen und innerer Zwist
In diesen altehrwürdigen Verein brachte der Präsident Klaus Huber Bewegung. Zunächst stiess er viele Reformen an. Das Tonkünstlerfest 1982 in Zofingen war ein erster, wenn auch unbeholfener Versuch, ästhetische Fronten aufzuweichen und improvisierte Musik zu integrieren. Die verstärkte Mitwirkung von Frauen und Ausländern war Huber wichtig. Allerdings verhielt er sich bei der Umsetzung taktisch so ungeschickt, dass beides vorerst scheiterte. All dies verstand der Achtundsechziger als Beitrag zur Partizipation. Doch seine Sitzungsführung war zeitraubend. Mangelnde Verfügbarkeit und illoyales Verhalten führten zu Konflikten, die der Ehrenpräsident Sacher in einem Scherbengericht zu schlichten versuchte. Huber wolle demokratisch sein, sei aber autoritär, äusserte Hans Ulrich Lehmann und Jean Balissat befand: «Unser Präsident hat eine starke Persönlichkeit, aber dies ist kaum auf das Amt des Präsidenten übertragbar.» (1)
Eric Gaudibert war schockiert über eine eigenmächtige Selbstbeurlaubung Hubers, was Verachtung und Egozentrik sowie einen Verstoss gegen die Ethik offenbare. Urs Frauchiger sprach ihm jede Eignung für das Amt ab: «Ein Präsident muss Manager sein, über organisatorische Fähigkeiten verfügen und Zeit zur Verfügung haben. Er forderte ihn daher auf, sein Amt niederzulegen.» (2) In seiner letzten Präsidialansprache holte Huber zur Generalabrechnung aus: Der STV brauche «dringend Erneuerung». Er ortete einen «Schützengrabeninstinkt» und warnte vor einer «Sezession».
Dissonanzen und frischer Wind
Auch beim folgenden Präsidenten Jean Balissat kam es beim Auftakt zu greller Disharmonie mit einer gezielten Attacke. Zum Tonkünstlerfest 1986 in Fribourg, wo Balissat als Dirigent des offiziellen Blasmusikkorps auch einen hohen gesellschaftlichen Status genoss, veröffentlichte die Vereinszeitschrift Dissonanz eine Abrechnung durch Jürg Stenzl. Eine Relektüre der Polemik und ihrer Begleitdokumente zeigt vordergründig das Bedauern eines sich progressiv verstehenden Musikwissenschaftlers gegenüber einer angeblich regressiven Entwicklung des Komponisten. Aufgehängt an der Kritik an einem kurzen Klavierstück wird aber die ganze Malaise sichtbar: Unbehagen an Machtballung und Geringschätzung der zeitgenössischen Musik aus der Suisse romande.
Der Konflikt trieb einen Keil zwischen die Kulturen der Deutschschweiz und der Romandie. Aus dem Sturm im Wasserglas wurde ein Aufstand der Jungen gegen die Autoritäten, der Avantgardisten gegen die Traditionalisten. Vor allem zeigte sich ein unterschiedliches Verständnis über die Aufgabe von Musikkritik. Während Stenzl in der Schweizerischen Musikzeitung Bruchlinien wie die zwischen Traditionalisten und Avantgardisten respektive West- und Deutschschweizern spiegelte, nahm Keller in Dissonanz die Auseinandersetzung vorweg: die Emanzipation der Frauen, die Wahrnehmung der Improvisation, die Aufarbeitung der Vereinsvergangenheit. Diese aufsässige Haltung brachte der Zeitschrift die verächtliche Bezeichnung «Parteiorgan» ein.
Ein neuer Wind wehte unter Daniel Fueter. Der Aufbruch wurde programmatisch inszeniert: Zum eidgenössischen Jubiläumsjahr 1991 skizzierte Fueter eine Utopie, die sich am Nationaldichter Gottfried Keller inspirierte: «Endlich wäre zu träumen von kulturell interessierten, querköpfigen Staatsschreibern beziehungsweise öffentlich geförderten, politisch aktiven Künstlern, welche sich mit aktuellem Schaffen innerhalb und ausserhalb der Landesgrenzen beschäftigen.» Dass Fueter dieses Manifest gerade zum Jahr entwarf, wo sich die Schweiz auf sich selbst besann, war brisant und läutete die weitere Öffnung des Vereins ein, gegenüber Improvisation, Frauen, Ausländern, die nun erstmals ins Fest integriert wurden.
Komponistenpreise als ästhetische Richtungsvorgaben
Prestigereich waren die Komponistenpreise. Ihre würdevolle Verleihung widerspiegelte das Selbstverständnis des STV. Der sich über die Jahre nur langsam ändernde Diskurs lässt sich vor allem aus den Würdigungen ablesen. Zu Beginn standen traditionelle und nationale Werte, man betonte vermeintlich typisch schweizerische Qualitäten wie meisterliches Handwerk. In der Nachkriegszeit ist ein bewusster Abgrenzungsdiskurs von der Avantgarde zu verfolgen, in Würdigungen und Wahl eher rückwärts bezogener Preisträger. Erst spät wurden Kriterien wie Innovation, Originalität, Internationalität und Vermittlungskompetenz wichtig.
Bild: STV-Archiv
Noch 1981 stiess Jürg Wyttenbachs Laudatio auf Jacques Wildberger bei Jurypräsident Paul Sacher wegen dem ungewohnt politischen Ton auf: «Beim zweiten Durchlesen stört mich im 2. Absatz, 3. Zeile: ‹als entartet verdammten›. Da der Nationalsozialismus in der Schweiz glücklicherweise nie an die Macht gekommen ist, sollten wir ihn hier auch nicht zitieren. Darum bitte ich Sie, diese drei Worte zu streichen. Auch der Anfang des 3. Absatzes gefällt mir bei der zweiten Durchsicht nicht sonderlich. Ich glaube, es gibt noch sehr zahlreiche Komponisten, die über die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft nachdenken!»
Zum Konflikt kam es Jahre später: Es wurden Namen diskutiert, Rolf Liebermann und Peter Mieg, die man gleich wieder eliminiert, sowie Armin Schibler und Julien-François Zbinden: «Herr Sacher ist der Meinung, dass beide den Preis 1987 erhalten sollten.» (3) Aurèle Nicolet opponierte und verlangte, dass man niemanden auszeichne – oder aber Hans Ulrich Lehmann. Der Entscheid wurde vertagt. Sacher spürte wohl, wie sein Einfluss schwand. Er ging einen Kompromiss ein, liess den inzwischen verstorbenen Schibler fallen zugunsten von Lehmann: «Meine Herren, Sie wissen, dass sich in der französischen Schweiz ein Malaise ausbreitet. Kleine Gesten in intellektuellen und künstlerischen Kreisen werden besonders beachtet. Aus den angedeuteten Gründen möchte ich auf unsere Entscheidung zurückkommen und Ihnen dringend empfehlen, unseren Preis dieses Jahr den Herren Lehmann und Zbinden zuzusprechen. Ich möchte damit den Versuch unternehmen, etwas zur Verbesserung zwischen der welschen und deutschen Schweiz beizutragen.»
Um zu unterstreichen, wie wichtig ihm dies war, schrieb Nicolet auf seiner Norwegen-Tournee einen ausführlichen Brief, spielte mit rhetorischen Fähigkeiten und charmanter Empathie und bewirkte, dass statt Zbinden nun doch Gaudibert (und Lehmann) ausgezeichnet wurde: «Natürlich, wie jeder andere auch, spüre ich das musikalische Malaise in der Schweiz. […]. Dieses Unbehagen ist auch nicht das ‹exklusive› Privileg der Schweiz, aber notwendigerweise ist es tiefer in einem Land zu spüren, das weder willens noch in der Lage ist, sich selbst in Frage zu stellen und sich nur an die Werte der Vergangenheit klammert. Das garantiert ihm materiellen Wohlstand, isoliert es aber geistig und kulturell immer mehr vom Rest Europas und der Welt. Um auf das von dir angesprochene Problem zurückzukommen, bezweifle ich stark, dass die Verleihung des STV-Preises an J. F. Zbinden die Situation der Schweizer Musik im Allgemeinen und die des STV im Besonderen in irgendeiner Weise entspannt. Will man sowohl die Ziege wie den Kohlkopf aufstellen? Das ist eine reflexartige Haltung, die in unserem ‹guten alten› Land erlernt und erworben wurde. Wenn es richtig ist, einen Romand zu wählen, werde ich meine Stimme E. Gaudibert geben. Aber ein Ticket Lehmann-Zbinden scheint mir nur unsere Verwirrung zu dokumentieren, während die Wahl des Tandems Lehmann-Gaudibert einen Geschmack und eine Verbundenheit mit musikalischen Werten ausdrückt, die wir verteidigen und fördern wollen.»
Gleichgewicht und Kulturschocks
Der STV war bemüht, das labile Gleichgewicht zwischen den Sprachkulturen zu bewahren und gegenseitiges Interesse zu fördern. Präsidenten wechselten im Turnus, im Vorstand galt eine garantierte Minderheitenvertretung, in Zeitschrift, Festen und CDs versuchte man sich im Ausgleich. Konflikte gab es gemäss Alt-Präsident Nicolas Bolens kaum: «Sicherlich gab es ein Unbehagen, das wir alle spürten. Es war mehr auf der Ebene der Funktionsweise des Vorstands als auf der Ebene der Ästhetik.» Das Zusammenführen empfand er als wichtige Aufgabe: «Die Positionen konnten sehr unterschiedlich sein, aber es geht auch darum, Respekt zu lernen. Die Denk- und Arbeitsweisen sind nicht die gleichen, was uns zu einem Dialog, zu kulturellen Begegnungen zwang. Kulturelle Begegnungen, ja, Kulturschocks, die diese Feste waren, die der STV ermöglicht hat. Und ich finde das wichtig für den nationalen Zusammenhalt. Das macht die Momente des Dialogs aus, der Begegnung.»
Ausländer, Frauen und Improvisatoren als Minderheiten
Ausländische Komponisten und Musiker waren anfänglich den Schweizer Kollegen gleichgestellt. In einem grossen Bogen zeigten sich dann unter wechselndem politischem Kontext, aber auch aus Konkurrenzangst zunehmende Ausgrenzungstendenzen, bis es in den letzten Jahrzehnten schrittweise zu einer erneuten Öffnung kam. Protektionismus und spätere Integration erfolgten im autonomen Nachvollzug, teils parallel zur zeitpolitischen Gesetzesnovellierung, teils verzögert.
Frauen waren laut Statuten zwar gleichberechtigt, de facto wurden sie aber lange weitgehend von Macht, Ehre und Geldtöpfen ferngehalten. Auch hier erfolgte die Entwicklung parallel zur staatspolitischen Emanzipation. Leugnen oder Nicht-Wahrhaben des Geschlechterungleichgewichts ist aber bis in jüngste Zeit zu beobachten. Umso stärker fallen Persönlichkeiten ins Gewicht, die diese Entwicklungen vorwärtsbrachten, von der Besetzung von Vorstandsämtern bis zum Umgang mit Gesuchen, Auswahlen und spezifischen Themen.
Auch Improvisatoren wurden lange ausgegrenzt. Erst in zaghaften Öffnungsschrittchen nahm man sie wahr und berücksichtigte sie, nachdem sie zuvor wegen fehlender professioneller Ausbildung nicht ernst genommen oder an unpassenden Kriterien gemessen worden waren. Einen Einblick in den Kampf um Wahrnehmung, Wertschätzung, Geld, aber auch in Selbstverständnis und Ideologie gewährt hier die Kontroverse um einen negativ aufgenommenen Artikel Thomas Meyers in Dissonanz, der letztlich aber der Improvisationsszene einen neuen Schub verlieh – nicht zuletzt auch bei Pro Helvetia, wo der angegriffene Meyer als Stiftungsrat wirkte.
Tonträgerproduktion mit ungeklärten Zielen
Auch wenn der Zweck der selbstproduzierten Tonträger nie explizit definiert wurde, kann man aus der gelebten Praxis doch gewisse Absichten herauslesen: Es galt das zeitgenössische Musikleben in der Schweiz zu dokumentieren. Für die vertretenen Komponisten und Interpreten bedeutete es Visitenkarte, Ehrung und PR-Instrument. Schweizer Radiosender konnten ihren Kulturauftrag erfüllen, ausländische Stationen musikalische Neugier und Informationsbedürfnis befriedigen. In Anspielung auf bisherige Gepflogenheiten stellte Pierre Sublet die Grundsatzfrage: «Wollen wir jemanden lancieren oder jemandem eine Freude machen, wollen wir etwas Repräsentativeres?», worauf Roman Brotbeck mit seiner ihm eigenen Radikalität forderte: «Man muss sich fragen, was man z. B. in New York gerne hören würde.»
Zu Tode gespart oder überlebt?
2017 strich das Bundesamt für Kultur die Subventionen für den STV. Daraufhin schloss er sich mit anderen Verbänden zum Berufsverband Sonart zusammen. Die Gründe scheinen auf den ersten Blick klar: politischer Druck und finanzielles Ausbluten. Eine Untersuchung der Vereinsdokumente kombiniert mit Zeitzeugeninterviews zeigt aber, dass das Ende vielfältige Ursachen hatte und sich früh ankündigte: teure Verbandsstrukturen, eine inhaltliche Öffnung als Kultur des Outsourcings, wodurch die Diskurshoheit aufgegeben wurde. Vernachlässigt wurde der Kontext: Der STV war ein Akteur unter vielen geworden. Seine Bedeutung verblasste, Veranstalter zeitgenössischer Musik fanden sich nun in der ganzen Schweiz. Das Tonkünstlerfest war in anderen Festivals aufgegangen, wodurch das Ausbleiben des eigenen Publikums zwar weit mehr als wettgemacht werden konnte, das einzigartige Profil aber verschwand.
Gleiches galt für die CD-Reihe, die man immer weniger selber prägen konnte und schliesslich ebenfalls aufgab wie viele andere Tätigkeiten vom Solisten- bis zum Komponistenpreis, vom Schreibaufenthalt in der Tessiner Arbeitsresidenz Carona bis zur Musikeragenda. So verlor man den Kern des früheren Profils, vergraulte ältere Mitglieder. Lange beharrte man auf der kulturellen Mission und vernachlässigte das vom Bund geforderte Dienstleistungsverständnis.
Bedeutete dieses Verschwinden nun eine fahrlässige oder gar mutwillige Zerstörung von Musikstruktur? Aus der Rückblende ist nur eine ambivalente Antwort möglich. Man hat sich selbst ausgegrenzt, war auch ein bisschen arrogant dabei, man hat sich zu lange mit sich selbst beschäftigt, und das politische Wetterleuchten zwar wahrgenommen, aber zu wenig reagiert und taktisch Chancen verpasst. Man kann das Ende aber auch positiv deuten: Der STV hat seine Mission erfolgreich erfüllt. Er hat sich überflüssig gemacht, weil sich die Situation geändert hat. Und er überlebt sich selbst in neuen Dienstleistungen, die gerade während der Covid-Krise enorm wichtig waren, angeboten von der Nachfolgeorganisation Sonart, in kulturellen Aktivitäten, die anderswo aufgenommen wurden, und im kollektiven Gedächtnis, zahlreichen Dokumenten und der Reflexion darüber.
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Anmerkungen: (1) Protokoll der ausserordentlichen Vorstandssitzung des STV vom 18. 1. 1981, S. 2–6. (2) Ebd. (3) Protokoll der Stiftungsratssitzung vom 2. 2. 1986, S. 1.
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Im Rahmen des Lucerne Festival Forward finden am 22. und 23. November im Kultur- und Kongresshaus KKL Veranstaltungen zum STV statt: Eine Ausstellung, ein Podiumsgespräch und die Vernissage (22. 11., 16 Uhr) von zwei Sammelbänden :
Im Brennpunkt der Entwicklungen. Der Schweizerische Tonkünstlerverein 1975–2017, hg. von Thomas Gartmann und Doris Lanz, Zürich: Chronos 2025.
Musik-Diskurse nach 1970, hg. von Thomas Gartmann, Doris Lanz, Raphaël Sudan und Gabrielle Weber, unter redaktioneller Mitarbeit von Daniel Allenbach, Musikforschung der Hochschule der Künste Bern, Band 19, Baden-Baden: Ergon 2025.
Thomas Gartmann leitete das SNF-Projekt zum STV an der Hochschule der Künste Bern, wo er die Forschung verantwortet.
Klassikfestivals ausserhalb der Zentren
Das Othmar-Schoeck-Festival in Brunnen widmet sich künstlerisch und wissenschaftlich dem Komponisten, der dort gelebt hat. «Beleuchtungen», ein Festival von Oberaargau Classics, spricht neues Publikum mit Werken mit regionalen Bezügen an.
Christoph Geissbühler
- 01. Okt. 2025
Überraschungen sind im etablierten Klassikfestival-Betrieb eher selten. Es kann vorkommen, dass in Verbier ein Pianist vom Rang eines Jean-Efflam Bavouzet sein Programm mit persönlichen Anekdoten und einschlägigen Analysen der gespielten Werke ergänzt, deren Unterhaltungs- und Erkenntniswert den Konzertgenuss mindestens verdoppeln (2019). Häufiger sind es ungewöhnliche Zusammenstellungen, die man im jeweiligen Rahmen nicht erwartet hätte. So war kürzlich Chilly Gonzales, auf Einladung des Programmverantwortlichen Igor Levit, am Pianofestival im grossen Saal des KKL zu hören, was nicht nur klanglich erstaunlich gut funktionierte. Das Konzert war erfreulicherweise so gut wie ausverkauft. Offensichtlich wird bei solchen Programmierungen der Gewinn für ein rundum stimmiges Festival höher gewichtet als das Risiko.
Christian Gerhaher, Heinz Holliger und das Kammerorchester Basel führten im Seehotel Waldstätterhof Othmar Schoecks «Elegie» auf. Foto: Charlotte Waltert
Künstlerische Hochleistungen und Wissenschaft in Brunnen
Ins Staunen gerät man aber bei jüngeren Festivals, die meist weit ausserhalb der etablierten Strukturen aufgebaut werden, noch nicht in aller Munde sind und entsprechend freier agieren können. Das Othmar-Schoeck-Festival fand diesen September zum siebten Mal in Brunnen SZ statt. Nach der Gründung im Jahr 2016 konnte es erst ab 2020 jährlich weitergeführt werden. Neben der Villa Schoeck, Geburts- und häufiger Schaffensort des Komponisten, als aussergewöhnlicher Lokalität und weiteren besonderen Austragungsstätten in der wunderschönen Landschaft am nördlichen Urnersee ist es vor allem das Festivalprogramm, das herausstach.
Vielseitig gestaltete Konzerte mit internationalen und hochspezialisierten Musikern – eine Aufführung der Elegie op. 36 unter dem Dirigat von Heinz Holliger als Höhepunkt –, eine Masterclass für Liedduos und ein sorgfältiges Vermittlungsprojekt garantierten an drei Spieltagen ein intensives Musikerlebnis. Prominent im Programm stand auch ein Vortrag von Ulrike Thiele, Musikwissenschaftlerin aus Zürich. Sie beleuchtete das Leben und Schaffen von Werner Reinhart, Mäzen und passionierter Amateurmusiker aus Winterthur, der Othmar Schoeck jahrzehntelang in seinem kompositorischen Schaffen unterstützt hatte. Solche oder andere musikwissenschaftliche Formate prägen die gesamte Festivalreihe genauso wie die rein künstlerischen Inhalte.
Ulrike Thiele spricht im Atelier der Künstlervilla über Werner Reinhart. Foto: Charlotte Waltert
Für Alvaro Schoeck, den Initiator und künstlerischen Co-Leiter des Festivals, war von Beginn weg zentral, dass gleichzeitig mit der Werkförderung – und der Wiederbelebung der Villa Schoeck – auch eine umfassende historische Aufarbeitung von Othmar Schoecks Leben und Zeitgenossenschaft durchgeführt werden sollte. Nach dessen Tod 1957 wurde er bis in die 1980er-Jahre kaum aufgeführt, und die anschliessende Wiederentdeckung war begleitet von Beklemmung betreffend seine Verbindungen zum Dritten Reich. Die künstlerische Verortung seines vielseitigen Werks erwies sich als schwierig, ein wissenschaftlicher Forschungsstand in engerem Sinne fehlte, und nicht zuletzt stellten sich aufführungspraktische Probleme, da sein Werk den Interpreten oftmals Höchstleistungen abfordert.
Alvaro Schoeck (Mitte) führt in die Masterclass Liedduo unter der Leitung von Cornelia Kallisch und Edward Rushton ein. Foto: Charlotte Waltert
Wie weit diese Aufarbeitung nun bereits fortgeschritten ist, liess sich am Festivalwochenende vom 19. bis 21. September in eindrücklicher Weise erleben. Die Ausführenden spielten Schoecks Werke mit einer Könnerschaft und Kompromisslosigkeit, die keine Zurückhaltung oder Unklarheiten mehr durchscheinen liessen. Und auch die allgemeine Atmosphäre trug zu diesem Eindruck bei: Selbst im vor privater Historie schier berstenden Atelierraum der Villa Schoeck nahm man nichts wahr, was mit irgendeiner Art von Dünkel hätte in Verbindung gebracht werden können. Es ist dem ganzen Projekt sehr zu wünschen, dass das grosse Engagement aller Beteiligten weiterhin zu so gelungenen Festival-Jahrgängen führt, und dass eine langfristige Etablierung des Projekts gelingt. Der Bedeutung Othmar Schoecks für die Region und darüber hinaus wäre das höchst angemessen.
Neues Publikum und Uraufführungen mit Regionalbezug in Langenthal
Das Grenzklang Barockorchester spielt im Theater 49 in Langenthal. Foto: Marcel Masi Marti
Zwei professionelle Ensembles aus Langenthal BE, der Geburtsstadt Heinz Holligers, das Grenzklang Barockorchester und das Orchester Camerata 49, arbeiten seit mehreren Jahren zusammen und bilden mit den Oberaargau Classics eine der gewichtigsten Kulturinstitutionen im westlichen Mittelland. Mit dem ersten viertägigen Festival «Beleuchtungen» vom 4. bis 7. September gingen die Verantwortlichen nun einen grossen Schritt weiter in ihren Bemühungen, das klassische Musikschaffen im Oberaargau sichtbar zu machen. Neben der stilistischen Vielfalt und Experimentierfreude war es den Veranstaltenden auch ein Anliegen, mit ungewöhnlichen Spielorten und einem flexiblen Preismodell neue Zuhörerinnen und Zuhörer aller Altersklassen anzusprechen und so für neuartigen Austausch zu sorgen.
Dass dies auf Anhieb funktionierte, konnte man vor allem am zweiten Festivalabend in der Kunsthalle auf dem Porzi-Areal unter dem Motto «Komponisten-/Komponistinnenporträt» feststellen. Zahlreiche Kinder und Jugendliche befanden sich unter den Anwesenden, um einem Programm zu lauschen, das von neuen Kinderstücken Heinz Holligers bis zu drei Uraufführungen von Komponierenden mit Bezug zur Region reichte, dargeboten vom ausgezeichnet aufspielenden Quintett der Camerata 49. Diese grösseren Kompositionen mit Lokalbezug bildeten eines der Highlights des Festivals und liessen ansatzweise erahnen, welch grosses Potenzial im hiesigen Musikschaffen mit klassischer Ausrichtung liegt.
Die Camerata 49 beim Applaus in der Kunsthalle. Foto: Marcel Masi Marti
Die Co-Initiatorin und künstlerische Leiterin Sabina Weyermann zeigte sich im Anschluss an das Festival denn auch sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Für eine Erstaustragung seien die vier Abende sehr gut besucht und die Resonanz des Publikums durchwegs positiv gewesen. Demgegenüber stehe der enorme Aufwand, den sie und ihr Team hätten betreiben müssen, um die Veranstaltungen erfolgreich zu planen und durchzuführen. Gleichzeitig betonte sie, dass sie in allen wichtigen Bereichen ausreichend unterstützt worden sei und folglich nicht mit der verbreiteten Auffassung übereinstimme, dass für Projekte dieser Art der Support nicht ausreichend wäre.
Konzert in der Teppichfabrik Ruckstuhl mit dem Barockensemble Grenzklang und dem Schlagwerker Philipp Läng. Foto: Marcel Masi Marti
Beide Festivals – so unterschiedlich ihre Ausrichtungen auch sind – sorgen auf ihre je eigene Art für eine echte Bereicherung des Musiklebens in der Schweiz. In Langenthal werden nicht nur neues Publikum erschlossen und wichtige Vermittlungsarbeit geleistet, sondern auch ausgezeichnete Komponisten aus der Region in angemessenes Licht gerückt. Und in Brunnen zieht man nicht nur sämtliche Register eines gelungenen Festivals auf der Höhe der Zeit, man leistet mit dem Othmar-Schoeck-Festival auch längst fällige wissenschaftliche Arbeit zu einer der wichtigsten Figuren der jüngeren Schweizer Musikgeschichte.
Transparenzhinweis: Die Schweizer Musikzeitung ist Medienpartnerin des Othmar-Schoeck-Festivals
Neubeginn im Krematorium
Eine Utopie an ungewöhnlichem Ort: Katharina Rosenbergers neue Performance-Installation «The Gap» wurde in Genf und Zürich gezeigt.
Thomas Meyer
- 30. Sep. 2025
Archiv: Performance Streichtrio&Turntables. Mitglieder des Ensembles Contrechamps: Maximilian Haft – Violine, Ingrid Schoenlaub – Violoncello, Noëlle Reymond – Kontrabass. Foto: Betina Kuntzsch
Ein mit blauen Zähnen blinkendes Unheuer in der Abendstille: So präsentiert sich einem das Alte Krematorium zwischen den Bäumen des Friedhofs Sihlfeld. Ein seltsamer Ort für ein Konzert, doch das Gebäude dient seit Langem nur noch als Abdankungshalle und für kulturelle Veranstaltungen. Dennoch wirkt er andächtig-schauerlich. So könnte es einst gewesen sein, wenn die Habsburgerfamilie am Karfreitag in die Hofburgkapelle ging, um einem Oratorium zum heiligen Grab von Kaiser Leopold I. zu lauschen. Wie damals in der Azione Sacra ging es auch diesmal wenn nicht um eine Welterlösung, so doch zumindest um einen Neubeginn, um ein «Schlupfloch in der Zeit», um jenen «Gap», von dem der Titel des Werks spricht. Will da jemand einer unheilvollen Gegenwart entkommen?
Traum und Wunder
Anfang September wurde Katharina Rosenbergers «Performance-Installation» in La Bâtie in Genf uraufgeführt, die Zürcher Erstaufführung erfolgte am 28. und 29. September – durchaus passender – im Sihlfeld. Denn in der Wahl dieses Orts, wo sich Aschermittwoch verwirklicht, steckt eine leise, wenn auch respektvolle Provokation. Wir betreten das Gebäude durch den Haupteingang. In der zentralen Halle, Salle d’écriture benannt, erklingt ein leiser musikalischer Prolog. Die Einstimmung wird unterfüttert mit Texten Franz Kafkas und Hannah Arendts. Kafkas «Er» wird von zwei Kräften bedrängt, die eine stösst ihn vom Ursprung her voran, die andere hält ihn zurück. Irgendwann – so sein Traum – wird er sich über seine kämpfenden Gegner erheben müssen. Arendts Vision wiederum spricht von «Wundern» im politischen Bereich und von der Hoffnung auf den handelnden Menschen. Ausserdem kann man auf Zetteln Fragen beantworten: Welche Erfahrung man in eine andere Galaxie mitnehmen möchte? Warum ein Neubeginn so schwierig sei?
Prächtig ausgestattete Lücke
Dann öffnen sich drei grosse Seitenräume. Linkerhand der Raum der «Vergänglichkeit» mit einem grossen, urtierartigen Gerüst, dessen metallische Perkussionsinstrumente Brian Archinal zum Klingen bringt. Rechterhand das «Archiv» voller vermotteter Ausstellungsstücke, ein altertümliches Kuriositätenkabinett; auf Plattenspielern kann man Fellplatten hören. In einem dritten Raum, wo früher die Verbrennungshalle war, ist eine «Time Machine» zu erleben, ein rosaviolettes elektronisches Theater ewiger Musiken, ein Nirwana.
Vergänglichkeit/Transience: Brian Archinal, Mitglied des Collegium Novum Zürich (Konzept Instrumentation, Improvisation). Foto: Betina Kuntzsch
Diese so schön gestalteten und farbengesättigten, fast barock ausgestatteten Räume werden vom Publikum erwandert. Es ist beeindruckend, was die Komponistin mit dem Regisseur Matthias Rebstock und einem engagierten multimedialen Kollektiv zusammengetragen hat, echtes Teamwork. Das Ensemble Contrechamps aus Genf und das Collegium Novum Zürich haben sich hier einmal mehr erfolgreich zusammengeschlossen, und darin spiegelt sich so nebenbei auch Biografisches der Komponistin. Die Zürcherin, Co-Leiterin des Festivals Sonic Matter, unterrichtet Komposition an der Haute école de musique in Genf.
Kaum einlösbares Konstrukt
Wo denn die Zusammenhänge von all diesen Eindrücken sein mögen, fragt man sich allerdings und hofft auf den Schlussakt, wenn sich alle wieder in der Salle d’écriture eingefunden haben. Dort hört man eine ausschwingende, sich droneartig ausbreitende Musik, voll innerem Pathos, wohlklingend und doch durchzogen. Ist das diese «Lücke», das «geheime Portal in andere Welten», ist das der «Neubeginn»? Es ist die Crux solcher installativer, postdramatischer Musiktheaterproduktionen, dass es ihnen oft an Schlüssigkeit und Zwangsläufigkeit mangelt. Aus den vier Räumen ergeben sich nicht konsequent das Ende und eben der Neubeginn. Ein textlich-musikalisch-szenisches Konstrukt wird ausgespannt, das überfrachtet wirkt und dessen Suche letztlich nirgends hinführt. Man gerät auch ästhetisch in einen Clinch: Welchen Gemeinsinn erfordert dieser Neuanfang? Wie schön darf er klingen, damit er nicht gleich nach New Age riecht? So verlässt man das Gebäude mit vielen offenen Fragen. Aber gewiss auch: Es ist etwas zutiefst Menschliches, an Wunder zu glauben, die Hoffnung stirbt zuletzt.
Mitte September fand im Basler Stadtcasino «Macht Musik – Ein Festival über die Freiheit der Kunst in Diktaturen» statt. Es bot aufschlussreiche Einblicke in das Musikleben in der Sowjetunion.
Daniel Lienhard
- 26. Sep. 2025
Vladimir Jurowski dirigierte das Eröffnungskonzert. Foto: Jonas Tschopp
Musik in Diktaturen ist ein fast unerschöpfliches Gebiet. Das Basler Festival zu diesem Thema legte seinen Fokus auf die Sowjetunion. Es wurden Werke von Dmitri Schostakowitsch und Sergei Prokofjew, den beiden bekanntesten sowjetischen Komponisten, gespielt, aber auch von Komponisten (keinen Komponistinnen), denen man hierzulande nie im Konzert begegnet.
Zu Beginn ein Höhepunkt mit Schostakowitsch
Dass man das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) für ein Konzert nach Basel holen konnte, war ein absoluter Glücksfall. Unter der Leitung von Vladimir Jurowski, einem hervorragenden Dirigenten, der die Musik plastisch zur Geltung bringt, spielte es im ersten Teil Werke mit aktuellen politischen Bezügen zur jeweiligen Entstehungszeit. Lidice von Bohuslav Martinů ist eine erschütternde Hommage an das von den Nazis dem Erdboden gleichgemachte Dorf in Tschechien; mit der Meditation über den altböhmischen Choral St. Wenzeslaus wollte Josef Suk die Bemühungen zur Gründung eines tschechoslowakischen Staates unterstützen; Arnold Schönberg schrieb die Ode to Napoleon Buonaparte 1942 im amerikanischen Exil und vertonte dabei eine Schmährede von Lord Byron auf Napoleon mit offensichtlichen Bezügen zur damals aktuellen Situation.
Nach der Pause hörte man die monumentale, über einstündige 11. Sinfonie von Schostakowitsch. Sie wurde äusserst engagiert und diszipliniert gespielt. 1957 uraufgeführt, unterlief diese Sinfonie die Erwartungen des Regimes auf ein bedeutendes Stück zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution, indem der Komponist den Aufstand von 1905 in St. Petersburg thematisierte, wo der Zar auf eine hungernde, unbewaffnete Menge hatte schiessen lassen.
Es braucht nicht viel Fantasie, um das Werk als ein mahnendes Gedenken an alle gewaltsam niedergeschlagenen Versuche des Aufbegehrens, wie etwa den ungarischen Aufstand 1956, zu sehen. Äusserlich erfüllte der Komponist zwar die Normen des «sozialistischen Realismus», durch die Zitate – die von der Obrigkeit nicht erkannt wurden – kann die Sinfonie aber durchaus als regimekritisch verstanden werden. In der Schilderung des Massakers geht Schostakowitsch bis an die Grenzen dessen, was die Ohren von Konzertbesucherinnen und -besuchern und die Akustik eines Konzertsaals ertragen können; das geht unter die Haut. Dieses Konzert war ein erster, lange nachhallender Höhepunkt des Festivals.
Am folgenden Abend spielten das in Basel bestens bekannte Belcea Quartet und die exzellente Pianistin Yulianna Avdeeva die bekannten Klavierquintette von Schostakowitsch und Mieczysław Weinberg.
Ukrainische Komponisten in sowjetischer Zeit
Die drei Werke ukrainischer Komponisten im Konzert mit dem Kyiv Symphony Orchestra unter der Leitung von Oksana Lyniv waren vielleicht nicht über alle Zweifel erhaben. In seiner Simplizität fesselte das Tripelkonzert des heute in den Niederlanden lebenden Maxim Shalygin (geb. 1985) am wenigsten. Berührend ist hingegen das Schicksal von Vasyl Barvinsky (1888–1963): Auf behördliche Anweisung musste er der Zerstörung seiner Manuskripte zustimmen, verbrachte 10 Jahre im Gulag und versuchte in den verbleibenden Lebensjahren, seine Werke zu rekonstruieren. Seine Ukrainische Rhapsodie ist ein relativ leichtgewichtiges Stück in der Nachfolge von Dvořák und Smetana. Die Heroische Symphonie von Yevhen Stankovych, einem heute 83-jährigen Komponisten, der auch unter Zensur zu leiden hatte, ist als Ganzes kein absolut befriedigendes Werk, enthält aber bemerkenswert instrumentierte Passagen.
Trübe Gedanken statt Regimekonformität
Nach einer brillanten Interpretation von Sergei Prokofjews 6. Klaviersonate (1939/40) spielte der hervorragende ukrainische Pianist Alexey Botvinov das 3. Klavierkonzert Ave Maria (1968) von Alemdar Karamanov (1934–2007) in seiner eigenen Bearbeitung für Soloklavier: ein von starker Religiosität geprägtes Werk, das das Publikum durch seine Expressivität in den Bann schlägt, obwohl es mit zu seiner Entstehungszeit sehr altmodischen Mitteln komponiert wurde.
Sehr wichtig im Festivalkontext war die Aufführung von Schostakowitschs 14. Sinfonie op.135 für Sopran, Bass und Kammerorchester aus dem Jahr 1969. Dieses seinem Freund Benjamin Britten gewidmete Werk kreist in Vertonungen von Gedichten von García Lorca, Apollinaire, Küchelbecker und Rilke um den Tod in seinen ganz verschiedenen Erscheinungen. Der Komponist, inspiriert von seiner Instrumentation von Mussorgskis Liedern und Tänzen des Todes, bemühte sich hier gar nicht mehr, Musik zu komponieren, die mit den Idealen des Sowjetstaates kompatibel war, sondern verlieh trüben Gedanken an Unfreiheit, Resignation und Tod Ausdruck. Der von Heinz Holliger geleiteten Aufführung mit Evelina Dobračeva (Sopran), Michael Nagy (Bariton) und dem Kammerorchester Basel wurde vom Publikum begeistert applaudiert.
Hintergründe in Vorträgen und Diskussionen
Der künstlerische Leiter Hans-Georg Hofmann, bis vor Kurzem beim Sinfonieorchester Basel tätig, legte Wert darauf, dass das Festivalprogramm durch zahlreiche Einführungsvorträge, Lesungen und Podiumsdiskussionen mit wichtigen Hintergrundinformationen abgerundet wurde. Man erfuhr unter anderem, wie vielgestaltig die sowjetische Musik war und dass im Westen nur ein Bruchteil davon bekannt ist. Auch dass sich das Bild von Schostakowitsch in den 50 Jahren seit seinem Tod ständig verändert hat: War er nun ein Dissident, eine Galionsfigur oder eine Faust-Gestalt, die einen Pakt mit dem Bösen geschlossen hatte? Dass Stalin, der uns als Verkörperung des Bösen an sich erscheint, ein reges Interesse an Musik hatte, wird oft vergessen. Besonders erschütternd war Michail Schischkins Erinnerung an Véronique Lautard-Schewtschenka (1901–1982), eine französische Pianistin, die aufgrund einer unüberlegten Äusserung für Jahre im Gulag verschwand und nach ihrer Freilassung trotz widrigster Umstände viele Menschen mit ihrem Klavierspiel berührte.
Angesichts dieser Vermittlungsbemühungen ist es schade, dass für das Publikum nur eine Broschüre mit rudimentären Angaben zum Programm ohne Satzbezeichnungen, Entstehungsjahre und Biografien der Komponisten auflag. Und vielleicht wären noch mehr Interessierte zu einem Besuch des Festivals verleitet worden, wenn es anstelle des zweideutigen «Macht Musik» einen aussagekräftigeren Titel gehabt hätte.
50 Jahre Schweizerischer Jugendmusikwettbewerb
Am 13. September feierte der SJMW sein Jubiläum in der Tonhalle Zürich. Viele Ehemalige haben mitgewirkt, auch solistisch bei der Uraufführung der SJMW-Auftragswerke von Richard Dubugnon und Daniel Schnyder.
Katrin Spelinova
- 24. Sep. 2025
Uraufführung des neuen Werks von Richard Dubugnon. Foto: SJMW
Das Tonhalle-Orchester Zürich ist dem Schweizerischen Jugendmusikwettbewerb (SJMW) speziell verbunden. Sein damaliger Chefdirigent Gerd Albrecht hatte 1975 die Gründung eines Musikwettbewerbs für Kinder und Jugendliche initiiert. Potenzieller professioneller Nachwuchs sollte so früh ausgemacht und entsprechend gefördert werden. Im Lauf der Jahre haben sich die geprüften Disziplinen vervielfacht. Zu den klassischen Instrumentalfächern sind Kategorien wie Jazz, Pop, Experimentalmusik oder Komposition hinzugekommen. Heute steht der SJMW für Breitenförderung und die Unterstützung junger Musikerinnen und Musiker. Ziel ist die Förderung der Persönlichkeit.
Freude an der Musik transportiert
Valérie Probst, SJMW-Geschäftsführerin bis Februar 2025, hat den Wettbewerb während 18 Jahren massgeblich geprägt und weiterentwickelt. Sie hat den Jubiläumsanlass in einem dreijährigen Prozess konzipiert und organisiert. Dank der Unterstützung der Tonhalle Zürich und der Finanzierung durch die Förderstiftung Musik Zürich für die Publikation, die Hirschmann-Stiftung und die Ruth-und-Ernst-Burkhalter-Stiftung für die Solisten, die Ruth-Burkhalter-Stiftung zur Förderung junger Musiktalente für das Kinderkonzert, die Jubiläumsstiftung der Mobiliar und SRF 2 Kultur konnte die Veranstaltung überhaupt realisiert werden. In verschiedenen Darbietungen waren viele aktive und ehemalige Wettbewerbsteilnehmende zu erleben: auf der Bühne musizierend, als Teil einer Klanginstallation oder im Jubiläumsbuch feinfühlig fotografisch porträtiert.
Frank Martin: « Concerto pour sept instruments à vent, timbales, batterie et orchestre à cordes ». Foto: SJMW
Höhepunkt war das Jubiläumskonzert im grossen Saal der Tonhalle Zürich mit den beiden Uraufführungen. Die Akademische Festouvertüre von Brahm eröffnete das Programm markant. Festliche, volle, virtuose und freudige Klänge dominierten den Abend. In Richard Dubugnons Auftragswerk Helvetia III – Le feu de la jeunesse waren acht ehemalige Erstpreisträgerinnen und -träger solistisch zu hören, in Frank Martins Concerto pour sept instruments à vent, timbales, batterie et orchestre à cordes sieben und in Daniel Schnyders neuer Komposition Quadrupel Concerto for Trumpet, Horn, Trombone, Bass Trombone and large Orchestra vier. Musizierlust war allenthalben zu spüren – ganz im Sinn des Wettbewerbs, bei dem nicht die Konkurrenz im Vordergrund steht, sondern die gemeinsame Freude an der Musik.
Das 7. Othmar-Schoeck-Festival findet unter dem Titel «Investment Culture» vom 19. bis 21. September in Brunnen statt. Höhepunkt bildet die Aufführung der «Elegie» mit Christian Gerhaher und dem Kammerorchester Basel unter der Leitung von Heinz Holliger.
PM/SMZ/ks
- 15. Sep. 2025
Impression vom ersten Festival 2016: Blick vom Garten der historischen Villa Schoeck, wo der Komponist 1886 geboren wurde, auf den Vierwaldstättersee.
Unter dem Titel «Investment Culture» widmet sich das Othmar-Schoeck-Festival der komplexen Thematik der Finanzierung kompositorischen Schaffens in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf dem Winterthurer Industriellen Werner Reinhart, der als Mäzen das Schaffen zahlreicher Komponisten – darunter Igor Strawinsky oder Alban Berg und insbesondere Othmar Schoeck – massgeblich unterstützte.
Selten zu hörende Werke
Das Eröffnungskonzert am 19. September ist denjenigen Komponisten gewidmet, deren Schaffen durch Werner Reinharts Unterstützung ermöglicht wurde. Neben Werken von Strawinsky und Berg gelangen Schoecks «Wandersprüche» op. 42 zur Aufführung, ergänzt durch eine Uraufführung des amerikanischen Komponisten Jeremy Gill, der 2023 im Rahmen einer Künstlerresidenz mehrere Monate in der Villa Schoeck arbeitete.
Den Höhepunkt bildet das Abschlusskonzert am 21. September im Seehotel Waldstätterhof mit Christian Gerhaher und dem Kammerorchester Basel unter Heinz Holliger. Sie werden Schoecks «Elegie» op. 36 interpretieren. Das traditionsreiche Hotel hat eine besondere familiäre Verbindung zu Othmar Schoeck: Seine Mutter Agathe war die Tochter der damaligen Besitzer des Waldstätterhofs.
Weitere Programmpunkte umfassen eine Masterclass Liedduo mit Cornelia Kallisch und Edward Rushton in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Musik, einen Vortrag von Ulrike Thiele über Werner Reinhart sowie ein neues Vermittlungsprojekt für Schulkinder.
Bedeutung für kulturelles Erbe und regionale Entwicklung
Das Othmar-Schoeck-Festival leistet einen wichtigen Beitrag zur Pflege eines kulturellen Erbes von lokaler, nationaler und internationaler Bedeutung. Die ursprünglich auf zehn Jahre angelegte thematische Konzeption ermöglicht eine nachhaltige und vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk des 1886 in Brunnen geborenen Komponisten. Das Festival vermittelt seine Musik gezielt auch an jüngere Generationen, seien es Kinder und Jugendliche der Region oder Musikstudierende.
Durch die Verpflichtung hochkarätiger internationaler Künstlerinnen und Künstler entstehen qualitativ hochstehende musikalische Erlebnisse, die weit über die Region hinausstrahlen und so gleichzeitig die touristische Attraktivität von Schoecks Geburtsort stärken. Einige Veranstaltungen finden in der historischen Villa Schoeck statt, wo der Komponist einen Teil seiner grossen Werke schuf und die heute als genuiner Ort der Begegnung mit seinem künstlerischen Schaffen dient.
Neue Finanzierungsstrategien für nachhaltige Festivalzukunft
Das Festival entwickelt angesichts der herausfordernden Finanzierungslage neue Strategien zur Planungssicherheit. Die Tantiemen aus Aufführungen von Schoecks Werken in den Jahren 2025 bis 2027 werden von den beiden Erbengemeinschaften von Schoecks Tochter Gisela (1932-2018) in Deutschland und der Schweiz dem Festival zur Verfügung gestellt, wofür der Verein sehr dankbar ist. Zusätzlich möchte man einen privaten Gönnerkreis aufbauen.
Diese Massnahmen sind notwendig geworden, da das Festival wesentlich auf die Unterstützung durch private Stiftungen angewiesen ist. Deren finanzielle Möglichkeiten hängen auch von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung und den Aktienmärkten ab.
Die Schweizer Musikzeitung ist Medienpartnerin des Othmar-Schoeck-Festivals.
50 Jahre Wandel: Jazzfestival Willisau
1975 gründete Niklaus Troxler das Jazzfestival Willisau, das bald zu einem der wichtigen Anlässe in der Agenda der zeitgenössischen Szene wurde. Im August feierte die heute von Arno Troxler geleitete Reihe Jubiläum.
Michael Gasser
- 09. Sep. 2025
So zum Beispiel wurde das Jazzfestival Willisau früher beworben. Plakate: Niklaus Troxler
Geboren wird das Jazzfestival Willisau im Jahr 1975, was aber nur die halbe Wahrheit ist: Niklaus «Knox» Troxler, Gründer und langjähriger Leiter des Events, veranstaltet bereits ab 1966 Konzerte an seinem Geburts- und Wohnort Willisau. «Ich fing mit älterem Jazz an, weil das Interesse für Neuheiten in diesem Bereich erst einmal geweckt werden musste», erklärt der Grafikdesigner und Plakatgestalter im Gründungsjahr in einem Interview mit der Zeitschrift Jazz.
Im Zeichen des Free Jazz
Nach und nach konfrontiert Troxler (geb. 1947) sein Publikum mit experimentellem Jazz, was ältere Musikfans teils verstört, ihn als Veranstalter aber ermutigt. Für die erste Ausgabe seines neuen Festivals wünscht er sich ein offenes Publikum. Ein Wunsch, der sich auch am allerersten Plakat ablesen lässt. Es stammt – wie alle weiteren bis und mit 2009 – von Niklaus Troxler selbst und zeigt die Pop-Art-inspirierte Silhouette eines Kopfes mit riesiger roter Haartolle, die ein überdimensioniertes Ohr bildet. Das wirkt modern, frisch sowie rebellisch und trifft den Geist des damaligen Free Jazz, der mit Künstlern wie Archie Shepp oder Cecil Taylor die erste Festivalausgabe prägt.
Sechs Jahre später, auf die 7. Ausgabe hin, verdeutlicht Troxler, dass sich der Anlass nicht nur etabliert hat, sondern nun auch in seiner Blüte steht. Das Programm setzt weiterhin auf Free Jazz und Improvisation, sucht sein Glück jetzt aber vermehrt bei US-Stars, beispielsweise beim Pharoah Sanders Quartet oder dem Gitarristen Pat Metheny. Entsprechend selbstbewusst präsentiert sich das Festivalplakat, dessen Motiv ein abstrahierter, neonfarbener Trompetenspieler ist – was stark rhythmisch, bewegt und energiegeladen wirkt.
Essenz des Jazz
16 Jahre später erweist sich Troxlers Plakat zur 23. Festivalausgabe radikal reduziert. Es zeigt eine Schar tanzender und Instrumente spielender Figuren – fast wie mit Tinte hingekleckst. Eine minimalistische Szenerie ganz ohne Effekthascherei – sie erinnert an die Essenz des Jazz zwischen Klang, Körper und Moment. Passend dazu auch das Line-up, das unter dem Motto «Jazz Around the World» steht und Acts wie den französisch-vietnamesischen Gitarristen Nguyên Lê oder die Egberto Gismonti Group aus Brasilien bietet. Und mit Nachdruck darlegt, dass Willisau kaum mehr stilistische Grenzen kennt.
2009 sieht sich das Festival mit einer unklaren Zukunft konfrontiert. Gewiss ist nur, dass die 35. Edition die letzte von Gründer Niklaus Troxler sein wird. Im Juni desselben Jahres zeichnet sich jedoch ab, dass es weitergeht – in der Familie. Ab 2010 wird Neffe Arno (geb. 1979) das Szepter übernehmen, ein ausgebildeter Schlagzeuger. Für sein allerletztes Festivalplakat entscheidet sich Niklaus Troxler für eine ruhigere, organische Gestaltung, gegenüber den dynamischen Motiven von früher eine bewusste Zurücknahme. Auch das Musikprogramm folgt nochmals seinen Vorlieben – von Afrika über den Blues bis hin zur Avantgarde.
Auch optisch ein Aufbruch
2010 lautet die bange Frage: Was macht der «Neue» aus dem traditionsreichen Anlass? Die Antwort: Arno Troxler löst sein Versprechen ein und beschert dem Jazzfestival Willisau Kontinuität, versteht es aber auch, neue Akzente zu setzen. Dies, indem er erstmals Stilgattungen wie Electronic oder Rock und damit Künstlerinnen wie die E-Bassistin Meshell Ndegeocello oder die norwegische Sängerin Sidsel Endresen auf die Bühnen der Luzerner Kleinstadt bringt. Der neue Schwung macht sich auch in der Postergestaltung für das Festival bemerkbar: Das von Annik und Paula Troxler, den Töchtern des Gründers, kreierte Plakat kombiniert klare Typografie mit Farbdynamik, Struktur und grafischer Eleganz – und markiert den Aufbruch zu neuen gestalterischen Ufern.
Anlässlich des 50-jährigen Bestehens entwerfen Paula Troxler und Kleon Medugorac gleich 50 verschiedene Plakate. Von jedem blickt ein Gesicht, das sich aus Elementen früherer Poster zusammensetzt, ohne nostalgisch zu wirken. Als nicht minder spielerisch erweisen sich die vier Festivaltage mit Künstlern wie dem Kali Trio, das Post-Genre-Sounds beschert, oder dem die Grenzen zwischen Improvisation und Songwriting auslotenden Savannah Harris Trio. Was Festivalleiter Arno Troxler ein frohes Fazit entlockt: «2025 war geprägt von fantastischen Konzerten, Publikumszuwachs und einer friedlich erfreuten Stimmung.» Entsprechend optimistisch blickt er in die Zukunft.
Der Platz in der gedruckten Ausgabe reicht längst nicht für alle Texte, deshalb werden sie hier aufgelistet und auf die entsprechenden Online-Artikel verlinkt. Diese sind grösstenteils schon vor Erscheinen der gedruckten Ausgabe publiziert worden.
Der weisse Turm über Mulegns
Es hat die Bündner Kulturlandschaft nachhaltig verändert. Nun feiert das Festival Origen seinen 20. Geburtstag – mit einem spektakulären Bauwerk.
Danke, Peter Hagmann
Der bedeutende Musikkritiker prägte jahrelang das Feuilleton der NZZ. Es ging ihm um die Fülle des Lebens in der Musik. Am 5. Juni ist er verstorben.
Mit Höreinschränkung im Konzert
Für ein Erleben mit allen Sinnen lässt das Freiburger Barockorchester das Publikum ganz nah heran.
Strategisches Marketing für Chöre
Viele Chöre kämpfen mit Nachwuchsmangel und sinkenden Einnahmen. Statt bei der Werbung zu sparen, sollten sie in professionelles Marketing investieren, denn jedes zusätzlich verkaufte Ticket hilft, die Kosten zu decken.
Gesang, Gebärde, Tanz am EJCF: ein Fest der Freude
Zum 14. Mal fand das Europäische Jugendchor-Festival in Basel und der Region statt. Über 60 Kinder- und Jugendchöre aus 13 Ländern fanden bei geschätzten 40 000 Besucherinnen und Besuchern ein begeistertes Echo.
An 13 Jugendchorfestivals viel erlebt
Seit 1992 haben Arvo Ratavaara und seine Frau in Basel Jugendchöre von Estland bis Ukraine betreut und beherbergt. Er erinnert sich an eindrückliche Begegnungen und berührende Stimmen, an Polizeieskorten und improvisierten Fast-Food und ganz besonders an Jugendliche, die sich Mut zusingen.
Preise an Hedi Young, Antonio Gaggiano und Hortense Airault übergeben
Die zwei Musikerinnen und der Musiker nahmen im Rahmen des Lucerne Festivals die Fritz-Gerber-Awards 2025 entgegen.
Max Nyffeler
- 28. Aug. 2025
Preisübergabe am 24. August in Luzern. Foto: Max Nyffeler
Die chinesische Perkussionistin Hedi Young, der italienische Perkussionist Antonio Gaggiano sowie die französische Cellistin und Komponistin Hortense Airault sind mit dem Fritz-Gerber-Award 2025 ausgezeichnet worden (die SMZ hat berichtet). Die Preise sind mit je 10 000 Franken dotiert und ermöglichen ausserdem die Teilnahme an der Lucerne Festival Academy. Überreicht wurden die Urkunden am 24. August im Rahmen des Lucerne Festivals durch Regula Gerber, Vizepräsidentin der Fritz-Gerber-Stiftung und ehemalige Intendantin der Theater in Bielefeld und Mannheim.
Bei der Preisverleihung stellten sich die drei Ausgezeichneten, die auch an schweizerischen Musikhochschulen studiert haben oder noch studieren, mit exponierten Werken der Moderne vor: mit Spins and Spells für Cello solo von Kaija Saariaho, mit einer vierstimmigen Etüde für Marimba solo von Pius Cheung und mit Clash Music für ein Beckenpaar von Nicolaus A. Huber.
Mit dem 2015 ins Leben gerufenen Fritz-Gerber-Award werden jährlich drei hochbegabte junge Musikerinnen und Musiker ausgezeichnet. Er ist eng mit dem Lucerne Festival verbunden und ausschliesslich auf die Interpretation zeitgenössischer Werke ausgerichtet. Juroren in diesem Jahr waren Michael Haefliger und Heinz Holliger.
Erfolgreiche Streichquartettförderung
Das europäische Programm Merita für Nachwuchs-Streichquartette schloss im August 2025 seine erste drei Jahre dauernde Edition ab. Auch Schweizer Ensembles sind eingebunden.
PM/SMZ/ks
- 26. Aug. 2025
Screenshot von der Merita-Plattform mit den präsenten Schweizer Ensembles
Merita steht für Music cultural heritage talent. Unter der Leitung von Le Dimore del Quartetto unterstützte die von Creative Europe geförderte internationale Plattform für Kammermusik drei Jahre lang 38 Quartette mit 152 Musikern aus 28 Nationen. In 40 Residenzen in historischen Häusern entstanden innovative Konzertformate, die in 198 Aufführungen zwischen März 2024 und August 2025 über 10 000 Zuhörer erreichten. Aus der Schweiz sind das Protean Quartet, das Moser String Quartet und das Modulor Quartet präsent.
Die Plattform verbindet Kammermusik mit kulturellem Erbe und gesellschaftlicher Inklusion. Ab September 2025 startet eine zweite Edition bis 2029, die 56 Ensembles – Streichquartette und Klaviertrios – fördern wird.
Das Young Composers Project am Künstlerhaus Boswil ist eine Initiative mit Vorbildcharakter.
Text und Fotos: Max Nyffeler
- 25. Aug. 2025
Die Young Composers mit den Dozenten Robert Koller (hinten links), Bettina Skrzypczak (vorne rechts) und Moritz Müllenbach (Mitte, 2. von rechts)
Wie kann ich Komponieren lernen? Wie bringe ich meine Musik vom Kopf aufs Papier? Wie entwickle ich einen musikalischen Gedanken? Diese Grundfragen standen im Zentrum des Young Composers Project (YCP), das seit März an einem Wochenende pro Monat im Künstlerhaus Boswil stattfand und elf jungen Komponierenden aus der Deutschschweiz die Gelegenheit bot, unter der Anleitung hochkarätiger Lehrpersonen eigene Werke zu erarbeiten. Der Jüngste war neun, der Älteste neunzehn Jahre alt. Die Ergebnisse des aussergewöhnlich erfolgreichen Projekts werden am 7. September in Boswil und am 9. September in der Kantonsschule Wettingen der Öffentlichkeit vorgestellt.
Begabtenförderung im Bereich des Instrumentalspiels wird heute vielerorts praktiziert. Beim Komponieren hingegen herrscht oft die Meinung vor, das sei eine Angelegenheit für Erwachsene, den Kindern und Jugendlichen fehlten dafür die nötigen Fähigkeiten. Das Gegenteil ist wahr. Davon konnte man sich überzeugen bei einem Besuch des YCP an einem Juniwochenende in Boswil und bei der ersten Probe mit professionellen Musikerinnen und Musikern in Arlesheim im August. Die Vielfalt und Originalität der Ideen, ihre Ausarbeitung und Notation, die meist am Computer geschah, der vorurteilslose Umgang mit Harmonik, der von atonal bis D-Dur reichte, die wache Auseinandersetzung mit theoretischen und praktischen Fragen des Komponierens und das teils noch suchende, teils schon gründlich reflektierte Sprechen über das eigene Tun – das alles weckte Erstaunen und machte neugierig auf die beiden öffentlichen Konzerte im September.
Die Young Composers und ihre Werke
Der Jüngste, der neunjährige Daniel Smirnov, den seine Eltern stets mit dem Auto nach Boswil gefahren haben, hat eine Fantasie komponiert, ein frisch zupackendes, durch Tempo- und Tonartwechsel in kontrastierende Abschnitte unterteiltes Stück für vier Spieler. Er komponiert mit grosser Leichtigkeit, auf seinem Computer hat er über hundert lustige Schweinchenstücke gespeichert, inspiriert durch Walt Disneys Drei kleinen Schweinchen.
Der neunjährige Daniel Smirnov bei der Ensembleprobe mit seiner Schwester und mit Lukas Langlotz, Robert Koller und Bettina Skrzypczak.
Am anderen Ende der Altersskala steht Luca Blanke (*2005), der sich mit The Blind Guitarist für Violine, Cello, Klarinette, Djembe und Triangel ein Bild aus Picassos Blauer Periode zur Vorlage genommen hat. Er versetzt sich in die Lage des blinden Musikanten und übersetzt seine Gedanken auf überlegte Weise in eine mehrschichtige, facettenreich erzählende musikalische Struktur.
Jaël Maier (*2008) spielt Bratsche und hat das Trio Weite im Sturm für Violine, Cello und Klavier komponiert. Weit gespannte Melodien werden darin von bewegten Begleitfiguren untermalt, eine verhaltene innere Erregung prägt das Stück.
Karina Verich (*2009), eine ausgezeichnete Pianistin, die seit ihrer Kindheit Jazz spielt und vor einigen Jahren aus der Ukraine in die Schweiz gekommen ist, hat mit dem Duo As-tu fatigue? für Klavier und Cello pizzicato eine herausfordernde Jazznummer im 7/8-Takt geschrieben. Die beiden Instrumente sind mit kleinteiligen Motiven eng ineinander verhakt, rhythmischer Drive verbindet sich mit schwereloser Eleganz.
In Untitled des gleichaltrigen Laurin Rogausch spielt das Tasteninstrument die Hauptrolle. Der technisch anspruchsvolle Part ist eingebettet in eine Begleitung aus Violine, Cello und Klarinette. Mit den raumgreifenden Läufen und Arpeggien des Klaviers besitzt das in einer erweiterten Durtonalität geschriebene Stück einen ausgeprägt konzertanten Charakter.
Auffällig an der Komposition von Marco Buser (*2006) für fünf Instrumente sind die polyfonen Ansätze in der Stimmführung und der Umgang mit charakteristischen Ausdrucks- und Formtypen. Das detailgenau ausgearbeitete Stück besteht aus drei kontrastierenden Abschnitten – der mittlere basiert auf einem Tangorhythmus – und endet in einem fetzigen Finale. Der Versuch, die divergierenden Teile formal unter einen Hut zu bringen, wird im verspielten Arbeitstitel angesprochen: Rotundum quadrare opportet (etwa: Das Runde muss eckig gemacht werden). Assoziationen an den Fussballerspruch «Das Runde muss ins Eckige» lässt der Komponist übrigens gelten.
Caner Öztas (*2008), der sich schon gut in der akustischen Physik auskennt und die Obertonstruktur eines Instrumentaltons mit lupenreiner Klarheit erläutern kann, kombiniert in The Evolution elektronisch erzeugte Klänge mit Violine, Cello, Klavier und Xylofon. Die auf H basierten, sich fortlaufend wandelnden Lautsprecherklänge verschmelzen mit dem Spiel der Instrumente. Durch das hartnäckige Festhalten am Grundton wird man in das sich verdichtende Klanggeschehen gleichsam hineingesogen.
Caner Öztas, einer der Teilnehmer, erläutert die Obertonspektren des Instrumentaltons.
Der gleichaltrige Loïs Poller entwirft in Vestige für Klarinette, Violine, Cello und Xylofon das Szenario der Suche eines kleinen Jungen nach seinem Vater, was in einer allgemeinen Katastrophe endet. In der expressiven, die Ausdruckswerte sorgfältig gewichtenden Komposition wechseln sich schnelle und langsame Teile ab, doch ein ernster Tonfall ist allen gemeinsam.
Auch Roland Potluka (*2007) fühlt sich eher zu abgedunkelten Gefühlsregionen hingezogen. Im Trio Asphodelus Rêverie bezieht er sich auf die Blume Affodill, die, wie er sagt, mit Trauer in Verbindung gebracht wird. Das inspirierte ihn zu einer interessanten Konstruktion von Wiederholungsstrukturen, in denen sich Cello und Klarinette als führende Instrumente abwechseln, der emotionale Gehalt wird in strukturelle Werte umgesetzt.
Schliesslich Yannick (*2011) und Inès (*2008) Köllner: Die beiden Geschwister erarbeiteten unter dem Titel Nano Haiku eine rund zwanzigminütige Videoinstallation mit Musik, eine schwindelerregende Reise durch eine andere Wirklichkeit, Yannick als bereits versierter, musikalisch denkender Videokünstler und Soundtechniker, Inès als Komponistin und hochbegabte Cellistin, die beim Schweizerischen Jugendmusikwettbewerb 2024 mit Lutosławskis kniffliger Sacher Variation brilliert hat. Bei Nano Haiku, wo gesprochene Texte, Musik und Videoprojektion sekundengenau ineinandergreifen, ist sie nun auch als Textautorin und Dirigentin aktiv.
Die Komponistin und Cellistin Inès Köllner arbeitet mit Moritz Müllenbach an der Cellostimme zu Nano Haiku.
Eine Akademie für den Nachwuchs
Der Zweck dieses Kurses lautete: Ausarbeitung von individuellen Werken bis zur Konzertreife. Dass das nur über eine genaue Notation geht, war selbstverständliche Voraussetzung. Der Kompositionsunterricht im engeren Sinn wurde dabei ergänzt durch ein breites Angebot an Zusatzfächern. Darin ging es um grundsätzliche Aspekte des Komponierens wie Konzeption eines Werks, Notationsform, Instrumentenkunde, Fragen der Formbildung und anderes mehr; auch massstabsetzende Werke der Vergangenheit wurden diskutiert. Das machte aus dem YCP eine veritable Akademie für den Nachwuchs. Mit ihren Lerninhalten und der professionellen Betreuung würde sie jeder Musik(hoch)schule zur Zierde gereichen. Auch für die Boswiler Stiftung, die sich über den hohen Stellenwert des Unternehmens offenbar nicht so richtig im Klaren war, bildet sie einen ungeplanten Glanzpunkt im Rahmen ihres Förderprogramms.
Zu verdanken ist der Erfolg des Projekts einer engagierten Gruppe von Dozierenden, allen voran dem Bariton Robert Koller, der das komplexe Unternehmen quasi im Alleingang organisierte, und der Komponistin Bettina Skrzypczak; sie war 2013 Mitbegründerin und danach langjährige Leiterin des YCP. In diesem Jahr führte sie es im Team mit Robert Koller. Schwerpunktmässig waren ausserdem beteiligt: Lukas Langlotz als musikalischer Leiter der Proben, der Dirigent Cristoforo Spagnuolo als «Special guest», Pierre Funck für Filmmusik und Karin Wetzel, die die Kursteilnehmer mitbetreute.
Und der Cellist Moritz Müllenbach. Am Beispiel der mit Doppelgriffen und Flageoletts gespickten Cellostimme aus der Komposition von Inès Köllner demonstrierte er gemeinsam mit ihr die unerschöpflichen Möglichkeiten der Klangerzeugung auf den Streichinstrumenten, so lustvoll wie ein Spitzenkoch, der seine besten Rezepte verrät. Müllenbach war neben Heidy Huwiler (Klarinette), Friedemann A. Treiber (Violine/Viola), Elizaveta Parfentyeva (Klavier) und Junko Rusche (Schlagzeug) auch Teil des fünfköpfigen Ensembles, das die kompositorischen Erstlinge einstudierte. Mit einer Sorgfalt, als stammten sie von arrivierten Komponisten.
Die öffentliche Probe mit dem Ensemble in Arlesheim war ein erster Probelauf drei Wochen vor den Schlusskonzerten. Hier hörten die jungen Komponierenden ihre Stücke, mit denen sie sich meist nur am Computer beschäftigt hatten, zum ersten Mal live mit Instrumenten. Dabei konnten Unstimmigkeiten der Partitur mit dem Ensemble besprochen und anschliessend korrigiert werden. Und schon hier wurde klar: Die Werke sind der klingende Beweis, dass Kreativität und kompositorische Intelligenz sich im jungen Alter auf ebenso ernst zu nehmende Weise artikulieren können wie bei akademisch Ausgebildeten. Diese verfügen zwar über ein professionelles Handwerk, mehr kompositorische Erfahrung und damit eine reifere Sicht auf die Musik. Das Kapital der Jungen hingegen sind spontane Entdeckerfreude, der Wille, Neues zu lernen und eine ungetrübte Lust am künstlerischen Schaffen. Mit anderen Worten: Im Komponieren unternimmt hier eine neue Generation die ersten Schritte zur Gestaltung der Zukunft.
«The Groovy Drumbeat»: Forschung im Musikunterricht
Ein Team der Hochschule Luzern zog mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds los, um Jugendlichen Forschung rund um den Groove nahezubringen. Ein Erfahrungsbericht.
Florian Hoesl/HSLU
- 22. Aug. 2025
Foto: Tim Meier
Die Themen der Musikforschung sind so vielseitig wie die Materie selbst und die gewonnenen Erkenntnisse mehren sich nicht monatlich oder wöchentlich, sondern täglich. Schaut man sich aber einmal an, wie viele dieser Erkenntnisse tatsächlich in einem breiteren öffentlichen Diskurs landen, wird es doch schnell sehr mager.
Ich gehöre einem Forschungsteam der Hochschule Luzern – Musik (HSLU) an, das sich unter der Leitung von Olivier Senn der Ergründung des «Groove» widmet, einem Phänomen aus der Wahrnehmungspsychologie. Groove erleben wir, wenn wir beim Musikhören den Drang verspüren, uns zur Musik zu bewegen, und dies von positiven Emotionen begleitet ist. Ein völlig alltägliches Phänomen, fast alle kennen es.
Allein in Psychology of Music und Music Perception (zwei wichtige Zeitschriften, die auf die Wahrnehmung von Musik spezialisiert sind, was auch die Groove-Forschung umfasst), wurden im Jahr 2024 über 100 Artikel veröffentlicht. Jetzt kann sich jeder selbst die Frage stellen, mit wie vielen dieser Studien er im Alltag in Berührung gekommen ist. Wäre ich nicht im Wissenschaftsbetrieb tätig, würde ich diese Frage wohl mit «gar keiner» beantworten. Forschungserkenntnisse erreichen uns fast ausschliesslich dann, wenn sie so spektakulär sind, dass sie im Wissenschaftsteil einer grossen Tageszeitung landen.
Dies liegt auch daran, dass die Verbreitung von Ergebnissen an eine breite Öffentlichkeit im Forschungsprozess eher stiefmütterlich behandelt wird. Geforscht wird zumeist an Hochschulen oder Universitäten. Für die Projekte müssen Drittmittel akquiriert werden und die Budgets sind dadurch oft knapp. Viele Projekte sind mit der Veröffentlichung ihrer Studie im Wissenschaftsjournal beendet, selten bleiben Mittel für die Vermittlung an die Allgemeinheit.
Der Nationalfonds springt ein
Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) ist sich dieser Problematik bewusst und hat das Agora-Programm eingerichtet mit dem Ziel, «Kommunikationsprojekte zu fördern, die einen direkten Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ermöglichen».
Wir waren der Ansicht, dass unser Forschungsfeld «Groove» besonders für Jugendliche einen sehr niederschwelligen Einstieg in wissenschaftliches Arbeiten bietet: Musik ist allgegenwärtig. Sie beeinflusst unser Bewegungsverhalten und unsere Emotionen. Die allermeisten Menschen erleben es regelmässig, wenn sie sich beim Musikhören bewegen wollen und die Stimmung mitunter stark positiv beeinflusst wird. Man muss diese Materie nicht erst schmackhaft machen. Wir reichten beim Nationalfonds ein Gesuch ein und bekamen für unser Projekt «The Groovy Drumbeat» Unterstützung zugesprochen.
Die Idee war, unsere Forschung in Workshops an die Schulen in den Musikunterricht zu bringen. Dabei wollten wir nicht nur Vorträge halten, sondern die Klassen aktiv einbeziehen. Insgesamt konnten wir die Workshops an 6 Schulen in 4 Kantonen mit 17 Klassen und knapp 230 Schülerinnen und Schülern (SuS) durchführen. Sie waren zwischen 14 und 18 Jahre alt. Manche waren in Neigungsklassen mit einem Fokus auf Musik, andere besuchten den regulären Musikunterricht.
Mehr Aufwand als gedacht
Bei der Ausarbeitung der Workshops mit den Kollegen Toni Bechtold, Lorenz Kilchenmann und Rafael Jerjen mussten wir schnell feststellen, dass es zwei völlig unterschiedliche Paar Stiefel sind, im Labor zu forschen oder diese Forschung für Laien verständlich aufzuarbeiten, ohne dabei wesentliche Punkte wegzulassen. Wir benötigten viel mehr Zeit für die Vorbereitungen, als im Vorfeld erwartet. Das hatten wir gehörig unterschätzt.
Die Workshops, bestehend aus zwei Sessions, wurden in aufeinanderfolgenden Wochen während je einer Doppellektion von 90 Minuten durchgeführt. Zum Einstieg hörten wir gemeinsam Musik, versuchten mittels Bodypercussion Groove zu erzeugen und diskutierten, in welchen Situationen die SuS in ihrem Alltag Groove erleben. Dann leiteten wir Fragen ab, wie man dieses Phänomen wissenschaftlich untersuchen könnte. In unseren Forschungsprojekten führen wir zu diesem Zweck meist Hörexperimente durch, in denen kurze Hörbeispiele (Stimuli) hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Menschen untersucht werden. Drumbeats, wie wir sie aus der Popularmusik kennen, dienen uns dabei häufig als Audio-Stimuli.
Foto: Tim Meier
Ein solches Experiment wollten wir mit den Klassen aufgleisen und durchführen. Dabei war es uns ein Anliegen, dass die SuS ihre eigenen Hörbeispiele (Stimuli) dafür komponierten. Wir fanden eine geeignete Onlinesoftware «Groove Scribe», mit der sich ohne grosse Vorkenntnisse nach kurzer Einführung Beats «bauen» lassen. Die SuS sollten je einen groovigen und einen ungroovigen Drumbeat komponieren. Diese Stiumuli luden wir auf die Onlineplattform SoSci Survey in unsere Experimentvorlage. Die Teilnahme am Experiment war als Hausaufgabe zu erledigen und in der darauffolgenden Woche ging es für uns zurück in die Schulen, um mit den Klassen die Ergebnisse zu diskutieren und zu überlegen, wie sich diese im Höralltag der SuS widerspiegeln.
Niederschwelliges Thema – hohes Reflexionsniveau
Sehr erfreulich war für uns das hohe Niveau, auf dem die SuS reflektierten und diskutierten. Natürlich variierten Vokabular und Ausdruck je nach Alter, dennoch war es kein Problem für die Jugendlichen, ihre eigenen Beobachtungen zu beschreiben und zu verstehen, wie unsere Groove-Untersuchungen funktionieren und was die Probleme dabei sind.
Ein schönes Beispiel dafür: Bei allen Experimenten mit allen Klassen kam heraus, dass es zwar Stimuli gab, die als sehr ungroovig empfunden wurden, jedoch die groovigsten Patterns es maximal bis ins obere Mittelfeld schafften. Es gab also keine, die als sehr groovig empfunden wurden.
Auf die Frage, woran das liegen könnte, kam bei ausnahmslos allen Klassen als erste Antwort, dass es sich ja gar nicht um «ganze Musik» handle, sondern nur um die Drumbeats. Damit erkannten die SuS sofort eine der grössten Einschränkungen, bei dieser Art von Forschung, nämlich dass wir, um das Experiment kontrollieren zu können, sehr oft keine vollständige Musik verwenden können, sondern die Stimuli reduzieren müssen.
Ein Beispiel für einen groovigen Beat. Er ist rhythmisch interessant gestaltet, gleichzeitig ist der Puls klar zu spüren. Beats, die diese Eigenschaften hatten, wurden meist als groovig wahrgenommen.
Beim «Bauen» der Beats wurde ebenfalls schnell klar, dass die SuS sehr genau wissen, welche Art von Beats sie zum Tanzen bringen und wie diese beschaffen sein müssen. Wir demonstrierten zuvor einige Aspekte, wie Dichte, Regelmässigkeit, Instrumentierungen etc. und los ging es. Egal ob Neigungsklassen oder allgemeiner Musikunterricht, die Hörexperimente zeigten durchwegs, dass die Beats, die mit dem Ziel komponiert wurden, «groovig» zu sein, auch meist so bewertet wurden und umgekehrt.
Erkenntnisse für das persönliche Hören
In der zweiten Doppellektion des Workshops ging es vor allem darum, das Hörexperiment zu interpretieren, also sich mit der Frage zu beschäftigen, warum ein Beat groovt und ein anderer nicht. Auch hier wussten die SuS genau, warum ein Beat für sie groovt oder nicht. In aller Regel war die Transparenz des Pulses sehr wichtig. Aber auch die Dichte an Klangereignissen im Pattern oder eine ungewöhnliche Instrumentierung (z. B. Cymbals oder sonstige Perkussion), die die Beats interessanter machten, spielten eine Rolle.
Dieser Beat wurde als sehr ungroovig empfunden. Die Noten sind willkürlich gesetzt und bei einem sehr langsamen Tempo von 60bpm ist es sehr schwierig, den Puls wahrzunehmen.
Die beiden Top Drumbeats jeder Klasse versuchten wir zusätzlich mit Bodypercussion und sonstigen Perkussionsinstrumenten umzusetzen. Hier zeigten sich dann doch grosse Unterschiede: Mit den Neigungsklassen war grundsätzlich mehr möglich, was jedoch nicht nur den unterschiedlichen Interessen, sondern auch der Gruppengrösse zuzuschreiben war. Die Neigungsklassen waren sehr klein.
Um die Workshops abzuschliessen, war es uns wichtig, die gewonnenen Erkenntnisse auf die Musik zu übertragen, die die Jugendlichen auch tatsächlich in ihrem Alltag hören. Wir hörten zusammen von den SUS ausgewählte Musik und wurden Zeugen teils lebhafter Debatten darüber, welche Musik nun groovig ist und welche nicht.
Impulse werden aufgenommen und weiterentwickelt
Mit diesem Projekt betraten wir als Team Neuland. Obwohl wir alle in irgendeiner Form unterrichten, sei es als Instrumentallehrer oder in einzelnen Kursen an der Hochschule, hatten wir noch nichts Vergleichbares gemacht. Dies betraf viele Bereiche, von altersgerechter Aufarbeitung der Thematik bis hin zur Auseinandersetzung mit den Dynamiken in Schulklassen von Jugendlichen. Der Wissenstransfer lief hier nicht auf einer Einbahnstrasse und auch die Lehrpersonen, die die Workshops natürlich begleiteten, teilten uns mit, sehr profitiert zu haben, und baten uns um noch mehr Material zu solchen Themen. Es stehen auch schon Ideen im Raum, im Rahmen von Projektwochen vielleicht einmal ein ganzes Panel zu organisieren, während dem die Jugendlichen eigene kleine Forschungsarbeiten durchführen und selbst Vorträge halten könnten. Auch gemeinsames Musizieren und kleine Konzerte wären möglich. Was daraus wird, wird die Zukunft zeigen.
Befriedigter Abgang mit leise irritierendem Thema
Ein Augenschein vom 4. bis 6. August beim Menuhin-Festival in Gstaad. Es ist das letzte unter der Leitung von Christoph Müller.
Georg Rudiger
- 14. Aug. 2025
Christoph Müller bei der Kirche in Saanen. Foto: Tomas Wüthrich
Balkanroute – das klingt nach Massenflucht und Leid, nach Schleppern und der Angst vor unkontrollierter Einwanderung. «Balkanroute» heisst auch das Konzertprogramm, das Christina Pluhar mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata und Gastmusikerinnen und -musikern aus dem Balkan beim Gstaader Menuhin-Festival in der ausverkauften Kirche Saanen präsentiert und damit für Begeisterung sorgt. Hier wird die Balkanroute zur spannenden, sinnlichen musikalischen Entdeckungsreise und erzählt von den Menschen, die dort leben. Der Titel passt nicht nur gut zum Thema Migration, das Intendant Christoph Müller für seine letzte Festivalausgabe gewählt hat. Er spielt auch mit den Erwartungen des Publikums und führt über das Musikalische hinaus. Genau dieses Mehr an gesellschaftlicher Relevanz möchte Müller erreichen.
Westbalkan – Ostbalkan
Dabei ist der Weltmusik-Abend ganz unpolitisch. Keine Statements, kein Aktivismus. Die Lieder erzählen von Sehnsucht und Liebe, Trauer und Tod. Sie versprühen auch unbändige Lebensfreude wie das Romalied Dumbala Dumba, das Luciana Mancini mit kehliger Stimme und geschmeidigem Hüftschwung, angeheizt vom sensationellen Akkordeonisten Petar Ralchev und den kreativen Perkussionisten David Mayoral und Tobias Steinberger, zu einer Party werden lässt. Die Westbalkanroute führt über Griechenland (das getragene Are mou Rindineddha/Wer weiss, kleine Schwalbe), Mazedonien (So maki sum se rodila/Mit Schmerzen wurde ich geboren) und Serbien (Gusta noćna tmina/Tiefe dunkle Nacht) nach Kroatien, das mit dem von Céline Scheen und Vincenzo Capezzuto innig vorgetragenen geistlichen Gesang Panis angelicus (Engelsbrot) aus dem 17. Jahrhundert repräsentiert ist.
Auf der Ostbalkanroute verzückt Peyo Peev mit seinem virtuosen Spiel auf der Gadulka, der bulgarischen Kniegeige. Auch die arabischen Instrumente Oud (Kyriakos Tapakis) und Kanun (Stefano Dorakakis) bringen neben der griechischen Lyra (Giorgos Kontoyiannis) besondere Farben in die zu weiten Teilen improvisierte Musik, die nur manchmal in den zahlreichen Soli etwas ausufert. Christina Pluhar leitet an der Theorbe mit dezentem Kopfnicken das multikulturelle Ensemble. Die insgesamt fünf Sängerinnen und Sänger, darunter besonders ausdrucksstark Katerina Papadopoulo und Nataša Mirković, sorgen ebenfalls für eine grosse musikalische Bandbreite.
Erfreuliche Bilanz über 24 Jahre
Mit seiner Themensetzung hat sich Christoph Müller nicht nur Freunde gemacht. «Es gab tatsächlich einzelne kritische Reaktionen auf verschiedenen Ebenen. Das Thema Migration provozierte einzelne Menschen – und dem Risiko haben wir uns ausgesetzt», sagt der scheidende Intendant. Nach «Demut» und «Transformation» bildet «Migration» den letzten Teil des auf drei Jahre angelegten «Wandel»-Zyklus. «Nach Pandemie und angesichts von Kriegsereignissen und dem rasant fortschreitenden Klimawandel wollte und konnte ich nicht mit Unverbindlichem weitermachen und sah es als meine Aufgabe an, mit unseren Programmen Zeichen zu setzen», erklärt Müller die Profilschärfung der letzten Jahre.
Umso mehr freut es ihn, dass sich das mit 7,5 Millionen Franken budgetierte Programm, davon 15 Prozent öffentlich gefördert, auch beim Publikum ankommt und am Ende zwischen 27 000 und 28 000 Tickets verkauft sein werden – rund 10 Prozent mehr als 2024. Als Müller die Intendanz im Jahr 2002 bei einem damaligen Budget von 2,5 Millionen Schweizer Franken übernahm, war die Zukunft des von Yehudi Menuhin 1957 gegründeten Konzertfestivals unsicher. Vor allem mit den insgesamt sieben Akademien – darunter die drei Wochen dauernde Conducting Academy – hat der Kulturmanager das Festival erweitert und die Nachwuchsförderung ins Zentrum gestellt. Neben den vielen Kammerkonzerten in den Kirchen des Saanenlandes machen auch die Orchester- und Opernkonzerte im grossen Zelt das Festival zu etwas Besonderem. Dass der Abschied von Christoph Müller im letzten Konzert am 6. September zusammen mit dem Beginn der neuen Intendanz von Daniel Hope gefeiert wird, betont den harmonischen Übergang.
Etwas Missfallen und viele Glücksgefühle
Im Konzert Beethoven im Heute in der Kirche Lauenen zeigen Patricia Kopatchinskaja und der Pianist Joonas Ahonen den Komponisten wirklich als Revolutionär. Die grosse Linie geht bei den radikalen Zuspitzungen in den Violinsonaten Nr. 4 in a-Moll und Nr. 8 in G-Dur zwar etwas verloren, aber das rasend schnell genommene Finale der G-Dur-Sonate beispielsweise erhält eine Radikalität, die aufhorchen lässt. Aufregend ist auch die Uraufführung von Márton Illés‘ Stück Én-kör V (Ich-Kreis V), das aberwitzige Virtuosität mit Klangexperimenten kombiniert. Die auch für das Publikum herausfordernde Komposition sorgt durchaus für Missfallen, wie man aus den Gesprächen nach dem Konzert heraushören kann.
Ein kollektives Hochgefühl herrscht dagegen nach dem Auftritt des Mandolinenstars Avi Avital mit seinem Between Worlds Ensemble, das süditalienische Musik und mit der Sängerin Alessia Tondo auch das entsprechende Temperament in die Kirche Saanen bringt. Bis auf Ausschnitte aus Emanuele Barbellas Mandolinenkonzert und aus Igor Strawinskys Suite italienne ist lauter Volksmusik zu hören – von Neapel bis Apulien: lebendig, authentisch, abwechslungsreich. Auch hier gibt es viel Raum für Improvisation (Luca Tarantino: Gitarre, Itamar Doari: Perkussion). Und die Tarantella wird nicht nur virtuos gespielt, sondern auch getanzt. Am Ende herrscht in der Kirche eine Stimmung wie bei einem Rockkonzert. Und man schaut in viele glückliche Gesichter.
Die Winterthurer Musikfestwochen begehen ihr 50-jähriges Bestehen mit besonderen Formaten und der Frage nach der Zukunft unabhängiger Festivals. Statt auf grosse Namen setzt das traditionsreiche Festival auf Nähe, Haltung und kulturelle Teilhabe.
PM/SMZ/ks
- 11. Juli 2025
Der interaktive Parcours «Rätselfestwochen» läuft bereits seit 1. Juli. Foto: Andrin Fetz
Seit einem halben Jahrhundert stehen die Winterthurer Musikfestwochen für unabhängige, nicht-kommerzielle Kultur mitten in der Altstadt. Was 1976 als kleines Konzertwochenende begann, ist heute eines der ältesten Festivals der Schweiz und zieht jährlich rund 60’000 Besucher an. Das Festival hat sich als Sprungbrett für Schweizer Acts und internationale Newcomer etabliert – ermöglicht durch über 1’100 Freiwillige mit mehr als 28’000 Stunden ehrenamtlicher Arbeit.
Im Jubiläumsjahr verzichten die Musikfestwochen bewusst auf Showeffekte und grosse Namen. «Wir haben viele Jahre an der klaren Positionierung unseres Festivals gearbeitet und sind erfolgreich damit», erklärt Co-Geschäftsleiterin Lotta Widmer. Angesichts des aktuellen «Festivalsterbens» und der zunehmenden Monopolisierung in der Musikbranche will das Festival seine Unabhängigkeit bewahren und das Profil schärfen.
Jubiläumsprogramm mit Zukunftsfocus
Das Jubiläum wird mit drei besonderen Formaten gefeiert. Am 9. August findet das «Zukunftslabor» statt – ein Workshop mit dem Think & Do-Tank Dezentrum, in dem Teilnehmende Szenarien für das Festival von morgen entwickeln. Gleichzeitig geht das «Musikfestkarussell» auf Tour: ein musikalischer Spaziergang mit Konzerten an überraschenden Orten rund um das Festivalgelände.
Bereits seit dem 1. Juli laufen die «Rätselfestwochen» – ein interaktiver Parcours durch Winterthur. Das Escape-Room-Team Geheimgang188 hat sie konzipiert. Sie geben spielerisch Einblick in die Organisation hinter den Kulissen.
Die 50. Ausgabe der Musikfestwochen findet vom 6. bis 17. August 2025 statt. Vereinspräsidentin Anina Ljaskowsky betont: «Wir waren, sind und bleiben ein Werk von vielen. Statt nur zurückzuschauen, wollen wir weiterdenken: Wie muss sich das Festival weiterentwickeln, damit es auch in 50 Jahren noch unabhängig, offen und relevant ist?»