Von der Entwicklung des Radios erwartet Hermann Scherchen (1891–1966) viel für eine demokratische musikalische Volksbildung. Von Anfang an ist er dabei: 1924 sein erstes Radiokonzert zum 50. Geburtstag von Schönberg, 1928 musikalischer Oberleiter am Königsberger «Ostmarkenrundfunk», 1932 musikalischer Berater der Reichsrundfunk-Gesellschaft in Berlin. Von 1945 bis 1950 amtiert er als Musikchef von Radio Beromünster und leitet das Zürcher Studio-Orchester. 1950 erscheint in Winterthur seine Studie Musik für Jedermann – dem unbekannten Radiohörer gewidmet.
In einem «Bekenntnis zum Radio» sieht er in dem neuen Medium «die bedeutendste Erschütterung im Leben der Völker seit der Erfindung des Buchdrucks». Wie andere in der Frühzeit des Mediums, erhofft er sich vom Radio auch eine Mobilisierung des Hörers zu eigener Aktivität – künstlerischer (musikalischer) wie geistiger (politischer). 1930 leitet er auf dem Musikfest von Baden-Baden die Uraufführung des von Hindemith und Kurt Weill vertonten Brechtschen Lindberghflugs, eines «Radiolehrstücks». Das Publikum soll darin einbezogen sein.
In einem Aufsatz Der Rundfunk in seinen Beziehungen zu Musikpflege und Musikerziehung reflektiert Scherchen 1930 über das «musik-auslegende, sinnschaffende Wort»; es stünde in der Form «der poetisierenden Darstellung eines Musikwerkes», aber auch «als streng auf die musikalischen Vorgänge beschränkte Werkanalyse» zur Verfügung. Von ausgedehnten Einführungsvorträgen hält er nichts; statt dessen die «musikalische Ansage» – «vom knapp Überschriften gebenden Bericht bis zur anekdotenhaften Festhaltung eines Zeitmilieus, oder bis unmittelbar in die Gefühlssphäre hineinführenden empfindsamen Mitteilung».
Um 1930 hat Scherchen Hörspiele mit Musik als eine «dem Radio eigentümliche Form» erwogen und Strawinskys L’histoire du soldat, Hermann Reutters Saul und Milhauds Le bœuf sur le toit so umgesetzt. In den vierziger Jahren schweben ihm «neuartige, aber unmittelbar verständlich bleibende Ineinanderverbindungen von Musik und Wort» vor, wie Dostojewskis Grossinquisitor mit beigestellter Musik von Tschaikowski. Auch wendet er sich in Bearbeitungen als ein «Hörtheater» klassisch-romantischer Bühnenmusik zu: Egmont, Ein Sommernachtstraum, L’Arlesienne, Peer Gynt. Dazugestellt eine poetische Ausdeutung des Prometheus-Balletts von Beethoven und Schumanns «dramatisches Gedicht» Manfred nach Byron, komprimiert. In der Beschränkung auf jeweils eine dreiviertel Stunde hat er dabei einen zyklischen Sendeplatz im Sinn.
Aufnahmen des «Hörtheaters» schon bei Radio Beromünster; aber am Sender Leipzig wird vom 25. 11. bis 1. 12. 1960 die Serie als Ganzes eingespielt. Scherchen, von den zwanziger Jahren her Leipzig eng verbunden, nach Kriegsende auch zweimal als Gewandhauskapellmeister gehandelt, war im Gustav-Mahler-Jahr 1960 zweimal Gastdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters gewesen. Dabei brachte er seine Hörfunkbearbeitungen ins Gespräch, und kurzfristig wurde der Aufnahmetermin vereinbart. Ein Parforceritt sondergleichen: vormittags die Orchesterproben, am Nachmittag die Proben mit den Solisten und dem Chor und abends von acht Uhr bis elf oder gar bis Mitternacht die Aufnahmen. Myriam Scherchen zufolge hat ihn das Ergebnis so begeistert, dass er eine Schallplattenausgabe erwog – die aber nicht zustande kam. Die Tochter hat das Vermächtnis erfüllt: musterhafte Edition, auch mit allen Scherchen-Texten, in einer dreiteiligen CD-Kassette Musique et litterature auf dem von ihr installierten Label «Tahra» (TAH 103-105).
Scherchen beabsichtigt mit seinem «Hörtheater» auf Musik zu Bühnenstücken hinzulenken, die infolge der veränderten Theaterpraxis kaum mehr erklingt, jedenfalls im Zusammenhang mit der Dichtung nicht. Darüber hinaus verfolgt er musikpädagogische Interessen: Durch das Zusammenspiel von Wort und Ton soll musikalisches Verständnis geschaffen werden. Wie er dem Leipziger Musikredakteur Klaus Richter erläutert: Es müssten Mittel und Wege gefunden werden, «die noch nicht interessierten Hörer auf die verschiedenartigste Weise zu interessierten Hörern zu machen». Sendeformen sollten gesucht werden, «die den Hörer in einen psychologischen Spannungszustand versetzen, die ihn der Musik offen und gespannt entgegentreten lassen, die ihn in ein bildungsmässiges Bezugssystem versetzen, in das er die zu hörende Musik einordnen kann.»
Durch die Beschränkung auf jeweils eine dreiviertel Stunde sind Eingriffe in die Partituren – Kürzungen – bedingt. Aber überhaupt nimmt sich Scherchen Freiheiten bis zur neuen Zuordnung von Musiknummern heraus. Den Kommentar lässt er entweder in die Pausen sprechen – auch selbstherrlich in die Musik gesetzte! –, oder er überlagert in der Art des Melodrams die Töne mit Worten. Manches erinnert, im guten wie schlechten Sinn, an die Methoden von Filmmusik. Scherchen mag dies gemeint haben, als er auf die «ästhetische Anfechtbarkeit» hinweist – sie aber der pädagogischen Absicht willen in Kauf nimmt.
Myriam Scherchen nennt die Bearbeitungen des Vaters eine «wahrhaftige Neuschaffung». Die Auswahl sei quasi autobiographisch zu verstehen. Es wird auf den «fast faustschen Kampf des Menschen mit seiner Begierde» gelenkt und die Erlösung durch Liebe. Ihr Vater habe das Leben eines Mannes geführt, «der alles wissen wollte, eines Autodidakten, der an den Menschen glaubte und dessen Allmacht, der jedoch die Liebe benötigte, um seiner eigenen übergreifenden Tätigkeit einen geistigen Sinn zu geben».
Sechsmal «Hörtheater»