Berner Revolutionär und Romantiker

In einer umfangreichen Monografie zeichnet Jannis Mallouchos den Lebensweg des Musikers und Bakunin-Vertrauten Adolf Reichel nach.

Adolf Reichel fotografiert von Moritz Vollenweider. Bild: zVg

«Adolf Reichel ist ein Unbekannter», so beginnt Jannis Mallouchos‘ Monografie über den Berner Chefdirigenten, Komponisten, Pianisten und Pädagogen deutscher Herkunft. 652 Seiten später ist der Unbekannte so erschöpfend erforscht wie wohl nur wenige seinesgleichen, in einem wissenschaftlichen Buch, das sich fesselnd wie ein Roman liest. In der Literatur über den Frühsozialismus und den Vormärz ist Adolf Reichel (1816–1896) längst ein alter Bekannter. Doch vergeblich hat vor Jahren eine Handvoll Musiker (Suzanne Reichel, Adrian Aeschbacher, Stefan Blunier) versucht, auf Reichel auch als Komponisten aufmerksam zu machen.

Zur Wiederentdeckung des Schweizer Musikers bedurfte es dann eines griechischen Komponisten und Musikwissenschaftlers, eines deutschen Professors, eines niederländischen Archivs, eines österreichischen Verlags und eines Zufalls: Im Internet stiess Mallouchos auf Reichels Ururenkelin, die soeben die jahrzehntelang verschollenen Notenhandschriften ihres Ahnen aufgespürt hatte.

Hervorragend vernetzte Persönlichkeit

Akribisch zeichnet Mallouchos Reichels abenteuerlichen Weg vom braven preussischen Untertanen zum polizeibekannten Unterstützer von Oppositionellen und Revolutionären (die sich heute wohl das Etikett «Terroristen» gefallen lassen müssten) und schliesslich zum abgeklärten Republikaner und Schweizer mit Emmentaler Bürgerrecht nach, Stammvater einer Dynastie übrigens, die heute lückenlos sechs Musikergenerationen zählt.

Reichels Begegnungen mit zahllosen bedeutenden Persönlichkeiten von Friedrich Schleiermacher über Alexander Herzen (dessen Mitarbeiterin Marija Ern er heiratete), Georg Herwegh, Frédéric Chopin, Pierre-Joseph Proudhon, Karl Marx und Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen, seinen Stationen im «revolutionären und romantischen» (John Eliot Gardiner) Europa und seiner langjährigen symbiotischen Freundschaft mit dem Anarchisten Michail Bakunin geht Mallouchos bis in die feinsten Verästelungen und Querbeziehungen nach. Reichels Lebenserinnerungen, seine Theoriewerke, seine Briefe und seine Kompositionen – schöne und durchaus anrührende Musik, konservativ, aber sehr versiert im Idiom der klassizistischen Romantik zwischen Beethoven und Schumann geschrieben – stellt er scharfsinnig und kenntnisreich in die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge ihrer Epoche.

Das Buch beschliessen Werkanalysen, eine Bibliografie und ein Verzeichnis von Reichels 279 Werken, die wir hoffentlich bald veröffentlicht sehen und wieder aufgeführt hören werden.

Jannis Mallouchos: Adolf Reichel (1816–1896), Politische, kulturhistorische, musiktheoretische und kompositorische Aspekte eines Musikerlebens, 652 S., € 80.00,  Hollitzer, Wien 2023, ISBN 978-3-99094-084-6

 

Lieder zur Nacht

Verblüffend viele bislang unbekannte Namen tauchen in dieser Sammlung von Klavierliedern von Komponistinnen des 19. Jahrhunderts auf.

Nanny (auch: Anna) Bochkoltz, Sängerin («eine der bedeutendsten dramatischen Koloratursopranistinnen ihrer Generation in Deutschland») und Komponistin (1815-1879). Quelle: Wikimedia commons

Beschränkten sich Einspielungen und Rezitals mit Liedern von Komponistinnen in den 1980er-Jahren noch auf wenige Namen wie Clara Schumann und Fanny Hensel, Cécile Chaminade, Mel Bonis und Alma Mahler, kamen 1992 in der Musikalienreihe «Frauen komponieren» bei Schott aus dem 19.Jahrhundert nebst Luise Reichardt, Emilie Zumsteg und Johanna Kinkel auch Josephine Lang und Luise Adolpha Le Beau hinzu.

Wie reichhaltig die von Komponistinnen geschaffene Vokalmusik für eine Singstimme mit Klavierbegleitung ist, bringt erstmals die von Maria Behrendt äusserst sorgfältig herausgegebene Zusammenstellung Abendklänge Nachtgesänge zum Ausdruck. Sie macht deutlich, dass Lieder im Schaffen romantischer Komponistinnen innerhalb des deutschsprachigen Kulturraums eine zentrale Stellung einnahmen. Zu Fanny Hensel, Clara Schumann, Josefine Lang und Johanna Kinkel gesellen sich jetzt zehn Komponistinnen, von denen angenommen werden muss, dass sie der Fachwelt bislang kaum bekannt waren.

Beachtenswert ist auch die Vielfalt der Texte, fallen doch neben den häufig vertonten Lyrikern Goethe, Heine, Lenau, Geibel und Heyse die Dichterinnen Wilhelmine von Gersdorf, Anna Ritter, Aline Sello und Friederike Serre auf. Wieviel Biografisches noch zu erforschen bleibt, geht aus dem Fehlen der Lebensdaten von Isidore von Bülow, Mary Norris und Julie Wilhelmine von Tschirschky hervor.

Da Maria Behrendt ihre sehr spezielle Auswahl auf Abendlieder, Nachtgesänge, Träume, Sehnsucht und nächtliche Stimmungen konzentriert, lässt sich erahnen, wie viel es in Liedern von Komponistinnen des 19. Jahrhunderts ausserhalb dieser Themen weiterhin zu entdecken gibt.

Von den insgesamt 15 Gesängen von ebenso vielen Komponistinnen zeichnen sich die durchkomponierten von Maria Arndts, Anna Bochkoltz, Bertha von Brukenthal, Clara Faisst, Fanny Hensel, Marie von Kehler und Mary Norris gegenüber den Strophenliedern von Josephine Lang, Aline Sello oder Helene Zitelmann durch stärkere Eigenart aus. Zu den weitgehend auf Erstdrucken basierenden Neuausgaben steuerte die Herausgeberin mustergültige Einzelanmerkungen bei, die sowohl über die Quellenlage als auch über Widmungen und Notentextrevisionen präzise Auskunft geben.

Abendklänge Nachtgesänge, ausgewählte Lieder von Komponistinnen des 19. Jahrhunderts für Singstimme und Klavier, hg. von Maria Behrendt, Urtext, EB 9477, € 25.90, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

Unter die Haut

Das vierte Album von Singer/Songwriter Ella Ronen beginnt fulminant und flacht auch bei den folgenden Liedern nicht ab.

Ella Ronen. Foto: Alessandra Leimer

Es ist nicht leicht, über das Lied hinwegzukommen, mit dem dieses herrliche Album anfängt. Truth erzählt die autobiografische Geschichte einer jungen Frau. Sie kommt in einer Bar, die bekannt ist dafür, Minderjährigen Alkohol auszuschenken, mit einem berühmten Dichter ins Gespräch, lässt sich von ihm überreden, ihn nach Hause zu begleiten, wo sie einem schweren sexuellen Übergriff gerade noch entfliehen kann. Davon handelt das Lied indes weniger als von der Wahrheit, die den Mann vor einigen Jahren eingeholt hat: Er wurde von einer Zeitung – und von Ella Ronen – der serienmässigen Übergriffigkeit überführt.

Ella Ronen verpackt diese Geschichte in eine Melodie, die der elliptisch wiederkehrende Mini-Refrain («The truth is on its way») in Kombination mit der samtenen Altstimme und einem subtilen, mit Conga und Zither (?) tupferhaft akzentuierten Gitarrenarrangement fürwahr unvergesslich macht. Auf englisch würde man die Wirkung als «haunting» umschreiben – eine träfe Übersetzung dafür fällt mir partout nicht ein. Jedenfalls musste ich Truth viele Male hören, ehe ich mich losreissen und auch noch auf die restlichen neun Lieder einlassen konnte.

Umso grösser ist die Freude, reportieren zu dürfen, dass Ronen mit ihrem vierten Album ein rundum freudvoller Wurf gelungen ist. Aufgenommen mit dem amerikanischen Produzenten Sam Cohen (Kevin Morby, Alexandra Savior etc.) in Upstate New York, ist The Girl With No Skin ein bemerkenswert vielfältiges und subtiles Werk, das sich indes auch zornige Momente gönnt («Fuck cute/I’m tired of cute/cute has never ever served me»). Ella Ronen wuchs in Tel Aviv auf, ehe sie als Studentin in Lausanne landete, wo sie 2014 ihr Debutalbum aufnahm. Heute lebt sie mit ihren zwei Kindern in Zürich und ist zusammen mit Brandy Butler und Sarah Palin Mitbegründerin des feministischen Mino Collective.

Ella Ronen: The Girl With No Skin. Irascible Records/BB*Island

 

Dringende Fragen sanft gestellt

Die Pianistin Simone Keller hat Musik von Komponistinnen und People of colour vor allem aus den USA und der Schweiz eingespielt. Ein weiterführendes Buch beleuchtet die Kompositionen und die Hintergründe.

Simone Keller. Foto: Palma Fiacco

«100 minutes of piano music from the last 100 years in the context of social inequality and unequal power relations» verspricht die Doppel-CD der Thurgauer Pianistin Simone Keller. Entstanden ist eine höchst heterogene und diverse Anthologie mit strukturell benachteiligter Musik von Komponistinnen und People of colour, vor allem aus den USA und der Schweiz. Ungleichheit in der Musikgeschichte ist ein brisantes Thema, nur hört man sie den einzelnen Stücken natürlich nicht an. Denn wenn sie so wunderbar interpretiert werden wie hier, fragt man sich wieder einmal, was denn da alles schiefgelaufen ist.

Einige Persönlichkeiten wie Ruth Crawford Seeger oder zuletzt auch Julius Eastman gehören zwar mittlerweile in jeden Grundkurs für neuere Musik. Anderes aber ist zu entdecken, etwa die St. Galler Dichterin und Komponistin Olga Diener (1890–1963), deren Texte Hermann Hesse als «viel zu sehr Traum und viel zu wenig Dichtung» umriss. Ihre «Geheimsprache», so Hesse auch, spricht aber gerade heute wieder durch ihre eigenartigen Wendungen.

Es ist, trotz des Backgrounds, keine aufrührerische, sondern eine eher ruhige Anthologie geworden. Auch Neues ist darunter: das sich langsam entfaltende Stück Black/blackness: After Mantra(s) für Klavier und Elektronik von Jessie Cox, das Fragen der Klimakrise berührt. Oder aber ein Richtig Schottisch der aus der Volksmusikerfamilie stammenden Cristina Janett. «Die Volksmusik mit ihren vielfältigen Einflüssen entdeckte ich viel später», schreibt die aus einer Bauernfamilie stammende Pianistin Keller, «und es wurde mir erst in der Zusammenarbeit mit Cristina Janett bewusst, wie sehr sie Teil meiner Identität ist.» Gerade solche Bewusstwerdungsprozesse sind hier zentral.

Schliesslich ist da die Komponistin Irene Higginbotham (1918–1988), bekannt oder eben kaum bekannt dafür, dass sie den Song Good Morning Heartache für Billie Holiday schrieb. Dreimal taucht er in diesem Album auf und gibt ihm den Titel wie auch einem Buch, das Simone Keller doppelsprachig deutsch/englisch herausgegeben hat. Es enthält nicht nur weiterführende Texte zu den Kompositionen, sondern erhellt auch den soziokulturellen Hintergrund, vor dem sie entstanden, und führt gleichzeitig darüber hinaus in unsere Zeit. Die Fragen, die hier scheinbar sanft gestellt werden, sind dringend.

Simone Keller: Hidden Heartache. Intakt CD 419

Simone Keller u.a.: Facetten 21 – Hidden Heartache, Kulturstiftung des Kantons Thurgau, 320 S. mit Notenheft, Fr. 32.00, Jungle Books, St. Gallen 2024, ISBN 978-3-033-10349-8

Tänze für Schwyzer-Zither festgehalten

Auf dem Heimet Büölacher in Rickenbach wurde früher oft Zither gespielt. Dank Rosmarie Tüzün lebt die traditionsreiche Musik weiter.

Zitherspielerin Rosmarie Tüzün. 25 durch ihre Mutter überlieferte Tänze sind nun in einem Notenheft verewigt. Bild: pd

Rosmarie Tüzün-Gamma aus Oftringen spielt die traditionsreiche Schwyzer-Zither mit grosser Leidenschaft und schon in vierter Generation. Ihre Mutter war Rosa Gamma-Gwerder, eine sehr gute Zither-Spielerin, aufgewachsen auf dem Bauernhof Büölacher in Rickenbach/Schwyz. Auch nach ihrer Heirat nach Schattdorf pflegte das «Büölacher-Rösli» im Kreis von Verwandten und Bekannten Hausmusik zu machen. Zehn Jahre nach ihrem Tod erhielt Tochter Rosmarie sämtliche Tonbandkassetten davon geschenkt. «Die Musik berührte mich so sehr, dass ich zum ersten Mal nach 30 Jahren Mutters alte Schwyzer-Zither aus dem Schrank holte», erzählt sie. Sofort liess sie das Instrument bei Zitherbauer Herbert Greuter in Schwyz revidieren und fand in Luise Betschart, Illgau, eine verständnisvolle Lehrerin.

Melchior Ulrich, Schwyz, notierte aufgrund der Kassetten 25 Tänze: «Die Live-Aufnahmen wurden alle im Elternhaus von Rosmarie Tüzün in Schattdorf aufgenommen als Verwandte und Bekannte gemeinsam musizierten. Durch Gespräche und Gelächter ging die Hauptstimme der Zither oft unter, sie musste stellenweise erahnt werden.» Nun sind die Stücke im «tänzigen» Büölacher-Stil, lüpfig und mitreissend, unter dem Titel Büölacher Schwyzer-Zither-Tänzli als Notenheft greifbar.

Es ist erhältlich unter
Tel. 078 697 07 31 oder rosmariegamma@gmail.com.

Schlagzeug Schritt für Schritt

Das Lehrmittel «Step by Step on Drums» von Marco Kurmann bietet einen strukturierten Aufbau und abwechslungsreiches Lernen in insgesamt vier Heften.

Foto: Jason Leung/unsplash.com

Step by Step on Drums, Band 1, von Marco Kurmann kommt durch die zahlreichen Abbildungen im Comic-Stil sehr ansprechend, interessant und kindgerecht daher. Es führt die Schüler sowie den Pädagogen zielgerichtet voran. Das Lehrmittel wurde als Leitfaden für den Musikschulunterricht konzipiert, enthält bewusst keine Erklärungen und nur wenig Text. So ermöglicht der Autor, dass Lehrerinnen und Lehrer eigene Ideen und Inputs mit einfliessen lassen. Dazu gibt es auf den Seiten auch genügend Platz.

Nach einer kurzen Übersicht, was der erste Step beinhaltet, geht es auch schon los mit Viertel- und Achtelnoten auf der Snare. Nach und nach kommen verschiedene Grooves mit Achtelnoten an die Reihe und schon bald werden die Toms einbezogen. Zwischendurch gibt es kurze Theorieteile, bei denen Antworten auf die jeweiligen Fragen eintragen werden und Raum für eigene Ergänzungen vorhanden ist.

In den fünf Steps von Band 1 lernen die Schüler die einzelnen Instrumente des Drumsets kennen, befassen sich mit grundlegenden musikalischen Begriffen und lernen Noten von der ganzen bis zu Vier-Sechzehntel-Figuren. Drumset-Solos, Snare-Drum-Duette und Drumset-Duette schliessen die jeweiligen Steps ab. Zu den Stücken gibt es auf der Website des Autors die Möglichkeit, Audiofiles als Vollversion oder Klicktrack herunterzuladen. Bei den Duetten sogar mit der ersten oder zweiten Stimme separat und das alles in zwei unterschiedlichen Tempi.

Durch die gelungene Mischung von sinnvollem rhythmischem Fortschreiten und vielen, sich im Schwierigkeitsgrad steigernden Beats bietet dieses Lehrmittel einen klaren, strukturierten Aufbau sowie ein spannendes und abwechslungsreiches Lernen. In 20 Schritten, aufgeteilt auf vier Bände, bildet Step by Step on Drums die ideale Grundausbildung in den ersten vier bis sechs Jahren des Schlagzeugunterrichts.

Marco Kurmann: Step by Step on Drums, Leitfaden für den Schlagzeugunterricht, Band 1, 98 S., € 24.00, Leu-Verlag, Neusäss, ISBN 978-3-89775-189-7

Violinschulen über fünf Jahrhunderte

Petru Munteanu gibt einen Überblick über Lehrwerke für Geige bis heute. Als Referenzpunkt dient ihm Leopold Mozarts «Gründliche Violinschule».

Porträt von Leopold Mozart auf der ersten Ausgabe von «Versuch einer Gründlichen Violinschule», 1756. Stich von Jacob Andreas Fridrich nach Gottfried Eichler d. J. /wikimedia commons

Diese riesige Fleissarbeit verdanken wir dem rumänischen Violin-Hochschullehrer Petru Munteanu. Auf 442 Seiten hat er die wichtigsten Aussagen aller erschienenen Violinschulen übersichtlich und mit vielen Notenbeispielen und Illustrationen zusammengestellt. Gegenwärtig lehrt er am Leopold-Mozart-Zentrum der Universität Augsburg. Da ist es naheliegend, dass Leopold Mozarts Gründliche Violinschule in den Ausgaben von 1769 und 1789 im Zentrum steht. Die anderen Lehrwerke werden mit ihnen verglichen. Es stellt sich heraus, dass Leopold Mozart sehr ausführlich vieles vorausgesehen hat, was heute noch gilt.

Munteanu skizziert die Besonderheiten jeder vorgestellten Violinschule in grauen Kästchen, was wegen der unzähligen, sonst wiederholt gleichen Ansichten der veschiedenen Pädagogen sehr hilfreich ist. Besonders interessant ist die Beschreibung der Schule Carl Guhrs, der sachlich und ausführlich die geigerischen Eigenheiten von Paganinis Spiel aufzeigte und sogar fähig war, aus dem Gedächtnis eine Fassung von Nel cor più non mi sento von Paganini zu veröffentlichen.

Im sechsten Kapitel, auf das oft verwiesen wird, «Violinunterricht und die Violinschulen heute», stellt Munteanu drei Fragen, die er mithilfe von Expertenzitaten (Seiffert, Seling, Eberhardt, Kolneder, Hausegger, Flesch, Galamian …) zu beantworten versucht: Wen, was und wie sollen wir unterrichten? Ich fand nur wenige anregende Gedanken, aber auf die dritte Frage einen zentralen von Carl Adolf Martienssen: Beim Erlernen der Sprache ist jedes Kind ein «Wunderkind». «Der Wunderkindkomplex ist psychologisch das unmittelbare Gerichtetsein des Willens der Hörsphäre auf das Klangziel … des zu bespielenden Instrumentes …» Das soll jeder Lehrperson Anregung sein, diese wichtige Blackbox zu nutzen!

Petru Munteanu: Violingeheimnisse aus 500 Jahren, Leopold Mozarts Violinschule im Kontext der Traditionen des Violinunterrichts, 442 S., € 49.80, Wissner, Augsburg 2023, ISBN 978-3-95786-306-5

Klarinette gefühlvoll und verspielt

Das neue Heft mit Klezmermusik von Joachim Johow enthält 16 Eigenkompositionen in unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad.

Foto: suprunvit/depositphotos.com

New Klezmer Tunes ist bereits der dritte Band mit Klezmer-Stücken für Klarinette des 1952 geborenen Berliners Joachim Johow. Er bezieht sich in dieser Sammlung, bestehend aus 16 Eigenkompositionen, auf die Tradition jüdischer Wandermusiker, die bei Hochzeiten und anderen Festen spielten, und verknüpft in den Stücken die Freude am Musizieren mit dem Alltagserleben. Dies zeigt sich an bildhaften Titeln wie Am Morgen in der Gasse, Auf dem Jahrmarkt, Sorgen, Im Café, Am Abend etc.

Die Stücke sind in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden gehalten. Einige haben einen relativ einfach zu bewältigenden Tonumfang und Rhythmus, andere bewegen sich im mittleren Schwierigkeitsgrad mit anspruchsvolleren Rhythmen. Viele Stücke nutzen nur die tiefe und mittlere Klarinettenlage bis höchstens zum dreigestrichenen c.

Wie auch in seinen früheren Kompositionen stellt Johow gefühlvollen, langsamen und mehrheitlich in Moll gehaltenen Melodien rasche, tänzerische und verspielte Stücke gegenüber. Der Komponist verwendet unterschiedliche Moll-Varianten und spielt mit den Ausdrucksmöglichkeiten des übermässigen Sekundsprungs. Einige Verzierungen wie Triller, Praller und Vorschläge sind bereits im Notentext vorhanden, es besteht jedoch zusätzlich Spielraum für die eigene Gestaltung.

Die bei Schott in der Serie World Music erschienene Ausgabe besteht aus der Klarinettenstimme und einer Klavierbegleitung. Zusätzlich können Audio-Dateien aller Stücke mit jeweils einer Komplettaufnahme sowie nur der Begleitung mit einem Code heruntergeladen oder gratis auf Streaming-Portalen genutzt werden. Die Aufnahmen sind gepflegt und musikalisch gespielt, allerdings dürften sie passend zum Musikstil durchaus auch etwas freier gestaltet sein, um den Schülerinnen und Schülern weitere Interpretationsideen zu liefern. Die Klavierbegleitungen der meisten Stücke sind auch für Klavierlernende (oder für Klarinettenlehrende) gut spielbar. Ausserdem sind bei allen Stücken ebenfalls die Harmonien angegeben.

Die New Klezmer Tunes eignen sich gut als Spielstücke zur Bereicherung des Unterrichts wie auch für Schülerkonzerte oder andere Vorspiele.

Joachim Johow: New Klezmer Tunes, 16 Pieces for Clarinet, ED 23389, € 20.50, Schott, Mainz

 

Unbekanntes von Benedetto Marcello

Nuria Rial singt Solokantaten aus einem kostbaren Manuskript; das Ensemble La Floridiana unter der Leitung von Nicoleta Paraschivescu begleitet und steuert Instrumentalstücke bei.

Stich von Vincenzo Roscioni. Quelle: gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France

Zwei Musikerinnen, die sich schon lange kennen, zeichnen für diese hörenswerten Neuentdeckungen von Werken Benedetto Marcellos (1686–1739). Natürlich haben sich die Sopranistin Nuria Rial und die Dirigentin Nicoleta Paraschivescu in Basel kennengelernt, die eine studierte an der Musikhochschule, die andere bei Andrea Marcon an der der Schola Cantorum Basiliensis, wo sie 2011 ihr Ensemble La Floridiana gründete. Und beide gehen gerne auf Entdeckungsreise in die Barockmusik, wo der Fundus unerschöpflich scheint.

Ein kostbares, mit Zeichnungen geschmücktes Manuskript bildet den Ausgangspunkt für die Einspielung der Kantaten; es gehört zur Sammlung Schneider-Genewein in Zürich. Für Paraschivescu ein Glücksfall: «Diese Kantaten sind noch nie aufgenommen worden. Insgesamt an die 400 Solokantaten von Marcello sind belegt, viele in verschiedenen Handschriften und in verschiedenen Bibliotheken. Aber in dieser speziellen befinden sich zwei Unikate. Diese Handschrift ist auch deshalb besonders, weil sie sehr edel und aufwendig gemacht ist, mit gemalten Initialen.»

Den Enthusiasmus und die Verbundenheit mit Marcellos Musik hört man den Interpretationen unverkennbar an. Da wird farbenreich und sehr agil musiziert. Spannend und gelungen ist die gewählte Abfolge der Werke, wechseln sich doch Sinfonie und Kantaten jeweils ab, was das Ganze noch lebendiger macht. Auch unter den Kantaten ist Spannung angesagt. Ti sento Amor, ti sento ist ein Stück mit typischem Lamento-Charakter, in Qual turbine improvviso dagegen dominiert wilder Sturm und Wut.

Im Einklang von Nuria Rials silbern klingendem, perfekt geführtem Sopran und dem temporeich und nuanciert spielenden Ensemble La Floridiana entfaltet sich der ganze Reichtum dieser Musik. Die Raumwirkung der Akustik rundet die Aufnahme ab.

Benedetto Marcello: Sinfonias & Cantatas, La Floridiana, Nuria Rial, Nicoleta Paraschivescu. Deutsche Harmonia Mundi 196587106829

Liedparaphrase für Streicher

Dieses kurze Stück von Laurent Menager auf ein amüsantes luxemburgisches Lied eignet sich für Streichensemble oder Streichorchester.

Laurent Menager (1835–1902). Foto: Cayambe/Wikimedia commons

Laurent Menager (1835–1902) ist der bekannteste Komponist des 19. Jahrhunderts aus dem Grossherzogtum Luxemburg. Er studierte bei Ferdinand Hiller in Köln, kehrte dann nach Pfaffenthal, ein kleines Viertel in der Unterstadt Luxemburgs, zurück und wirkte dort zeitlebens als Organist, Musiklehrer und Chorleiter. Er war massgeblich an der Gründung des Allgemeinen Luxemburger Musikvereins (heute Union Grand-Duc Adolphe) beteiligt, dessen Gesangsdirektor er 1891 wurde.

Sein Werk umfasst vor allem Vokalkompositionen (Lieder, Operetten) und ein Streichquartett sowie eine Prière du Soir für Violoncello und Klavier. Sein Liedschaffen stärkt die kulturelle Identität des «Lëtzebuergesch», der offiziellen Landessprache Luxemburgs, die aber heute im Alltag immer mehr dem Französischen weicht.

Menagers Paraphrase pour cordes sur la mélodie «Kuck Friêmen op d’Kârt» op. 45 liegt als signiertes Autograf vor und erscheint hier in Einzeledition aus Band 6 der kritischen Gesamtausgabe seiner Werke. Nach einer kurzen, rezitativisch-dramatischen Introduktion in e-Moll trägt das Violoncello das Liedthema in G-Dur vor. Die übrigen Streicher übernehmen den Lead und spinnen den Faden modulierend weiter bis zum schnellen Sechsachtel-Schlussteil in E-Dur mit fetzigem Ende.

Der Schwierigkeitsgrad für die Ausführenden ist mittel, es ist sogar eine Kammerorchester-Besetzung denkbar, eventuell mit Solopassagen.

Eine amüsante Bereicherung des Repertoires ist diese kurze Liedparaphrase alleweil! Und eine kulturelle Exkursion in einen Sprachraum, der uns sonst als weisser Fleck auf der musikalischen Landkarte erscheint. Der Liedtext von Michel Lentz, dem Dichter der luxemburgischen Nationalhymne, lautet: «

Kuck, Friêmen, op d’Kârt an da fens dû e Land,
’T stêt Letzebur’g driwer geschriwen;
Do köm éch op d’Wèlt an do sin éch als Kand
Méng allerschënst Joere bliwen.

Und übersetzt: «Schau, Fremder, auf die Karte, da findst Du ein Land,/S‘steht Luxemburg drüber geschrieben./Da kam ich zur Welt und da bin ich als Kind/Manch schönste Jahre geblieben.»

Laurent Menager: Paraphrase pour cordes sur la mélodie «Kuck Friêmen op d’Kârt» op. 45, für 2 Violinen, Viola, Violoncello und Kontrabass, Partitur mit Stimmen, EM 2632, € 24.90, Merseburger, Kassel

 

Agentenfilm für Orchester

Eine Partitur zeigt die Qualität von Bernard Herrmanns Filmmusik zu «North by Northwest» bis ins Detail.

Viel zu selten gelangen Filmscores in den Druck. Dabei sind derartige Partituren äusserst hilfreich, um Details der vielfach akustisch in den Hintergrund gerückten Komposition jenseits von frei zusammengestellten «Suiten» zu studieren. Dies ist vor allem dann lohnend, wenn sich die Musik als suggestiv und eigenständig erweist. So etwa die von Bernard Herrmann (1911–1975) komponierte zu Alfred Hitchcocks genialem, mit feiner Ironie gespicktem Agenten-Thriller North by Northwest (1959).

Bereits die ersten Takte sind prägend: Ein Fandango-Rhythmus in den Pauken (doppeltaktig als 6/8 lesbar), beantwortet durch eine synkopierte Wechselnote in den tiefen Streichern (doppeltaktig als 3/4). Beschrieben wird so in der Ouvertüre das Pulsieren der Grossstadt, später die wilde Fahrt auf einer Küstenstrasse. Leitmotivisch ziehen sich Rhythmen, Themen, harmonische Wendungen und Klangfarben durch den ganzen Film – und vereinheitlichen somit die nahezu ununterbrochene Folge dramatischer Szenen, deren Auslöser im Film vorgeblich auf den 24. November 1958 datiert wird durch die Einblendung einer Ausgabe von The Evening Star vom Folgetag (übrigens, wenn auch grafisch verändert, mit einer authentischen Schlagzeile). Ganz ohne Musik (und über eine atemraubende Strecke auch ohne Sprache) kommt die legendäre Szene im Maisfeld aus.

Die gedruckte Partitur umfasst auch all jene Nummern, die im Film (aus guten Gründen) nicht berücksichtigt oder gekürzt wurden. Eine beschreibende Analyse auf zwanzig Seiten macht den Notentext auch für Filmliebhaber verständlich. Wünschenswert wäre eine Fortsetzung mit weiteren legendären Herrmann-Vertonungen etwa von Vertigo oder Psycho.

Bernard Herrmann: North by Northwest (1959), Partitur, Omni 50791, XX+211 S., € 79.00, Omni Music Publishing/Schott, Los Angeles/Mainz 2022, ISBN 978-1-73450-791-1

 

Musikwissen trainiert Hirn und Ohr

Das flexible Lehrmittel «musik-wissen – easy to learn» vermittelt Musiktheorie online und/oder mit Lehrbuch.

Foto: Tengyart/unsplash.com

Musikwissen ist eine Lebensaufgabe. Wer ist schon in allen Epochen bewandert, wer kennt schon das Œuvre eines Komponisten in Gänze, wer weiss schon über Genregrenzen hinaus Bescheid, kann also zu Duke Ellington, Def Leppard oder Johann Sebastian Bach ähnlich gut Auskunft geben? Angesichts der Vielfalt ist es eine gute Idee, sich erstmal mit den Basics zu befassen – mit jenen Grundlagen, die Das praktische Theorie-Buch für den Musik-Unterricht vermittelt, schon 1997 erstmals veröffentlicht vom heute pensionierten Musiklehrer Emil Wallimann und dem Bandleader und Musik-Coach Peter Wespi.

Lern-Plattform

Seit 2015 treiben beide Fachmänner eine das Buch begleitende E-Learning-Plattform voran, abrufbar unter www.musikwissen.ch. Das Zielpublikum seien – nach Selbstauskunft – «Schüler des Gymnasiums, aber auch angehende Dirigenten oder Musiklehrer». Wer sich mit den Übungen beschäftigt, dem fällt noch andere «Kundschaft» ein: neben dem Bewerber an einer Musikhochschule oder dem interessierten Laien oder Rentner durchaus auch der langjährige Musikredakteur oder Musikjournalist, der sein Theoriewissen ruhig mal wieder auffrischen kann. Na, wie war das nochmal mit der enharmonischen Verwechslung? Wo waren nochmal die Halbtonschritte im mixolydischen Modus? Oder: Wie hört sich eigentlich die Bebop-Scale in Moll an?

Man merkt: Die beiden langjährigen Pädagogen haben Vermittlungserfahrung. Und sie nutzen fantasievoll die vielfältigen digital-interaktiven Möglichkeiten: Erfrischend klar und ohne Gedöns sind die Website und ihre jeweiligen Seiten gestaltet. Es gibt Hörbeispiele (besonders empfehlenswert ist die Gehörschulung unter dem Titel «Eartraining»), es gibt einfache Fragen im Multiple-Choice-Verfahren, auch Fliesstexte, die ergänzt werden sollen. Ist eine Lerneinheit abgeschlossen, geht es weiter zur nächsten Übung. Motivierende Fortschritte sind schnell möglich, ein kurzer Blick in das Buch oder Links zu kurzen Informationsvideos helfen weiter, wenn es einmal stockt.

Musikhistorische Einblicke

Die Plattform ist in vier Schwierigkeitsstufen unterteilt. Wenn man alles mit einem grünen Häkchen erledigt hat, ist schon mal ein sehr solides Fundament erreicht, und zwar in Aspekten der Notenschrift, der Rhythmik, der Instrumenten-, Gattungs- und Formenlehre und der Harmonik. Durch die anschaulichen Beispiele erhält der Lernwillige en passant so manchen musikhistorischen Einblick, die natürlich ausbaubar sind. Ein wenig kurz ist von aussereuropäischer Musik die Rede, auch vom 20. und 21. Jahrhundert, in denen sich Komponisten eben ganz bewusst verabschieden vom traditionellen Musikwissen und tradierten Elementen wie dem Quintenzirkel, dem Rondo oder der Sonatenhauptsatzform.

In Zeiten des eklatanten Verlusts musikalischer Bildung bleibt diese mit viel Eifer betriebene und stets aktualisierte Lern-Plattform eine überaus sinnvolle Initiative!

 

musik-wissen – easy to learn. Angebote und Konditionen für Einzelbenutzer, Schulen, Institutionen und Verbände mit gedrucktem Arbeitsbuch, Multimedia-eBook oder E-Learning unter: musikwissen.ch/angebot

Gamben-Fantasien für Bratsche

Die geschickte Bearbeitung von Brian A. Schiele macht diese raffinierten Stücke mehr Spielenden zugänglich.

Georg Philipp Telemann, Stich von Georg Lichtensteger. Quelle: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Viele Geigenspielende kennen und lieben Telemanns 12 Fantasien für Geige TWV 40:14–25. Die Fortsetzung, TWV 40:26–37, ist nur den Gambenspielenden bekannt, heute eine Minderheit. Schon zu Telemanns Zeiten kam die Viola da Gamba aus der Mode, weshalb er 1735 seine 12 Gambenfantasien mit besonders viel Raffinesse ausstaffierte, um Käufer zu gewinnen: gebrochene Akkorde und Passagenspiel, ein- und mehrstimmige Schreibweise sowohl in fugiertem als auch in galantem Stil.

Schon 2019 hat Viacheslav Dinerchtein für den Amadeus-Verlag die Fantasien für Bratsche adaptiert. 2022 folgte nun eine Bearbeitung des Engländers Brian A. Schiele. Jedes dieser lebhaften Werke hat zwei oder drei Sätze, und alle ungeraden Fantasien enthalten ein Fugato voller Überraschungen. Einige Sätze erinnern an Tänze wie Allemande, Gavotte, Courante, Bourrée, obschon sie nie so benannt sind. Andere sind besinnlich-mehrstimmig oder spielfreudig-virtuos. Jede gut liegende Tonart kommt einmal vor: Acht stehen im Quintenzirkel in Dur von Es bis E, vier in Moll von c bis e. Da die Gambe sechs Saiten in Quart-Terz-Stimmung und einen grösseren Tonumfang in der Tiefe hat, muss man auf der Viola Oktavierungen in Kauf nehmen und Akkorde entweder brechen oder ausdünnen. Schiele hat das geschickt gemacht, empfiehlt im Vorwort dennoch, das Faksimile (die Druckausgabe in der Edition Güntersberg/Walhall G281 oder online) zu konsultieren.

Georg Philipp Telemann: Fantaisies pour la Basse de Violle TWV 40:26-37, 12 Fantasien bearbeitet für Viola von Brian A. Schiele, EW 1150, €18.50, Edition Walhall Magdeburg

Chormusik für Pfingsten

Stephen Harrap hat Stücke aus 500 Jahren zusammengetragen, die a cappella oder mit Orgelbegleitung zu singen sind.

Deckengemälde «Ausgiessung des Heiligen Geistes» in der Oberseifersdorfer Kirche (Sachsen). Foto (Ausschnitt): Erwin Meier/wikimedia commons

Pfingsten, der fünfzigste Tag nach Ostern, faszinierte und inspirierte mit seinem Sprachenwunder sowie der Aussendung des Heiligen Geistes seit jeher viele Komponisten. Mit Music for the Spirit liegt nun erstmals ein Chorbuch zu diesem Themenkreis vor, das der deutsch-englische Komponist, Dirigent und Kirchenmusiker Stephen Harrap bei Breitkopf und Härtel herausgegeben hat.

Die Sammlung für gemischten Chor a cappella oder mit Orgelbegleitung ist eine wahre Fundgrube und enthält über 500 Jahre Chormusik bedeutender europäischer Komponisten. Ein gewisser Repertoire-Schwerpunkt liegt bei der englischen Chormusik. Auch auf unterschiedliche Längen, Schwierigkeitsgrade und Besetzungen (von 3- bis 8-stimmig) der Stücke wurde geachtet. Sehr empfehlenswert!

Music for the Spirit. Chorbuch zu Pfingsten & anderen Anlässen, hg. von Stephen Harrap, ChB 5384, € 26.90, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

Komposition des Tastenmagiers

Die lange hinter dem Eisernen Vorhang verschollenen Kompositionen des jungen Vladimir Horowitz erscheinen in einer eigenen Reihe.

Vladimir Horowitz, vermutlich in den 1930er-Jahren. Unbekannter Fotograf, Quelle: Bain Collection/Library of Congress.

Es ist allgemein bekannt, dass Vladimir Horowitz, der legendäre Pianist, den Notentext oft auf ganz persönliche Weise interpretierte und dabei auch vor Eingriffen nicht zurückschreckte. So veränderte er in Mussorgskis Bilder einer Ausstellung den Klaviersatz in einer Art, die seiner eher orchestralen Klangvorstellung entsprach. Auch Rachmaninows zweite Klaviersonate oder etwa Liszts Mephisto-Walzer spielte er in seinen Privatversionen. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Klaviertranskriptionen, die ebenfalls sein kreatives Temperament bezeugen und einen Teil seines Ruhms begründeten.

Selbst eingefleischte Fans dürfte es aber überraschen zu erfahren, dass Horowitz als Teenager offenbar auch ein ambitionierter Komponist war und eine ganze Reihe originaler Klavierwerke schrieb. Als die Russische Revolution dann aber Kiew erreichte und seine Familie schwer darunter zu leiden hatte, musste er diesen Traum aufgeben. Er versuchte nun, eine Karriere als Pianist zu beginnen, um seine Angehörigen wenigstens finanziell unterstützen zu können. «Hätte die Revolution seiner Familie nicht so hart mitgespielt und ihn zum Konzertieren gezwungen, so hätte die Welt später wohl einen anderen Horowitz kennengelernt», meinte seine ehemalige Mitschülerin Vera Resnikow.

Als Horowitz später im Westen nach seinen Kompositionen gefragt wurde, antwortete er stets, dass die Manuskripte in Russland an einem geheimen Ort verblieben seien. Erst 1986, als er endlich wieder seine Heimat besuchen konnte, erhielt er die Noten zurück. Schott Music hat es sich nun zur Aufgabe gemacht, im Rahmen der Horowitz-Edition diese bisher unbekannten Werke zu veröffentlichen.

Darunter ist Fragment douloureux op. 14, wohl die letzte Komposition, die noch in Kiew entstanden ist. Das Stück umfasst gerade mal 73 Takte und beginnt «lento, lugubre, misterioso» als eine Art Trauermarsch im 3/4-Takt. Die folgenden Seufzermotive und ausladenden Arpeggien erinnern stark an Rachmaninow, während die zahlreichen Triller ab Takt 27 doch eher auf Skrjabins Handschrift weisen. In stetiger Steigerung von Tempo und Dynamik erreicht das Stück bei Takt 47/48 seinen Kulminationspunkt und kehrt von da an allmählich wieder in die Atmosphäre des Anfangs zurück «poco a poco a tempo lento». (Vermutlich ist hier auch ein Diminuendo zu ergänzen.)

In seiner Kürze ist dieses Fragment douloureux also eine Art Drama im Miniformat. Der Klaviersatz ist pianistisch ziemlich anspruchsvoll und nur von grossen Händen zu bewältigen. Mit viel Gespür werden die Möglichkeiten des Instruments ausgereizt. Man ahnt schon den kommenden Tastenmagier … Gewidmet hat Horowitz das Werk seinem Klavierlehrer Felix Blumenfeld, der ja selber ein grossartiger Pianist und Komponist war.

Vladimir Horowitz: Fragment douloureux pour piano, The Horowitz Edition, ED 23085, € 12.00, Schott, Mainz

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