Cellokonzerte aus dem Umfeld Haydns

In den beiden Konzerten, in denen Anton Kraft seinem eigenen Instrument den Solopart gab, spiegelt sich auch die Entwicklung des Orchesters.

Anton Kraft, 1749–1820, nach einem Gemälde in der Sammlung der Gesellschaft der Musikfreunde, Wien. The New York Public Library for the Performing Arts / wikimedia commons

Der böhmische Cellist Anton (oder Antonín) Kraft war von 1778 bis 1790 erster Cellist in der Kapelle am Hofe des Fürsten Nikolaus Esterházy (1714–1790), wo ebenfalls Joseph Haydn wirkte. Bei ihm nahm Kraft zeitweise Kompositionsunterricht und es ist anzunehmen, dass Haydn sein grosses zweites Cellokonzert in D-Dur für Kraft komponierte. Irrtümlich wurde es diesem zeitweise sogar zugeschrieben.

In Krafts kompositorischem Œuvre spielt das Violoncello die zentrale Rolle. Nun hat die Edition Walhall seine beiden überlieferten Cellokonzerte neu herausgegeben. Beide stehen in der Tonart C-Dur und sind mit 20 bis 23 Minuten Dauer etwa gleich lang.

Das erste Konzert folgt der haydnschen Orchesterbesetzung in Solokonzerten mit 2 Oboen, 2 Hörnern und Streichern. Die Solostimme stellt hohe Anforderungen, ist aber dankbar und ausgewogen geschrieben (Tonumfang C–g2). Das zweite Konzert op. 4 weist eine beinahe beethovensche Orchestergrösse auf: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, Pauken und Streicher. Der Cellopart ist virtuos ausgestaltet und gespickt mit technischen Höchstschwierigkeiten (Tonumfang C–h2), vergleichbar mit der Cello-Solostimme in Beethovens Tripelkonzert.

Das umfangreiche Vorwort informiert in beiden Ausgaben über die Quellenlage und kontextualisiert die Konzerte im musikalischen Spannungsfeld zwischen Haydn und Beethoven. Es ist zu hoffen, dass durch diese Ausgaben beide Werke vermehrt an Musikhochschulen studiert werden und damit öfters zur Aufführung kommen.

Anton Kraft: Konzert Nr. 1 C-Dur «Seydl», hg. von Max Möllenbeck; Partitur, EW 996, € 43.50; Klavierauszug, EW 1157, € 24.80; Edition Walhall, Magdeburg

Id.: Konzert Nr. 2 C-Dur op. 4; Partitur, EW 1031, € 49.80; Klavierauszug, EW 1273, € 28.50

Augen zu und hören

In Beat Gysins «Movements I» fährt man blind durch Zeit, Raum und Klang. Es ist ein besonderes Erlebnis, nicht nur für die Ohren. Ein Bericht vom Gundeldinger Feld in Basel.

Klangfahrt ohne Sehsinn. Foto: Studio-klangraum

Die «Leichtbauten»-Reihe von Beat Gysin und dem Studio-klangraum geht in die nächste Runde. Nach Chronos (2015), Gitter (2017), Rohrwerk (2019–2021) und Haus (2022–23) ist Movements I bereits das fünfte Projekt, das sich mit dem Verhältnis von Musik und Architektur auseinandersetzt.

Und während die vorigen Arbeiten mit teils spektakulären Bauten Aufsehen erregten, geht es dieses Mal eher um die Froschperspektive, nämlich darum, wie wir Klang und Geräusche in einem sich verändernden Raum wahrnehmen, wenn wir nichts sehen. Das Prinzip ist so einfach wie effektiv: Man setzt sich auf rollstuhlähnliche fahrende Plattformen, montiert eine Augenbinde und lässt sich von einer anderen Person aus dem Publikum durch die Gegend stossen. In der Hälfte wechseln die Rollen – man wird vom blinden Fahrgast zum Guide und umgekehrt. Während der Fahrt hört man sowohl die zufälligen Geräusche aus der Umgebung wie auch musikalische und klangliche Interventionen an verschiedenen Stationen. Komponiert haben diese Gysin selbst sowie die spanische Komponistin Teresa Carrasco.

Räume voller Geräusche und Musik

Am Wochenende vom 5. und 6. September 2025 machte Movements I im Gundeldinger Feld in Basel halt bzw. Fahrt. Das Quartierzentrum am südlichen Ende der Stadt umfasst rund 12 000 m2 und wurde massgeblich von Architektin Barbara Buser entwickelt: von einer ehemaligen Maschinenbaufabrik zum lebhaften Quartiertreffpunkt mit verschiedensten kulturellen Einrichtungen. Heute gibt es hier Brauereien, Gastro, Ateliers, Baubüros, Therapiepraxen, Musikschulen, Geigenbauwerkstätten oder Kletterhallen. Ideal also für eine Klangfahrt.

Mit verbundenen Augen herungefahren werden: «maximal verwirrend!» Videostill: Lukas Nussbaumer

Wir starten in der Zirkusschule, wo zwei Mitglieder des Collegium Novum Zürich warten und mit Geige, Klarinette und Gesprochenem auf das akustische Erlebnis einstimmen: «Ich bin hier – du bist dort – komm zu mir – soll ich zu dir kommen?», tönt es von beiden Seiten, um das räumliche Hören zu aktivieren. Dann beginnt die Fahrt, zunächst mit kürzeren, dann auch längeren Distanzen: durch ein Baubüro, die belebten Innenhöfe, ins Tonstudio, durch die Bar, ins Treppenhaus, in die Werkstatt oder die Kletterhalle. Die Guides werden mittels Handzeichen des Teams um Gysin instruiert, wo welche Abzweigung genommen und an den einzelnen Stationen die rollenden Plattformen zwischenzeitlich zum Stehen gebracht werden können.

Die Orientierung ist schnell dahin

Die meisten Schiebenden gehen sehr sorgfältig und rücksichtsvoll mit ihren Passagieren um, warnen vor, wenn eine Türschwelle oder Bodenwelle kommt, versuchen, möglichst wenige Schlenker zu machen. Vereinzelte übermutige Kapriolen von jüngeren Teilnehmenden liegen auch drin, werden aber bald wieder unterbunden. Und das ist auch gut, denn als blinder Fahrgast ist man bald desorientiert: Erstaunlich schnell verliert man das Gefühl dafür, ob man sich bewegt oder nicht, wie viel Zeit schon vergangen ist und wo auf dem Areal man sich gerade befindet, selbst wenn man es kennt.

Was ist Musik, was Alltagsgeräusch? Foto: Lukas Nussbaumer

Schwierig ist es auch, einzuordnen, ob die verschiedenen Geräusche und Klänge nun aktiv zur Performance gehören oder nicht. Während an einigen Stationen mehr oder weniger gängige Instrumentensoli gespielt werden, was einer aktiven Musikhörerfahrung nahekommt, bewegt man sich die meiste Zeit in einem klanglichen Mischraum: Mal verbinden sich Bürogespräche und vibrafonartige Töne, mal werden Bleistifte gespitzt oder Kartons bemalt, während ein Musiker durch einen Schlauch trompetet. Mal taucht man in atmosphärische Sounds aus dem Tonstudio kurz ein und wieder auf. Und mal schlägt die Perkussionistin ans Treppengeländer oder auf Stahlträger, während in der Werkstatt nebenan jemand an einer Skulptur meisselt.

Hören, riechen und Vertrauen haben

«Maximal verwirrend», resümieren Einzelne, von einem «Eindruck einer weiten Reise» oder einem «Wahnsinnserlebnis» berichten andere nach der Fahrt. Mehrheitsfähig ist die Erkenntnis, dass mit dem Verlust des Sehsinns ganz anders gehört wird. Besser? Das ist schwer zu sagen, dafür war das «Training» wohl zu kurz. Aber sicher umfassender, konkreter, denn es wird weniger herausgefiltert und mehr aktiv hörend erkundet. Interessant ist auch die Kombination mit dem verstärkt wahrgenommenen Geruch, etwa wie das Holz oder Metall in den Werkstätten klingt und riecht, oder auch einfach der Kaffee- und Bierduft in der Luft. – Im klassischen Konzert normalerweise höchstens etwas für die Pause.

Movements I ist nicht nur eine räumlich-musikalische und sinnliche Erfahrung, es ist auch ein soziales Ereignis. Die Einteilung in Zweierteams (innerhalb einer Kleingruppe), die im Rollentausch durch die Blindfahrt manövrieren, erzeugt eine Vertrauenssituation – das ist stimmig, verliert man durch den Sehsinn doch sehr viel Kontrolle und Sicherheit. Und damit noch zum Titel des Projekts, der ja auf einen möglichen Teil II schliessen lässt. Studio-klangraum und Gysin überlegen sich, die fahrenden Plattformen zu motorisieren und von einer KI steuern zu lassen. Angesichts der stockenden Entwicklung selbstfahrender Autos könnte das aber noch ein wenig dauern. Gysins Projekt bietet viel Raum für weiterführende Überlegungen. Movements I nutzt Musik vor allem als Impulsgeber für ein gesamthaftes Erleben der Umwelt und versteht sie als natürlichen ebenso wie als künstlichen Teil davon.

Weitere Aufführungen von «Movements I» finden am 17. und 18. Oktober auf dem Campus Ost Buchs sowie auf dem Areal der Lokremise St. Gallen statt.

Die Sinnlichkeit ist zurück!

Entdeckungen am Laufmeter. Während fünf Tagen entfaltete das Musikfestival Bern unter dem Motto «Kette» eine grosse Sogwirkung.

Promenade durch die Räumlichkeiten des Progr in der Performance «Get well soon!». Foto: Annette Boutellier

Eines wurde an der diesjährigen Ausgabe des Musikfestivals Bern vom 3. bis 7. September schnell klar: Musik ist wieder sinnlich! Vorbei sind die Zeiten, in denen karge Klanglichkeit mit musikalischer Innovationskraft verwechselt wurde. Bereits das Eröffnungskonzert Liquid Room Nr. 11: Scattered Songs in der grossen Halle der Reitschule war ein Fest für die Sinne. Elf Musikerinnen und Musiker, in Ensembles im Raum verteilt, rückten während drei Stunden das Genre Lied in den Fokus, mit Musik von John Dowland (1562/63–1626) bis Leonie Strecker (*1995). Mittendrin: die diesjährige Komponistin in Residence, Svetlana Maraš (*1985), die mit elektronischen Improvisationen wohltuende Intermezzi kreierte. Perfekt kuratiert wurden die rund 30 gespielten Werke von Eva Reiter, Viola-da-Gamba-Spielerin des Ensembles in Residence Ictus.

Eva Reiter, Viola da Gamba, die Sängerin Mimi Doulton und der Gitarrist Tom Pauwels beim Eröffnungskonzert in der grossen Halle der Reitschule. Foto: Annette Boutellier

Zerbrechliche Klänge im Raum verstreut

War da gerade etwas? Nur wenige Sekunden dauert das Stück Cadillac für Solo-Gitarre des begnadeten Schweizer Komponisten Jürg Frey (*1953). Doch selbst dieser kurze Augenblick zeigt seine musikalische Könnerschaft. Jürg Frey war gleich mit mehreren Kompositionen an diesem Eröffnungsabend vertreten. Was für ein Geschenk! Mit einem unglaublichen Gespür für leise, zerbrechliche Klänge webt Frey eine feine Architektur von atemberaubender Schönheit. Im Programm waren auch einige seiner Lieder, die in grosser Flexibilität von der Sängerin Mimi Doulton interpretiert wurden – eine der grossen Entdeckungen des diesjährigen Festivals.

Vereinzelt gibt es sie noch immer: die Klänge, die sich am Ideal der Darmstädter Avantgarde der 1950er-Jahre orientieren. Präsent waren sie auch am Eröffnungskonzert, so etwa in der Komposition Mutation des griechischen Komponisten Panayiotis Kokoras (*1974) für Klarinette und Elektronik. Die 2015 entstandene Komposition wurde zwar brillant vom Klarinettisten Dirk Descheemaeker gespielt, wirkte aber ein wenig wie ein unbeholfener Versuch aus einem Tonstudio der 1960er-Jahre und in seiner Tonsprache bereits uralt, um Äonen älter als Franz Schuberts Lied Der Leiermann, das als Eröffnungsstück seine unzerstörbare Frische und Aktualität unter Beweis stellte.

Schmuckstücke

Einen Tag später funkelte und glänzte es im Schlachthaus Theater Bern. Das Musikfestival Bern ist bekannt für aussergewöhnliche Veranstaltungen. Unter dem Festivalmotto «Kette» liess es in der diesjährigen Ausgabe auch die Wissenschaft zu Wort kommen. Die Kunsthistorikerin Annette Kniep entfaltete ein aufschlussreiches Panorama zum Thema Prunkstücke über mehrere Jahrtausende. In ihrer Präsentation traten Geschmeide aus verschiedenen Zeiten in einen Dialog: Die Berner Patrizierinnen zeigten durch gediegene Bijous bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ihre Heiratsfähigkeit, Männer wiederum inszenierten durch Orden den Grad ihrer Macht. Und auch 300 Jahre später bleibt Schmuck ein Kommunikationsmittel. In der Hip-Hop-Szene sind Goldketten der sichtbare Beweis für Erfolg. Kurzum: Sich zu schmücken ist ein Urbedürfnis der Menschen und eine universale Konstante.

Béla Rothenbühler steuerte vielschichtige Texte bei, die von der Sängerin und Performance-Künstlerin Corina Schranz (*1987) kongenial in Musik gesetzt wurden: manchmal minimalistisch, aber immer sinnlich und klangschön.

Angekettet

Angst ist das grosse Thema der westlichen Welt, bis in die feinsten Verästelungen dargestellt in den Schriften von Søren Kierkegaard bis Jacques Lacan. Die performative Forschungsreise Get well soon!, die reizvoll und bildgewaltig durch verschiedene Räumlichkeiten des Progr führte, durchdrang in ihrer Auseinandersetzung mit der Problematik leider nur selten die Oberfläche und blieb in relativ banalen Klischees gefangen. Immerhin: Es gab während des einstündigen Rundgangs sehr stimmungsvolle musikalische Momente, insbesondere in der Interaktion von Flöte (Luca Höhmann) und Violoncello (Richard Ander-Donath).

Das Musikfestival Bern will mehr sein als «L’art pour l’art». Das Programm transportiert stets auch eine politische Botschaft. Durch das Festivalmotto «Kette» drängte sich eine Aufarbeitung der Sklaverei regelrecht auf. Das Vokalensemble tempo d’affetto stellte unter der Leitung von Moritz Achermann Musik des US-amerikanischen Komponisten und Jazz-Trompeters Jalalu-Kalvert Nelson (*1951) spanischen Renaissance-Werken gegenüber. Es gelang ein subtiles Changieren zwischen kolonialem Prunk und kolonialisiertem Leid. Der in Biel lebende Komponist schwarzer Hautfarbe rezitierte im Konzert sehr berührend Begriffe, Namen und Anrufungen in verschiedenen afrikanischen wie karibischen Sprachen und erinnerte dabei an seine Vorfahren.

Die Komponistin in Residence Svetlana Maraš kreierte im Chorraum des Berner Münsters mit ihren elektronischen Klängen eine tranceartige Atmosphäre. Foto: Annette Boutellier

Das Berner Münster bleibt als Spielort während des Musikfestivals unverzichtbar. Zu später Stunde wartete die Komponistin in Residence Svetlana Maraš mit einer tranceartigen Live-Performance im Chorraum des Sakralbaus auf. Der Sänger Andreas Schaerer interagierte dabei mit der Elektronik-Tüftlerin in sprach- und gesangsakrobatischer Virtuosität, das gesamte Spektrum der menschlichen Stimme auslotend. – Ach, wie sinnlich doch Neue Musik sein kann!

Open End in Luzern

Mit der Verabschiedung von Intendant Michael Haefliger ging am Lucerne Festival eine Ära zu Ende.

Lucerne Festival Orchestra, Leitung Johanna Malangré Foto: © Manuela Jans/Lucerne Festival

«Merci Michael!» steht auf dem grossen Banner, das am Ende des «Les Adieux» genannten Abschiedsfestes für Michael Haefliger im KKL entrollt wird. Dann unternimmt das von ihm 2003 gemeinsam mit Claudio Abbado gegründete Lucerne Festival Orchestra mit Johanna Malangré am Pult als Abschiedsgeschenk einen musikalischen Streifzug durch das Leben des scheidenden Intendanten, der das Lucerne Festival 26 Jahre geleitet hat. Da darf Notation 1 von Pierre Boulez, mit dem er 2004 die Lucerne Festival Academy für zeitgenössische Musik ins Leben rief, genauso wenig fehlen wie Anfang und Schluss von Bruckners Siebter und Mahlers Dritter – Abbados Sternstunden in der Festivalgeschichte. Die Schweizer Lieder Z’Basel an mym Rhy und Vo Luzern uf Wäggis zue erklingen im sinfonischen Hochglanzsound (Arrangement: Simon Nathan), ebenso die FC-Bayern-Hymne Immer vorwärts. Zuvor hat Graziella Contratto nach ihrer brillanten Laudatio bereits die Buchstaben von «Michael Merci» in Tonsilben übersetzt und gemeinsam mit dem Publikum angestimmt.

Michael Haefliger und Graziella Contratto. Foto: © Manuela Jans/Lucerne Festival

Inspiriert von Ludwig van Beethovens Sturm-Sonate, die Igor Levit zwischen Versenkung und Rausch verortet hat, vergleicht die Schweizer Dirigentin und Produzentin Michael Haefliger mit dem Zauberer Prospero aus Shakespeares gleichnamigem Drama. Er habe das Lucerne Festival zu einer magischen Insel gemacht und mit seinem Zauberspruch «jung, exzellent, innovativ» nicht nur Sponsoren angelockt (92 Prozent Eigenfinanzierung), sondern auch künstlerisch mit über 400 Uraufführungen und neuen Formaten frischen Wind gebracht. Von ihm regelrecht durchdeklinierte Festivalmottos wie «Diversity», «Diva» oder «Verrückt» hätten das Festival im Heute verankert. «Open End» lautet das Motto 2025 – die Übergabe an seinen Nachfolger Sebastian Nordmann ist hier schon vorbereitet.

Vertrautes immer wieder neu

Ein offenes Ende ist in den letzten Festivaltagen auch im Konzertprogramm der Münchner Philharmoniker wahrnehmbar, die unter der Leitung von Lahav Shani in Franz Schuberts Unvollendeter einen warmen Klang entwickeln. Die Ausladung des Orchesters und seines designierten israelischen Chefdirigenten durch das Flandern-Festival in Gent war in der Kulturszene auf viel Kritik gestossen, für Igor Levit ein Fall von «klassischem, ekelhaftem Antisemitismus und Feigheit». In Luzern sind diese Spannungen nicht zu spüren. Lahav Shani dirigiert ohne Stab und mit fliessenden Bewegungen, die in Ludwig van Beethovens Violinkonzert manches Mal auch zu kleineren Ungenauigkeiten im Zusammenspiel mit der souveränen Lisa Batiashvili führen. Die Solokadenzen von Alfred Schnittke geben dem vielgehörten Werk eine neue Farbe.

Auch Richard Wagners konzertanter Siegfried auf historischen Instrumenten unter Kent Nagano, ein Projekt der Dresdner Musikfestspiele, verbindet Vertrautes mit Neuem. Der Orchesterpart erhält eine selten gehörte Durchsichtigkeit, die die Sängerinnen und Sänger freier und ohne jede Forcierung agieren lässt. Nur im dritten Akt verliert das aus dem Dresdner Festspielorchester und dem Concerto Köln zusammengesetzte Orchester ein wenig an Qualität im Zusammenspiel und in der Intonation. Im ausgeglichenen Solistenensemble setzen Thomas Blondelle als beinahe schon lyrischer Siegfried, der auswendig singende Derek Welton als tragfähiger, geschmeidiger Wanderer, Asa Jäger (Brünnhilde) mit ihrem weit gespannten Sopran und Hanno Müller-Brachmann als markiger Fafner (mit Schalltrichter) besondere Akzente.

26 Jahre in einem Nachmittag

Michael Haefligers Innovationsfreude kann man auch sehen. Ein lila Ufo ist auf der Lidowiese beim Verkehrshaus gelandet. Die Ark Nova, einen aufblasbaren Konzertsaal, hatte Haefliger gemeinsam mit dem Künstler Anish Kapoor und dem Architekten Arata Isozaki im Jahr 2013 für Fukushima entwickelt, um den tief verunsicherten Menschen in Japan nach der Atomkatastrophe einen Geborgenheit gebenden Raum für Musik zu schenken. Nun kann man diese «Klangskulptur» zum ersten und letzten Mal in Luzern erleben. Das zehntägige, musikalisch vielfältige Programm in der Ark Nova richtet sich an ein breites Publikum; 30 der 35 Konzerte sind ausverkauft. Bei den zwei besuchten Konzerten kommt man allerdings unter der akustisch schwammigen, traditionell bestuhlten Kunststoffhülle ins Schwitzen. Das Gebläse sorgt nicht für Kühlung, sondern hält nur die Hülle in Form. Die experimentelle Performance von Charlotte Hug (Viola und Stimme) und Lucas Niggli (Schlagzeug) hat Längen und zu starke dynamische Spitzen.

Im Innern von Ark Nova, Lucerne Festival 2025. © Anish Kapoor, all rights reserved. Foto: Simona Schürch

Da ist die digital-vokale Show von Winnie Huang (Visuals: Andreas Huck und Roland Nebe), die aus Zähneklappern und Augenzwinkern humorvolle Virtuosität kreiert, beim viereinhalbstündigen Abschied von Michael Haefliger um Längen origineller. Der übervolle Nachmittag wirkt wie ein Destillat seiner Arbeit, das jedoch durch die Länge wieder an Konzentration verliert. Riccardo Chailly, der tags zuvor mit dem Orchester und Chor der Mailänder Scala italienische Ouvertüren und Opernchöre zelebrierte, ist mit einer Rossini-Ouvertüre nochmals dabei. Neue Musik gibts mit Stefan Dohrs Uraufführung von Jüri Reinveres Nachtbild mit Blausternen für Horn solo, Dieter Ammans Violation (grossartig am Solocello: Maximilian Hornung) und Pierre Boulez‘ Initiale für sieben Blechbläser (Ensemble des Lucerne Festival Contemporary Orchestra). Mitglieder des West-Eastern Divan Ensemble spielen Fanny Mendelssohns Es-Dur-Streichquartett mit seltsamen Glissandi in der ersten Violine. Patricia Kopatchinskaja und Sol Gabetta, die beide in jungen Jahren in Luzern den Credit Suisse Young Artist Award gewannen, bringen mit den brillant musizierten Valse bavaroise und Toccatina all’inglese auch zwei Werke von Jörg Widmann auf die Bühne, der 2026 in der Nachfolge von Wolfgang Rihm die Lucerne Festival Academy übernimmt. Open End in Luzern …

Zugänglich-zwölftönige Kammermusik

Als Band XII der Erich-Schmid-Edition ist das «Kleine Hauskonzert» erschienen, in dem sich der Komponist bemühte, «technisch leichter ausführbare Musik zu schreiben».

Erich Schmid am Klavier, Glarus, vor 1949. Foto: Zentralbibliothek Zürich

Die Besetzung dieses «Hauskonzerts» sei gleich zu Beginn verraten: Streichquartett, Sopran, Klavier, allerdings nie alle gleichzeitig, dafür in verschiedenen Kombinationen oder allein. Es handelt sich um einen Zyklus von zwölf kurzen Stücken, die unabhängig voneinander in den späten 1930er-Jahren entstanden sind. Erich Schmid fasste sie 1941 unter diesem Titel als sein Opus 13 zusammen. Uraufgeführt wurde das Kleine Hauskonzert am 25. Juni 1959 im Radio Beromünster. Eine weitere Aufführung fand 1985 in Zürich statt, anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens der Pro Musica. Dies ist die Zürcher Ortsgruppe der IGNM; Erich Schmid stand ihr in den 60er-Jahren als Präsident vor.

Dirigieren statt komponieren

Vielseitig ist die Lebensleistung dieses schweizerischen Musikpioniers! Als Dirigent leitete er in Chefposition das Tonhalle-Orchester Zürich (1949–1956), das Radioorchester Beromünster (1956–1970), daneben den Gemischten Chor Zürich (1954–1975) und den Männerchor Zürich (1961–1964). Viele zeitgenössische Schweizer Werke erlebten ihre Uraufführung unter seinem Dirigat. Sein eigenes Komponieren geriet zusehends in den Hintergrund. Dabei war Erich Schmid Schüler von Arnold Schönberg in Berlin, ein Studium, das 1933 aus politischen Gründen ein vorzeitiges Ende nahm. Schmid wechselte zunächst nach Glarus, wo er als Musikdirektor zwei Chöre und die Harmoniemusik leitete. Durch Vermittlung von Werner Reinhart gastierte er wiederholt beim Musikkollegium Winterthur, u. a. mit Aufführungen von Werken der Neuen Wiener Schule.

Zusammen oder einzeln

Zurück zu diesem Kleinen Hauskonzert: Die Stücke sind zwölftönig oder in verwandten Techniken geschrieben. Man fühlt sich an die Tonsprache von Anton Webern erinnert, die Musik ist zart und intim, die kryptische Ordnung hinter den Tönen lässt sich nur ahnen. Dabei werden die Ausführenden technisch nicht an ihren Grenzen gefordert, vorausgesetzt ist nur Erfahrung im nicht-tonalen Zusammenspiel. Angesichts ihrer Entstehungsgeschichte kann man diese aphoristischen Stücke auch separat in einem anderen Programmkontext spielen, etwa als «Sorbets» zwischen grösseren Werken ganz gleich welcher Epoche. Die Nummer VIII für Violine und Klavier ist besonders schön!

Die Erstausgabe bei Boosey & Hawkes/Bote & Bock enthält neben einem kritischen Bericht viele Informationen zum Werk und zum Komponisten und gibt auch die Zwölftonreihen der dodekafonen Stücke an.

Anhören kann man das Kleine Hauskonzert in der Aufnahme von 1959 im Archiv von Schweizer Radio SRG SSR auf Neo.Mx3. Auch der Mitschnitt des Konzerts von 1985 ist im SRF-Archiv unter der Signatur MG 47126 greifbar.

Erich Schmid: Kleines Hauskonzert, Zwölf Stücke für verschiedene Instrumente und Gesang op. 13, Texte aus «Des Knaben Wunderhorn», hg. von Iris Eggenschwiler, Partitur, BB 3554, € 55.00, Boosey & Hawkes/Bote & Bock, Berlin (Schott)

Radiogeschichte(n)

Eine Sammlung von 42 Quellentexten von der Frühzeit bis zu heutigen Ausprägungen des Radios.

Foto: Miguel Alcântara / unsplash.com

Ist es Nostalgie, dass derzeit so manche Publikation erscheint, die sich mit der (heroischen) Vergangenheit des Rundfunks beschäftigt, mit den elektronischen Studios, den Hörspielen oder hier mit den Grundlagen des Mediums? Vielleicht ist es in Krisen- und Abbauzeiten auch eine Selbstvergewisserung, denn das Radio hat vieles verändert, in technischer und künstlerischer Hinsicht, aber auch in unseren Hörgewohnheiten.

Das wird an dieser Sammlung von 42 Quellentexten deutlich, die von den frühen Anfängen bis in die jüngste Gegenwart reicht. Es ist der zweite Band von Radiophonic, herausgegeben von den in Basel wirkenden Medienwissenschaftlern Ute Holl und Jan Philip Müller sowie Tobias Gerber; der erste Band präsentierte 2019 den aktuellen Stand der Diskussion um das Medium. Nun folgen historische Materialien dazu: Ein wichtiges Kompendium ist so herausgekommen.

Durch die Zeiten

Eingangs geht’s gleichsam in die Medienarchäologie, zu den Experimenten eines Nikola Tesla etwa, der 1893 eine Telegrafie ohne Drähte beschrieb. Daneben steht sofort die pointierte Reflexion eines Robert Walser, der schon 1926 meinte, es wäre «unhöflich, den Siegeszug des technischen Erfindungsgeistes nicht schlankweg zuzugeben», wenngleich er einwandte, «die Kunst, Gesellschaft zu machen», werde dadurch ein wenig vernachlässigt. So ist der Rundfunk in seiner manchmal widersprüchlichen Vielfalt auch ein Symbol für die Moderne.

Künstlerische Manifeste von der Frühzeit an (von Brecht und Marinetti bis Adorno) schliessen sich an: Das Radio wird dabei auch als Kunstform, als Hörkunst verstanden. Von den Experimenten mit Tonband und Mikrofon berichten etwa Pierre Schaeffer, John Cage und Karlheinz Stockhausen. Und auf fast schon vergessene Formen verweist Hans Werner Henze mit seinen Funkopern. Was davon geblieben ist bzw. wie es in den letzten Jahrzehnten kreativ genutzt wird, darüber erzählen die jüngsten Texte: Der Diskurs erscheint dabei allerdings weniger utopiebegeistert als eher zerfleddert, gelenkt von einem Trotz in bedrängten Zeiten. Dennoch: Das Medium ist aktuell geblieben und enthält immer noch Potenzial. Wie wird es das 21. Jahrhundert nutzen?

Radiophonic, Materials, Bd. 2, hg. von Ute Holl, Jan Philip Müller und Tobias Gerber, 448 S., € 29.80, Kehrer-Verlag, Heidelberg 2024, ISBN 978-3-86828-863-6

Vielseitigkeit für Klavier und Akkordeon

Die 30 Eigenkompositonen für Klavier oder Akkordeon im neuen Notenbuch von Marion Suter sind äusserst facettenreich. Akkordeonspielerinnen und -spieler stecken mit Vorteil noch etwas Anpassungsarbeit hinein.

Marion Suter. Foto: zVg

Die Schwyzer Pianistin Marion Suter entstammt einer «Ländlermusiker-Familie». Sie hat an der Hochschule Luzern Klavier Klassik mit einem Schwerpunkt Volksmusik studiert und mit dem Master in Musikpädagogik Klavier abgeschlossen. Mit ihrer neusten Veröffentlichung möchte sie eine «Klavierliteratur-Lücke» im Bereich der Schweizer Volksmusik füllen. 30 Eigenkompositionen (22 Soli und 8 zweistimmige Werke mit separater Begleitung), geeignet für Klavier wie auch Akkordeon, präsentiert sie in ihrem Notenbuch. (Einen Teil davon hat sie auf der CD Pianistin Marion Suter Vol. 2 eingespielt.)

Das Werk bietet eine breite Palette an charakterlicher, harmonisch-melodischer wie auch rhythmischer Vielseitigkeit. Es enthält romantische, rund klingende Balladen, fetzige, swingende, jazzige Stücke, aber auch in der Schweizer Volksmusik verwurzelte Tänze. Den Schwierigkeitsgrad würde ich bei «sehr fortgeschritten» ansetzen.

Als Akkordeonistin blicke ich gerne über den Tellerrand, deshalb habe mich an diese Rezension gewagt. Was nun die Übertragung der Stücke auf mein Instrument betrifft, bin ich etwas zurückhaltend bzw. wurde mir klar, dass man das eine oder andere entsprechend einrichten müsste. Zu erwähnen sind die vielen dicht ausgesetzten Akkorde, die auf dem Akkordeon klanglich nicht optimal wirken, da der Ton stehen bleibt und nicht wie beim Klavier automatisch verklingt. Zudem ist bei einigen Werken ein sehr grosser Tonumfang erforderlich, z. B. für die rechte Hand sehr hohe Lagen, aber auch für die linke Hand (Standardbass), durch die Wahl zum Teil eher ungewohnter Tonarten. Die Akkordeonspielenden sind also gefordert, mit dem Einsatz entsprechender Register, dem Ausdünnen von Akkorden oder auch dem Oktavieren einzelner Teile eine optimale Fassung für ihr Instrument zu finden – ohne dabei den Respekt für diese gelungenen Kompositionen aus den Augen (und Ohren) zu verlieren.

Besonderes Augenmerk verdienen die 8 musikalischen Kostbarkeiten mit separater Begleitung. Sie ergeben eine Fülle an Besetzungsvarianten. Beide Einzelstimmen können problemlos von Streich- oder Blasinstrumenten übernommen werden. Es wäre aber auch eine Fassung durch ein Akkordeon mit Melodiebass vorstellbar und Klavier für den Begleitpart.

Marion Suter: Notenbuch, 30 Eigenkompositionen für Klavier oder Akkordeon, Fr. 40.00, Selbstverlag marionsuter.ch

 

Liedentdeckungen aus bewegter Zeit

Bass-Bariton Christian Immler und Klavierbegleiter Helmut Deutsch lassen mit Robert Grund und Wilhelm Grosz zwei bedeutende, kaum aufgeführte Liedkomponisten aufleben.

Helmut Deutsch (li), Foto: Shirley Suarez; Christian Immler, Foto: Marco Borggreve

Wien, um 1910: Es herrscht eine faszinierende Atmosphäre geprägt von Vielfalt, von Spannungen, auch von einer ästhetischen «Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen». Den 1865 im Schweizer Neuhausen geborenen Robert Gund zog es schon als jungen Mann in die grosse österreichische Musikmetropole. Er wurde dort bekannt vor allem als Komponist von Liedern – von Liedern, die der Bass-Bariton Christian Immler und der Klavierbegleiter Helmut Deutsch nun vorstellen.

Gund schloss sich dem «neuen Ton» in Wien nicht an. Lieder wie Drei Zigeuner, Tanderadei oder Ein Traum sind stilistisch wie inhaltlich der Postromantik zuzuordnen; es gibt Anklänge an Franz Schuberts Liedschaffen, dem die Lieder Gunds qualitativ durchaus gewachsen sind. Keinerlei Effekthascherei ist zu hören. Alles ist sorgfältig ausgearbeitet an seinem Platze. Gund schafft enorm dichte Miniaturen von manchmal ein-, manchmal vierminütiger Länge. Und ihm gelingt, mithilfe der beiden Interpreten, vor allem eines: Er lässt schöne, manchmal aber auch traurige und melancholische Atmosphären entstehen.

Immler und Deutsch kombinieren Gund mit dem nicht bekannteren, etwa 30 Jahre jüngeren Komponisten Wilhelm Grosz. Grosz ist eine schillernde Figur. Er spielte eine unrühmliche Rolle als Störer im Rahmen einer Aufführung von Anton Weberns Streichquartetten. Später widmet sich das – im Booklet so bezeichnete – «stilistische Chamäleon» ausgiebig dem Jazz. Seine Lieder changieren zwischen impressionistischen Stimmungsbildern und bewusst Unterhaltendem. Dass Frank Sinatra, Nat King Cole und sogar die Beatles manche Melodien von Grosz adaptierten ist schon vorstellbar, wenn man sich das englischsprachige Stück Candles in the Sky anhört.

Immler hätte in den Stücken von Grosz an der ein oder anderen Stelle seinen akademisch «sauberen» Ton etwas lebhafter und jazzmässiger anreichern können. Insgesamt ist diese Produktion jedoch weit mehr als nur eine neuerliche Ausgrabung so genannter «Kleinmeister». Es ist hohe Kunst kombiniert mit besonderen Einblicken in ein sehr vitales Zeitgeschehen.

Be Still My Heart – Lieder von Robert Gund und Wilhelm Grosz. Christian Immler, Bass-Bariton; Helmut Deutsch, Klavier. Alpha Classics ALPHA1117

Kürzlich aufgefunden: Chopin-Walzer

Das kurze Stück überrascht mit Dissonanzen und erinnert an eine Mazurka.

Das einzige bekannte Foto von Chopin, um 1848 von Louis-Auguste Bisson. wikimedia commons

Die Nachricht ging durch die Weltpresse. Bei der Sichtung eines Nachlasses machte die New Yorker Morgan Library & Museum im Frühjahr 2024 einen aussergewöhnlichen Fund: einen bisher unbekannten Walzer in a-Moll, geschrieben von Chopins eigener Hand. Und «höchstwahrscheinlich von ihm selbst komponiert».

Der Henle-Verlag zögerte nicht lange und hat das kurze Stück nun samt einem Faksimile in Originalgrösse veröffentlicht. Erstaunt stellt man fest: Das Autograf ist offensichtlich nur so gross wie eine Postkarte! Ein umfangreiches Nachwort von Herausgeber Jeffrey Kallberg geht der Herkunft dieses erstaunlichen Fundes nach und kommt zur Erkenntnis, dass dieses Manuskript ursprünglich als Geschenk gedacht war. Chopin erfreute seine Bekannten ja gelegentlich mit solchen Gaben.

Beim Durchspielen fallen einige Merkwürdigkeiten auf. Die ersten Takte klingen alles andere als einladend. Herbe Dissonanzen führen bereits im 7. Takt zu einem fast brutalen Ausbruch im dreifachen Forte (selten bei Chopin). Danach beginnt der eigentliche Walzer, der jedoch eher die Züge einer Mazurka trägt. Gleich dreimal schreibt hier der Komponist seltsamerweise eine Sechzehntel-Triole, die eigentlich in Achteln notiert sein müsste. Ein Versehen? Und immer wieder hallen die Dissonanzen des Anfangs nach. So auch am Ende des Walzers in Takt 24. Bei einem allfälligen Dacapo könnte man ihn daher auch zu einem endlosen Reigen erweitern, dermassen sind Anfang und Ende miteinander verknüpft.

Falls das kurze Stück tatsächlich als Widmung gedacht war, hatte dieses Geschenk also durchaus eine bittersüsse Note. Vielleicht ist gerade dies ein Indiz für die Autorschaft Chopins?

Noch ein Wort zu den Fingersätzen, die Lang Lang zu verantworten hat. Es zeugt nicht gerade von grosser Sorgfalt, wenn absolut identische Passagen (wie die Takte 2 und 4) mit verschiedenen Zahlen versehen sind. Auch andere Angaben (etwa für die Kadenz am Schluss) nimmt man erstaunt zur Kenntnis. Da hätte der Verlag dem berühmten Virtuosen doch etwas besser auf die Finger schauen sollen …

Frédéric Chopin: Walzer a-Moll mit Faksimile, hg. von Jeffrey Kallberg, HN 1303, € 10.00, G. Henle, München

Schweizer Musikrat mit neuer Leitung

Seit dem 1. August leitet Tom Wiederkehr die Geschäfte des Schweizer Musikrats, neuer Präsident ist Stefan Müller-Altermatt.

Tom Wiederkehr, neuer Leiter der Geschäftsstelle SMR. Foto: zVg

Am 1. August sind beim Schweizer Musikrat SMR Änderungen in der Leitung in Kraft getreten. Tom Wiederkehr löst in der Geschäftsleitung Sandra Tinner ab. Der bereits an der Delegiertenversammlung vom 4. April gewählte neue Präsident, Nationalrat Stefan Müller-Altermatt, folgt auf die bisherige Präsidentin Rosmarie Quadranti.

An der Delegiertenversammlung wurde auch mehrere Vorstandsmitglieder neu gewählt. Damit setzt sich der Vorstand wie folgt zusammen:

Stefan Müller-Altermatt, Präsident
Yvonne Glur-Troxler Vize-Präsidentin und Co-Leiterin Bereich Laien
Luana Menoud-Baldi, Co-Leiterin Bereich Laien
Rico Gubler, Co-Leiter Bereich Bildung / Forschung / Wissenschaft
Edith Stocker, Co-Leiter Bereich Bildung / Forschung / Wissenschaft
Diego Dahinden, Co-Leiter Bereich Musikwirtschaft / Recht
Noah Martin, Co-Leiter Bereich Musikwirtschaft / Recht
Davide Jaeger, Co-Leiter Bereich Professionelle
Marlon Mc Neill, Co-Leiter Bereich Professionelle

Der neu konstituierte Vorstand hat an seiner ersten Sitzung Yvonne Glur als Vizepräsidentin einstimmig gewählt.

An derselben Sitzung hat sich der Vorstand auch dazu entschlossen, das Büro des SMR im Haus der Musik in Aarau aufzulösen. Tom Wiederkehr wird die Geschäftsstelle von Basel (seinem Wohnort) aus leiten. Der SMR ist jedoch weiterhin per Post und Telefon über seine bisherige Adresse und Telefonnummer erreichbar:

musikrat.ch/kontakt/

Thomas U. Wiederkehr schloss Anfang der 2000er-Jahre an der Universität Basel mit einem Master in Marketing und Betriebswirtschaft ab. Anschliessend war er fast zwei Jahrzehnte im Bereich Kommunikation und Werbung tätig. In seiner Agenturtätigkeit begleitete er verschiedene Sinfonieorchester, Musik-, Theater- und Tanzfestivals sowie Branchenverbände der Kulturszene. 2009/10 absolvierte er an der Universität St. Gallen ein Diplomstudium für Technologie- und Wachstumsmanagement. Nebenberuflich arbeitet er als freier Journalist und Kolumnist.

 

Ehrendoktorwürde für Niklaus Troxler

Der Grafikdesigner und Plakatgestalter, Gründer und langjährige Leiter des Jazzfestivals Willisau Niklaus Troxler wurde von der Akademie der Bildenden Künste in Warschau geehrt.

Bild: zVg

Am 4. Juli verlieh die Akademie der Bildenden Künste in Warschau dem «herausragenden Schweizer Grafikdesigner, Pädagogen und Kulturförderer» Niklaus Troxler den Titel eines Doctors honoris causa.

Niklaus Troxler wurde 1947 in Willisau/LU geboren. Nach seiner Ausbildung in Luzern und Tätigkeiten u. a. in Paris betrieb er an seinem Geburtsort ein Grafikstudio, organisierte aber auch Jazzkonzerte. 1975 gründete er das jährlich stattfindende, international ausgerichtete Jazzfestival Willisau, das bald einen wichtigen Platz in der europäischen Musiklandschaft einnahm. 2010 gab er die Leitung an seinen Neffen Arno Troxler ab.

Für Konzerte und das Festival gestaltete er Plakate, die Aufsehen erregten und weithin Anerkennung fanden. Die Meldung der Republik Polen zur Verleihung der Ehrendoktorwürde führt aus: «Troxlers Werk verbindet die Präzision der Schweizer Designschule mit der Spontaneität der Improvisation. In seinen visuellen Arbeiten spiegeln sich musikalische Strukturen wider. In den letzten Jahren experimentiert er mit performativer Kunst – etwa durch Live-Kompositionen mit Klebeband während Jazzkonzerten – ein eindrucksvolles Beispiel seiner Philosophie, in der Kunst und Musik im Gleichgewicht miteinander kommunizieren.»

Medienmeldung der Republik Polen

Jazzfestival Willisau

 

Der weisse Turm über Mulegns

Es hat die Bündner Kulturlandschaft nachhaltig verändert. Nun feiert das Festival Origen seinen 20. Geburtstag – mit einem spektakulären Bauwerk.

Märchenhaft erhebt sich der weisse Turm über dem Dorf. Foto: Benjamin Hofer

Der weisse Turm ragt über dem Wenige-Seelen-Dorf Mulegns auf: neueste 3-D-Technologie mitten in einem engen Bergtal, in Erinnerung an alte Bündner Tradition, nämlich in Zuckerbäckermanier. Innovation also und Vergangenheit in einem, identitätsstiftend – und zudem völlig anders als das, was sonst in der Kultur- und Musikszene angesagt ist. Die Tor alva, eingeweiht just zum 20. Geburtstag des Festivals Origen, ist ein starkes Symbol.

Die Anfänge dieses Festivals liegen fast schon ein wenig in der Vergessenheit, dabei waren auch sie schon spektakulär. Giovanni Netzer, Initiator und bis heute Spiritus Rector von Origen, hatte die alte Burg im Dörfchen Riom, hoch am Eingang des Surses, bühnentauglich gemacht. Dort führte er Musiktheaterstücke auf, die oft von biblischen Themen inspiriert waren, diese aber neu dachten und, mit einer durchs Land ziehenden Commedia-Truppe, auch persiflierten. Es war nicht das urbane, oft hyperaktive Theater der grossen städtischen Bühnen, sondern eine verhaltene, manchmal fast statische, aufs Erste etwas altertümlich wirkende Repräsentation, geprägt vom Ambiente der Aufführungsorte.

Die Geschichten der Heimkehrer

Auf solche Eigenheiten nämlich setzte Netzer. Zum einen personell: Um ihn herum entstand bald eine künstlerische Familie, etwa mit dem Geschäftsführer Philipp Bühler, der seit Jahren hinter den Kulissen wirkt, mit dem Dirigenten Clau Scherrer, der dank seinem Vokalensemble vielen Aufführungen musikalisch den Stempel aufdrückte, schliesslich mit den farben-, gold- und blumenreichen Kostümen und textilen Ausstattungen: Martin Leuthold, Stoffdesigner und einst Art Director der Firma Schläpfer in St. Gallen, gestaltet sie; im Atelier von Lucia Netzer in Riom werden sie geschneidert und fertiggestellt.

Borja Bermudez mit prächtigem Kostüm im Tanzstück «La Torre». Foto: Stefan Kaiser

Zum anderen stellte Origen die Besonderheiten des Tals und der Region in den Mittelpunkt: die vorhandenen Baudenkmäler, die alten Kirchen, Häuser und Hotels, die Landschaft, die Persönlichkeiten, die hier lebten oder die vorbeikamen, schliesslich die Bündner Geschichte. Allmählich verschob sich die Thematik hin zum Regionalen. Ins Zentrum rückte vor allem ein Stoff: jene Bündner, die seit dem 15. Jahrhundert abwanderten, um in der Fremde ihr Glück zu suchen. Vor allem als Zuckerbäcker waren sie in der ganzen Welt erfolgreich. Reich geworden kehrten einige wenige heim und liessen sich Villen erbauen. Giovanni Netzer, der, in Savognin aufgewachsen, nach dem Studium heimkehrte, holt diese Geschichten hervor, er erzählt sie auf immer neue Weise, nicht nur in Theater- und Tanzstücken, sondern auch in den Bauten.

Die Region behält ihr Gesicht

Architektur nämlich nimmt bei Origen längst einen zentralen Platz ein. Nach der alten Burg wurde in Riom auch die Villa des in Paris erfolgreichen Zuckerbäckers Carisch restauriert, die danebengelegene Scheune, die Clavadeira, wurde zum wintertauglichen Theatersaal umgebaut. Am Silvaplanersee und auf der Marmorera-Staumauer entstanden provisorische Theatergehäuse, ebenso auf dem Julierpass, wo später jener spektakuläre rote Turm folgte, der über sechs Jahre hinweg bespielt wurde. Er wurde zu einem Wahrzeichen der Region.

Mulegns mit seinem temporären Wahrzeichen. Foto: Benjamin Hofer

Schliesslich – das Schweizer Fernsehen hat ausführlich darüber berichtet – wurde in Mulegns die weisse Villa um acht Meter verschoben: Alte Bausubstanz blieb so erhalten, aber der starke Transitverkehr über den Julier kann nun problemlos passieren. Auch das nebenan in den 1830er Jahren errichtete Hotel Löwe wurde renoviert, in dem einst königliche Hoheiten, Nobelpreisträger und Schriftsteller weilten. Das Festival Origen wurde so für viele zum Vorbild im Umgang mit regionalen Ressourcen.

Der Zuckerbäckerturm aus dem Drucker

Manch einer wird damals schon gedacht haben, jetzt sei es genug, und Origen habe wohl seinen Höhepunkt erreicht. Aber das Festival überraschte mittlerweile nochmals mit einem Coup: Zusammen mit der ETH kündigte es den Bau eines dreissig Meter hohen weissen Turms an, der in einem 3-D-Drucker wie mit einem Spritzsack stückweise gespritzt und dann vor Ort zusammengefügt wurde. Im Mai wurde er offiziell eingeweiht, dieser derzeit weltweit höchste 3-D-Bau. Ein Husarenstück fürwahr, auch ästhetisch. Denn wo sonst gibt es einen solchen Zuckerbäckerturm, bei dem man den Schlagrahm förmlich zwischen den Schichten hervorquellen sieht? Bei manchen wird das wohl wie alle Patisserie unter Kitschverdacht geraten, aber in dieser historischen Landschaft ist der Turm absolut stimmig. (Haben nicht auch manche Bauten Gaudís etwas Süssliches an sich?) Wer hinaufsteigt, erlebt nicht nur eine wunderbare Aussicht, sondern spürt die einzigartige Materialität des Bauwerks. Märchenhaft – und mutig zugleich. Fünf Jahre soll er dort stehen bleiben.

Die Enthüllung des Turms. Foto: Stefan Kaiser

«Märchen» lautet heuer auch Origens Motto. Vor dem Turm ist das Tanzstück La Torre zu sehen, in dem Netzer Calderóns Klassiker Das Leben ein Traum in eine Zuckerbäckerfamilie transferiert. Der Turm bildet dafür in der Dämmerung nicht nur eine grandiose Kulisse, sondern wird auch szenisch einbezogen. Im alten Speisesaal des Hotels Löwe ist eine eigenwillige Version der Zauberflöte zu erleben. Hinzu kommen mehrere hochstehende Ballettchoreografien, Ausstellungen, Führungen, gregorianische Gesänge in der Früh oder zur Komplet in uralten Kirchen und natürlich weiterhin die Commedia-Truppe, die von einem Bergbauernkind erzählt: Es schweift durch die Welt, bis es vom Heimweh gepackt wird. Origen bleibt sich auch hier treu. Wir sind gespannt, womit es uns demnächst überrascht.

origen.ch

So klingt Schweizer Volksmusik

Seit Mitte Juni ist im Forum Schweizer Geschichte in Schwyz die interaktive Ausstellung «Volksmusik» zu sehen. Im Zentrum stehen Schwyzerörgeli, Alphorn, Hackbrett und Jodel.

Blick in die interaktive Ausstellung. Fotos: Schweizerisches Nationalmuseum

Seit mehr als fünfzig Jahren wird die traditionelle, die folkloristische und mittlerweile auch die Neue Volksmusik mit Büchern, Notenheften, Tonträgern, Filmen, mit Wechselausstellungen, der Dauerausstellung im Freilichtmuseum Ballenberg und in den beiden Kompetenzzentren in Altdorf und Gonten dokumentiert.

Aus diesem umfassenden Material und bei Besuchen von Musikfestivals und Ländlerkonzerten sowie durch Recherchen im Archiv von Fernsehen SRF und in Fotosammlungen haben Sibylle Gerber und Laura Rompietti das Konzept zur Sonderausstellung «Volksmusik» im Forum Schweizer Geschichte in Schwyz entworfen und erst nach diesen Vorarbeiten nach geeigneten Exponaten gesucht. Dabei wurden nicht in erster Linie Volksmusikinstrumente und Bilder, sondern repräsentative Tonbeispiele in beeindruckender Fülle ausgewählt. Aus Platzgründen haben die Kuratorinnen auf eine Darstellung des ganzen Phänomens verzichtet und versucht, die Schweizer Volksmusik in Teilaspekten punktuell zu erfassen. An mehreren Medienstationen, bei erwünschten Improvisationen durch Besucherinnen und Besucher und im vielseitigen Rahmenprogramm darf Schweizer Volksmusik aber in vielen Varianten erklingen.

Bei dieser Medienstation stehen ein Naturjodel oder ein Instrumentalstück zur Auswahl. Einzelne Stimmen oder Instrumente können ein- oder ausgeschaltet werden – so entsteht eine individuelle Klangversion.

Zusammen mit grafischen und tontechnischen Mitarbeitern ist es den Ausstellungsmacherinnen gelungen, einen wichtigen Teil der schweizerischen Volkskultur in Erinnerung zu rufen. Die verschiedenen Alphorntypen, abgebogene Form, Büchel, Stockbüchel und Tiba, sind zwar ausgestellt, aber man vermisst die einzigartige Auffächerung verschiedener Funktionen vom Lock- bis zum Rockinstrument des Nationalsymbols. Als Ergänzung berichtet die begabte Schaffhauser Alphornspielerin Lisa Stoll über ihre Beziehung zur Tracht und zu ihrem Instrument, das sie in einer erfrischenden Einspielung an einer der Medienstationen vorführt. Dass das Hackbrett als wichtigstes Instrument der Appenzeller früher in der ganzen Schweiz verbreitet war und heute noch im Wallis erklingt, wird dem Besucher zwar vorenthalten, aber im Film füllt Nicolas Senn diese Lücke in seiner professionellen Erklärung des alten Saitenspiels und dessen anspruchsvoller Spielweise. In weiteren Videos beweisen ein Schwyzerörgeler und eine Jodlerin die Beliebtheit der Volksmusik auch bei jungen Musikanten.

Formationen und Landschaften

Die Sonderausstellung in Schwyz zeigt die repräsentativen Formationen der Schweizer Volksmusik: Ländlerkapelle (Klarinette, Schwyzerörgeli und Bass), Streichmusik (eine oder zwei Violinen, Cello, Kontrabass und Hackbrett oder anstelle der zweiten Geige und des Cellos Akkordeon), Bandella (kleine Bläsergruppe der Tessiner) und die Fränzlimusik der Engadiner (Streich- und Blasinstrumente). Das älteste, in vielen Volksbräuchen und Vereinen gepflegte Ensemble, Pfeife und Trommel, sucht man vergebens.

In der Schweiz sind heute noch sogenannte Musiklandschaften erkennbar. Unter diesen klingenden Regionen werden das Appenzellerland, die Kantone Schwyz, Tessin, Graubünden und das ehemalige Ländlermekka, die Stadt Zürich, dargestellt. Die Romandie ist mit Joseph Bovet und seinem Knabenchor vertreten, aber wo bleiben die der französischen Musette nachempfundenen «accordéons jurassiens», wo die zahlreichen, jeweils an der «Fête des Vignerons» in Vevey beeindruckenden Chöre der Westschweiz?

Eingangsbereich der Ausstellung mit einem Foto der Bündner Formation «Fränzlis» auf Reisen um 1900.

All die historischen Schwarz-Weiss-Fotos könnten beim flüchtigen Besucher den Eindruck erwecken, die Schweizer Volksmusik sei ein Phänomen der Vergangenheit. Die zahlreichen Konzerte des Rahmenprogramms zeigen aber, dass Jodeln, das Spiel auf Alphorn, Hackbrett und Schwyzerörgeli lebendiger sind denn je.

Musizierlust wecken

Die zehn Monate lang zugängliche Ausstellung wirkt nicht ermüdend, im Gegenteil: Grosse, holzschnittartig auf die Wände gedruckte Illustrationen von Musikanten und Musiklandschaften leiten spielerisch zu den leicht lesbaren viersprachigen Texttafeln, zu all den Medienstationen mit ihren lustvollen Inhalten und schliesslich zur «Stubete-Bühne», wo Besucherinnen und Besucher bereitgelegte Instrumente ausprobieren, aber auch mitgebrachte eigene Instrumente vorführen dürfen. Und tatsächlich: Man wird durch Sehen und Hören angeregt zum eigenen Spielen, Tanzen und Singen oder man lässt sich dazu inspirieren, auf die riesige Wandtafel zu schreiben, was Volksmusik für einen selbst bedeutet, was Volksmusik überhaupt ist.

 

In Schwyz ist eine wortwörtlich interaktive Ausstellung gelungen, die zwar in der Wissensvermittlung da und dort Wünsche offenlässt, die aber Lust macht, vorhandene Kenntnisse zu ergänzen und selber zu musizieren.

Das Rahmenprogramm bietet Führungen für 60+, Kinderführungen mit einem Audioguide und Dialogführungen mit Expertinnen und Experten. Empfehlenswert sind zudem ausgesuchte Konzerte im Zelt vor dem Museum. Wer davon nicht profitieren und auch keinen Mitbesuchern zuhören kann, trifft vielleicht auf den musizierenden Metzger neben dem Forum Schweizer Geschichte, der in Arbeitspausen hinter dem Geschäft Schwyzerörgeli spielt.

«Volksmusik»
Forum Schweizer Geschichte Schwyz
Bis 3. Mai 2026
Di–So 10–17 Uhr
forumschwyz.ch/volksmusik

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Die Titel dieser leichten bis mittelschweren Stücke von Armin Kulla evozieren Bilder und sorgen bei den drei oder vier Gitarristinnen und Gitarristen für Spielspass.

Foto: romanchazov27 / depositphotos.com

Haben Sie Flugangst? Keine Sorge: Ein geglückter Start in höhere Sphären, und nach kurzen Turbulenzen, einer kleinen Mahlzeit und einem zwischenzeitlichen Luftloch führt uns der deutsche Gitarrist Armin Kulla sicher wieder auf den Boden zurück. Eine kleine Reise heisst seine Sammlung von zehn leichten bis mittelschweren Stücken für drei- oder vierköpfiges Gitarrenensemble. Der sprechende Titel des luftigen Auftakts ist typisch auch für die übrigen Nummern.

Nach einem Neuanfang finden wir uns im Nahen Osten wieder, unter anderem mit der attraktiv arrangierten, traditionellen orientalischen Melodie Fog El Nakhel. Rhythmisch munter ist auch die Besichtigung einer pulsierenden Altstadt, während der Winter in Bethlehem eher getragen daherkommt. Üsküdar’a Gider Iken (Auf dem Weg nach Üsküdar) aus der Türkei – besser bekannt unter dem Titel Katibim – ist das zweite traditionelle Volkslied der Sammlung. Alle übrigen Stücke stammen von Armin Kulla selbst.

Die Arrangements sind vielseitig, mit einigen spieltechnischen Besonderheiten. Die Rolle jeder Gitarre innerhalb eines Stücks ist stets klar definiert, wobei es auch Melodieverläufe gibt, die über mehrere Stimmen verteilt sind. Gelegentlich wird in einzelnen Stimmen der Kapodaster eingesetzt, sodass auch hohe Tonlagen einfach zu meistern sind. Nach einem farbenfrohen gitarristischen Streifzug entlässt der Komponist Spielende und Zuhörende mit einem Abschiedswalzer wieder in den Alltag.

Armin Kulla: Eine kleine Reise, leichte bis mittelschwere Ensemblestücke für 3 und 4 Gitarren, D 826, mit Audio-Stream, € 14.80, Dux, Manching

Violinkonzert eines Vergessenen

Hans Gál musste vor den Nazis fliehen; sein Werk geriet in Vergessenheit. Nun wird sein kompositorisches Werk wiederentdeckt.

Hans Gál. Foto: Archiv Breitkopf & Härtel

Als Direktor der Musikhochschule Mainz und mit seinen Kompositionen (Opern, eine Sinfonie, Lieder, Kammermusik), die überall aufgeführt wurden, war Hans Gál (1890–1987) ein wichtiger Mann. Doch mit der Machtübernahme Hitlers erhielt er als Jude in Deutschland Berufsverbot und floh nach Wien, beim Anschluss Österreichs 1938 nach Edinburgh, wo er als Musikdozent bis zu seinem Tod wirkte. Seine tonale, sich an Brahms orientierende Musik geriet als «anachronistisch» in Vergessenheit.

Sein bezauberndes Violinkonzert, 1932 komponiert und bei Breitkopf ediert, wurde in Dresden im Februar 1933 uraufgeführt mit Georg Kulenkampff unter Fritz Busch. Gál ergänzte das Konzert mit drei Kadenzen, die alle auch im Klavierauszug vorhanden sind. Die Solostimme ist kammermusikalisch eng verflochten mit den Stimmen des Orchesters, und die Musik flimmert von melodiösen und harmonischen Einfällen. Das Konzert wurde erst 2005 wieder aufgeführt. Die sorgfältige Neuausgabe von 2023 vergleicht alle vorhandenen Quellen und korrigiert kleine Unstimmigkeiten, begründet im kritischen Kommentar. Das Aufführungsmaterial ist mietweise erhältlich. 

Hans Gál: Konzert für Violine und kleines Orchester op. 39, hg. von Anthony Fox und Eva Fox-Gál, Klavierauszug vom Komponisten und Violinstimme, EB 9457, € 33.90, Breitkopf & Härtel

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