Klassik als globales Exportgut

Eindrücke von der Berliner Avant Première, der jährlichen Präsentation neuer Musikfilme.

Nun verstehe ich, warum mir empfohlen wurde, mich auf einen Stuhl ohne Lehne zu setzen. Ich befinde mich nämlich mitten drin im turbulenten zweiten Akt des Figaro und muss mich ständig um die eigene Achse drehen. Um mich herum verhandeln Susanna, die Gräfin und der eifersüchtige Graf Almaviva den irritierenden Fall, dass offenbar Susanna und nicht Cherubino sich im Ankleideraum der Gräfin versteckt hat.

Aber Stopp! Natürlich sitze ich nicht auf der Bühne. Es ist eine Illusion, und die verdanke ich der VR-Brille, die mir Jan Schmidt-Garre aufgesetzt hat. Sie hat mich in eine virtuelle Realität katapultiert. Das mit 360° Figaro betitelte Experiment im Schnittpunkt von Kunst und Technologie hat der erfahrene Filmautor und Opernregisseur als Eigenproduktion realisiert; Partner beim 200 000-Euro-Projekt waren die Oper Leipzig und das Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut Berlin, das die 360-Grad-Kamera entwickelt hat.

Das Endprodukt ist überwältigend – Immersion total. Aber auch anstrengend: Wenn man nach 25 Minuten die Brille abgesetzt hat und der Trip zu Ende ist, fühlt man sich leicht schwindlig. Nüchtern betrachtet ist es auch nichts für ein Massenpublikum, schon weil man dazu erst einmal diese VR-Brille kaufen müsste. Zudem ist man bei dieser Art von Kunstgenuss total auf sich selbst zurückgeworfen. Schmidt-Garre weiss das. Er ist Realist und betrachtet die Produktion als einmaliges Experiment im Bereich medialer Vermittlung von Opern. Vielleicht wird man in zehn Jahren darauf als eine Pioniertat zurückblicken.

Das war eine der vielen interessanten Erfahrungen, die man bei der diesjährigen Avant Première in Berlin machen konnte. Die vom Internationalen Musik- und Medienzentrum Wien (IMZ) veranstaltete Vorschau auf neue Musikfilme im Bereich Klassik, Ballett und Jazz vereinigt Produzenten, Vertriebe und TV-Sender aus der ganzen Welt, die hier Neuheiten sichten und zeigen, kaufen und verkaufen. Die Mehrzahl der über sechshundert Teilnehmer kommt aus Europa, zunehmend aber auch aus Amerika und Fernost. Die Öffentlich-Rechtlichen werden immer stärker von Privaten konkurrenziert, und erstmals waren nun auch zwei potente staatsnahe Player ganz anderer Art dabei: das China Intercontinental Communication Center und die Moscow Philharmonic Society.

Jenseits der Livedarbietung

Die digitalen Medien haben aus der europäischen Klassik einen globalen Exportartikel gemacht. Jenseits der Minderheit, die Zugang zu den exklusiven Livedarbietungen hat, wächst eine neue Konsumentenschicht heran, die auf weltweit vier- bis fünfhundert Millionen geschätzt wird. Die Zahl nennt Rob Overman, Programmverantwortlicher beim Medienkonzern Stingray. Das kanadische Unternehmen ist heute einer der Big Player im internationalen Klassikmarkt. Es hat unter anderem die Rechte an den Aufnahmen von Unitel, der von Leo Kirch initiierten Klassik-Schatzkammer, erworben und den angebundenen Musikkanal Classica gekauft.

Über eigene Apps und globale Anbieter wie Amazon und Comcast hat Stingray heute Zugang zur Hälfte aller Pay-TV-Haushalte weltweit und versorgt sie nicht nur mit Aida, Nussknacker und Beethovens Neunter, sondern auch mit interessanten Minderheitsprogrammen. Dank neuer Technologien ist das Geschäft vereinheitlicht, es funktioniert nach dem Video-on-Demand-Prinzip von Netflix. Ob in Beijing, Paris oder Ottawa, überall kann man direkt auf dem Bildschirm sein Abonnement abschliessen. Unbemerkt von den Konzertgängern in Tonhalle und Elbphilharmonie ist Europas musikalische Hochkultur damit zum Premiumobjekt in einer globalisierten Medienlandschaft geworden. Für unseren traditionellen Musikbegriff bleibt das nicht ohne Folgen.

Der Stoff für diesen globalen Markt besteht in erster Linie aus dem laufend erneuerten Grossangebot an Opern- und Konzertaufzeichnungen: dem publikumswirksamen Schaulaufen der Dirigenten und neuerdings auch Dirigentinnen – Dutzende Male bekommt man die grandiose Herrschergeste beim Abschlag eines Fortissimo-Schlussakkords zu sehen – und den scharf beobachteten Liebesszenen auf der Opernbühne. Juan Diego Flórez oder Anna Netrebko sind Renner. Doch finden sich auch immer wieder Autorenfilme von starker Aussagekraft. So etwa die grandiose Visualisierung von Edgar Allan Poes Erzählung A Descent into the Maelstrom (Hinab in den Maelström) durch den norwegischen Filmautor Jan Vardøen zur suggestiven Musik von Philip Glass.

Jenseits des Mainstreams

Kontrapunktiert wird das globale Mainstream-Angebot auch durch die regionalen Perspektiven kleinerer Sender wie etwa des Slowenischen Fernsehens, das auf einen erstaunlichen Reichtum an eigenen Kulturtraditionen zurückgreifen kann. Mit einer individuellen Note wartet auch das Tessiner Fernsehen RSI auf. Anstelle von reinen Klassikaufnahmen will man heute mehr auf Gegenwartsphänomene eingehen, was auch eine originelle Fernsehdokumentation wie Un Barbiere a Lugano mit einschliesst, in der Rossinis legendärer Coiffeur einen Ausflug in den Alltag macht. Von der RSI kommt auch eine Dokumentation über Cecilia Bartoli, die erste seit 1993 über die jenseits der Bühnenrampe eher zurückhaltende Primadonna. Sie kam über den Dirigenten Diego Fasolis zustande und ist ein internationaler Verkaufserfolg. Die Ticinesi zeigen, dass man auch mit einem kleinen Budget erfolgreich arbeiten kann. Man muss nur die richtigen Ideen haben.

Brooklyn-Aufenthalt für Pamela Méndez

Für das Jahr 2019 hat Kultur Stadt Bern gemeinsam mit dem Kanton Bern eine neue Partnerorganisation für ihr New York-Stipendium für Kulturschaffende gefunden. Als erste können der Fotograf Alexander Jaquemet und die Musikerin Pamela Méndez nach Brooklyn reisen.

Pamela Méndez (Bild: zvg)

Jaquemet und Méndez werden in der zweiten Jahreshälfte 2019 für fünf Monate ein Atelier der Organisation Residency Unlimited in Brooklyn nutzen können. Die Berner Musikerin sucht in New York Material für ein drittes Album. Das Stipendium ist dotiert mit je 15’000 Franken als Beitrag an die Reise- und Aufenthaltskosten. 

Die Stadt Bern schreibt jährlich zwei Stipendien in New York aus. Zwei ausgewählte Kulturschaffende können jeweils vom 1. August bis zum 31. Dezember je eine Wohnung und ein separates Studio in New York kostenfrei benutzen. Der Kanton Bern schreibt die New York Stipendien zu denselben Konditionen in der jeweils anderen Jahreshälfte aus.

Nachdem Generationen von Berner Künstlerinnen und Künstlern für ihre New York-Stipendien im Stadtteil Manhattan zu Gast waren, werden Jaquemet und Méndez erstmals in Brooklyn arbeiten. Wohnung und Studio werden durch die lokale Organisation Residency Unlimited RU in Rücksprache mit den ausgewählten Kunstschaffenden angemietet. Die Organisation mit Basis in Brooklyn ist auch Ansprechspartnerin vor Ort. Die nächste Ausschreibung ist im Herbst 2019 geplant, für eine Aufenthaltsdauer in New York vom 1. August bis 31. Dezember 2020.
 

Musikvermittlung ist weiter im Aufwind

Die deutschen Berufsorchester und Rundfunkklangkörper haben ihre Aktivitäten zur Ansprache neuer Publikumsgruppen weiter ausgebaut. Dies zeigen die Ergebnisse der bundesweiten Konzertumfrage 2017/2018 der Deutschen Orchestervereinigung.

Foto: Monika Kozub / Unsplash (s. unten)

Musikpädagogische Aktivitäten wie zum Beispiel Instrumentenpräsentationen, Kammermusikauftritte und Workshops in Schulen nahmen in Deutschland in den vergangenen zwei Jahren mit über 6000 Veranstaltungen um rund 20 Prozent zu. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Kinder-, Jugend-, Familien- und Schülerkonzerte um mehr als 25 Prozent auf 2863. Im Gegenzug ging die Zahl normaler Sinfoniekonzerte zurück.

Insgesamt hat sich nach schwierigen Jahren die Lage vieler Orchester konsolidiert. Für Ende des Jahres 2019 warten die Orchester auf die Entscheidung der UNESCO zur Aufnahme der deutschen Orchester- und Theaterlandschaft auf die Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit.

Bildnachweis: Monika Kozub / Unsplash

Berner Gaskessel bleibt am bisherigen Ort

Der Berner Gemeinderat hat nach Konsultationen mit Interessengruppen beschlossen, das Jugendzentrum Gaskessel, unter anderem ein bedeutender Veranstalter der Bundesstadt für alternative Musikkulturen, am bisherigen Standort zu belassen.

Foto: Debianux/wikimedia commons (s. unten)

Der Berner Gemeinderat will auf dem Gaswerkareal eine urbane Überbauung mit einem wesentlichen Wohnanteil realisieren. Aus der Industriebrache soll «ein pulsierendes Quartier mit Wohnflächen, Flächen für Gewerbe und Kultur sowie öffentlichem Freiraum entstehen». Die vorhandenen Naturwerte auf dem Areal werden durch ökologische Ausgleichsflächen ersetzt.

Der Gaskessel ist ein Zentrum für Jugendliche und jugendliche Kulturschaffende aus der Stadt und Region Bern. Neben dem Engagement der Jugendlichen bietet er Plattformen für junge Kulturschaffende und lokale Künstlerinnen und Künstler an. Gleichzeitig werden aber auch internationale Kulturschaffende angesprochen.

Jugendkulturzentrum «Gaskessel» in Bern. Foto: Debianux / wikimedia commons
 

Schweiz 2020 Fokus von Eurosonic Noorderslag

ESNS (Eurosonic Noorderslag), eine bedeutende Plattform für europäische Musiktalente, stellt jedes Jahr im niederländischen Groningen die besten Acts aus einem Land in einen speziellen Fokus. 2020 ist die Reihe an der Schweiz.

Zeal & Ardor, 2018. Foto: Sam Town (s. unten)

Die Schweiz habe nicht nur eine sehr aktive und kreative Szene von Musikschaffenden, schreiben die Veranstalter, sondern auch eine hohe Club- und Festivaldichte, international vernetzte Radiostationen sowie «eine äusserst lebendige Independent-Labelszene». Zurzeit entstehe in der Schweiz «extrem kreative und originelle Musik in allen Genres», welche gerne in Groningen präsentiert würden. Acts, welche an ESNS 2020 auftreten möchten, können ihre Bewerbung vom 1. Mai bis zum 1. September 2019 online einreichen. 

ESNS zieht mehr als 4000 Fachleute aus allen Bereichen der Unterhaltungsbranche an, darunter über 400 europäische Festivals. Jedes Jahr veranstaltet ESNS in der Stadt Groningen mehr als 350 Konzerte und bietet ein umfassendes und fokussiertes Konferenzprogramm mit rund 150 Panels und Keynotes sowie vielfältige Möglichkeiten zum Networking.

In der Erfolgsbilanz nennt ESNS die Acts Alice Merton, Alma, BOY, Dua Lipa, Mario Batkovic, Sigrid, Sophie Hunger und Zeal & Ardor. Nebst den Schweizer Acts wie zum Beispiel Crimer, Flèche Love, Long Tall Jefferson et Danitsa waren im diesjährigen Line-Up (Januar 2019) auch folgende Artists erfolgreich: Black Midi, Flohio, Fontaines D.C., girl in red, L’impératice, Manon Meurt, Mavi Phoenix, Pip Blom, Reykjavíkurdætur, SONS and Tamino.

Mehr Infos:
https://swiss-music-export.com/2019/03/01/esns-to-focus-on-switzerland-in-2020

 

Bild oben: Zeal & Ardor, 2018. Foto: Sam Town from Birmingham, UK / wikimedia commons
https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/deed.en

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