Meine Konzentration und mein spirituelles Verständnis finden hier mehr Raum

Zeyu Zhao studiert Klavier an der Kalaidos Musikhochschule im Studiengang Master of Arts in Performance und ist Preisträger des diesjährigen Jstvan Kertész-Wettbewerbs.

Zeyu Zhao. Foto: zVg

 

In Dalian/China aufgewachsen, studiert er seit 2015 in Europa, erst an der Universität Augsburg und im Anschluss an der Kalaidos Musikhochschule. Zeyu Zhao liebt es zu singen, zählt Bohemian Rhapsody zu seinen Lieblingssongs und mag den 2. Satz der neunten Sinfonie Beethovens aufgrund des hellen, aufmunternden und vorwärtsdrängenden Themas.

Herr Zhao, als Preisträger des diesjährigen Jstvan Kertész-Wettbewerbs gratulieren wir Ihnen ganz herzlich! Wie stehen Sie zu Wettbewerben? 
Ich mag Wettbewerbe, da sie mir die Möglichkeit geben, an mir zu arbeiten und mehr Erfahrungen auf der Bühne zu sammeln. Dementsprechend ist es auch jedes Mal eine grosse Herausforderung, sich darauf vorzubereiten: es braucht viel Zeit und hartes Training.

Was fordert Sie am meisten heraus? 
Während des Auftritts am Wettbewerb begegnet man immer wieder Sondersituationen, welche im normalen Üben und Spielen meist nicht vorkommen. Damit muss man umgehen, was gleichzeitig natürlich auch die Stresstoleranz schult. Mein Ziel bleibt, einen konzentrierten mentalen Zustand zu bewahren und alles daran zu setzen, mein Verständnis und meine Liebe zur Musik zu zeigen. In einer solchen Situation finde ich das anspruchsvoll.

Da scheinen Sie sich nicht erst seit kurzem damit zu beschäftigen. Wurden Sie früh in Klavier gefördert? 
Ja, als Kind habe ich viel geübt, was teils schwierig war, da niemand in der Familie ein Instrument spielte. Meine Mutter hat mich jedoch immer sehr unterstützt. Sie spielte als Kind für kurze Zeit Geige und liebt die Musik so sehr, dass sie mir das Klavierspielen ermöglichen wollte. Ich bin ihr heute sehr dankbar, dass sie mich unterstützt und ermutigt hat, nie aufzugeben.

Eltern können eine entscheidende Rolle im Zugang zu einem Instrument wahrnehmen. Wie erleben Sie im Vergleich zu Ihren eigenen Erfahrungen die musikalische Bildung in Deutschland? 
Wie fest Eltern miteinbezogen sind, kann ich nicht beurteilen. Mir scheint der Zugang freier gestaltet und mit mehr Spass verbunden zu sein. Zudem denke ich, dass die Musiker/innen in Deutschland ein tieferes Verständnis der klassischen Musik besitzen. In China wird mehr Wert auf das Training der Finger und der Technik gelegt. In Deutschland wird die Technik immer mit dem Stilbewusstsein verknüpft. Persönlich empfinde ich hier mehr Ruhe, um mich mit der Musik zu beschäftigen und sie zu fühlen. Meine Konzentration und mein spirituelles Verständnis finden hier mehr Raum.

Seit 2014 leben Sie in Europa. Wie haben Sie den Wechsel aus China erlebt? 
Nach meiner Ankunft in Europa und einem Jahr sprachlicher und pianistischer Vorbereitung habe ich meine Prüfungen bestanden und 2015 mein Studium begonnen. Am Anfang war ich allein, ohne Familie oder Freunde. Aufgrund der noch fehlenden Sprachkenntnisse fühlte ich mich erst sehr allein, teils unbehaglich und sogar ängstlich. Nach einiger Zeit habe ich mich jedoch allmählich an das Leben hier gewöhnt. Jetzt kann ich meinen Alltag mit Studium und Freizeit nach meinen Wünschen gestalten, gehe regelmässig ins Fitnessstudio und versuche in den Ferien durch Reisen die unterschiedlichen Kulturen der europäischen Länder kennen zu lernen.

Sie tragen eine Vielfalt an kulturellen Eindrücken und Erfahrungen mit sich. Welche Rolle nimmt das Singen darin ein? 
Ja, das Singen von Popsongs ist ein Hobby von mir, sowohl auf Chinesisch als auch auf Englisch. Mein Lieblingssänger in China ist Jay Chou. Er komponiert seine Lieder selbst und ist im Bereich R&B sowie Rap unterwegs, wobei er sich von unterschiedlichen Stilen wie klassischer Musik oder traditionell chinesischer Volksmusik inspirieren lässt. Er verwendet auch viele traditionelle chinesische Volksinstrumente, vermittelt meinem Empfinden nach viel positive Energie und ermutigt die Menschen, dem Leben offen zu begegnen. Meine liebste Band in Europa ist Queen. Ich liebe ihr musikalisches Talent und ihre Leidenschaft für das Songwriting. Ihre Songs sind für mich mehr als nur Popsongs, sondern eher Kunstwerke.

Kalaidos FH zum zweiten Mal erfolgreich akkreditiert

Der Schweizerische Akkreditierungsrat hat der Kalaidos Fachhochschule (KFH) und damit auch der Kalaidos Musik-hochschule erneut die institutionelle Akkreditierung erteilt. Das Gutachten hebt als wesentliche Stärken der KFH «die effiziente Organisation der Prozesse» wie auch den hohen Zufriedenheitsgrad der Studierenden» hervor.

Michael Bühler — Im Detailhandel geben Label oder Gütesiegel wie IP-Suisse, ASC oder FSC Aufschluss über Qualität, Beschaffenheitsmerkmale, eingehaltene Sicherheitsanforderungen oder Umwelteigenschaften eines Produktes oder eine Dienstleistung Auskunft. Mit solchen Labels soll also mit Transparenz und Vergleichbarkeit Vertrauen geschaffen werden.

Im Bereich von staatlich anerkannten Ausbildungen sind es nicht Labels, sondern die sog. Akkreditierung, mit welcher ein Staat Vertrauen schaffen will. Denn eine solche ist eine formelle Anerkennung der fachlichen und organisatorischen Kompetenz z.B. einer Universität oder Fachhochschule, die eine bestimmte Dienstleistung (z.B. Forschung oder eine Ausbildung) im Rahmen eines Leistungsauftrages ausrichtet.

Das Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz (HFKG) dient der Sicherung der Qualität im schweizerischen Hochschulbereich. Das Gesetz verlangt eine regelmässige Überprüfung der Qualität der Lehre, Forschung und Dienstleistungen aller Hochschulen. Mit der institutionellen Akkreditierung erhält die Hochschule das Recht, in ihrem Namen die Bezeichnung «Universität», «Fachhochschule» oder «Pädagogische Hochschule» zu führen.

Die Kalaidos Fachhochschule hat diese Akkreditierung im September 2022 erneut erhalten.

Institutionelle Akkreditierung als zweistufiges Verfahren

Vergeben wird die institutionelle Akkreditierung durch den Schweizerischen Akkreditierungsrat. Die Akkreditierung bescheinigt der Kalaidos Fachhochschule, dass sie die vorgegebenen Standards erfüllt. Es handelt sich um ein zweistufiges Verfahren, bestehend aus einer Selbstbeurteilung der Hochschule sowie einer externen Evaluation durch eine Akkreditierungsagentur.

Mitarbeitende aus allen Ebenen der Kalaidos FH sowie Studierende aus sämtlichen Departementen waren in die Erarbeitung des Selbstbeurteilungsberichts involviert und gaben ihre Einschätzung zu den insgesamt 18 vorgegebenen Qualitätsstandards ab. Gemeinsam wurde während rund einem Jahr am 80-seitigen Selbstbeurteilungsbericht gearbeitet, bevor dieser im November 2021 eingereicht werden konnte. Im Frühjahr 2022 folgte die externe Begutachtung durch die Schweizerische Agentur für Akkreditierung und Qualitätssicherung (AAQ). Der anschliessend eingereichte Akkreditierungsantrag der AAQ und die Stellungnahme der KFH bildeten die Grundlage für den endgültigen Entscheid des Akkreditierungsrates im September 2022.

Kalaidos Fachhochschule zum zweiten Mal institutionell akkreditiert

Die Kalaidos Fachhochschule hat als erste Fachhochschule der Schweiz die institutionelle Akkreditierung auf Ebene Gesamtinstitution bereits zum zweiten Mal erfolgreich durchlaufen. Zum ersten Mal verfügte der Bun-desrat im Jahr 2013 die eidgenös-sische Akkreditierung der Fach-hochschule auf der Grundlage des im 2011 beschlossenen und per 1. Januar 2015 in Kraft gesetzten Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetzes.

Als wesentliche Stärken der Kalaidos Fachhochschule hebt die Gutachtergruppe unter anderem die «hochschulrechtliche Organisationsstruktur zur Erfüllung des vierfachen Bildungsauftrages», «die effiziente Organisation der Prozesse» und «die Vielfalt der Kommunikationsplattformen und -gefässe für die Akteursgruppen» hervor. Besonders freuen wir uns auch über den festge-stellt «hohen Zufriedenheitsgrad der Studierenden», «die hohe Identifikation der Gesprächsteilnehmenden» mit der Kalaidos Fachhochschule und das gemeinsame Qualitätsverständnis.

Die Akkreditierung wird für eine Dauer von sieben Jahren erteilt. Damit erhält die Kalaidos Fachhochschule das Recht, das Siegel «Institutionell akkreditiert gemäss HFKG 2022-2029» zu tragen.

Geigenunterricht für Kleinkinder

Die Kalaidos Musikhochschule bietet seit 2021 in Kooperation mit dem Suzuki-Institut Schweiz und der Suzuki-Ausbildnerin Agathe Jerie eine Weiterbildung Musikpädagogik Suzuki-Methode an.

Annette Kappeler — Musikpädagog:innen mit Hauptfach Violine oder Viola können dort ihr Repertoire an Unterrichtsmethoden erweitern und nach Abschluss des Certificate of Advanced Studies (CAS) ihre Kenntnisse in Suzuki-Instituten oder Musikschulen einbringen.

Die ersten Studentinnen haben die Ausbildung abgeschlossen, und eine von ihnen, Alexandra Bissig, berichtet nun über ihre Erfahrun-gen.

Alexandra Bissig, warum haben Sie sich für eine Suzuki-Weiterbildung entschieden?

Nach dem Musikpädagogik-Studium wollte ich noch etwas ande-res kennenlernen und hatte schon einiges über die Suzuki-Methode gehört. Mein Ziel war vor allem, meine Unterrichtstätigkeit zu bereichern und neue Inputs zu erhalten – speziell für den Anfang auf der Geige mit kleinen Kindern.

Was unterscheidet die Suzuki-Methode von anderen musikpädagogischen Ansätzen?

Die grössten Unterschiede sind die folgenden: Die Kinder lernen am Anfang übers Gehör und das Nachahmen der Lehrperson, ohne Notentext. Der Einstieg ist bereits für Kinder ab ca. drei Jahren möglich, wogegen er an Musikschulen meist erst ab dem Primarschulalter üblich ist. Die Suzuki-Methode ist aber auch für fortgeschrittene Schüler:innen geeignet. Jede Woche findet Einzel- und Gruppenunterricht statt, in enger Zusammenarbeit mit den Eltern.

Wie zeitgemäss ist die Suzuki-Methode? Was muss man bei seiner Durchführung bedenken?

Die einzige Schwierigkeit sehe ich darin, dass heutzutage zum Teil beide Eltern berufstätig sind. So ist es schwieriger zu erreichen, dass z.B. die Mutter zuerst auch das Geigenspiel erlernt und bei jeder Unterrichtsstunde ein Elternteil dabei und Teil davon ist. Denn mit Einzel-, Gruppenstunden und dem Üben zuhause ist der Suzuki-Unterricht zeitintensiv. Ich denke aber, dass es dafür in jedem Fall eine Lösung und ev. Kompromisse gibt.

In welchem Kontext unter-richten Sie? Welche Aspekteder Suzuki-Methode können Sie dort einbringen?

Ich unterrichte an der Musikschule und konnte schon viele Aspekte des CAS Suzuki in meinen eigenen Unterricht einbringen und ihn dadurch abwechslungsreicher gestalten und mehr auf kleine Kinder zuschneiden. Das lässt sich gut miteinander verbinden, z.B. indem ich mit meinen Schüler:innen mehr über das Gehör und die Nach-ahmung arbeite statt immer nach Noten zu spielen. Es ist mit dem Vorgehen der Suzukimethode einfa-cher geworden, an einer schwierigen Stelle genau und detailliert zu ar-beiten.

Wie können Sie persönlich von dieser Ausbildung profitieren?

Ich konnte auf jeden Fall schon viel von der Ausbildung profitieren. Es fallen mir jetzt andere wichtige Aspekte auf, auf die ich im Unterricht achte. Es gibt ein strukturierteres System, wie beim Unterrichten vorgegangen wird, welche Schritte aufeinander folgen. Mit einigen Tipps aus dem CAS konnte ich auch für mein eigenes Übevorgehen profitieren.

Wie lässt sich die Weiterbildung mit einem Berufsleben als Musikpä-dagog:in verbinden?

Es ist nicht zu unterschätzen wie aufwändig die Ausbildung ist. Es gibt schriftliche Arbeiten zu erledigen. Und z.B. das Aufnehmen der einzelnen Stücke aus den Suzuki-Heften auf Video nimmt viel Zeit in Anspruch. Jede:r Teilnehmer:in beschäftigt sich mit der sogenannten Kleinkindertechnik, die es erlaubt, den Kindern so vorzuspielen, dass sie es mit ihren physiognomischen Voraussetzungen direkt nachahmen können. Die Stücke aus den Suzuki-Schulen, die mit den Kindern erarbeitet werden, werden dann in dieser Technik aufgenommen. Jedoch klappt es gut neben dem sonstigen Berufsleben, da die Aufgaben immer etappenweise abgegeben werden mussten. Auch die Wochenenden mit Präsenzunterricht konnten wir zusammen mit der Dozentin abmachen

> www.kalaidos-fh.ch/de-CH/Studiengaenge/CAS-Certificate-of-Advanced-Studies-Musikpaedagogik-Suzuki-Methode.

Das Handy auch einmal weglegen hilft

Elisabeth Kulmer wurde mit 13 Jahren als Jungstudentin an die Musik-Akademie Basel aufgenommen und hat mit ihren nun 22 Jahren bereits internationale Wettbewerbe wie den Karl Adler-Wettbewerb gewonnen. Sie studiert im Master Performance an der Kalaidos Musikhochschule und möchte danach einen Master Musikpädagogik anschliessen.

Annette Kappeler und Xavier Pfarrer — Ihr Ziel ist es, sowohl mit Orchestern zu arbeiten, als auch an grossen Wettbewerben teilzunehmen und solistisch durchzustarten. Als Lehrerin möchte sie zudem der neuen Generation ihr erarbeitetes Wissen weitergeben.

Elisabeth Kulmer, liest man Ihre Biographie, erfährt man, dass Sie bereits viele Auftritte in verschie-denen Ländern hatten. Wie erleben Sie das Musikbusiness?

Ich bin noch nicht so tief im Musikbusiness drinnen, aber ich arbeite darauf hin. Bis jetzt wurde ich mehrheitlich für Konzerte in privaten Veranstaltungen gebucht. Eines kann ich aber sagen, dass die Musikszene eine harte Branche ist, die sehr viel Engagement verlangt. Man muss jederzeit daran arbeiten, positiv herauszustechen.

Nach dem Bachelorabschluss in Basel haben Sie sich für ein Performance-Studium an der Kalaidos Musikhochschule entschieden. Wieso?

Ich wollte in der Klasse von Alexander Gilman studieren, der an der Kalaidos Musikhochschule unterrichtet. Herr Gilman arbeitet auch am Royal College in London, wo ich nun bis zu drei Mal die Woche Unterricht erhalte, um an meiner Musikalität und Technik intensiv zu arbeiten. Das Besondere an der Kalaidos ist, dass man das Studium unabhängig vom Ort auf einem unglaublichen Niveau absolvieren kann.

Sie wohnen also in London, sind aber auch oft in der Schweiz. Wie sind Sie während der Lockdowns und Reisesperren mit dieser Stuation umgegangen?

Dadurch, dass mein Dozent sehr kompetent ist, gab es eigentlich keinen Unterschied zwischen Online- und Face-to-face-Unterricht. Natürlich ist persönlicher Unterricht vor Ort aus vielen Aspekten von Vorteil, jedoch ist die Alternative für solche Situationen angemessen.

Haben Sie während dieser Zeit neue Handlungsspielräume entdeckt? Welchen Stellenwert nimmt die digitale Welt in Ihrem musikalischen Wirken ein?

Durch die Corona-Situation ist man nun darauf vorbereitet, Videos bereit zu haben, um sie für Wettbewerbe, Stiftungen und Probespiele zu verwenden. Somit öffnete sich in der Branche eine neue Tür, die vorher im Alltag nicht so präsent war. Um sich auf die neue Situation einzustellen und die Musik weiterzuvermitteln, hat man sich angepasst, was auch zeigt, wie grenzenlos die Musik sein kann, und dass man immer einen Weg finden kann, um sie zu vermitteln.

Wie können wir uns Ihren Alltag heute vorstellen?

Ich starte meinen Tag immer mit einem liebevollen Kaffee. Wäh-rendessen organisiere ich meinen Übeplan. Um mit klarem Kopf an das Üben heranzugehen und konzentriert zu bleiben, lege ich mein Handy weg, auch in den Übepausen. Denn man darf nicht vergessen dass man das neu Erlernte kognitiv verarbeitet, auch wenn man gerade nicht spielt. Ich teile mir das Üben über die Tageshälften ein und plane darumherum den Rest meines Alltags, um eine gesunde Balance zwischen meinem Instrument und meinem Privatleben zu haben.

Was machen Sie in Ihrer Freizeit gerne?

Ich höre ganz verschiedene Musikstile wie Klassik, Rock, Soul und Jazz, treibe viel Sport und verbringe Zeit mit Freund*innen und Fa-milie. Ein guter Ausgleich zwischen Privat- und Berufsleben ist mir sehr wichtig.

Instrumentenbau mit Kleinkindern

Die Kalaidos Musikhochschule bietet seit 2020 ein CAS Bambusflöte an. Nun haben die ersten Studierenden die Weiterbildung abgeschlossen und stehen schon mitten im Berufsleben.

Hanspeter Janzi (HJ) hat eine Schreinerlehre gemacht und an der Musikhochschule Luzern Posaune studiert. Vor Kurzem hat er das CAS Bambusflöte der Kalaidos Musikhochschule abgeschlossen. Er spielt in verschiedenen Ensembles und unterrichtet an mehreren Musikschulen, 2021 übernahm er auch eine Bambusflötenklasse. In seiner Freizeit ist er gerne mit seiner Familie in den Bergen unterwegs.
Denise Schär-Plüss (DSP) hat Klarinette an der Hochschule der Künste Bern studiert und ein
Lehrdiplom für Bambusflöte erworben. Sie unterrichtet an den Musikschulen Aaretal und Solothurn und ist Dozentin im CAS Bambusflöte. In ihrer Freizeit spielt und hört sie verschiedenste Musikstile von Renaissance bis Jazz, macht Spaziergänge mit ihren Hunden und reist.

Erwähnen wir den Bambusflötenunterricht, ernten wir beim Gegenüber manchmal ein Schmunzeln. Wird der Unterricht auf der Bambusflöte ernst genug genommen?
HJ:
Manche Leute denken, wir machen etwas wie ‘betreutes Basteln mit Musik’ und sind erstaunt, wenn sie erfahren, dass wir das Instrument selber bauen. Die Bambusflöte ist komplett gestimmt und hat einen chromatischen Tonumfang von 1 ½ Oktaven. Aus dem Schmunzeln wird dann meistens ein Staunen.
DSP: Ein Schmunzeln habe ich noch nie erlebt! Mir kommt nur bewunderndes Staunen entgegen, dass es möglich ist, mit Kindern ein vollwertiges chromatisches Instrument zu bauen und darauf zu musizieren.

Das ist wirklich erstaunlich. Ab welchem Alter ist man fähig, seine eigene Bambusflöte zu bauen?
DSP:
Der Unterricht richtet sich an Kinder ab 4 oder 5. Nachdem sie eine Sopran- und ev.
eine Altflöte gebaut haben, wechseln sie meist auf ein anderes Instrument. Im Elementarunterricht kann sich aber auch eine Passion für Instrumentenbau entwickeln: Manche Kinder wollen das gesamte Flötenquartett bauen!
HJ: Bei uns an der Musikschule beginnen viele zwischen 2 und 5 Jahren mit einem ElternKind-Musikkurs. Wenn sie dann ein Instrument lernen möchten, sind sie u. U. noch zu jung.
Als Übergang können sie mit der Bambusflöte musikalische Grundlagen erlernen. Das
Spezielle ist, dass jedes Kind sein Instrument selber baut. Denn wer von uns
Berufsmusiker*innen hat sein Instrument schon einmal selber hergestellt? Ich als Posaunist sicher nie.

Als Geigerin und Pianist können wir das von uns auch nicht behaupten. Müssen wir uns eine Gruppe singender Kinder mit Werkzeugen vorstellen, oder wie sieht der Elementarunterricht mit der selbstgebauten Bambusflöte konkret aus?
DSP:
Bunt und vielseitig! In Kleingruppen finden gut rhythmisierte Lektionen statt, die musikalisch-spielerische und handwerkliche Elemente enthalten. Sämtliche Schritte für den Flötenbau führen die Kinder selber aus, mit Bohrer, Säge und Feilen. Beim Ausarbeiten der
Löcher wird ihr Gehör geschult, denn sie müssen so lange feilen, bis der richtige Ton erklingt.

Der Flötenbau ist also auch Teil der CAS-Ausbildung?
HJ:
Genau. Damit man Freude am Unterricht hat, ist es wichtig, eine gute Bambusflöte zu bauen. Das erfordert Übung und Geschick. Auch das Spielen auf der Bambusflöte will gelernt sein.

Welche Inhalte werden im CAS Bambusflöte sonst vermittelt?
DSP:
Neben Flötenbau und Spieltechnik und -praxis besteht das CAS aus den Modulen
Methodik, Praktika und der Abschlussprüfung. Wie von Herrn Janzi angedeutet, braucht der Flötenbau am meisten Zeit. In Methodik und Praktika liegt der Schwerpunkt auf ‘Learning by doing’ und dem Unterricht auf Elementarstufe. Das CAS kann nach einem Vorkurs berufsbegleitend von diplomierten Musiker*innen besucht werden.

Herr Janzi, wie lässt sich die Ausbildung mit Privat- und Berufsleben verbinden?
HJ:
Eigentlich recht gut, da wir die Unterrichtszeiten selber definieren konnten und die Dauer von ca. einem Jahr überschaubar ist.

Sie sind beide ausgebildete Berufsmusiker*in. Gibt es Möglichkeiten, die Ausbildung mit anderen Berufslaufbahnen zu absolvieren?
DSP:
Für Personen aus pädagogisch-sozialen Berufen mit Hochschulabschluss bietet der Verband Bambusflöten Schweiz zusätzlich zum Baukurs einen Vorkurs in Musik an, so ist der Einstieg in das CAS möglich.

«Eine kleine Zukunftsmusik»: I. Allegro vivace

Beeinflusst Musik (und Kunst) die Entwicklung unserer Gesellschaft oder ist sie vielmehr einfach ein Spiegel unserer Zeit? Die Antwort lautet wahrscheinlich: sowohl als auch.

Michael Bühler — Denn auf der einen Seite hat die Forschung1 im Bereich «Big Data» (wo also aus all den über uns gesammelten Daten Verhaltens-Korrelationen abgeleitet werden) jüngst festgestellt, dass heitere Musik indirekt den Aktienkurs beflügelt.

Als Ableitung davon ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen u.a. in der Ukraine zu hoffen, dass sich diese Erkenntnis bewahrheitet, indem sich die Strömung der sog. «New Classics» mit ihrem filmmusikähnlichen Wohlklang, der Harmonie und der deutlichen Entschleunigung (als Gegenbewegung zu den experimentellen, teilweise schrillen und hektischen Klängen zeitgenössischer Klassik), positiv auf das Verhalten der Menschen überträgt und für Frieden sorgt.

Auf der anderen Seite übernehmen Komponisten, aber auch Künstler wie z.B. Ai Weiwei mit ihrem Schaffen heute die Aufgabe, für welche früher ein Hofnarr verantwortlich war: im Zentrum seines Wirkens stand nicht primär die Belustigung des Hofes, sondern kunstvolle Provokation und Irritation. Er konnte also als einziger dem König wahrheitsgetreu spiegeln, wie es dessen Volk wirklich geht, ohne dass ihm der Kopf abgeschlagen wurde.

Kunst und Musik sind also Spiegel unserer Gegenwart und prägen sie gleichsam.

Doch wie entwickelt sich unsere Gesellschaft in Zukunft und welche gesellschaftliche Funktion wird dabei die Musik haben?

Ganze Forschungsinstitute widmen sich ausschliesslich der Frage, wie unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen wird. Anhand aktueller Daten werden mögliche oder wahrscheinliche Szenarien entwickelt, wie sich Wirtschaft, Politik und Gesellschaft entwickeln. Und die Musik?

Aus ökonomischer Sicht scheint dieser Sektor weltweit zu unbedeutend zu sein, sodass Musik nicht oder kaum bei der Entwicklung von Megatrends wie Globalisierung, Digitalisierung, Individualisierung oder Silver Society berücksichtigt wird. Angesichts der Erkenntnis, dass Musik selbst den Börsenkurs beeinflusst, erscheint dieses Zukunftsbild aber unvollständig, wenn die Wirkung von Musik auf die Gesellschaft ignoriert wird.

Wagen wir in Ermangelung empirischer Daten ein kleines Experiment: Wie würden Sie für sich folgende Fragen beantworten:

Wird man, getrieben vom technologischen Fortschritt, als Konzertbesucher/in im Jahre 2040 nicht mehr im Konzertsaal sitzen, sondern sich in einen virtuellen Konzertsaal einloggen und es sich mit einem Glas Bio-Prosecco und einer (dann hoffentlich nicht mehr so klobigen) Öko-Strom-betriebenen, CO2-neutral hergestellten Fairtrade-VR-Brille auf dem Kopf während eines der regelmässig angeordneten Lockdowns in den eigenen vier Wänden gemütlich machen? Und erstellt man sich für die gesellschaftliche Interaktion während den Pausen zwischen den maximal 7minütigen «Musik-Häppchen» (denn dank der stark verkürzte Aufmerksamkeitsspanne ist es ja bereits heute vielen nicht mehr vergönnt, eine ganze Beethoven-Sinfonie zu bewältigen) wie im gleichnamigen Film einfach einen genderneutralen Avatar und unterhält sich live und in HD im virtuellen Foyer des Web 3.0 mit anderen Konzertbesuchern/innen über Gott und die Welt?

Reine Fiktion? Zugegeben, die Vorstellung mag provokant und fremd sein – aber ganz so unrealistisch scheint dies angesichts der laufenden Entwicklung gar nicht zu sein.

In der Konsequenz muss aber aus Sich von Universitäten und Hochschulen zwingend die Anschlussfrage gestellt werden, welche Skills und Wissen für künftige Generationen von Musikern/innen bereitgestellt werden muss und wie dieses Wissen adäquat vermittelt werden soll?

Wird ein emeritierter Profes-sor im Vorruhestand am Montag um 08:00 Uhr im Auditorium eine Vorlesung halten und den Studierenden Buch-Tipps abgeben? Wohl kaum.

Von der Vorstellung, von fixen Vorlesungszeiten, müssen wir uns ge-mäss der «New Work»-Entwicklung wohl schon bald verabschieden. Stattdessen stehen Online-Studien, Learning Landscapes oder Flipped Classrooms im Vordergrund.

Der Wissenstransfer verläuft je länger je mehr nicht mehr von alt zu jung, sondern umgekehrt. Denn die sog. Digital Natives, die in unse-re digitale und komplett vernetzte Welt hineingeboren wurden, setzen mit neuen Denkmustern neue Mass-stäbe. Und vergessen Sie gedruckte Bücher! Denn gerade die Digitalisierung entwickelt sich bereits heute so rasant, dass gedruckte Bücher schon völlig veraltet sind, bevor sie noch im Buchhandel im Regal stehen. Und gemäss dem Megatrend «Wissenskultur» wird dann noch viel weniger als heute «auf Vorrat» gelernt. Man lernt also keine Musikgeschichte mehr auswendig, sondern eignet sich im sog. Tutorial-Learning situativ (z.B. per YouTube-Video) lediglich das spezifische Wissen an, welches für eine bestimmte Herausforderung vonnöten ist.

Die Fragen und Herausforderungen in Bezug auf die gesellschaftliche Funktion von Musik in der Zukunft als auch des Musik-Business liegen also eigentlich offen auf dem Tisch. Deshalb geht es im Hier und Jetzt daran, Antworten zu suchen – und (möglichst bald) zu finden.

1. Harvard Business Manager, 3/2022

Gesangsliteratur für den Anfangsunterricht

Claudia Iten studiert im Master Pädagogik an der Kalaidos Musikhochschule und hat mit ihrer Masterarbeit «Gesangsliteratur im stimmbildnerischen Prozess. Eine Materialsammlung für den Anfängerunterricht» den Kertész-Pädagogikpreis 2021 gewonnen.

Annette Kappeler und Xavier Pfarrer — Claudia Iten ist in Zug aufge-wachsen. Sie bewegt sich gerne in der Natur, trifft Freund*innen und interessiert sich für psychologische Themen. Sie hört Blues, Swing und Opern, aber geniesst oft einfach die Stille. Sie kann auf eine internationale Gesangskarriere zurückblicken – so sang sie an der Deutschen Oper Berlin, am Staatstheater Nürnberg, am Theater Aachen, an der Nederlandse Reisopera, in Rennes, Cagli-ari und Bogotá… Für die Partie der Isolde in Wagners Tristan wurde sie für den Golden Mask Award nominiert.

Claudia Iten, Sie haben eine Werksammlung für den Anfangs-unterricht erstellt. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

Ich wollte mich mit einem Thema befassen, das in der Praxis wichtig ist. Als Lehrerin habe ich den Anspruch, für verschiedene Stimmen passende Lieder parat zu haben. Zudem war mir das Repertoire der Popularmusik wichtig, da dies im Unterricht gefragt ist.

Gab es bisher keine solchen Nachschlagewerke?

Im nicht-englischen Kulturraum nicht. Im englischen Sprachraum (USA) wird über Kriterien für den Schwierigkeitsgrad von Liedern und eine Systematik technischer Aspekte geforscht. Nachschlagewerke sind aber eher für den Unterricht von Studierenden oder fortgeschrittenen Laien. Im deutschsprachigen Raum gibt es die Beihefte von Heinrich von Bergen für den Anfangsunterricht. Nur sind die vorgeschlagenen Lieder ziemlich veraltet.

Was sind Ihrer Ansicht nach Gründe dafür?

Es ist nicht einfach, Lieder für den Entwicklungsprozess von Gesangsschüler*innen zu systematisieren. Es gibt ja unendlich viele Lieder. Die Erarbeitung eines Katalogs ist aufwendig und nicht sehr kreativ… Aber ein gut ausgewähltes Lied hilft und motiviert, Fertigkeiten zu trainieren, v.a wenn man es auch gerne singt.

Wo kann man Ihren Katalog finden, wenn man ihn als Lehrperson verwenden möchte?

Man kann sich per E-Mail bei mir melden: kontakt@claudia-iten.com

Unterrichten Sie auch erwachsene Schüler*innen? Worauf kommt es im ersten Lehrjahr Gesang an?

Ja. Wenn jemand noch keinen Gesangsunterricht hatte, geht es darum, den Funktionskreis der Atmung und den eigenen Körper als Teil der Gesangsstimme kennenzulernen. Parallel dazu werden erste Gesangsübungen in einer bequemen Mittellage und die Weitung der Kehle als Resonanzraum eingeführt.

Sie haben in Ihrer Kindheit auch Violine gespielt. Wo könnten Geigen- und Gesangspädagog*innen voneinander lernen?

Ich denke, die Wahrnehmung von (Ent-)Spannung im eigenen Körper wäre für Geiger*innen sehr wichtig, denn ihr Körper ist auch Teil des Instruments. Ebenso kann ein bewusster Atem dem Violinspiel helfen. Umgekehrt habe ich durch das Geigenspiel eine Sensibilität in Bezug auf Intonation entwickelt. Das Spielen von Streichquartetten (mit Eltern und Bruder) war die beste Schulung für meine spätere Laufbahn. Denn auch als Solistin ist man Teil eines Ganzen.

Sie stehen auf Opernbühnen, studieren und unterrichten. Unsere Kalaidos-Idee der Verein-barkeit von Beruf und Privatleben in allen Ehren, aber mehr als 24 Stunden am Tag können auch wir Ihnen nicht bieten. Wie krie-gen Sie das unter einen Hut?

Ja, ich habe viel zu tun. Das Gute an der Kalaidos ist, dass man selbst bestimmen kann, wie schnell und intensiv man studiert. Die Kunst ist, sich nicht stressen zu lassen und eins nach dem anderen zu tun. Da habe ich noch Entwicklungspotential…

Wie haben Sie Corona in Ihrem Alltag erlebt?

Die Herausforderung war, meine Fixkosten zu decken. Da ich in Deutschland wohne, konnte ich in der Schweiz keinen Ersatz für abgesagte Konzerte beantragen, obwohl meine Konzerttätigkeit hier ist. Es wurde mir bewusst, wie ich als freischaffende Sängerin überhaupt keine Absicherung habe. Ich habe die Zeit genutzt, um an meiner Masterarbeit zu arbeiten und eine Ausbildung als Sprecherin und als Chorleiterin zu beginnen. Wenn man wartet, bis man wieder singen darf, fällt einem die Decke auf den Kopf. Jetzt habe ich wieder Konzerte. Das ist ein befreiendes Gefühl, wieder auftreten zu dürfen!

Achtsamkeit allein ist zu wenig

Fabio Dorizzi ist in Steinach am Bodensee aufgewachsen. Er studiert Gesang im Studiengang Bachelor of Arts an der Kalaidos Musikhochschule und konnte letztes Jahr mehrere Erfolge feiern: Er gewann den 1. Preis des Kertész-Wettbewerbs und konnte auch in seiner ersten Rolle am Zürcher Opernhaus auftreten.

Annette Kappeler und Xavier Pfarrer — Fragt man ihn nach seiner Lieblingsmusik, erwähnt er Depuis le jour von Marc-Antoine Charpentier (Interpretation Montserrat Caballé) und Time waits for no one von Freddy Mercury. Er bezeichnet sich als leidenschaftlicher «Power Napper», Feldenkrais-Fan und liebt es, in Clubs zu tanzen.

Fabio Dorizzi, was hat sich während der Pandemie in Ihrem Leben verändert? Was waren die grössten Herausforderungen?

Die Pandemie war eine turbulente Zeit. Auf einmal standen viel Angst und Trauer im Raum. Viele Leutehaben nahestehende Menschen verloren, Beziehungen gingen in die Brüche, Arbeitsverhältnisse änderten sich… Aber auch Begriffe wie «Solidarität» und «Entschleunigung» wurden lauter. Das fand ich schön. Darüber hinaus hat sich für mich während der Pandemiezeit ein Traum erfüllt, als ich an der Oper Zürich singen durfte.

Herzliche Gratulation! Wie ist es zu diesem Engagement gekommen?

Ein Agent hat mich angefragt. Danach habe ich in Zürich vorgesungen und die Rolle bekommen. Ich bin mega-dankbar, dass ich diese Erfahrung machen durfte und habe alles wie ein Schwamm in mich aufgesogen und viel Neues dazugelernt. Mein nächstes Ziel ist es nun, in ein Opernstudio zu kommen.

Die Bühne scheint Sie zu faszinieren. Bereits in der 3. Klasse haben Sie die Hauptrolle eines Schulmusicals gesungen. Letztes Jahr das Opernhaus Zürich… Was verbindet für Sie diese beiden Stationen?

Das sind zwei wichtige Momente meines Lebens. Bei beiden habe ich mich sehr intensiv gespürt und mich auf meinem Weg bestärkt gefühlt. Ich liebe es, auf der Bühne zu stehen! Wenn man damit noch Menschen glücklich machen kann: Jackpot!

Können Sie mit Ihrer künstlerischen Tätigkeit ihr Studium und ihr Leben finanzieren, oder arbeiten Sie auch in anderen Bereichen?

Ich hatte während meines Studiums Nebenjobs und werde von Stiftungen und Privatpersonen unterstützt. Momentan kann ich noch nicht 100% vom Gesang leben. Dieses Ziel verfolge ich weiter und werde nicht davor zurückscheuen, Nebenjobs anzunehmen. Man ist ja nicht weniger Künstler, nur weil man sein Einkommen aus anderen Quellen generiert.

Da sind wir uns einig. Zudem ist das Studium an der Kalaidos nicht subventioniert. Was sind (neben den Studienkosten) Vor- und Nachteile einer Hochschule wie Kalaidos, die stark auf Flexibilität und Selbstständigkeit der Studierenden setzt?

Ich schätze die zeitliche und örtliche Unabhängigkeit der Kalaidos! Aber keine Rose ohne Dornen: Gerade am Anfang des Studiums hatte ich Mühe damit, mir meinen Studienalltag zu strukturieren. Heute bin ich froh darüber, dass ich dies im Rahmen meines Studiums gelernt habe.

Sie nennen mit der Strukturierung des Studienalltags einen wesentlichen Punkt. Trotzdem kann es immer wieder zu stressigen Phasen kommen. Sie haben eine Maturaarbeit über Achtsamkeit geschrieben – spielen solche Techniken für Ihre künstlerische Arbeit eine Rolle?

Absolut! Achtsamkeit ist für mich eine Grundvoraussetzung für jedes Lernen! Aber während des Studiums habe ich auch gelernt: Achtsamkeit allein ist zu wenig. Ich glaube, dass man sein Leben nicht im «Beobachtermodus» verbringen soll, sondern sich immer wieder im Leben und in den eigenen Rollen verlieren darf… Die Mischung macht wach und lebendig.

Sie haben einmal formuliert: «Ich lebe heute schon aus der Musik. Mein Traum ist es, in Zukunft auch von der Musik zu leben». Was bedeutet dieses Aus-der-Musik-Leben heute für Sie?

Ich glaube, es gibt keinen menschlichen Zustand, der sich nicht in Musik fassen lässt. Das Umgekehrte ist genauso gültig: Wenn man sich von der Musik berühren lässt, kann man sich in viele «Menschlichkeiten» hineinspüren. Das hat etwas sehr Befreiendes, finden Sie nicht?

Wo und wer ist das Nicht-Publikum?

Schwindende Abo- und Besucherzahlen im Bereich des klassischen Konzertes sind heute nicht nur auf Grund von COVID 19 keine Seltenheit mehr – sie sind eher die Regel. Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, wurde dieses Publikumssegment mit verschiedenen Studien bereits weitgehend erforscht.Nur, wäre es nicht sinnvoller, wenn man viel mehr jenen Gehör verschafft würde, die zwar privat gerne Klassik hören, jedoch nicht oder nur sehr selten Konzerte besuchen? Denn von Nicht-Besuchern weiss man noch recht wenig.

Michael Bühler — Von weltweit abnehmenden Besucher- und Abonnentenzahlen beim klassischen Konzert zu berichten, ist nun wirklich nichts Neues mehr. Und dass das Durchschnittsalter eben dieses Publikums rasant ansteigt und ergraut (Stichwort: Silver-Society), ist selbst schon ein alter Zopf (einzige Ausnahme scheint Asien, wo das Publikum zwar genau wie im Rest der Welt rasch altert, aber dessen Haarpracht einfach nicht ergraut). Vor diesem Hintergrund erscheinen Befürchtung des aussterbenden Klassik-Publikums nachvollziehbar. Oder doch nicht? Denn Gemäss Erhebungen1 ist davon auszugehen, dass klassische Kultureinrichtungen gerade einmal 4.5 Prozent der potenziellen Nutzer von kulturellen Angeboten in ihre Häuser bringen können.

Wo – oder viel wichtiger: wer – sind also die anderen 95.5 Prozent?

Bis in die 1980er Jahre waren Veranstalter von klassischen Konzerten auf Grund hoher Auslastungszahlen und gestützt auf den Bildungsauftrag, resp. der damit verbundenen staatlichen Subventionen, weitgehendst von der unternehmerischen Pflicht befreit, sich dafür zu interessieren, wer im Publikum sitzt und welche Erwartungen an einen Konzertbesuch gestellt werden. Da klassische Musik zur Allgemeinbildung gehört(e), musste sie allen zugänglich gemacht werden. Wer genau «alle» sind, interessierte daher kaum.

Seitdem die Erfolgsgeschichte des klassischen Konzertes eingebrochen ist2, bemühen sich Forschung und Veranstalter vermehrt, die Erwartungen des anwesenden Publikums besser zu verstehen, um auf die individuellen Erwartungen (deren Erfüllung heute ein grösserer Stellenwert hat) eingehen zu können. Während die Kultur-Besucherforschung also mittlerweile ein viel bearbeitetes Forschungsfeld von Kultursoziologie, Kunstpsychologie oder Kulturmanagement ist3, wurde die eigentlich viel wichtigere Gruppe der Nicht-Besucher eher wenig untersucht, obwohl doch diese eigentlich im Zentrum des Interesses dieser Kultureinrichtung stehen sollten.

Das veränderte Kultur- und Konsumverhalten macht die Sache nicht einfacher. Der oder die typische Konzertbesucher/in, dem/der klare Merkmale (wie z.B. hohe Bildung, gehobenes Einkommen und gesellschaftliche Position etc.) zugewiesen werden konnten, wurde von kulturellen «Allesfressern», die sich durch Nutzung unterschiedlicher kultureller Angebote auszeichnet, verdrängt. Dieses zeichnet sich aber nicht durch Beliebigkeit aus, sondern vielmehr durch eine unvoreingenommene und tendenziell offene Haltung gegenüber anderen Kunst- oder Musikgenres.

Und anstelle der früheren Klassengesellschaft dominiert heute ein Nebeneinander verschiedener Lebensstile, die sich in bestimmten Szenen und Milieus wiederfinden4.

Für entsprechende Marketing-Bemühungen sollten also die Interessen, die sozio-demographische Struktur, aber auch die Erwartungen von Menschen dieser Lebensstile von zentralem Interesse sein.

Es stellen sich also zwei Hauptfragen:

a) Wer sind all diese Menschen, die nicht (oder kaum) zu klassischen Konzerten gehen?

Welchen kulturellen Hintergrund haben Sie? Leben sie in einer Partnerschaft? Haben sie Kinder? Welchen Musikgeschmack haben sie? Was machen sie in der Freizeit am liebsten? Welche finanziellen Mittel stehen ihnen für die Freizeitgestaltung zur Verfügung?

Aber noch viel wichtiger b) Warum gehen sie nicht zu klassischen Konzerten?

Sagt ihnen der gesellschaftliche Rahmen nicht zu? Geht in ihrem Freundeskreis sonst niemand zu solchen Veranstaltungen? Oder ist es einfach eine Frage des Musik-Geschmacks?

Gerade bei Letzterem muss man sich vor Augen halten, dass wir versuchen, uns mit unserem Geschmack von anderen zu unterscheiden und uns so sozio-ökonomische zu definieren. Mit einem Besuch einer kulturellen Veranstaltung und all seinen rituellen, habituellen und distinktiven Begleiteffekten definieren wir uns also als einzigartiges Individuum im sozialen Umfeld.

Indem ich mich an einem klassischen Konzert «richtig» zu verhalten weiss, hebe ich mich von denjenigen ab, die dies nicht können oder wollen.

Ein Besuch eines Konzertes ist also aus soziologischer Sicht5 auch Ausdruck eines Lebensstils und geht weit über den Genuss von Musik hinaus.

Ob ich ein Konzert besuche oder nicht, hängt aus Sicht der Medienforschung aber auch vom erlebten oder erwarteten Unterhaltungswert ab6. Dabei geht es – gerade bei kulturellen Veranstaltungen – nicht nur um affektive Befriedigung, also Spass zu haben oder vom Alltag abgelenkt zu werden, sondern auch um kognitive Herausforderung, also das Nachdenken über das soeben Erlebte. Positiv zum Unterhaltungserleben scheint ebenfalls beizutragen, wenn die Zuschauer etwas Persönliches über die Protagonisten erfahren7. Die These, dass das emotionale Involvement des Publikums verstärkt und damit das Gesamterlebnis aufgewertet werden könnte, indem sowohl die inhaltliche als auch persönliche Nähe zum Publikum gefördert wird8, scheint also auch hier bestätigt zu werden.

Leider muss aber festgestellt werden, dass zwar verschiedene Bereich der kommerziellen Unterhaltungsindustrie, also z.B. die Filmindustrie, TV-Shows oder Video-Games, bereits intensiv erforscht wurden, konkrete Ergebnisse oder Erkenntnisse von klassischen Konzerten liegen demgegenüber leider kaum vor.

Gerade vor dem Hintergrund des sich veränderten Kultur- und Konsumverhaltens erscheint es deshalb für Veranstalter und Musiker/innen zentral, besser zu verstehen, was das Publikum motiviert, ein Konzert zu besuchen – oder eben nicht.

Damit in Zukunft diese und andere Fragen nicht nur gestellt, sondern auch beantwortet werden können, hat sich die Kalaidos auf die Fahne geschrieben, sich dieser Thematik intensiv zu widmen. So werden sich die unterschiedlichen Disziplinen der angewandten Forschung praxisorientiert und vorausschauend mit eben diesen Fragen auseinandersetzen und den Studierenden die Erkenntnisse unmittelbar zur Verfügung stellen, damit diese optimal vorbereitet werden und es so gelingt, neue Möglichkeiten zu schaffen und eigene Kompetenzen als auch individuelle Lösungen für diese Herausforderung zu finden.

Noten

1. Schmidt, S. / Wilhelm, A. (2010): Feizeitverhalten.

2. Tröndle, M. (2011): «Das Konzert».

3. Tröndle, M. (2019): Nicht-Besucher-forschung.

4. Tröndle, M. (2019): Nicht-Besucher-forschung.

5. Blaukopf, Kurt (1982): Musik im Wandel der Gesellschaft.

6. Tsay-Vogel M./ Nabi R (2015): The power of positive action.

7. Tal-Or, N/Hershman-Shitrit M (2015) Self-disclosure and the liking of parcitipants in reality TV.

8. Tröndle, M. (2019): Nicht-Besucher-forschung.

Musikstudium online – Notlösung oder Vision

Der pandemiebedingte Wechsel zum Online-Studium scheint für viele Studierende wenig Probleme verursacht zu haben. Aber auch für Musik-Studierende?

Michael Bühler — Von heute auf Morgen verschob sich für Dozierende und Studierende der Bildungsalltag vom gewohnten Umfeld auf damals noch sehr oft ungewohnte Videokonferenzen oder Breakout-Räume – egal ob man sich davor scheute und technisch eingerichtet war, oder nicht.

Wie Studierende im Allgemeinen mit der neuen Situation umgehen und was diese für sie bedeutet, wurde bereits in zahlreichen Studien erforscht.

Aber inwieweit haben diese Erkenntnisse auch für Musik-Studierende Gültigkeit? Der hier vorliegende Stimmungsbarometer zeigt auf, wie Musik-Studierende der Kalaidos die Pandemie erleben.

Für diejenigen, die zumindest einen Teil des Studiums bereits vor dem ersten Lockdown von zu Hause aus im Online-Unterricht absolvierten und damit auch soziale Interaktion und das private Leben bereits entsprechend eingerichtet hatten, sollte der abrupte Wechsel einfacher gefallen sein – diese Schlussfolgerung erscheint zumindest logisch. Und tatsächlich trifft sie u.a. auch für viele Studierende des Gesundheits- oder Business-Administration-Bereiches zu.

Gemäss internen Erhebungen der Careum Hochschule für Gesundheit1, wie auch des Wirtschafts- Departements der Kalaidos2, gelang der Übergang in die Fernlehre schnell und relativ reibungslos, da diese schon vor Corona auf digitale Tools wie Zoom im Unterricht setzte.

Die Befragten äusserten sich positiv über die Zeit- und Geld-Ersparnis für den entfallenden Weg zum Campus, die verbesserte Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit, die erleichterte Familienbetreuung sowie die Möglichkeit, sich dank Headset während der Präsenzveranstaltungen mehr bewegen zu können. Negativ fielen demgegenüber die fehlenden sozialen Kontakte, das fehlende Bewusstsein, dass man sich im Studium befindet, der Zugang zu Literatur und Bibliotheken, die niederschwellige oder fachliche Auseinandersetzung mit dem Lernstoff in Pausengesprächen aus.

Und wie haben Studierende mit Hauptfach Musik diese Umstellung erlebt? Musik als Gefühlskunst lebt vom unmittelbaren, zwischenmenschlichen Austausch von Gefühlen – sowohl zwischen Interpreten beim gemeinsamen Musizieren, als auch im dynamisch-emotionalen Energie-Austausch zwischen Künstlern und Publikum, was – mikrosoziologisch betrachtet – nicht zuletzt für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist.

Die folgenden Einschätzungen basieren auf einer qualitativen mündlichen und schriftlichen Umfrage im November 2021 unter Musik-Studierenden der Kalaidos Musikhochschule. Die Umfrage-Ergebnisse sind als Stimmungsbarometer zu verstehen und erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität.

Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass eine Mehrheit der Befragten überwiegend gute Erfahrungen mit dem angebotenen Online-Unterricht gemacht hat. Hier scheint sich der Umstand, dass dieser schon vor der Pandemie fester Bestandteil der Lehrtätigkeit war, positiv auf die Bewertung auszuwirken, da insbesondere die Dozierenden im Umgang mit den technischen Mitteln, als auch mit den pädagogischen Herausforderungen des Online-Unterrichts (z.B. anstrengende Bildschirmzeit, Ablenkung im häuslichen Umfeld, oder verkürzte Konzentrations-Spanne) vertraut waren.

Während Studierende in den Bereichen Wirtschaft oder Gesundheit mehrheitlich angaben, das Studium effizienter, also zeit- und kostengünstiger gestalten zu können, da z.B. der Weg in die Uni entfällt, standen bei einer Mehrheit der befragten Musik-Studierenden weniger ökonomische, sondern vielmehr qualitative Überlegungen im Vordergrund.

So wurde u.a. die Möglichkeit, das Studium auf diese Weise besser in den Berufs- oder Familien-Alltag zu integrieren, oder aber auch der eigenen Aufnahme- oder Konzentrationsfähigkeit individuell Rechnung zu tragen, von einer Mehrheit der Befragten positiv verzeichnet.

Wie festgestellt, fiel es jenen Studierenden in den Bereichen Gesundheit oder Wirtschaft leichter, mit der sozialen Isolation umzugehen, welche bereits vor der Pandemie im Online-Unterricht «geübt» waren. Demgegenüber scheint der gesellschaftliche oder soziale Kontakt für Musik-Studierende viel schwieriger durch Online-Angebote substituierbar zu sein. Nicht selten werden in unterschiedlichen Antworten Schwierigkeiten in Ermangelung des sozialen oder gesellschaftlichen Austausches mit Kommilitonen zum Ausdruck gebracht. Die Folgen werden mit fehlender Motivation und Kraft, zu Hause wie üblich 6 bis 8 Stunden zu üben, bis hin zu Frust und Einsamkeit angegeben.

In Bezug auf die technischen Herausforderungen werden für Musik-Studierende typische, qualitative Schwierigkeiten zum Ausdruck gebracht, sodass die Übertragungs-qualität der Musik als mangelhaft empfunden wird, um an interpre-tatorischen Aspekten oder an der Klangfarbe zu arbeiten. Im digitalen Zusammenspiel verunsichert die Zeitverzögerung – auch wenn diese heute nur noch wenige Zehntelsekunden beträgt – nach wie vor eine Mehrheit der Befragten.

Hält man sich diese technischen Schwierigkeiten als auch der fehlende Energie-Austausch zwischen Interpreten und Publikum vor Augen, überrascht es nicht, dass sich die Vorspiel-Tätigkeit quasi zu reinen Übungszwecken auf den engsten Familien- oder Freundes-Kreis reduzierte, oder aber gänzlich zum Erliegen gekommen ist. Und hier macht sich bei einigen ein anderes Problem sichtbar: die fehlende Anerkennung durch das Publikum.

Für einen nächsten Lockdown – den es hoffentlich nie geben wird – wünschen sich die Befragten wenig überraschend mehr Kontakt zu anderen Studierenden z.B. in Online-Seminaren, begleitete Lerngruppen oder interdisziplinäre Arbeitsgruppen.

Die Vorstellungen eines dauerhaften, optimalen Musik-Hybrid-Studium divergieren in dieser Umfrage stark. Gemäss einer leichten Tendenz scheint es aber nach Ansicht der Befragten nicht gänzlich ausgeschlossen, dass sich der Theorie-Unterricht bis 100% und die Hauptfach-Lektionen bis zu 40% im Post-Corona-Zeitalter in die digitale Welt verschieben.

Hoffen wir also, dass Universitäten und Fachhochschulen sich dieser Herausforderung bewusst annehmen und sich die positiven Effekte dieser Herausforderung nachhaltig zunutze machen.

Noten

1. Conrad, C., Frech, M., Käppeli, A. (2021). Digitales Lehren und Lernen im Studium.

2. Willi Kägi, I. (2020). Livestream-Unterricht aus Studierendensicht.

«Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit»

Michael Bühler ist neuer Rektor der Kalaidos Musikhochschule.

Interview: Annette Kappeler — Michael Bühler studierte Musik mit Hauptfach Klarinette, hat einen Master in Business Administration und promovierte mit einer Studie, welche die (negativen) Auswirkungen der Ritualisierung auf das klassische Konzert untersucht. Ausserdem blickt er auf eine beeindruckende Karriere als Intendant und Orchestermanager zurück – unter anderem beim Opernhaus Zürich und dem Zürcher Kammerorchester. Seine vielfältigen Erfahrungen bringt er ab Oktober 2021 in die Hochschularbeit ein.

Michael, welche Deiner vielen Kenntnisse und Eigenschaften erscheinen Dir für Deine neue Funktion als Rektor einer Hochschule zentral?

Ich denke, dass meine vielseitige Neugier, meine Offenheit und mein Interesse am gesellschaftlichen und technologischen Wandel meine Arbeit massgeblich prägen werden.

Wie kann ich das verstehen?

Nun, in den letzten Jahren habe ich aufmerksam mitverfolgt, wie sich die Anforderungen an Kulturschaffende und Kulturinstitutionen grundlegend verändert haben: Das Mediennutzungsverhalten wurde multimedial, sodass jüngere Konsumenten heute kaum mehr in der Lage sind, an einem klassischen Konzert in kontemplativer Stille zu versinken und sich nur der Musik hinzugeben. Die Aufmerksamkeitsspanne hat sich drastisch verkürzt. Das kann dazu führen, dass jüngere Menschen rasch gelangweilt sind oder es schlicht nicht mehr schaffen, sich «nur» auf die Musik zu konzentrieren.

Aber diese gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen sind scheinbar spurlos am klassischen Konzert vorbeigegangen. Wen wundert es da, dass jüngere Besucherinnen fehlen und das Durchschnittsalter des Publikums in die Höhe schiesst!

Und was bedeutet das für die Musikhochschulen?

Den staatlich subventionierten Musikhochschulen wird ein grosser Anreiz zu Wachstum gegeben. Wie dabei die Qualität aufrechterhalten werden kann, scheint noch unklar.

In meinen Augen müssten weniger das Wachstum, sondern vielmehr die Erfolgsbilanz auf dem Arbeitsmarkt im Vordergrund stehen – und damit wird die Frage, wie Musikerinnen auf diese Herausforderungen reagieren, zentral.

Sollten sich Ausbildungsprogramme demnach noch stärker diesen aktuellen Entwicklungen anpassen?

Unbedingt! Wir müssen unsere Studierenden noch besser darauf vorbereiten, dass niemand auf die 345. Aufnahme der Frühlingssonate wartet – und wird sie auch noch so brillant gespielt. Um damit aufzufallen, muss es der Musikerin gelingen, sich mit hartnäckigem Selbstmarketing oder anhaltender Präsenz auf den sozialen Medien Gehör zu verschaffen und mit dem Publikum zu interagieren. Im Sinne des Changemanagements müssen wir die Studierenden nicht nur zu musikalischen Höchstleistungen führen, sondern sie auch unternehmerisch für den Arbeitsmarkt fit machen. Oder frei nach den Worten Friedrich Schillers: «Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit».

Welche Rolle kann eine private Hochschule wie Kalaidos in der Schweizer Bildungslandschaft spielen? Was hebt sie von anderen Musikhochschulen ab?

Dadurch, dass die Kalaidos als einzige private Fachhochschule keine staatlichen Subventionen erhält, setzen wir uns diesem wirtschaftlichen Druck selber aus und müssen uns täglich fragen: Wie können wir unsere Ausbildungsprogramme verbessern, so dass die Studierenden erfolgreich sein können?

Denn nur wenn sie erfolgreich sind, sind wir als Institution erfolgreich. Auch wenn das hart klingen mag, es entspricht der marktorientierten Realität – und dieser Herausforderung wollen wir uns ganz im Sinne unserer Studierenden auch in Zukunft stellen.

Hast Du vor, auch Deine eigenen Forschungsarbeiten und -ergebnisse in die Hochschularbeit einzubringen?

Ja. Wie gerade erwähnt, scheint es mir zentral, dass wir versuchen, ständig am Puls der Zeit zu bleiben. Und das bedeutet eben auch, auf akademischem Weg nach Lösungsansätzen für neue Herausforderungen zu suchen. Wenn diese Erkenntnisse dann direkt ins Studium einfliessen, sind die Studierenden sicherlich gut vorbereitet.

Annette Kappeler

… ist Studiengangleiterin im Master Pädagogik an der Kalaidos Musikhochschule.

Abschied

Mit zwei «Zukurzgeschichten» verabschiedet sich Frank-Thomas Mitschke in den Ruhestand.

Frank-Thomas Mitschke — Das Ensemble «Après-Avantgarde» war zu Gast in H., und die sechs Musikerinnen und Musiker – engagiert in einer konzertierten wie gleichermassen konzertierenden Aktion vom städtischen Kulturamt und der Volkshochschule – brachte dem Publikum die Musik der Ultramoderne nahe. So z. B. das dreizehnminütige Epos «Niemaczegośtakiegojakprzypadek» des in der Umgebung von Opole sehr geschätzten Komponisten Zbigniew David Owidzenia. Dieser Meister moderner Töne vermied es sorgfältigst, auch nur eine Stelle in seinem Meisterwerk so zu gestalten, dass sie irgendjemand hätte nachsingen können. Stattdessen spielten sie ohne Partitur das, was ihnen der liebe Gott oder ihre Schwiegermutter eingeflüstert hatte. Wortreich erklärte der extra zu diesem Zweck aus Polen angereiste Maestro – es war schliesslich die Uraufführung des Werks, und Berichten zufolge soll es auch die einzige geblieben sein – die Bedeutung der 17 einzelnen Abschnitte aus seinem Epos. Leider auf Polnisch, was in H. so gut wie niemand verstand.

Die Einführung in das Opus Kakophonisticum des deutschen Tonsatzmeisters Johannes S. C. Heuslich übernahm der Alphornspieler des Ensembles. Er erklärte wortreich die Beziehungen zwischen den vom Alphorn zu erzeugenden Tönen und der Relativitätstheorie von Einstein – und das sogar auf Deutsch! Da er aber aus Bern stammte, hielten die Konzertbesucher dies ebenfalls für Polnisch und verstanden nichts, was sie umso heftiger applaudieren liess.

Leider brach der städtische Flügel der Firma Schiedmayer & Söhne unter dem geforderten siebenfachen forte im Opus Kakophonisticum zusammen, so dass Fräulein Schimmelpfennig, die als Vertreterin der Stadt beim Konzert zugegen war (sie hatte beim Streichholzziehen verloren) den Klavierstimmer Markus W. anrief. Dieser war glücklicherweise zuhause beim Abendessen, das er stehen liess und sofort in die Konzerthalle eilte, wo Besucher und Mitwirkende aufgrund dieser Panne eine Zwangspause machten und die einen mit ein paar Flaschen warmen Bier die Erinnerung an die erste Hälfte hinunterzuspülen versuchten, während die anderen sich mit warmen Wodka in die Stimmung für die anspruchsvolle zweite Konzerthälfte brachten.

Markus W. begab sich an die Arbeit, versuchte alles, um den alten Schiedmayer nebst Söhnen wieder spielbar zu machen und stimmte dann das Instrument. Dabei spielte er – wie das alle Stimmer zu tun pflegen – Akkorde, Tonleitern, Bruchstücke aus Mozart-Sonaten, Bach Präludien und Schubert Impromptus.

Bereits bei den ersten Klängen der Skalen kamen die ersten Besucher wieder in den Saal hinein, und bei Mozärtlichen Bruchstücken, gepaart mit Takten von Schubert, strömten alle Besucher, die schon mit dem Gedanken gespielt hatten, ein plötzliches Problem mit dem Babysitter vorzutäuschen, wieder in den Saal auf ihre Plätze.

Als Markus W. mit seiner Arbeit fertig war und seinen Stimmhammer wieder in seine Werkzeugtasche packte, brach ein frenetischer Beifall aus, er erhielt standing ovations und etliche «Zugabe»-Rufe, so dass er die gesamte eingestrichene Oktave noch einmal stimmte.

Als er die Bühne – immer noch unter tosendem Beifall – verliess und das Ensemble wieder die Bühne betrat, leerte sich der Saal mit rasender Geschwindigkeit – bis auf Fräulein Schimmelpfennig, die den Türschlüssel hatte und bis zum Schluss ausharren musste.

Die Kritik in der H´schen Zeitung überschlug sich vor Begeisterung und testierte Markus W. einen wunderbar-sensiblen Anschlag sowie ein beeindruckend grosses Repertoire.

Für alle künftigen Konzerte hat der Rat der Stadt H. beschlossen, den Namen des Stimmers in grossen Lettern mit Foto auf dem Plakat zu veröffentlichen, während die Namen der eigentlich engagierten Musiker neben den Vorverkaufsbedingungen im Kleingedruckten zu finden sind.

Mitschkipedia – MODERNE MUSIK: Wenn du in Konkurrenz zu Mozart oder Schubert trittst, hast du verloren.

Der Tenor

Ronald wollte Tenor werden. Mit jeder Faser seines Regenwurmkörpers fühlte er sich als Opernsänger, nichts lag ihm mehr am Herzen als die Meisterwerke des belcanto, und nichts konnte ihn davon abbringen, durch ständiges Üben zu versuchen, diesem Ziel näher zu kommen.

Leider war seine Stimme – vielleicht auch aufgrund seines naturgemäss sehr beschränkten Körperumfangs – sehr klein, und zudem hatte er hatte Mühe, die tenoralen Kapriolen erschallen zu lassen, die beispielweise der grosse Gioacchino Rossini dem Grafen Almaviva in die Gurgel gelegt hat. So beschloss er, bei Madame Grazielle Gazelle in Paris Unterricht zu nehmen. Sie war bekannt für ihre unglaubliche Leichtigkeit bei schwersten Koloraturen – die Königin der Nacht klang bei ihr, als habe Mozart ein harmloses Kinderlied komponiert. «Bonjour» begrüsste Ronald Regenwurm Mme Gazelle, «ich möchte meine Stimme bei Ihnen ausbilden lassen, besonders liegen mir Ihre wunderbaren Koloraturen am Herzen, die ich mit der gleichen Leichtigkeit, der gleichen Grandezza…..» «Merci, merci» unterbrach ihn die berühmte Sängerin und schaute ihm in die Augen – was nicht ganz leicht war, da sie sich dazu sehr tief bücken musste. «Alors, mon cher – singen Sie, singen Sie!» Ronald sang die Arie des Grafen Almaviva und stolperte durch die Koloraturen. «Oui, eh – wissen Sie» sagte Mme, «was Sie brauchen, ist zunächst einmal Volumen, Volumen, Volumen – ohne das können Sie nicht beste‘en in der Opéra! Mein Rat: ge‘en Sie zu Leopold Löwe, dem grossen Bariton – er singt alles an die Wand, das sich ausser ihm auf der Bühne auf‘ält, und von ihm werden Sie die Technik lernen, mit Ihrer Stimme ein ganzes Opern‘aus zu füllen!»

Ronald reiste nach Milano, wo der grosse Leopold Löwe als Stargast an der Scala sang. Er hatte die Arie des Herzogs von Mantua aus Verdis Rigoletto vorbereitet, aber ehe er dem grossen Bariton stimmlich unter Beweis stellen konnte, dass ihm alle Frauen gleichermassen lieb seien, unterbrach ihn der Sänger und dröhnte mit seiner berühmten Donnerstimme «Carissimo, bene, bene – aber ich kanne Sie nichte unterrichtene! La voce – äh, Stimme viel zu klein, troppo piccola, fehlte Fundamente…..Sie brauchene Basisunterrichte bei grosse Martin Maulwurf, grösster Basso der Gegenwarte! Seine voce so tief wie seine Wohnunge unter Erde, huahuahua, der machen mit dir Basisarbeite und dann du komme wieder bei mir und wir arbeitene zusammene!»

Ronald Regenwurm nahm dankbar den Ratschlag an und reiste nach München, wo der Bass Martin Maulwurf an der Staatsoper sang. Seine Wohnung befand sich in der Tat tief unter dem Erdgeschoss, im 5. Untergeschoss, weil er es dort so angenehm und ruhig fand und weil er glaubte, dass seine berühmten tiefen Töne sich weit unter der Erde besser entwickelten. Ronald sang «Nessun dorma» aus Puccinis Turandot, und er sang mit einer nie gekannten Inbrunst und Leidenschaft.

Maulwurfs Nachbar, Werner Wühlmaus, erzählte später, dass gerade in dem Moment, in dem er auf das hohe «b» als Schlusston der Arie wartete und er schon wegen Ruhestörung an die Wand klopfen wollte – es war schliesslich Mittagszeit – der Gesang plötzlich abbrach und er ein lautes Schlürfen und Schmatzen aus der Nachbarwohnung hörte. Die Bretter, die die Welt bedeuten, mussten auf Ronald Regenwurm verzichten.

Und die Moral von der Geschicht: Auch für einen Tenor reicht es nicht aus, zu singen wie ein Wurm!

Kalaidos zu Gast im Tonstudio Tessmar

Eine Mischung aus Unterricht, Konzerten und Aufnahmen für Studierende.

Frank-Thomas Mitschke — Nicht zum ersten Mal veranstaltete die Kalaidos Musikhochschule ein Konzert mit Aufnahme im Hannoveraner Tonstudio Tessmar. Unter professionellen Bedingungen, die besser nicht sein könnten, in einer freundlichen und familiären Atmosphäre, die dem Ehepaar Karl und Rita Tessmar zu verdanken ist, und in einem Kammermusiksaal inkl. Steinway-Flügel, der akustisch keine Wünsche übrig lässt, arbeiteten die jungen Pianisten und Pianistinnen mit Lev Natochenny und Martin Stadtfeld vom 18. bis zum 20. Juni. Mit grosser Geduld, pädagogischem Einfallsreichtum und hoher künstlerischer Kompetenz beleuchteten die beiden renommierten Pianisten und Dozenten die Details sowie die grossen Bögen der zu erarbeitenden Werke.

Der Kurs endete mit einem Abschlusskonzert der Teilnehmenden, in dem teils eindrucksvoll die Ergebnisse der intensiven Arbeit dem in Hannover präsenten sowie dem per Livestream zugeschalteten Publikum präsentiert wurden.

Oscar Paz-Suaznabar läutete klangschön und verinnerlicht mit den Lisztschen «cloches de Genève» das Konzert der Studierenden ein, denen Martin Stadtfeld noch ausserplanmässig drei Präludien und Fugen von Bach sowie eine eigene Bearbeitung eines Werks von Händel vorangestellt hatte. Klar strukturiert und mit sehr sparsamer Nutzung des rechten Pedals liess Oscar Paz-Suaznabar die letzte der Etüden op. 10 von Chopin erklingen, akzentuiert im Rhythmus der rechten Hand, während die linke ihre Kaskaden über die Tastatur schleuderte. Nina del Ser träumte sich, gelegentlich vielleicht ein wenig defensiv, durch zwei Nocturnes von Chopin, dessen Scherzo in b-moll unter den Händen von Jan Liebermann zum Leben erweckt wurde. Während der junge Musiker bezüglich einer schlüssigen Gesamtkonzeption des Werks noch Entwicklungspotential hat, wusste er mit vielen schönen Details das Publikum zu überzeugen.

Vladyslav Shelepov hatte sich der intimen späten Klaviermusik von Brahms angenommen und überzeugte durch eine klangsensible Interpretation einer Auswahl aus den Stücken op. 117 und 118. Überzeugend und packend gestaltete Alexander Preiss die beiden ersten Balladen von Chopin. Den Schlusspunkt bildete Nuron Mukumi mit einer ebenso virtuosen wie klangmächtigen Wiedergabe von drei Stücken aus dem op. 72 von Peter Tschaikowsky, die keine Wünsche offen liess.

Am Abend zuvor hatte sich Martin Stadtfeld mit einem Klavierabend präsentiert. Mit drei Präludien und Fugen aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach begann er seinen Klavierabend im Tonstudio Tessmar. Und er machte von Anfang an klar, was seine Intention ist: Die Musik ist nicht einfach da, sondern sie entsteht unter seinen Händen im Moment des Erklingens. Langsam, sich hineintastend, fast unwirklich bahnt sich das Thema der cis-moll-Fuge seinen Weg in die pianistische Realität, um sich dann in monumentaler Steigerung zu einem beeindruckenden Höhepunkt, einem fugierten Tsunami gleich, auftürmen zu lassen. Unmittelbar anschliessend, attaca, verzauberte völlig konträr, mit ganz anderem Impuls, aber dennoch als Einheit dargestellt, das spielfreudige Präludium D-Dur mit Fuge seinen Platz im Programm. Fernab von jeder mechanisch-abspulenden Triolenuniformität zeigt Martin Stadtfeld das Präludium und die Fuge d-moll. Er formt aus diesen gebrochenen Akkordflüssen mit grosser Ruhe melodische Bögen, die viele andere Interpreten/innen nicht gefunden haben.

Als ein Traum in tausend piano-Nuancen präsentierte Stadtfeld seine eigene Bearbeitung von Händels «Lascia, ch’io pianga» mit vielen kleinen Verästelungen figurativer Begleitstimmen und einem wunderbar gesanglich geführten Part in der Mittelstimme.

Schuberts grosse B-Dur-Sonate war unter Stadtfelds Händen durchaus dazu angetan, im positiven Sinn zu verstören. Da, wo andere Pianisten das Eingangsthema weihevoll zelebrieren und eine Atmosphäre der absoluten Ruhe, der Losgelöstheit von allem irdischen Gedankengut schaffen, beginnt Stadtfeld betont diesseitig, zügig, nicht in Frage stellend, sondern klar bejahend – dabei auch exponierte Dynamik keineswegs vermeidend. Doch je mehr sich der Kopfsatz dem Ende zuneigt, desto mehr Fragezeichen setzt Stadtfeld in dieses Thema, um es dann, den ersten Satz beendend, quasi schwebend, fragend und unbeantwortet verklingen zu lassen. Eine Interpretation, die vielleicht nicht im Einklang mit gängiger Hörerwartung steht, die aber überzeugend einen erfrischend anderen Ansatz zur Interpretation dieses Werkes bietet.

Zum Sterben schön gestaltet der Pianist die unendliche Traurigkeit des zweiten Satzes, mit Anschlagsnuancen zwischen pianissimo und piano, wie man sie sich für diese Schubertsche Kostbarkeit nur erträumen kann.

In straffem Tempo, ohne sich dabei irgendwelche Temporückungen zu erlauben, spielt Stadtfeld den dritten Satz, um dann, kurz vor Schluss des scheinvirtuosen Schlusssatzes, die Musik noch einmal einzufrieren, erstarren zu lassen, quasi als Tonskelett dem Publikum zu präsentieren. Eine Interpretation voller unerwarteter An- und Einsichten, dabei voller Spannung, ungewöhnlich und frisch sowie überlieferte Hörgewohnheiten in Frage stellend.

Eine kraftvolle, mitreissende und bei aller Klangentfaltung immer transparente und klare Darstellung der Toccata von Sergej Prokofjew beendete ein Programm, das vom Publikum völlig zu Recht mit Bravorufen und heftigem Applaus belohnt wurde.

Horst Richter bereicherte das Programm mit drei Kurzgeschichten rund um das Klavier, die er mit sonorer Stimme und packendem Vortrag dem Publikum darbrachte.

Der Don-Juan-Taumel

Russische Pianisten – Gendern nicht nötig – und die Paraphrasen über Mozart-Opern von Liszt

Frank-Thomas Mitschke — Von je her Virtuosenfutter reinsten Wassers – oder besser Champagners – sind die Réminiscences de Don Juan von Franz Liszt, ebenso seine weniger bekannte, von Busoni beendete Fantasie über Die Hochzeit des Figaro. Ein kleiner Interpretationsvergleich unter Pianisten der Russischen Schule zeigt unterschiedliche Ansätze. Wundern muss man sich darüber, wie wenig Pianisten dieser Provenienz sich mit diesen beiden Werken befasst haben.

Auf Teufel komm raus spielt den Don Juan der junge Nikolai Demidenko, von Anna Kantor am Gnessin-Institut sowie von Dmitri Bashkirov am Moskauer Konservatorium ausgebildet. Von der ersten Note an ist alles auf den wahnsinnigen Champagner-Taumel des Schlussteils ausgerichtet, den er in höllischem Tempo und unter Verzicht auf Punkt und Komma durchrast, als hinge sein Leben davon ab. Dass dabei der untote Komtur ebenso auf der Strecke bleibt wie eine zur Handreichung aufgeforderte Zerlina ist verständlich – der moussierende Champagner in Einheit mit dem siegesbewussten Auftritt des Titelhelden spricht eben einen jungen Pianisten in seiner Sturm-und-Drang-Phase stärker an als Liebesgeflüster mit einer Bäuerin.

Demidenko bleibt hier ein wenig in der Tradition eines Simon Barere, von Anna Essipowa und Felix Blumenfeld in St. Petersburg ausgebildet, der viele Jahre vorher in ähnlicher Disposition des Stückes durch den champagnerisierten Höllenschlund der technischen Herausforderungen tobte und sich vergleichsweise wenig um feinziselierte musikalische Gestaltung kümmerte.

Anders geht der große Grigori Ginsburg die Aufgabe an. Ohne der Schlussstretta im mindesten einen Hauch an Virtuosität schuldig zu bleiben, findet er Raum und Zeit, um aus jeder noch so stereotypen technischen Tücke Musik zu machen. Sich abwechselnde, über die gesamte Tastatur geschüttelte Oktaven sind nie eine lärmende Zurschaustellung eines Pianisten, der zeigen will, dass er die Technik beherrscht – es gibt auch in solchen Passagen immer einen Aufbau, ein Ziel, eine musikalische Vorstellung. Und – das Unglaublichste an der Geschichte um diese Einspielung, aber sein früherer Student und späterer Professor am Moskauer Konservatorium Gleb Axelrod hat mir im Gespräch diese Geschichte bestätigt: Ginsburg hat das gesamte Stück ohne Unterbrechung im Aufnahmestudio durchgespielt und das Studio mit dem Kommentar an den Aufnahmeleiter «Könnt Ihr so nehmen!» verlassen, ohne sich die Aufnahme noch einmal anzuhören! Ginsburg war Schüler von Alexander Goldenweiser und einer der vielseitigsten und besten Vertreter der sogenannten Russischen Schule. Er spielte Liszt und virtuose Transkriptionen von Tausig oder Grünfeld genauso brillant und elegant wie Mozart oder – sehr selten von russischen Pianisten aus jener Zeit zu hören – die 3 Préludes von Gershwin oder Kammermusik gemeinsam mit dem Geiger Leonid Kogan.

Vladimir Selivokhin wäre zu nennen, der von allen Genannten auf jeden Fall die pedalärmste Variante auf den Plattenteller bringt – was keineswegs mit Trockenheit gleichzusetzen ist! Klug aufgebaut und mit sehr differenziertem Anschlag, das Duett Don Juan/Zerlina wunderbar an den Gesangsstimmen ausgerichtet und phrasiert (hier merkt man: Der Pianist, von Lev Oborin ausgebildet, kennt nicht nur Liszt, sondern auch Mozart!), in der Stretta die dreimalige Wiederholung der Champagnerthemas jedes Mal im Tempo steigernd – eine beeindruckende Interpretation! Leider hat er sich entschlossen, die Busoni-Fassung zu spielen, die im Unterschied zum Lisztschen Original immer wieder Haltepunkte in den Schlussteil einbringt, so dass der ganz große Schwung – den der Pianist durchaus entwickeln kann – dann am Schluss doch ein wenig abgebremst wird. Dennoch: höchst beeindruckend!

Der Reigen der Don-Juan-Spieler (die auf LP verewigt sind) schliesst sich mit dem bei Yakov Zak ausgebildeten Nikolai Petrov, der – ohnehin an „Virtuousenfutter“ sehr interessiert – dem technischen Aspekt dieser Pianistenprüfung nichts schuldig bleibt. Der Komtur hat nirgendwo sonst solch steinerne Wucht, die Terzenläufe perlen nie virtuoser, die vollgriffigen Akkordketten werden nie mit mehr Kraft in die Tastatur gemeisselt als in dieser 1987 entstandenen Aufnahme.

Von der jüngeren Generation wäre der bei Barbara Szczepanska ausgebildete Nikolai Tokarew, musikalisch, hochvirtuos, im Vergleich zu den anderen Interpreten gelegentlich etwas freier im Tempo. So spielt er die dritte Wiederholung des Champagner-Themas rasend schnell, um dann das Tempo sehr zu verlangsamen und am Schluss, wie aus dem Nichts auftauchend, die Akkorde eher zu buchstabieren als zu spielen, das Tempo so stark reduzierend, dass aller Schwung des dritten Teils verpufft ist und der ganze Don Juan stehen bleibt wie ein Auto mit Motorschaden. Insgesamt eine beeindruckende Aufnahme, wenn auch nicht an allen Stellen ganz schlüssig und mit einem aus meiner Sicht nicht gelungenen Schluss.

Die andere von Liszt einer Paraphrase für würdig befundene Mozart-Oper ist «Die Hochzeit des Figaro». Nicht ganz so vollgriffig und mächtig, etwas eleganter, aber nichtsdestotrotz mit den gleichen, Pianisten quälenden technischen Tücken wie Akkordketten, Terzenläufen, Übergriffen im schnellen Tempo etc. gespickt.

Wieder ist es Grigori Ginsburg mit seiner unerreichten clarté, seiner Eleganz und seiner unerhörten technischen Fähigkeiten, der das Interpretenfeld anführt – große Pianistik in jedem einzelnen Takt! Die Schlussstretta mit ihren gegeneinander springenden Terzen und Akkorden so zu spielen wie er – so, dass sie nicht nach Verzweiflung, sondern nach Selbstverständlichkeit klingt – das allein ist schon eine große Leistung!

Ihm dicht gefolgt ist der ebenfalls aus der Goldenweiser-Schule stammende Arnold Kaplan. Einen Hauch weniger Selbstverständlichkeit und Eleganz versprühend, aber dennoch höchst beeindruckend, ist er fast nur Freunden alter Melodiya-Schallplatten bekannt, die das Glück haben, eine LP mit seiner Interpretation zu besitzen.

Emil Gilels spielte dieses Werk als junger Mann und hinterließ eine Schallplatte mit seiner Version. Wer diese Aufnahme nicht kennt, weiß nicht, wie Gilels als junger Pianist gespielt hat. Er prescht durch die Höllenschwere in einem Tempo, das den Eindruck vermittelt, das Stück sei eigentlich viel zu leicht für ihn, vielleicht eine Art Einspielübung. Am Schluss scheint Figaro förmlich zu explodieren. Es raubt einem den Atem, allerdings wünschte man sich gelegentlich doch an der einen oder anderen Stelle einen stärkeren Bezug zum Gesangsoriginal, denn in der Raserei – die seinerzeit schon die Jury des Tschaikowksky-Wettbewerbs zum Staunen mit offenen Mündern veranlasst haben soll – bleibt schon das eine oder andere interpretatorische Komma auf der Strecke.

Last not least spielte Boris Bloch diese Fantasie für die DGG ein. Zügig, mit singendem, runden Klavierton und der Virtuosität nicht im Geringsten etwas schuldig bleibend, präsentiert er eine Einspielung fernab von jedem Extrem, eng am Mozartschen Original orientiert und mit mitreißendem Schwung. Leider springt er am Schluss direkt in die letzten Takte und bringt uns so um den Genuss der Sprünge in Gegenrichtung – aber ganz sicher nicht deshalb, weil er diese Stelle nicht spielen kann.

Kunst – zur Nachahmung nicht empfohlen

Besonderes aus der «Russischen Pianistenschule».

Frank-Thomas Mitschke — Hört Euch diese Aufnahmen an, liebe Studierende! Aber wartet damit bis nach dem Examen oder dem Wettbewerb!

Schallplatten mit Pianisten der sog. «Russischen Schule» – da kommen einem Namen wie Neuhaus, Goldenweiser und Igumnov in den Sinn, die ganze Heerscharen grosser Pianisten ausgebildet haben. Und einige von ihnen haben uns Aufnahmen hinterlassen, die verstören, aufhorchen lassen, gegen den Strom schwimmen.

Maria Yudina wäre zu nennen. Sie kommt nun gerade nicht aus dieser Tradition, sondern studierte in St. Petersburg bei Felix Blumenfeld, der auch Horowitz unterrichtete. Yudina hat viele Aufnahmen gemacht, die einen «Aha-Effekt» auslösen, die ein Werk in bislang ungewohnter Weise neu belichten. Beethovens op. 106 wäre zu nennen, die aus meiner Sicht misslungenen Brahmsschen Händelvariationen oder auch die B-Dur-Sonate von Schubert. Sie spielt das Thema nicht, sie zelebriert es – noch langsamer als Richter. Die Welt bleibt stehen bei wunderschönen Klängen, während die Zuhörer unruhig werden und sich fragen, wie sie dieses Extremtempo spannungsmässig durchhalten will. Die Yudina fragt sich das nicht, sie macht es einfach nicht. Da, wo das Eingangsthema sich in Bewegung umsetzt, zieht sie das Tempo hemmungslos an und verleiht dem Satz ein anfänglich für unmöglich gehaltenes «con fuoco». Hochinteressant zu hören, individuell – wer sich aber auf eine Prüfung oder einen Wettbewerb vorbereitet, der sollte sich kein Beispiel daran nehmen!

Ein anderer Pianist, der sich die Freiheiten nahm, die er haben wollte, war der bei Goldenweiser ausgebildete Samuel Feinberg. Wer seine Interpretation der beiden Bände des Wohltemperierten Klaviers von Bach nie gehört hat, dem fehlt ein Meilenstein der Bach-Interpretation. Barock-Puristen mögen mich beschimpfen, und stilistisch-musikwissenschaftlich kann man sicher viel dagegen sagen. Aber: als ich diese Schallplatten vor vielen Jahren bekam und einfach einmal «hineinhören» wollte, bin ich mit den Noten in der Hand den ganzen Abend nicht vom Plattenspieler weggekommen! Faszinierend, nicht zur Nachahmung geeignet – aber was für eine Fantasie, welcher Klangfarbenreichtum, welch grossartige Gestaltungskraft! So spielt jemand, der nicht nur Pianist, sondern auch Komponist war! Der junge Lazar Berman fegte Ende der 50er-Jahre so stürmisch durch die Douze Etudes transcendantes von Liszt, dass er zumindest unter sportlichem Aspekt alles – alles? – alles in den Schatten stellte, das sich sonst noch mit dieser Materie befasst hat (Mazeppa, Eroica!).

Ein letzter Kommentar für heute sei Maria Grinberg gewidmet; sie studierte u. a. bei Igumnov. Wer käme heute auf die Idee, ein vierhändiges Werk von Schubert einfach einmal für zwei Hände umzuschreiben und dieses aufzunehmen? Wozu soll das gut sein, würden wir uns fragen. Die Antwort ist klar: Weil die Plattenwelt sonst um eine wunderbare Aufnahme ärmer wäre! Ich rede von Schuberts Fantasie f-moll D. 940, und wer in der Lage ist, Grinberg dabei zuzuhören, wie sie diese Schubertsche unendliche Trauer in Klavierspiel umsetzt, ohne dass ihm die Tränen kommen, der sollte sich einmal überprüfen.

Wer Interesse an weiteren Exkursionen in die Pianistik hat oder Lust bekommen hat, sich darüber auszutauschen, ist herzlich zur Kontaktaufnahme eingeladen: frank-thomas.mitschke@kalaidos-fh.ch.

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