Augen zu und hören

In Beat Gysins «Movements I» fährt man blind durch Zeit, Raum und Klang. Es ist ein besonderes Erlebnis, nicht nur für die Ohren. Ein Bericht vom Gundeldinger Feld in Basel.

Klangfahrt ohne Sehsinn. Foto: Studio-klangraum

Die «Leichtbauten»-Reihe von Beat Gysin und dem Studio-klangraum geht in die nächste Runde. Nach Chronos (2015), Gitter (2017), Rohrwerk (2019–2021) und Haus (2022–23) ist Movements I bereits das fünfte Projekt, das sich mit dem Verhältnis von Musik und Architektur auseinandersetzt.

Und während die vorigen Arbeiten mit teils spektakulären Bauten Aufsehen erregten, geht es dieses Mal eher um die Froschperspektive, nämlich darum, wie wir Klang und Geräusche in einem sich verändernden Raum wahrnehmen, wenn wir nichts sehen. Das Prinzip ist so einfach wie effektiv: Man setzt sich auf rollstuhlähnliche fahrende Plattformen, montiert eine Augenbinde und lässt sich von einer anderen Person aus dem Publikum durch die Gegend stossen. In der Hälfte wechseln die Rollen – man wird vom blinden Fahrgast zum Guide und umgekehrt. Während der Fahrt hört man sowohl die zufälligen Geräusche aus der Umgebung wie auch musikalische und klangliche Interventionen an verschiedenen Stationen. Komponiert haben diese Gysin selbst sowie die spanische Komponistin Teresa Carrasco.

Räume voller Geräusche und Musik

Am Wochenende vom 5. und 6. September 2025 machte Movements I im Gundeldinger Feld in Basel halt bzw. Fahrt. Das Quartierzentrum am südlichen Ende der Stadt umfasst rund 12 000 m2 und wurde massgeblich von Architektin Barbara Buser entwickelt: von einer ehemaligen Maschinenbaufabrik zum lebhaften Quartiertreffpunkt mit verschiedensten kulturellen Einrichtungen. Heute gibt es hier Brauereien, Gastro, Ateliers, Baubüros, Therapiepraxen, Musikschulen, Geigenbauwerkstätten oder Kletterhallen. Ideal also für eine Klangfahrt.

Mit verbundenen Augen herungefahren werden: «maximal verwirrend!» Videostill: Lukas Nussbaumer

Wir starten in der Zirkusschule, wo zwei Mitglieder des Collegium Novum Zürich warten und mit Geige, Klarinette und Gesprochenem auf das akustische Erlebnis einstimmen: «Ich bin hier – du bist dort – komm zu mir – soll ich zu dir kommen?», tönt es von beiden Seiten, um das räumliche Hören zu aktivieren. Dann beginnt die Fahrt, zunächst mit kürzeren, dann auch längeren Distanzen: durch ein Baubüro, die belebten Innenhöfe, ins Tonstudio, durch die Bar, ins Treppenhaus, in die Werkstatt oder die Kletterhalle. Die Guides werden mittels Handzeichen des Teams um Gysin instruiert, wo welche Abzweigung genommen und an den einzelnen Stationen die rollenden Plattformen zwischenzeitlich zum Stehen gebracht werden können.

Die Orientierung ist schnell dahin

Die meisten Schiebenden gehen sehr sorgfältig und rücksichtsvoll mit ihren Passagieren um, warnen vor, wenn eine Türschwelle oder Bodenwelle kommt, versuchen, möglichst wenige Schlenker zu machen. Vereinzelte übermutige Kapriolen von jüngeren Teilnehmenden liegen auch drin, werden aber bald wieder unterbunden. Und das ist auch gut, denn als blinder Fahrgast ist man bald desorientiert: Erstaunlich schnell verliert man das Gefühl dafür, ob man sich bewegt oder nicht, wie viel Zeit schon vergangen ist und wo auf dem Areal man sich gerade befindet, selbst wenn man es kennt.

Was ist Musik, was Alltagsgeräusch? Foto: Lukas Nussbaumer

Schwierig ist es auch, einzuordnen, ob die verschiedenen Geräusche und Klänge nun aktiv zur Performance gehören oder nicht. Während an einigen Stationen mehr oder weniger gängige Instrumentensoli gespielt werden, was einer aktiven Musikhörerfahrung nahekommt, bewegt man sich die meiste Zeit in einem klanglichen Mischraum: Mal verbinden sich Bürogespräche und vibrafonartige Töne, mal werden Bleistifte gespitzt oder Kartons bemalt, während ein Musiker durch einen Schlauch trompetet. Mal taucht man in atmosphärische Sounds aus dem Tonstudio kurz ein und wieder auf. Und mal schlägt die Perkussionistin ans Treppengeländer oder auf Stahlträger, während in der Werkstatt nebenan jemand an einer Skulptur meisselt.

Hören, riechen und Vertrauen haben

«Maximal verwirrend», resümieren Einzelne, von einem «Eindruck einer weiten Reise» oder einem «Wahnsinnserlebnis» berichten andere nach der Fahrt. Mehrheitsfähig ist die Erkenntnis, dass mit dem Verlust des Sehsinns ganz anders gehört wird. Besser? Das ist schwer zu sagen, dafür war das «Training» wohl zu kurz. Aber sicher umfassender, konkreter, denn es wird weniger herausgefiltert und mehr aktiv hörend erkundet. Interessant ist auch die Kombination mit dem verstärkt wahrgenommenen Geruch, etwa wie das Holz oder Metall in den Werkstätten klingt und riecht, oder auch einfach der Kaffee- und Bierduft in der Luft. – Im klassischen Konzert normalerweise höchstens etwas für die Pause.

Movements I ist nicht nur eine räumlich-musikalische und sinnliche Erfahrung, es ist auch ein soziales Ereignis. Die Einteilung in Zweierteams (innerhalb einer Kleingruppe), die im Rollentausch durch die Blindfahrt manövrieren, erzeugt eine Vertrauenssituation – das ist stimmig, verliert man durch den Sehsinn doch sehr viel Kontrolle und Sicherheit. Und damit noch zum Titel des Projekts, der ja auf einen möglichen Teil II schliessen lässt. Studio-klangraum und Gysin überlegen sich, die fahrenden Plattformen zu motorisieren und von einer KI steuern zu lassen. Angesichts der stockenden Entwicklung selbstfahrender Autos könnte das aber noch ein wenig dauern. Gysins Projekt bietet viel Raum für weiterführende Überlegungen. Movements I nutzt Musik vor allem als Impulsgeber für ein gesamthaftes Erleben der Umwelt und versteht sie als natürlichen ebenso wie als künstlichen Teil davon.

Weitere Aufführungen von «Movements I» finden am 17. und 18. Oktober auf dem Campus Ost Buchs sowie auf dem Areal der Lokremise St. Gallen statt.

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