Das 10. Forum Musikalische Bildung

Mit den Dachthemen Digitalisierung und Inklusion widmete sich das 10. FMB vom 20./21. Januar 2023 brennenden Bildungsfragen.

Das Trio Pilgram spielte zur Eröffnung des 10. Forums Musikalische Bildung. Foto: Anne Fröhlich FRAME PHOTOGRAPHY

 

Das Forum Musikalische Bildung (FMB) war 2022 «coronabedingt» – man mag es kaum noch hören – um ein Jahr verschoben worden. Drei Jahre sind also seit der letzten Ausgabe verstrichen. Am 20. und am 21. Januar dieses Jahres war es wieder so weit. Im November 2007 von Hector Herzig, dem damaligen Präsidenten des Verbandes Musikschulen Schweiz (VMS), ins Leben gerufen, fand es bis 2012 jährlich statt, danach alle zwei Jahre (siehe Geschichte des FMB). Der Gründer hatte viel Herzblut und Idealismus in dieses Forum gesteckt und machte es zum Aushängeschild des Verbands. Schade, dass Herzig nicht erschien und sich bei der zehnten Durchführung feiern liess; befremdlich auch die Tatsache, dass er mit keinem Wort erwähnt wurde.

 

Digitalisierung hat Höhepunkt überschritten

Der neue VMS-Präsident Philippe Krüttli durfte eine stattliche Zahl an Teilnehmenden begrüssen und übergab dann das Wort der Moderatorin des Anlasses, Myriam Holzner. Der erste Keynote-Referent, der Futurist Joël Luc Cachelin, hatte schon am FMB 2018 zum Thema Digitalisierung und Bildung gesprochen. Damals wurde die Digitalität im Unterricht vielerorts noch als etwas Bedrohliches wahrgenommen. Die Pandemie hat auf diesem Gebiet beschleunigend gewirkt, und manches ist inzwischen zum selbstverständlichen Teil des Unterrichtsalltags geworden. Cachelin wollte sich nicht auf eine Überprüfung seiner damaligen Prognosen einlassen. Viel lieber warf er einen erneuten Blick in die Zukunft – oder besser in verschiedene Zukünfte, die er nach Farben kategorisierte. Die pinke Zukunft zum Beispiel fragt nach dem Umgang mit unseren Fähigkeiten, die zunehmend von intelligenten Antwortmaschinen und Chatboxen konkurrenziert werden. In der grünen Zukunft geht es darum, intelligent mit Ressourcen umzugehen und die Nachhaltigkeit zu optimieren.

Und wo stehen wir heute in der Digitalisierung? Gemäss dem Zyklenmodell des russischen Wirtschaftswissenschaftlers Nikolai Kondratjew (1892–1938), führte Cachelin aus, habe die Digitalisierung ihren Höhepunkt bereits hinter sich. Heute gehe es noch darum, unfertige digitale Kreisläufe zu schliessen und die Sicherheit im Netz zu optimieren. Am Wesen der musikalischen Bildung wird sich im Grunde nichts ändern. Kreativität und Selbstwirksamkeit sind hier auch in Zukunft durch nichts zu ersetzen. Neuerungen sieht der Referent hingegen auf dem Gebiet der digitalen Hilfsmittel und beim Zusammenspiel von musizierenden Menschen und Maschinen (neue Instrumente, Robotik).

 

Netzwerke ersetzen Systeme

Den Begriff «digitale Transformation» gebe es erst seit 2014, erklärte Andréa Belliger, Prorektorin an der Pädagogischen Hochschule Luzern und Direktorin am Luzerner Institut für Kommunikation und Führung in ihrem Referat. Sie wies auf einen grundlegenden Unterschied hin: «Die digitale Transformation ist ein gesellschaftlicher Veränderungsprozess. Er verändert Normen und Haltungen und ist mehr als Digitalisierung.» Die Technologie erlaube eine hohe Konnektivität, welche gerade für das Bildungssystem eine grosse Herausforderung darstelle. Unzählige Do-it-yourself-Lehrpersonen fluteten das Netz mit E-Learning-Kursen. «Flipped classroom», «seemless learning» oder adaptives Lernen seien nur einige der vielen Stichworte dazu. Plattformen wie moog.org oder khanacademy.org böten umfassende Angebote an didaktisch perfekt aufbereiteten, kostenlosen Online-Kursen an, welche ein selbst gesteuertes und partizipatives Lernen erlaubten. Belliger ortete einen Paradigmenwechsel der Lehr- und Lernformen: «Wir stehen im Übergang zwischen System und Netzwerk.» Institutionen, dazu gehörten auch Musikhochschulen, müssten sich unter diesen Prämissen die grundlegende Frage nach ihrer Aufgabe stellen.

VMS-Präsident Philippe Krüttli und Valentin Gloor, Rektor der Hochschule Luzern Musik, führten durch die Diskussion. Foto: Anne Fröhlich FRAME PHOTOGRAPHY

Wie wird in der Schweiz Musik gelernt?

Valentin Gloor, vor vier Jahren noch Vorstandsmitglied des VMS, heute Direktor der Musikhochschule Luzern (HSLU) und Vizepräsident der Konferenz Musikhochschulen Schweiz, gab zusammen mit Philippe Krüttli einen Abriss über das breit angelegte Forschungsprojekt «Musiklernen Schweiz». (Die SMZ hat berichtet) Unter dem Vorsitz von Marc-Antoine Camp, dem Leiter des Kompetenzzentrums Forschung Musikpädagogik an der HSLU, und in Zusammenarbeit mit dem VMS sowie 37 Fachverbänden und Institutionen der Musikbildung wurde die ausserschulische Musiklernlandschaft der Schweiz untersucht.

Gloor brachte das Ziel der Studie auf den Punkt: «Wir wollten wissen, wohin es uns treibt.» Acht Handlungsfelder haben sich am Ende ergeben. Dazu gehören Angebote für Kinder im Vorschulalter, Zusammenarbeit mit der Volksschule, die Talentförderung, musikalische Angebote über alle Altersgruppen hinweg, Erweiterung des musikpädagogischen Berufsprofils. Letzteres wird demnächst in der Neufassung des entsprechenden VMS-Dokuments Eingang finden. In der anschliessenden Diskussion kamen die Zusammenarbeit mit der Volksschule sowie das Berufsprofil zur Sprache. Beim Thema Volksschule herrschte Konsens über ein anzustrebendes Zusammenrücken der Institutionen. Das zweite Thema hängt mit dem ersten zusammen, denn es fehlen weitgehend Ausbildungsgänge, die Instrumentallehrpersonen für den Unterricht an der Volksschule befähigen. Andererseits mangelt es zunehmend an musikalischer Unterrichtskompetenz der neu ausgebildeten Volksschullehrpersonen.

 

Jeder Mensch hat Beeinträchtigungen

Der zweite Tag war mit fünf Referaten und einer Diskussionsrunde reich befrachtet. Ausserdem wurde noch der Best-Practice-Wettbewerb vom Vortag zu Ende gebracht. Schulleiter Sandro Häsler durfte sein erfolgreiches Kompositionsprojekt für Lernende, «Meine Musik», präsentieren. Laurent Gignoux von der Musikhochschule Bordeaux stellte zwei sozial motivierte Orchesterprojekte an französischen Schulen vor. «Orchestre en classe», eine Art Klassenmusizieren, wird seit 1999 betrieben und umfasst heute 40 000 beteiligte Kinder. 2010 wurde von der Cité de la musique – Philharmonie de Paris «DÉMOS, Dispositif d’Éducation Musicale et Orchestrale à vocation Sociale» gegründet; es richtet sich an Kinder aus sozial oder kulturell benachteiligten Stadtvierteln bzw. ländlichen Gebieten. Das Projekt läuft heute in dreizehn Départements mit insgesamt zirka 10 000 Teilnehmenden.

Babette Wackernagel stellte ihre private Musikschule «Musik trotz allem» für Menschen mit Behinderung vor. De facto seien Menschen mit Beeinträchtigungen heute vom musikalischen Bildungskanon ausgeschlossen, weil es auf diesem Gebiet kaum Weiterbildungen gebe und sich Musiklehrpersonen folglich scheuten, sich auf diese Menschen einzulassen. Wackernagel appellierte an die Unvoreingenommenheit gegenüber dem Unterrichten behinderter Menschen.

Christoph Brunner, Beauftragter für Chancengleichheit und Inklusion an der Hochschule der Künste Bern, relativierte den Behindertenbegriff und machte deutlich, dass auch nicht behinderte Menschen im Alltag auf Schritt und Tritt Beeinträchtigungen erleben und Defiziterfahrungen machen. Er wies darauf hin, dass das Behindertengleichstellungsgesetz der Schweiz und auch die Uno-Behindertenrechtskonvention noch nicht umgesetzt seien.

Einen beeindruckenden Auftritt hatte Felix Klieser. Der international tätige Horn-Solist und Dozent an der Musikhochschule Münster hat keine Arme. Er berichtete von seinem Werdegang zum Berufsmusiker. Ihn stört vor allem die Defizitorientierung im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Die Kunst des Unterrichtens bestehe darin, jede Person zu verstehen und herauszufinden, wie ein Problem zu lösen sei. Das gelte genauso für Behinderte wie Nichtbehinderte. Den Begriff «Inklusion» möge er gar nicht, weil er impliziere, dass die Menschen, die damit gemeint sind, etwas nicht können.

Jacques Cordier vom Conservatoire de Grenoble hat sich auf die Konstruktion von Instrumenten spezialisiert, die auch mit starken Behinderungen bedient werden können. Er entwickelt Schnittstellen-Systeme, die zwischen Mensch und Instrument zur Anwendung kommen, zum Beispiel elektromagnetische Schlägel und Tasten, die mit verschiedenen Körperteilen betätigt werden können. Im wie immer hochstehenden musikalischen Rahmenprogramm war mit dem  Tabula Musica Orchester ein Ensemble mit behinderten und nicht behinderten Musizierenden zu erleben. Hier wurden solche Konstruktionen live eingesetzt.

(Die Schweizer Musikzeitung ist Medienpartnerin des FMB.)

Das  2017 gegründete Tabula Musica Orchester ist in Bern beheimatet. Foto: Anne Fröhlich FRAME PHOTOGRAPHY 

Das könnte Sie auch interessieren