Chorwerke von Marten Jansson

Der Bedarf an neuer, gut singbarer und wohlklingender, diatonisch orientierter Chormusik scheint gross. Besonders in Nordeuropa treten immer wieder Komponisten in Erscheinung, die diesem Bedürfnis entgegenkommen

Ausschnitt aus dem Titelbild von «The Choirmaster’s Burial»

Wie in jedem Stilbereich gibt es auch hier besser und schlechter Gelungenes. Die Stücke von Mårten Jansson gehören eindeutig der ersten Kategorie an. Der Bärenreiter-Verlag hat drei davon in ansprechender Aufmachung veröffentlicht.

Fear thou not für fünfstimmigen Frauenchor überzeugt durch filigranen, immer durchsichtigen Satz mit einfachster Motivik, die nach ostinatoartigem Beginn sich immer weiter entfaltet. Dabei ist der gesamte, Frauenstimmen zugängliche Klangraum klug ausgeschöpft. Wirklich leicht ist das Stück nicht, besonders in der melodisch führenden Sopranstimme finden sich ab und zu grosse Sprünge (die jedoch immer harmonisch abgefedert sind), und ein hohes c“‘ ist zwingend verlangt. Jansson rechnet auch auf der anderen Seite des Spektrums mit extrem tiefen Altstimmen, ist aber klug genug, hier Ossia-Lösungen anzubieten. Das auf dem Jesaja-Text «Fürchte dich nicht, ich bin bei dir» basierende Stück bleibt harmonisch in einem leicht erweiterten c-Moll-Rahmen inklusive Verklärung nach C-Dur am Ende des Stückes.

Ganz ähnlich lässt sich Maria (IV) für vierstimmig gemischten Chor an, der Sopran ist allerdings über weite Strecken geteilt. Die Tonart es-Moll wird bald verlassen und über verschiedene Stationen, oft mittels chromatischer Wege (und dank ausgearbeiteter Stimmführung problemlos realisierbar) nach e-Moll aufgehellt. Auch in diesem Stück ist der Sopran die melodisch anspruchsvollste Stimme, die anderen teilen sich die Aufgabe der harmonischen Grundierung. Für diese Musik braucht man einen gut intonierenden und klanglich ausgewogenen Chor, der auch im Umgang mit erweiterter Harmonik geschult ist. Das Stück wird in zwei Sprachfassungen, dem originalen Schwedisch und in Englisch angeboten. Beim Text handelt es sich um eine Art modernes Mariengedicht, zugänglich also auch für protestantische Chöre, die sich mit den altüberlieferten katholischen Marienanbetungen schwer tun.

The Choirmasters Burial setzt einen leicht anderen Akzent: nach einstimmigem, volksmusikartigem Beginn des Tenors hebt ein klanglich satter Männerchor an, der dann durch den Frauenchor ergänzt wird. Dieses Stück verlangt einen gleichmässig gut besetzten, nicht zu kleinen Chor. Auch hier sind die Randlagen ausgereizt(hoher Sopran bis h“; tiefer Bass bis H, mit ossia), können sogar durch zwei optional addierbare Frauenchöre noch weiter gespreizt werden (Sopran bis d“‘). Gut finde ich auch bei diesem Stück, dass die Tonart F-Dur nicht überstrapaziert, sondern durch andere klangliche Regionen aufgelockert wird. Der englische Text des viktorianischen Schriftstellers Thomas Hardy erzählt von einem Chorleiter, der gegen seinen Wunsch und auf Betreiben des Vikars ohne jede Musik beerdigt wird – worauf diesem Vikar in der folgenden Nacht eine «Band of Angels» erscheint, die unter der Leitung des verstorbenen Chormeisters musiziert. Integriert in dieses Stück sind einige Verse aus dem liturgischen Requiem-Text.

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Mårten Jansson, Fear thou not für Chor SSMAA, Chorpartitur, BA 7411, € 3.95, Bärenreiter, Kassel 2014

id., Maria (IV), für Chor SATB, BA 7412, € 3.95

id., The Choirmaster’s Burial, für Chor SSATBB, BA 7413,
€ 5.95

Temperamentvoller Gesprächspartner

Der Pianist und Komponist Victor Fenigstein wird in sehr persönlichen Zeugnissen gewürdigt. Zugleich sind einige seiner Werke neu aufgelegt worden.

Foto: zvg

Den Komponisten Victor Fenigstein, einen gebürtigen Zürcher mit Jahrgang 1924, habe ich vor ein paar Jahren in seinem Haus in Moutfort bei Luxemburg aufgesucht – der Leser möge mir diese persönliche Reminiszenz verzeihen. Ich war damals auf der Suche nach ehemaligen Schülern Emil Freys, des wunderbaren Pianisten, Komponisten und Pädagogen, der leider heutzutage gerade in der Schweiz fast vergessen ist. Dabei stiess ich eben auf Victor Fenigstein, der mir nicht nur über die Lehrtätigkeit Freys, sondern auch über seine menschlich grossartige Seite viel zu erzählen hatte.

Der Empfang bei Fenigstein und seiner Frau Marianne war überaus herzlich. Dass der Mann seit vielen Jahren an MS litt, konnte man zwar an seinen beeinträchtigten Bewegungen nicht übersehen. Gleichzeitig aber war da ein überaus wacher, um nicht zu sagen temperamentvoller und sehr offener Gesprächspartner.

Diese Offenheit ist auch im «Lebensprotokoll» zu spüren, dem ersten Teil eines Buches, das Fritz Hennenberg ganz dem Wahlluxemburger widmet. Die persönlichen Erinnerungen sind relativ frei angeordnet, gleich einer Collage, und vielleicht gerade deshalb so echt.

Das Buch enthält auch einen umfangreichen Werkkatalog sowie eingehende Analysen der wichtigsten Kompositionen. Fenigstein hat sich oft von sozialkritischen Texten zu Singspielen, Balladen und Liedern inspirieren lassen, gleichzeitig aber auch immer wieder das Klavier bedacht. Schliesslich war er ja vor seiner Erkrankung Konzertpianist.

Soeben sind bei Simrock einige dieser Werke neu erschienen, darunter auch Kadenzen zu Klavierkonzerten Mozarts. Zum Teil ziemlich umfangreich zeigen diese einen frischen und sehr individuellen Zugang zur Wiener Klassik: Bei aller stilistischer Nähe bricht diese Musik immer wieder aus zu ungeahnten Überraschungen.
 

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Fritz Hennenberg, Victor Fenigstein. Lebensprotokoll, Werkkommentare, Kataloge, 292 S., € 28.00, Pfau-Verlag, Saarbrücken 2013, ISBN 978-3-89727-475-4

 


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Victor Fenigstein, Kadenzen zu den Klavierkonzerten KV 482, 491, 466, 467 und 537 von W. A. Mozart, EE 5394,
€ 17.99, Simrock, Berlin (Schott) 2013

Jazzig – oder doch klassisch?

Kurze Stücke für Oboe und Fagott von Mathias Rüegg und Jean-François Michel. Nicht alle ohne Titel, aber alle mit Humor.

First, second oder third wife? Foto: Günter Havlena / pixelio.de
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Das kürzeste Stück der vorliegenden vier Hefte trägt selbstbewusst den Namen untitled, but lovely. Der Komponist Mathias Rüegg (*1952) entscheidet sich weder im Vorwort noch im Notentext, ebensowenig wie vor hundert Jahren George Gershwin, wie seine Musik gespielt werden sollte, «klassisch» oder «jazzig» phrasiert. Gershwin forderte «klassisch», spielte aber (gemeinsam mit seinen Bands) in seinen eigenen Aufnahmen alles andere als klassisch. Rüegg formuliert Offenheit: «Komponisten (wie ich) liefern Vorschläge und legen keinen Wert auf Werktreuefetischismus.»

Eine Durchsicht seiner beiden Stücke zeigt einen ausnehmenden Sinn für Humor: Die drei ineinander übergehenden Teile der Fagottkomposition farmers & wives sind als «first wife», «second wife» und «third wife» überschrieben – wobei der dritte Teil viele Elemente einer Reprise des ersten enthält. Jeder soll das so interpretieren, wie er will! Hinter der «second wife» verbirgt sich ein inspiriertes Recitativo, in dem auch mal «mit viel schonem Ton» (sic!) gespielt werden soll.

Eine unprätentiöse Miniatur in Satie-Manier ist der langsame Walzer, das eingangs erwähnte untitled, but lovely für Oboe und Klavier, dessen Schluss deutlich gewinnt, wenn er auf dem Englischhorn gespielt wird – dies ist in den Noten nicht vorgesehen, in der Aufnahme des Widmungsträgers kann man es aber so hören. Es lohnt sich, Rüeggs Musik mit viel Sorgfalt und Intensität zu begegnen, dann kommt sie zu einer intimen und oft doppelbödigen Wirkung!

Mathias Rüegg, farmers & wives (1995), für Fagott und Klavier, D 05 563, € 15.95, Doblinger, Wien 2012

Mathias Rüegg, untitled, but lovely (1995), für Oboe und Klavier, D 05 266, € 13.95, Doblinger, Wien 2012

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Als vielteilige Serie angelegt, möchten die Bagatellen von Jean-François Michel (*1957) unterhalten und «Humor, Parodie oder Spott freien Lauf lassen». Der Komponist reiht sich damit in die französische Tradition der luziden, klaren und tonalen Tonsprache des Neoklassizismus etwa eines Henri Tomasi oder Jean Françaix ein. Sowohl die jeweils zehnminütigen Fagott- als auch die Oboenbagatellen sind für interessierte Liebhabermusiker und -musikerinnen problemlos zugänglich und können sich, mit klanglicher Raffinesse gespielt, lyrisch und virtuos wirkungsvoll entfalten. Besonders erwähnenswert sind die langsamen Mittelsätze: Eine barockisierende Siciliana (Fagott) und ein Adagio misterioso (Oboe) sorgen für intensive und berührende Momente.
 

Jean-François Michel, 3 Bagatelles (2011), für Oboe und Klavier, OB 12, Fr. 15.00. Editions Bim, Vuarmarens 2012

Jean-François Michel, 3 Bagatelles (2013), für Fagott und Klavier, FG6, Fr. 15.00, Editions Bim, Vuarmarens 2013

Erste Opernluft

«Das Lied im Unterricht», Standardwerk jedes Gesangslehrers, hat eine grosse Schwester bekommen.

Foto: Paul-Georg Meister / pixelio.de

Unter dem Titel Die Arie im Unterricht legt die Edition Schott einen Auswahlband für junge Sänger vor, die am Beginn ihrer Ausbildung stehen und deren Stimmumfang noch begrenzt ist, die sich vielleicht auf eine Eignungsprüfung an einer Hochschule vorbereiten und schon mal ein wenig Opernluft schnuppern wollen.

In der Sammlung werden unterschiedliche Epochen und Stile vom Beginn der Gattung Oper bis hin zum 20. Jahrhundert berücksichtigt. Alle Arien sind in der Originalsprache vertreten, man singt italienisch, englisch, französisch und deutsch. Die Auswahl enthält eine Fülle zumeist «kleiner» Arien abseits der gängigen Anthologien. Erschienen sind bisher ein Sopranband, ein Band für Mezzo und Alt und ein Tenorband, alle jeweils rund 30 Arien umfassend.

Gemäss der Faustregel, dass Mozart zu singen Stimmpflege bedeutet, ist dieser vor allem in der Sopranausgabe, aber auch in den beiden anderen vertreten. Es findet sich neben Cherubino, Susanna und Zerlina auch weniger häufig zu Hörendes wie die Arie der Servilia aus La clemenza di Tito oder die der Serpetta aus La finta giardiniera. Ausserdem die Arien des Annio, der Barbarina, des Pedrillo und des Monostatos, Figuren, die im Schatten der grossen Opernhelden das Geschehen auf der Bühne mitbestimmen.

Um diese Gruppe herum sortiert sich ein bunter Strauss von kaum Bekanntem, schon mal Gehörtem und Unerlässlichem: Händel und Monteverdi, Verdi und Thomas, aber ebenso Vicente Martin y Soler, ein spanischer Komponist, der zu Lebzeiten «der Mozart aus Valencia» genannt wurde, oder Vincenzo Righini, ebenfalls ein Zeitgenosse Mozarts. Mit Hans Werner Henze, Karl Amadeus Hartmann, Kurt Weill und Carl Orff ist auch das 20. Jahrhundert mit durchaus singbaren Beispielen vertreten.

Die Herausgeberin Claudia Eder bemüht sich in ihrer Auswahl um stilistische, sprachliche und musikalische Vielfalt, die den begabten Anfänger bei seiner Arbeit an Atmung, Virtuosität, Artikulation und musikalischem Ausdruck unterstützen soll. Hält sie sich im Allgemeinen an einfache, schlichte Arien, so findet doch auch einiges Schwierige Einlass: So stellen sicher die Szene des Yniold aus Pelléas et Mélisande von Débussy, die Arie der Mignon aus der gleichnamigen Oper von Thomas, die interessanterweise im Sopranband erscheint (?), und Stride la vampa von Verdi Herausforderungen dar, die dem Anfänger vielleicht noch nicht gelingen.

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Die Arie im Unterricht, 32 Arien aus 4 Jahrhunderten für Tenor und Klavier, hg. von Claudia Eder, ED 21141, € 18.99, Schott, Mainz 2014

id., 28 Arien aus 4 Jahrhunderten für Mezzosopran/Alt und Klavier, ED 20897, € 17.99, 2013

id., 27 Arien aus 4 Jahrhunderten für Sopran und Klavier, ED 20896, € 17.99, 2012

Der Kontrabass in der Volksmusik

Eine knapp gehaltene Methode bietet praktische Übungen und motivierende Anleitungen und schliesst damit eine musikpädagogische Lücke.

Foto: Paulwip / pixelio.de

Spätestens seit dem Wechsel des Millenniums wird die Schweizer Volksmusik wiederentdeckt und mit neuen Impulsen belebt. Für den Kontrabassunterricht bot sich das Thema ungeachtet dieses Phänomens stets an, lassen sich doch mehre Unterrichtsziele in idealer Weise verbinden: das Metrum regelmässig halten, den Kontrabass in einer wichtigen Funktion als Begleitinstrument einsetzen, die tonalen Grundstufen kennen und nach Gehör spielen u. a. m. Mit diesen Grunderfahrungen und Kompetenzen ist es ein Leichtes, das Spektrum auch zu erweitern, sei es in der wiederentwickelten Vielfalt der Schweizer Volkmusik (siehe die aktuell herausgekommenen Sammlungen des gleichen Verlags), sei es in der europäischen und aussereuropäischen Folklore bis hin zum Standardjazz.

Eine handliche Methode und pädagogisch ausgerichtete Materialsammlung für die Kontrabassspieler und -spielerinnen fehlte hingegen bislang. Nun hat Peter Gisler eine Anleitung vorgelegt, die durch ihre Einfachheit wie Systematik überzeugt. Auf den ersten 16 Seiten werden unprätentiöse Hinweise zum Kontrabassspiel für Selbstlernende gegeben und mit Fotos, Zeichnungen und Grundübungen illustriert. Danach führt er in schrittweisem Aufbau zur Begleitpraxis, von der Grundtonbegleitung über den Wechselbass bis zu Übergängen und einfachen Effekten. Die kleine Musiklehre am Schluss kann auch ungeachtet des Themas für den Kontrabassunterricht verwendet werden. Die kluge Wahl der Modelllieder und anschauliche Grafik führen geschickt hin zu den begleiterischen Grundformen eines Schottisch, Ländlers, Walzers. Ein Monferreina und weitere Beispiele wiederspiegeln, dass die Schweizer Volkmusik sich nicht auf die immergleichen Tänze reduzieren lässt. Die ebenso schlichte wie schön bespielte CD, auf der der Bass mit kerniger, zeitgemässer Klanggebung zu hören ist und später für das eigene Mitspielen ausgeblendet wird, dürfte viel zur Motivation beitragen, das Erlernte anzuwenden. Und es ist eine Einladung, Mitspielende zu suchen …

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Peter Gisler, Der Kontrabass in der Schweizer Volksmusik. Anleitung für den Gebrauch des Kontrabasses in der Schweizer Volksmusik, Bestell-Nr. 1113, mit CD, Fr. 38.00, Mülirad-Verlag, Altdorf 2013

 

Den Erinnerungen folgen

Die Pianistin Luisa Splett verwebt auf ihrer Doppel-CD Bekanntes mit Unbekanntem und lässt sich dabei von ganz persönlichen Assoziationsfäden leiten.

Eine nicht alltägliche Zusammenstellung: mit Sergej Prokofjew und Nikolai Rimski-Korsakow zwei gestandene Russen, mit Hermann Goetz, Martin Wendel und Alfred Felder drei wenig bekannte Schweizer Komponisten. Hermann Goetz (1840–1876) war ein Schüler Hans von Bülows. Mit 23 Jahren verschlug es ihn nach Winterthur. An der dortigen Stadtkirche war er als Organist tätig, fand aber auch Zeit, seine Losen Blätter zu komponieren. Es sind kleine romantische Charakterstücke á la Davidsbündlertänze von Robert Schumann; und Schumanns Clara hatte Goetz sie denn auch gewidmet, doch sie nahm sie nicht auf in ihre Konzertprogramme. Ihre Gründe wird sie gehabt haben. Einer könnte sein, dass sich die Stückchen nicht auf dem Niveau derjenigen ihres Mannes bewegen. Hübsch sind sie, diese Losen Blätter des Kleinmeisters Goetz. Nur leider ohne jegliche Überraschung und Tiefenwirkung.

In Fahrt kommt die Doppel-CD Wie im Fluge erst mit der zweiten Scheibe. Luisa Splett zeigt sich im 2013 entstandenen memoir – following a trace of my memory als feinfühlig-empathische Pianistin, die den persönlichen Stücken des 1950 in Luzern geborenen Alfred Felder sowohl Leben wie auch Glaubwürdigkeit einhaucht. Die aus Winterthur stammende Luisa Splett sammelte viel Erfahrungen. Am renommierten Rimski-Korsakov-Konservatorium in St. Petersburg verfeinerte sie ihre Fähigkeiten, die besonders zur Entfaltung kommen in Sergej Prokofjews selten gespielten Aphorismen Visions fugitives op. 22 und dem ungleich bekannteren Hummelflug Nikolai Rimski-Korsakows.

Leider geben das Booklet und die grafische Gestaltung der bewusst persönlichen und engagierten Crowdfunding-Produktion eine skurrile Note. Das Bild der jungen Dame Splett mit Regenschirm auf einem zwischen Wolken fliegenden Flügel (es heisst ja «Wie im Fluge») wird der Musik jedenfalls nicht gerecht.

 

Eine Wiederentdeckung wert

In einer repräsentativen Aufnahme kirchenmusikalischer Werke setzt das Ensemble Corund Johann Baptist Hilber ein Denkmal.

Ensemble Corund vor der Luzerner Hofkirche. Foto: zvg

«… mein ganzes bisheriges Leben [stand] im Zeichen dieses Klangwunders, das wir Musik nennen. Ich bin Musiker gewesen mit jedem Nerv, mit jedem Blutstropfen …» Das schrieb Hilber 1963, kurz nach der Vollendung seiner letzten Komposition, der Missa a cappella Vox clamantis in deserto. Seine ganz persönliche Wüste war eine Schwerhörigkeit, die schon in jungen Jahren begonnen hatte und die sich kontinuierlich verschlimmerte.

Trotzdem schuf Hilber ein reichhaltiges Œuvre und wurde vor allem mit seiner Kirchenmusik (verbreitet etwa die Missa pro Patria) über die Landesgrenzen hinaus bekannt. 1891 in Wil geboren, wirkte er ab den 1920er-Jahren bis zu seinem Tod 1973 in Luzern. Neben seiner kompositorischen Tätigkeit war ihm die pädagogische wichtig: Er gründete unter anderem die Katholische Kirchenmusikschule Luzern (heute Teil der Musikhochschule) und stand ihr bis 1967 vor, war Direktor der Luzerner Gesangsvereine und Mitredakteur musikalischer Zeitschriften. Er war Träger zahlreicher Ehrentitel und Preise, von denen hier nur der Titel eines Ehrendoktors der Universität Freiburg erwähnt sei.

Als Stiftskapellmeister an der Hofkirche St. Leodegar in Luzern fand Hilber ab 1934 ein ideales Wirkungsfeld. In eben dieser Kirche wurde die CD aufgenommen. Stephen Smith erweiterte sein professionelles Ensemble mit zehn Berufsmusikerinnen und -musikern und fünf ausgewählten Amateuren (ein gelungenes Experiment!), um so den Chor zu bilden, der wohl dem Komponisten vorgeschwebt haben mag. Der kongenial musizierende Titulaire Wolfgang Sieber setzte seine Orgel farbig und immer unterstützend ein, tadellos auch die Solistinnen Gabriela Bürgler und Anne Montandon und die Solisten Ross Buddie und Marcus Niedermeyr.

Hilbers spätromantische Klangwelt ist agogisch und dynamisch nuancenreich erstanden; die wunderschöne CD wird hoffentlich in vielen nacheifernden Chören ihre Wirkung entfalten.

 

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Johann Baptist Hilber: Chorwerke. Ensemble Corund, Leitung Stephen Smith; Wolfgang Sieber, Orgel.
Spektral SRL4-13121

Stille

Stille Nacht, Stille in der freien Improvisation, der stillste Ort der Welt, wo einem fast bang wird … – Junge Musikjournalistinnen und -journalisten haben sich mit dem Phänomen «Stille» in verschiedensten Ausprägungen beschäftigt. Wir präsentieren ihre Essays, die in einem Nachdiplom-Studiengang der Fachhochschule Nordwestschweiz entstanden sind.

Stille

Stille Nacht, Stille in der freien Improvisation, der stillste Ort der Welt, wo einem fast bang wird … – Junge Musikjournalistinnen und -journalisten haben sich mit dem Phänomen «Stille» in verschiedensten Ausprägungen beschäftigt. Wir präsentieren ihre Essays, die in einem Nachdiplom-Studiengang der Fachhochschule Nordwestschweiz entstanden sind.

Focus

… und ausserdem

RESONANCE


La voix d’ange de Fritz Albert Warmbrodt

Si loin, si proche : Susanne Abbuehl et Elina Duni au festival Jazzonze+

«Wichtig ist das Schaffen von Perspektiven»
Interview mit Balthasar Glättli, Präsident von Swiss Music Export

Comment fait-on chanter des enfants pour l’éducation ?
Des classes en Suisse romande et au Burkina Faso créent des chansons

Carte blanche: Hans Brupbacher zur Zukunft der SMZ

Rezensionen Klassik, Rock und Pop – Neuerscheinungen
 

CAMPUS


PreCollege Musik der ZHdK

Rezensionen Unterrichtsliteratur – Neuerscheinungen

klaxon Kinderseite
 

FINALE

Rätsel: Michael Kube sucht

 

 

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Stille – ausgerechnet in der Musik

Der Advent nennt sich gern «stille Zeit». Die Stille ist allerdings schwer zu fassen, auch in der Musik.

Oleg Kozlov – Fotolia.com
Stille - ausgerechnet in der Musik

Der Advent nennt sich gern «stille Zeit». Die Stille ist allerdings schwer zu fassen, auch in der Musik.

Zehn junge Autorinnen und Autoren haben vergangenen Winter im Rahmen einer Weiterbildung den CAS Musikjournalismus der Forschungsabteilung der Hochschule für Musik/FHNW besucht. Zum Abschluss verfassten sie Essays über die Stille, von denen wir vier in der Dezemberausgabe drucken, zwei davon in französischer Übersetzung. Illustriert werden die Texte mit Bildern von Kaspar Ruoff, in die man hineinhorchen kann.

Alle Essays finden sich hier, auf unserer Website. Dies auch in Hinblick auf das internationale Symposium Stille als Musik, das die Hochschule für Musik und das Musikwissenschaftliche Seminar vom 12. bis 14. Dezember in Basel veranstalten (www.musikforschungbasel.ch).

Sie gelangen zu den einzelnen Essays, indem Sie den jeweiligen Titel im untenstehenden Textfeld anklicken.

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(No) sound is innocent?

Der brummende Kühlschrank als Zeitdokument – Die Stille in Aufnahmen frei improvisierter Musik re-listened.

Der brummende Kühlschrank als Zeitdokument – Die Stille in Aufnahmen frei improvisierter Musik re-listened.

Hustendes Publikum, vor dem Konzertsaal vorbeifahrende Motorräder, nervöses Stühlerücken – auf Aufnahmen frei improvisierter Musik aus der Zeit um die Jahrtausendwende bilden solche Nebengeräusche deutliche Ausschläge auf der Dynamikkurve, die ansonsten ohne grosse Veränderung bleibt. Hört man diese Aufnahmen heute, fällt sofort frappierend ins Ohr, dass der Stille darin eine enorm grosse Relevanz zugemessen wird. Egal, ob es sich um Aufnahmen aus London, der Schweiz, Berlin oder Japan handelt, überall überlagert das Raumgeräusch mit einer fast impertinenten Dominanz das eigentliche musikalische Geschehen, das sich zart verästelnd darunter ausbreitet, als wolle es sich im selbst geschaffenen Dickicht verstecken.

Liest man Zeitzeugenberichte, wird der Eindruck bestätigt, dass das Phänomen grassierte. Als regelrecht zwanghaft wird heute empfunden, dass die Musiker damals nicht nur fast ausnahmslos sehr leise spielten, sondern auch über weite Strecken explizit nicht spielten. Das Diktat der Stille verwandelte den Konzertsaal in eine Kathedrale, in der unbedingt Andacht gehalten werden musste – atmen also möglichst unauffällig und geräuschlos, keine raschelnden Jacken tragen, Gespräche ausnahmslos einstellen. Und dann lauschte man dem Konzert oder vielmehr: dem Barkühlschrank, der das Konzert um einige Dezibel übertönte.

Es ist kaum nachvollziehbar, wie ausgerechnet die Stille ihre leise, aber sehr bestimmte Herrschaft für einige Zeit über ein musikalisches Subgenre beanspruchte, das ansonsten gerade dafür bekannt ist, jeglichen Dogmatismus lauthals abzulehnen. Begibt man sich auf die Suche nach den Ursprüngen der Entwicklung, verlieren diese sich schnell in Mythen und Legenden. Im Falle der japanischen Onkyō-Bewegung(1) erzählt man sich, dass der hauptsächliche Konzertort der Szene in einem Wohnhaus lag und man deshalb zunächst aus Rücksicht leise spielen musste, bis schliesslich ein Stil daraus wurde, den man aus Gewohnheit übernahm. Geschichten wie diese sind letztlich symptomatisch für die Protagonisten der freien Improvisation, die seit jeher ein Unbehagen zu verspüren scheinen, wenn ihre Musik beschrieben wird. Da aber sowohl im Onkyō als auch im sogenannten Berliner Reduktionismus zeitgleich auf ähnliche Art sehr leise oder gar nicht gespielt wurde, ebenso wie in anderen Metropolen mit frei improvisierender Szene, liegt ein gemeinsames Motiv für die Erforschung der Stille zumindest nahe.

Mitte der 1990er-Jahre existierte die Idee der freien Improvisation seit ungefähr 30 Jahren. In den 60ern durch Gruppen wie AMM oder das Spontaneous Music Ensemble in Grossbritannien ausgerufen, war die Musik im Anfang ein Reflex auf die absolute Determination im Serialismus, während die anti-intellektuelle Haltung ihrer Protagonisten im unbändigen Gestus des Free Jazz wurzelte. Die Musik war im Ursprung laut, geprägt von lang ausgehaltenen Tönen in extremen Lagen mit hohem Geräuschanteil, atonal und durch Verwendung von found objects häufig der musique concrète näher als dem Jazz: ein enfant terrible, das grundsätzlich immer dorthin abbog, wo es möglichst unbequem war und wo es keiner erwartete. Von Eddie Prévost, Mitbegründer von AMM, existiert das geflügelte Wort «No sound is innocent», kein Klang ist unschuldig – und genau so wurden die Klänge auch behandelt.

Möglicherweise liegt die Zuwendung zur Stille ebenfalls in diesem Ausspruch begründet. Ist nicht die freie Improvisation mit ihrem Grundsatz des spontanen und instantanen Musizierens schon immer auf der Suche nach dem «unschuldigen», ungehörten, neuen Klang? Was, wenn ihre Protagonisten irgendwann kollektiv das Gefühl hatten, alle Experimente im Bereich der schrägen und lauten Töne durchgeführt zu haben – und nun der einzige verbleibende Weg in die unerforschte Stille führte? Womöglich hallen in Prévosts Satz auch ältere Ideen nach, welche die Flucht ins kaum Hörbare bereits antizipiert haben: die von Adorno festgestellte Korruption alles («schön») klingenden Materials nach Auschwitz etwa oder das Konzept der Stille als vom Ego gereinigter Klang bei Cage.

Es ist denkbar, dass die Veränderungen durch dahingehende Überlegungen ausgelöst wurden. Das Dilemma der Musik der Postmoderne und der freien Improvisation gleichermassen ist, dass alles, was erklingt, notwendig über Historizität verfügt und mithin niemals grundlegend frei sein kann. Die Protagonisten der freien Improvisation sind sich darüber im Klaren – wollte man Böses unterstellen, könnte man behaupten, der ganze Stil gestalte sich als ein einziger exaltierter Eskapismus, immer auf der Flucht vor der erschütternden Erkenntnis, dass er sein eigenes, namensgebendes Versprechen nicht einhalten kann. Falls man also annimmt, dass hier tatsächlich so etwas wie der Motor der freien Improvisation liegt, liesse sich von teleologischer Notwendigkeit sprechen, dass sich ein solch radikales Genre früher oder später der Stille zuwenden musste.

Letztlich ist der Sachverhalt sicher wesentlich komplizierter und es gibt nicht einen Grund allein, sondern die Antworten auf eine entsprechende Frage wären bei den unterschiedlichsten Musikern unfassbar vielfältig. Vielleicht war die rein ästhetische Idee ausschlaggebend, dass der Einzelklang durch eine dominantere Stille grössere Relevanz, Ereignischarakter, erhält und dadurch der Fokus gar nicht mehr auf der Stille läge, sondern wiederum auf dem vereinzelten Klang? Waren heilvolle Versprechungen des in jeglicher Hinsicht radikalen Minimalismus ausschlaggebend, die man in der formalen Strenge zu erkennen glaubte? Oder ging es doch um die Kommunikation unter den Musikern, die in der absoluten Stille ganz neue Kanäle des intentionslosen Austauschs erprobt haben?

Die Aufnahmen geben darüber keine Auskunft. Sie sind stille Dokumente einer Zeit, in der sich die freie Improvisation in einem Umbruch befand, der gleichzeitig Sinnkrise und kreative Hochphase war. Heute, da frei improvisierte Konzerte sich wieder aus der Stille als ihrem ausschliesslichen Habitat gelöst haben, klingen sie beklemmend, rätselhaft und in ihrer unbedingten Naivität tatsächlich irgendwie – unschuldig.

Anmerkung
1 Die Onkyō-Bewegung (jap. Onkyōkei) praktiziert eine bestimmte Form freier Improvisation und entstand Ende der 1990er-Jahre. Der Begriff Onkyō lässt sich als Geräusch, Krach oder Echo übersetzen, die Musik legt mehr Wert auf Klangtexturen denn auf musikalische Struktur und bezieht Elemente unterschiedlicher Stile wie elektronischer Musik oder Noise mit ein. Wichtige Vertreter des Onkyō sind Otomo Yoshihide, Sashiko M. und Taku Sugimoto.
 

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Eine Stunde am stillsten Ort der Welt

Wie Musik hat auch die Stille eine dunkle Seite. Ist man ihr dauerhaft ausgesetzt, kann sie zu psychischen Störungen führen. Ein Selbstversuch.

Wie Musik hat auch die Stille eine dunkle Seite. Ist man ihr dauerhaft ausgesetzt, kann sie zu psychischen Störungen führen. Ein Selbstversuch.

Eine Wendeltreppe führt in den Keller des Staatlichen Instituts für Musikforschung mitten in Berlin. Hier, hinter der unscheinbaren weiss gestrichenen Eisentür liegt der wahrscheinlich stillste Ort der Stadt, ein reflexionsarmer Raum. Gebaut wurde er Anfang der 1980er-Jahre, heute werden hier Sprach- oder Instrumentalaufnahmen gemacht. Als ich die schwere Doppeltür öffne, weht mir abgestandene Luft entgegen. Die Wände sind komplett mit hautfarbenen Dämmkeilen gepolstert. Der Boden besteht aus einem schwebenden Gitter. 99 Prozent der Geräusche werden dadurch absorbiert. Kein einziger Laut von aussen dringt herein. Durch die Haus-in-Haus-Konstruktion wird kein Schall übertragen. Und auch wenn ich schreien würde, hörte es draussen niemand.

In dieser «Camera silens» will ich meinen Selbstversuch starten. Ich möchte herausfinden, wie angenehm oder quälend Stille sein kann. Wie lange werde ich es hier aushalten? Was werde ich wahrnehmen? Werde ich eine Erfahrung machen, an die ich lange und gerne zurückdenke?

Untersuchungen in Schallschutz-Kabinen wurden schon Ende des 19. Jahrhunderts durchgeführt. Im psychologischen Labor der Yale University existierte ein «room in room», in dem Versuchspersonen hinter dicken Wänden und doppelten Türen, abgeschirmt von der Aussenwelt, Experimenten unterzogen wurden. Das hatte den Vorteil, dass sie nicht von den Testleitern und Apparaturen beeinflusst und abgelenkt wurden.(1) In den 1950er-Jahren gab es in den USA und Kanada Experimente mit der sogenannten sensorischen Deprivation, dem Entziehen von Sinneseindrücken. Ziel war es, psychische Erkrankungen zu erforschen und neue Behandlungsmethoden zu finden. Der kanadische Psychologe Donald Hebb brachte seine Probanden in abgeschlossenen Räumen unter. Ihre Wahrnehmungen waren zusätzlich durch Augenbinden, schalldichte Kopfhörer und Handschuhe blockiert. Die Folge waren Angstanfälle und Halluzinationen. Ähnliche Versuche wurden in den 1960er-Jahren in Prag und in Hamburg gemacht.(2)

Der Sozialforscher Albert Biderman schrieb Ende der 1950er-Jahre, mit Isolation, Desorientierung und Stress könne der Wille von Menschen gebrochen werden. Seine Schriften wurden für die Ausbildung von Verhörspezialisten in Guantánamo eingesetzt.(3)

Stille ist eine Foltermethode, die in vielen Ländern genutzt wird. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International nennt in ihrem jüngsten Folter-Bericht die Isolation als eine von vielen weltweit praktizierten Foltermethoden. Dabei befinden sich die Opfer monate- oder sogar jahrelang in Einzelhaft. Einzelzellen sind auch aus Gefängnissen bekannt, beispielsweise jenen der DDR-Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen. In den Kellertrakt drang kein Tageslicht. Somit waren Tages- und Jahreszeit unbestimmbar. Auch der Kontakt zu Mithäftlingen fehlte. Eine Verständigung untereinander war nur durch Klopfzeichen möglich. Ehemalige Inhaftierte berichten von Halluzinationen, psychischen und depressiven Störungen, emotionaler Abstumpfung und extremer Sensibilisierung für Geräusche und visuelle Reize.(4)

Zurück in den Untergrund des Staatlichen Instituts für Musikforschung. Komplett dunkel ist es im reflexionsarmen Raum glücklicherweise nicht, in der Ecke baumelt eine Kellerlampe. Der Druck auf den Ohren ist unangenehm, als wären sie mit Watte ausgestopft. Dazu kommt ein tinnitusartiges Pfeifen. Überdeutlich nehme ich die Geräusche meines Körpers wahr. Trotzdem fühle ich mich auch geborgen zwischen dem ganzen Schaumgummi.

Ich habe eine Uhr dabei, ansonsten würde es mir schwer fallen, die Zeit einzuschätzen. Abgeschirmt von Tageslicht und Luft vergeht sie schneller als sonst. Mittlerweile sind 25 Minuten vorbei. Obwohl eigentlich unmöglich, bilde ich mir ein, Geräusche von draussen zu hören, wie von einem Spielplatz. Sind das schon Halluzinationen? Das Kratzen meines Bleistifts auf dem Papier beruhigt mich. Ein Institutsmitarbeiter schaut aus Sicherheitsgründen kurz herein. Nachdem er die Türen wieder geschlossen hat, verstärkt sich das Rauschen in meinen Ohren. Zehn Minuten später breitet sich ein leichter Kopfschmerz aus. Ich spüre meinen Herzschlag. Mein linkes Augenlid beginnt zu zucken.

Wenn keine Geräusche zu hören sind, wie hier im schalltoten Raum, ist die Zeitwahrnehmung gestört. Auch für die Halluzinationen gibt es eine rationale Erklärung. Da das Gehirn auf permanente Stimulation angewiesen ist, entladen sich die Nervenzellen immer wieder selbst. So entstehen die «künstlichen» Bilder.(5)  Davon berichten auch Probanden, die an dem BBC-Versuch Total Isolation teilnahmen. 48 Stunden lang verbrachten sie abgeschirmt in völliger Dunkelheit in einem Bunker. Währenddessen sahen sie Autos, Schlangen oder auch Zebras. Über 60 Jahre nach den ersten Forschungen sind die Folgen der Isolation offenbar noch nicht vollständig untersucht.

Eigentlich sehnen wir Grossstädter uns nach Stille. Sooft es möglich ist, versuchen wir uns eine Auszeit zu nehmen von Lärm und Stress. Hier – mitten in der Innenstadt – ist es nun endlich vollkommen still. Und das ist kaum zum Aushalten.

Mittlerweile ist eine Stunde vergangen. Der permanente Druck auf den Ohren, der auch durch Gähnen nicht verschwinden will, und das Tinnitus-Piepen lassen nicht nach. Ich muss wieder raus, in die Wirklichkeit. Ich wuchte die Schaumgummipolsterung und die schwere Tür zur Seite, laufe die Wendeltreppe nach oben, vorbei am Pförtner, und darf endlich wieder frische Luft atmen. Die Sonne blendet. Ich kneife die Augen zusammen und denke: Wie viel mehr muss Gefangenen nach Tagen, Monaten oder Jahren das Tageslicht bedeuten als mir jetzt!

Anmerkungen
1 Vgl. Schmidgen, Henning, Camera Silenta. Time Experiments, Media Networks, and the Experience of Organlessness, in: Osiris, Vol. 28, No. 1, Music, Sound and Laboratory from 1750-1980, University of Chicago Press 2013, S. 171 ff.
2 Vgl. zu diesem Absatz: Koenen, Gerd, Camera Silens. Das Phantasma der «Vernichtungshaft», http://www.gerd-koenen.de/pdf/Camera_Silens.pdf, S. 8 ff., zugegriffen am 19.05.2014.
3 Vgl. Mausfeld, Rainer, Psychologie, «weisse Folter» und die Verantwortlichkeit von Wissenschaftlern, in: Psychologische Rundschau, 60 (4), Göttingen 2009, S. 233.
4 Vgl. Lazai, Christina; Spohr, Julia; Voss, Edgar, Das zentrale Untersuchungsgefängnis des kommunistischen Staatssicherheitsdienstes in Deutschland im Spiegel von Opferberichten, http://www.stiftung-hsh.de/downloads/CAT_212/ZZ-InterviewauswertungMGB-MfSONLINE.pdf, zugegriffen am 18.05.2014.
5 Vgl. Kasten, Erich, Psychologisches Phänomen: Wenn das Hirn sich auf einen Trip macht, http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/psychologisches-phaenomen-wenn-das-hirn-sich-auf-einen-trip-macht- a-795483.html, zugegriffen am 19.05.2014.
 

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Musik für Fledermäuse

Wir begreifen Stille üblicherweise als Abwesenheit von Geräuschen. Tatsächlich ist Stille aber etwas anderes, nämlich die Unfähigkeit unserer Ohren, alle Frequenzen wahrzunehmen. Einige wenige Komponisten haben die paradoxe Idee verwirklicht, mit unhörbaren Frequenzen zu arbeiten, jeder auf eine andere Art.

Wir begreifen Stille üblicherweise als Abwesenheit von Geräuschen. Tatsächlich ist Stille aber etwas anderes, nämlich die Unfähigkeit unserer Ohren, alle Frequenzen wahrzunehmen. Einige wenige Komponisten haben die paradoxe Idee verwirklicht, mit unhörbaren Frequenzen zu arbeiten, jeder auf eine andere Art.

Es gibt Töne, die können wir nicht hören, aber fühlen. Angeblich wussten das schon die alten Orgelbauer und haben darum eine 64-Fuss-Pfeife, eine sogenannte Demutspfeife konstruiert. Ihr Grundton, das Subsubkontra-C von etwa 8Hz, liegt im Infraschallbereich – in einem Frequenzbereich, den wir, wenn überhaupt, körperlich wahrnehmen – und sollte den frommen Kirchgängern gehörig Ehrfurcht einflössen. Infraschall kann beim Zuhörer Unwohlsein hervorrufen, weil der Körper die Wellen zwar spürt, aber nicht recht lokalisieren kann. Hören kann man so eine Pfeife aber schon, denn in ihr schwingen ja die diversen Obertöne mit. Nur der Grundton ist unhörbar und in seiner Wirkung etwas gespenstisch. Weltweit besitzen nur zwei Orgeln ein voll ausgebautes (also bis zum C hinabreichendes) 64-Fuss-Register. Aber als Demutspfeifen, um dem Hörer Demut einzupfeifen, werden sie nicht mehr benutzt. Ob dieses provozierte Unwohlsein im Gottesdienst überhaupt die erhoffte Portion Ergebenheit hervorrufen konnte, ist ungewiss.

Gewiss ist aber, dass der Frequenzbereich, den wir hören können, beschränkt ist. All das Piepsen, Schnaufen, Grummeln und Rattern, das einem etwa während einer Zugfahrt ans Ohr dringt, spielt sich zwischen den Frequenzen 20 Hz und 20 kHz ab. Das menschliche Ohr hat sich auf diesen Bereich spezialisiert; die Musik logischerweise auch. Aber ein paar Exoten gibt es dennoch, die bewusst mit den abseitigen Frequenzen spielen. In dieser unhörbaren Welt gibt es Infraschall und Ultraschall. Schallwellen mit einer Schwingfrequenz unter 20 Hz gehören zum Infraschall, Schallwellen mit einer höheren Schwingfrequenz als 20 kHz sind Ultraschallwellen. Beide kann der Mensch nutzbar machen, aber nicht unmittelbar hören. Wenn man also glaubt, nichts zu hören, so schwirren unbemerkt lauter Infra- und Ultraschallwellen um einen herum. Tiere benutzen diese anderen Frequenzbereiche zur Kommunikation. Fledermäuse hören Schwingungen von 15 kHz bis 200 kHz, also weitgehend im Ultraschallbereich. Elefanten hören tiefe Frequenzen. Sie könnten also musikalischen Gefallen an einzelnen Tönen des 64-Fuss-Registers finden – würden sie je den Weg in eine damit ausgestattete Kirche finden.

Die Performance-Künstlerin Laurie Anderson hat ihre musikalische Zielgruppe weniger exotisch gewählt: Hunde. Im Jahr 2010 führte sie ihre Music for dogs erstmals vor der Oper in Sydney auf. Zahlreiche Hundebesitzer brachten ihr Lieblingstier zu dem Event mit. Auf youtube gibt es einen kurzen Clip, in dem die Hunde erwartungsfroh in die Kamera blicken. Wie die Vierbeiner diese musikalische Liebeserklärung wahrgenommen haben, kann man nicht sagen; sie machten auf alle Fälle einen vergnügten Eindruck. Die Halter hatten ebenfalls ihren Spass an dem konzeptuellen Hunde-Humbug; Andersons Musik – rhythmisch, elektronisch, mit vielen Sweep-Sounds – liegt nicht vollständig ausserhalb des menschlichen Hörbereichs, schliesslich teilen sich Herrchen und Hund zwangsläufig einige Frequenzen.

Das Spiel mit dem Unhörbaren gibt es aber auch in Musikstücken ohne tierischen Bezug: Eduardo Moguillansky hat sich in seinem Stück bauauf an die Hörgrenze des Menschen begeben. Diese sinkt im Laufe des Alters, so dass junge Menschen hohe Frequenzen um 20 kHz noch wahrnehmen können, ältere Menschen aber nicht. Bei Eduardo Moguillansky teilt die elektronische Zuspielung das Publikum in Nicht-Hörer und Hörer. Vom Band erklingen Frequenzen um 17 kHz; ein junger Mensch sollte die Töne noch hören können. Für Moguillansky läuft diese Trennung des Publikums entlang einer konkreten Jahreszahl: 1982, dem Jahr, in dem die Diktatur in Argentinien zu Ende ging. Jeder vor 1982 Geborene, der somit die Diktatur noch miterlebt haben könnte, würde die Töne nicht mehr hören. Diese sonderbar hohen Frequenzen tragen insofern eine zarte politische Dimension in sich, als sie das Umbruchsjahr 1982 durch Physiologie auf die Musik projizieren. Diese Hörbarkeitsgrenze gilt allerdings so scharf, wenn überhaupt, nur ideellerweise; denn die Hörfähigkeit ist von Mensch zu Mensch verschieden, und weil zudem jeder Mensch altert, verschiebt sich auch die Jahresgrenze, die die Zuhörer spaltet, im Laufe der Zeit. Die elektronisch zugespielten hochfrequenten Töne sind aber nur ein passiver Bestandteil von bauauf. Moguillansky hat sich auch in den für alle hörbaren Tönen mit der argentinischen Diktatur beschäftigt, genauer mit den sinnlosen, aber systemerhaltenden Arbeitsprozessen dieses Staatsapparats, dem sogenannten «proceso de reorganización national». Vier Musiker interpretieren bauauf; sie spielen dabei selten auf ihren traditionellen Instrumenten, sondern meist mit kleinen Holzgegenständen auf hölzernen Kisten. Wie brave Bürokraten erfüllen sie sitzend ihre Anweisungen, halten damit das grosse Getriebe am Laufen, können aber das Ziel hinter den Einzelaktionen nicht erkennen. Eine absurde Stempel-Station auf einem Amt …

Moguillansky und sein politisch konnotiertes Spiel mit dem Unhörbaren ist ein Sonderfall in der unhörbaren Musik, weil es ja eine Teilgruppe gibt, die den Ton hören kann. Wobei natürlich die unhörbare Musik an sich ein Spezialfall ist – wie soll man sie aufführen, wenn sie bei der Aufführung aufgrund der Unhörbarkeit unfreiwillig wie Cages 4’33“ klingt? Die Klangkünstlerin Jana Winderen und der Komponist Wolfgang Loos alias KooKoon haben jeweils eine eigene Herangehensweise an die unhörbaren Frequenzen gewählt, die dieses Dilemma löst: Sie machen sie hörbar. Infraschall muss schneller abgespielt werden, damit die Schallwellen in den hörbaren Bereich verschoben werden, Ultraschall dagegen muss verlangsamt werden. Und plötzlich kann man hören, wie Ameisen plaudern, wie Elefanten sich austauschen, ja sogar wie ein Erdbeben klingt. Das Unhörbare hörbar zu machen, hat eine öko-soziale Dimension. Im für uns Unhörbaren kommunizieren Tiere, da spricht die Welt. – Das Unhörbare in hörbare Musik zu verwandeln ist aber nicht so einfach. KooKoon hat zusammen mit Frank Scherbaum, Professor für Geophysik, die tieffrequenten seismischen Wellen einer Formanten-Analyse unterzogen und aus den Ergebnissen eine fünfsätzige seismosonic symphony komponiert; Musik, die nur aus den transformierten seismischen Wellen besteht. Während es bei KooKoon tatsächlich grummelt und schwer atmet – wie man es vom Erdbeben auch erwartet, entführt Winderens Klangkunst out of range den Hörer in die akustische Welt einer Bodenritze. Es kruschelt und gluckst im Ohr, als würde man der brownschen Molekularbewegung lauschen.

Die Verwandlung von unhörbaren Schallwellen in für uns hörbare ist übrigens auch umkehrbar, das heisst, man kann ohne weiteres ein Musikstück wie Beethovens Fünfte in einen höherfrequenten Bereich übertragen. Und so gäbe es sie auch noch: Musik für Fledermäuse.
 

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Stille Nacht

So paradox es klingen mag: Das berühmte Weihnachtslied drückt Stille mit Hilfe von Musik aus. Bei Penderecki winkt es als Erinnerung, bei Schnittke wird es neue Gegenwart.

So paradox es klingen mag: Das berühmte Weihnachtslied drückt Stille mit Hilfe von Musik aus. Bei Penderecki winkt es als Erinnerung, bei Schnittke wird es neue Gegenwart.

Wenn man im Duden das Wort «Stille» nachschlägt, so wird man überrascht: «Durch kein lärmendes, unangenehmes Geräusch gestörter [wohltuender] Zustand», heisst es da. Die Stille beinhaltet entgegen allen Annahmen «Geräusche», zwar nur angenehme, nicht-lärmende, aber doch Laute.

So scheint es heutzutage paradox, dass die Wintermonate und vor allem die Adventszeit als «stille Jahreszeit» gelten – sind sie doch geradezu von lärmenden Dauerschleifen-Weihnachtsliedern, Lautsprecherdurchsagen zu einmaligen Weihnachtsschnäppchen und quengelndem Kindergeschrei dominiert. Alles in allem keineswegs angenehme Geräusche. Und diesen zu entfliehen, stellt sich als grössere Herausforderung heraus, als man meint. Selbst dann, wenn die Natur zu ihrem letzten Mittel greift und versucht, die Welt mit schalldämmendem Schnee zu «beruhigen», ertönt allgegenwärtig und ironischerweise aus irgendeiner Ecke noch leise eine Schlagerversion des Weihnachtsklassikers Stille Nacht.

Dieses Lied, 1818 niedergeschrieben vom Österreicher Franz Xaver Gruber, beschäftigt sich damit, Stille in Form von Klängen auszudrücken. Die «stille Nacht», im christlichen Kontext die Nacht der Geburt Christi, kann als Inbegriff des «stillen Liedes», eines musikalischen Zustands von wohlklingenden Geräuschen, gesehen werden.

Er wählt dafür die Form der Siciliana, ein Satztypus, der sich durch einen markanten punktierten Rhythmus auszeichnet, und nichtsdestoweniger die Erinnerung an ein pastorales Wiegen- und Schlaflied erweckt. Dieser Rhythmus und der wellenartige, pendelnde Melodieverlauf verleihen dem Lied einen beinahe statischen, ruhenden Charakter und das vorgezeichnete Piano, das nahezu im Nichts verebbt, bekräftigt diesen noch. Man mag sich fast vorstellen, dass das scht von «stille Nacht» einem beruhigenden Zuflüstern der Mutter zu ihrem Kinde gleicht. Die Definition des Dudens für Stille scheint hier voll und ganz zuzutreffen – die behagliche Nacht wird weder durch ein lärmendes noch durch ein unangenehmes Geräusch gestört.

Die Faszination, die dieses Lied auf die Welt ausübt, zeigt sich in seiner unvergleichlichen Rezeption. Bereits zehn Jahre nach seiner Komposition wurde es in ganz Europa und der USA aufgeführt, und heute existiert es in unzähligen Sprachen. Es liegt in über hundert Versionen vor, von Heintje und Heino bis Elvis Presley und den Tiroler Herzensbrechern. Es ist kaum verwunderlich, dass so ein populäres Lied auch den Einzug in die Kunstmusik gefunden hat. Seine Thematik, die Stille, die Auseinandersetzung mit dem «Nicht-Ton», beschäftigt die Kunstmusik von jeher. In der Neuen Musik wird sie vor allem in den 1950er-Jahren mit John Cage zum Thema. Seine Inszenierung der Stille gilt als Ausgangspunkt etlicher Kompositionen, die die Stille thematisieren. Man suchte nach den Klängen, die an das Hörbare grenzen. Dieser Zeit entspringen besonders leise Werke, durchzogen von Pausen und dynamischen Extremen, die morendo aus dem Nichts kommen und ins Nichts gehen.

Etwas später als Cage setzt sich auch Krzysztof Penderecki in seinen Dimensionen der Zeit und Stille (1959/1960) intensiv mit dem Phänomen auseinander. Doch die Idee, das Thema mit dem Lied Stille Nacht, heilige Nacht zu verknüpfen, kommt ihm erst knapp zwanzig Jahre später. In seiner 2. Symphonie spielt er darauf an und verleiht ihr den Untertitel Christmas Symphony. Damit lenkt er die Aufmerksamkeit des Hörers auf das Lied, das im Werk selbst beinahe «hereinklingt». Die 1980 unter ihrem Widmungsträger Zubin Mehta uraufgeführte Komposition basiert auf einem simplen Sonatensatz. In dieser Struktur dringt signalartig dreimal Stille Nacht, heilige Nacht durch; bei den ersten beiden Malen auch deutlich mit «quasi da lontano» gekennzeichnet. Allerdings zitiert Penderecki das Weihnachtslied nicht vollständig. Lediglich der erste Takt, quasi das erste «Stille Nacht», erklingt. Somit gleicht das Zitat eher einer Reminiszenz, die durch ihre Kürze und aus der Ferne im Pianissimo erklingend – fast schon emblematisch – weihnachtliche Assoziationen hervorruft. Für ihn scheint sich die Stille in der flüchtigen Erinnerung zu äussern, die einem allein durch das Zitat eine verlorene Vergangenheit ins Gedächtnis ruft.

Ganz anders hat Alfred Schnittke das Weihnachtslied zwei Jahre zuvor verarbeitet. Sein Stille Nacht für Violine und Klavier, 1978 uraufgeführt, ist im Gegensatz zu Pendereckis 2. Symphonie eine Bearbeitung, keine Anspielung. Er zitiert das Lied in seiner ganzen Länge, verfremdet es aber nach und nach. Anfangs spielt die Violine in Doppelgriffen solistisch einer scheinbar klaren G-Dur-Melodik entgegen. Doch diese wird bald durch Dissonanzen gestört, durch verstörende Sekundklänge und später durch Tritoni des Klaviers. Der Kontrast zum Original wird immer deutlicher. In der letzten Strophe löst sich die Melodie durch Flageoletts und Oktavversetzungen in der Violine nach und nach auf und verklingt in einem «ritenuto molto», in der Stille. Schnittkes Bearbeitung mündet also nicht in der Wiederkehr des Bekannten, ist keine nostalgische Rückversicherung wie bei Penderecki. Bei ihm wird das vermeintlich Bekannte durch seine Verfremdung Schritt für Schritt zu einer neuen Gegenwart, die sich aber in der Stille verliert. Schnittke führt sein Weihnachtslied am Ende zurück in einen «durch kein lärmendes, unangenehmes Geräusch gestörten [wohltuenden] Zustand».
 

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Musik zum Lesen

Es gibt Musik, die nur durch ihre Beschreibung innerhalb eines literarischen Werks existiert. Dabei kann der Autor ganz unterschiedlich vorgehen. Ein Blick in Bücher von Hermann Burger, Marina Zwetajewa und Thomas Mann.

Es gibt Musik, die nur durch ihre Beschreibung innerhalb eines literarischen Werks existiert. Dabei kann der Autor ganz unterschiedlich vorgehen. Ein Blick in Bücher von Hermann Burger, Marina Zwetajewa und Thomas Mann.

Musik braucht nicht immer eine Bühne. Manchmal reichen ihr zwei Buchdeckel, um zu entstehen. Wobei Texte über Musik, die flüchtige Klänge mit Wörtern begreifbar machen wollen, natürlich geläufig sind. Doch diese Beschreibungen versuchen meist «nur», das Gehörte, das ein anderer komponiert und gespielt hat, aufs Papier zu bannen. Seltener und ungewöhnlicher ist es dagegen, wenn die Musik überhaupt erst im literarischen Text entsteht, ohne lästige Interpreten sozusagen, allein und direkt im Kopf des Lesers. Musikalisierte Sprache, wie zum Beispiel Kurt Schwitters Ursonate, das Paradebeispiel der Lautdichtung, ist damit nicht gemeint. Vielmehr geht es um eine Musik, die im Stillen bleibt, also nie wirklich erklingt – sofern sich nicht jemand die Mühe macht, diese «literarische Musik» in Schallwellen umzusetzen. Sie erklingt einzig im Kopf, was allerdings nicht zwangsläufig heisst, dass die Musik weniger realistisch ist, und schon gar nicht, dass sie eine stille Musik sein muss. Hermann Burgers Roman Schilten ist dafür das beste Beispiel. Burger lässt seinen Anti-Helden Armin Schildknecht nämlich kräftig in die Tasten greifen. Wenn sich der frustrierte Volksschullehrer an sein Harmonium in der Mörtelgrube unterhalb der Turnhalle setzt, dann beschwört er schon mal die Apokalypse herauf, lässt das Inventar beben oder taucht seine Zuhörer in «stille Umnachtung» oder eine «schwermütige Trance».

Dem Leser wird die literarisch komponierte Musik ebenso wie der gesamte «Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz» – wie Burger seinen Roman untertitelt – sprachgewaltig um die «inneren» Ohren gehauen. Die Hauptperson Schildknecht liefert hier in der Ich-Form einen Bericht über den Zustand der Schiltener Schule ab, der gleichzeitig eine monierende Psycho-Selbstanalyse sowie das facettenreiche Zeugnis einer hochgradigen psychischen Pathologie darstellt: «Mein freiwilliger Arrest wird dadurch entschärft, dass ich zusammen mit meinem geliebten Harmonium eingesperrt bin. Die gemischte Schul- und Friedhofspflege von Schilten gab mir ein Instrument, zu sagen, was ich leide.» Die Musik bietet bei Burger einen Zugang in die tiefsten Abgründe der Romanfigur und damit – was nahe liegt – auch in die seelischen Abgründe des Autors selbst: Was das Harmonium spielt, wird zu einem morbiden Soundtrack, der Schildknechts Selbstmitleids-Exzesse begleitet und seinem Kampf mit der Umwelt Ausdruck verleiht: «Für die Dauer des Zwischenspiels jedoch sind sie [die Trauergäste] meiner Botschaft ausgesetzt. In der ersten Fantasie arbeite ich mit dem einfachen Trick der Panik in geschlossenen Räumen. Mit Oktavsprüngen greife ich die Proportionen des schabzigergrünen Ungemachs, lasse auch die kühle Gruft der Mörtelkammer in meinem Rücken erstehen, so dass die Trauergäste enger zusammenrücken und ängstlich nach den Ausgängen schielen.»

Obwohl die Musik in Schilten viel Raum einnimmt, ist sie nicht das Thema des Buches. Denn der Roman wäre schliesslich auch ohne die «literarische Musik» denkbar. Eine ganz andere Rolle spielt die Musik in dem kleinen autobiografischen Büchlein von Marina Zwetajewa Mutter und die Musik. Obwohl im Titel enthalten, erklingt darin fast nie Musik. Die Autorin beschreibt dafür umso poetischer ihre problematische Haltung zur ihr. Die Mutter wollte sie zur Musikerin erziehen, doch das tägliche Klavierüben war für das Mädchen Marina eine einzige Frustration, mit der sie ständig konfrontiert wurde: «Wenn ich nicht spielte, spielte Assja, wenn Assja nicht spielte, übte Walerija und – uns alle übertönend und überdeckend – die Mutter, den ganzen Tag und fast die ganze Nacht!» Die Erzählung kreist um die Musik und den Kampf mit ihr, der eigentlich der Kampf mit der Mutter ist: «Doch – ich liebte sie. Die Musik – liebte ich. Nur meine Musik liebte ich nicht. Das Kind kennt keine Zukunft, es lebt im Jetzt (welches immer bedeutet). Jetzt gab es nur Tonleitern, Kanons und schäbige ‹Stücklein›, die mich durch ihre Unscheinbarkeit kränkten.»

Um das Abarbeiten und Abquälen an der Musik geht es auch in Thomas Manns Doktor Faustus. Allerdings dringt das Bucht viel tiefer in historische, musikwissenschaftliche sowie theoretische Überlegungen zur Musik ein als die Werke von Burger und Zwetajewa. Thomas Mann hat seine Hauptfigur dem Komponisten Arnold Schönberg nachempfunden und sie gleichzeitig mit dem Urtopos des Faust verknüpft. Der Tonsetzer Adrian Leverkühn hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und kann dank diesem wie ein Besessener arbeiten mit einer Garantie auf geniale Ideen. Thomas Mann hat damit der Zwölftonmusik ein auf grosser Kennerschaft fussendes, literarisches Denkmal gesetzt. Er schlägt somit eine einzigartige Brücke zwischen Musik und Literatur, die um einiges stärker ist als bei Burger und Zwetajewa, weil sie über die literarische und poetische Spielerei hinausgeht. Konkrete Beschreibungen von Klängen gibt es hingegen kaum. Dafür lässt sich das Buch, wie es Theodor W. Adorno anregt, im Gesamten als musikalische Form interpretieren. Er notierte über den Doktor Faustus: «Die Höllenfahrt Fausti als eine grosse Ballettmusik.» Das Ballett zum Lesen, es wäre auch ein paar Überlegungen wert.
 

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Zwei Welten?

Gospel und die traditionelle musikalische Gestaltung eines Gottesdienstes rücken mit dieser Publikation zusammen.

Foto: jonchootc – fotolia.com

Stephan Zebe schreibt im Vorwort von Glory to God! – Gospel liturgisch: «Wenn sich Gospelchor und Sonntagsgemeinde begegnen, dann treffen meist zwei Welten aufeinander. Das soll sich ändern.» Zahlreiche Komponisten haben hier zu einem bahnbrechenden Werk beigetragen. Die Songs bilden eine vielfältige, praxisorientierte Mischung aus Gospel, Pop und Neuem geistlichem Lied.

In der Partitur sind nicht weniger als 94 Bearbeitungen enthalten. Der Band ist gegliedert in Beginn, Psalmen, Gloria, Kyrie, Halleluja, Credo, Sanctus, Vater unser, Agnus Dei, Dank und Sendung sowie Segen. Auch das Kirchenvolk wurde miteinbezogen, indem vier Liedsätze aus dem Kirchengesangbuch enthalten sind.

Das Kyrie ist mit acht verschiedenen Versionen vertreten. Auch neue Gesänge kommen nicht zu kurz. Auf die Kyrierufe antwortet das Volk mit «Herr und Gott erbarme dich». Auch eine deutsches Eingangslied ist zu finden: Der Herr sei hier. Der Gloriateil ist ebenfalls mit deutschen Gesängen bestückt: Ehre sei dem Vater und dem Sohn, Ehre und Herrlichkeit und Ehre sei Gott in der Höhe. Dann folgen 14 Hallelujaversionen. Das Vater unser ist ebenso vertreten. Als Schlusslieder finden wir Verleih uns Frieden gnädiglich und sieben Amenversionen. Zahlreichen englischen Songs sind auch deutsche Texte unterlegt.

In der Inhaltsangabe finden wir eine Aufschlüsselung nach verschiedenen Themen: Trauer und Trost, Gebetsrufe, Konfirmation, Firmung, Hochzeit, Kommunion und Abendmahl, Wort Gottes, Advent, Weihnachten, Ostern, Pfingsten und Trinitatis. Ebenso wird hingewiesen auf die A-cappella-Versionen und die Kanons. Die deutschsprachigen Lieder sind speziell aufgeführt, auch alphabetisch mit Angabe des Komponisten. In der Partitur sind alle Gesänge mit Klavierbegleitungen versehen. Für den Chor gibt es eine kleinere Ausgabe im Format A5 ohne Instrumentalbegleitungen.

Es handelt sich um eine sehr gelungene Ausgabe, verwendbar für alle Zeiten des Kirchenjahres und für spezielle Anlässe, die neue Hörerlebnisse bietet.

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Glory to God! – Gospel liturgisch, hg. von Stephan Zebe, Partitur, ZE 3083, € 19.90; Gesangsausgabe, ZE 3084,
ab € 6.90; ZebeMusic, Berlin 2014

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