Musik für Fledermäuse

Wir begreifen Stille üblicherweise als Abwesenheit von Geräuschen. Tatsächlich ist Stille aber etwas anderes, nämlich die Unfähigkeit unserer Ohren, alle Frequenzen wahrzunehmen. Einige wenige Komponisten haben die paradoxe Idee verwirklicht, mit unhörbaren Frequenzen zu arbeiten, jeder auf eine andere Art.

Wir begreifen Stille üblicherweise als Abwesenheit von Geräuschen. Tatsächlich ist Stille aber etwas anderes, nämlich die Unfähigkeit unserer Ohren, alle Frequenzen wahrzunehmen. Einige wenige Komponisten haben die paradoxe Idee verwirklicht, mit unhörbaren Frequenzen zu arbeiten, jeder auf eine andere Art.

Es gibt Töne, die können wir nicht hören, aber fühlen. Angeblich wussten das schon die alten Orgelbauer und haben darum eine 64-Fuss-Pfeife, eine sogenannte Demutspfeife konstruiert. Ihr Grundton, das Subsubkontra-C von etwa 8Hz, liegt im Infraschallbereich – in einem Frequenzbereich, den wir, wenn überhaupt, körperlich wahrnehmen – und sollte den frommen Kirchgängern gehörig Ehrfurcht einflössen. Infraschall kann beim Zuhörer Unwohlsein hervorrufen, weil der Körper die Wellen zwar spürt, aber nicht recht lokalisieren kann. Hören kann man so eine Pfeife aber schon, denn in ihr schwingen ja die diversen Obertöne mit. Nur der Grundton ist unhörbar und in seiner Wirkung etwas gespenstisch. Weltweit besitzen nur zwei Orgeln ein voll ausgebautes (also bis zum C hinabreichendes) 64-Fuss-Register. Aber als Demutspfeifen, um dem Hörer Demut einzupfeifen, werden sie nicht mehr benutzt. Ob dieses provozierte Unwohlsein im Gottesdienst überhaupt die erhoffte Portion Ergebenheit hervorrufen konnte, ist ungewiss.

Gewiss ist aber, dass der Frequenzbereich, den wir hören können, beschränkt ist. All das Piepsen, Schnaufen, Grummeln und Rattern, das einem etwa während einer Zugfahrt ans Ohr dringt, spielt sich zwischen den Frequenzen 20 Hz und 20 kHz ab. Das menschliche Ohr hat sich auf diesen Bereich spezialisiert; die Musik logischerweise auch. Aber ein paar Exoten gibt es dennoch, die bewusst mit den abseitigen Frequenzen spielen. In dieser unhörbaren Welt gibt es Infraschall und Ultraschall. Schallwellen mit einer Schwingfrequenz unter 20 Hz gehören zum Infraschall, Schallwellen mit einer höheren Schwingfrequenz als 20 kHz sind Ultraschallwellen. Beide kann der Mensch nutzbar machen, aber nicht unmittelbar hören. Wenn man also glaubt, nichts zu hören, so schwirren unbemerkt lauter Infra- und Ultraschallwellen um einen herum. Tiere benutzen diese anderen Frequenzbereiche zur Kommunikation. Fledermäuse hören Schwingungen von 15 kHz bis 200 kHz, also weitgehend im Ultraschallbereich. Elefanten hören tiefe Frequenzen. Sie könnten also musikalischen Gefallen an einzelnen Tönen des 64-Fuss-Registers finden – würden sie je den Weg in eine damit ausgestattete Kirche finden.

Die Performance-Künstlerin Laurie Anderson hat ihre musikalische Zielgruppe weniger exotisch gewählt: Hunde. Im Jahr 2010 führte sie ihre Music for dogs erstmals vor der Oper in Sydney auf. Zahlreiche Hundebesitzer brachten ihr Lieblingstier zu dem Event mit. Auf youtube gibt es einen kurzen Clip, in dem die Hunde erwartungsfroh in die Kamera blicken. Wie die Vierbeiner diese musikalische Liebeserklärung wahrgenommen haben, kann man nicht sagen; sie machten auf alle Fälle einen vergnügten Eindruck. Die Halter hatten ebenfalls ihren Spass an dem konzeptuellen Hunde-Humbug; Andersons Musik – rhythmisch, elektronisch, mit vielen Sweep-Sounds – liegt nicht vollständig ausserhalb des menschlichen Hörbereichs, schliesslich teilen sich Herrchen und Hund zwangsläufig einige Frequenzen.

Das Spiel mit dem Unhörbaren gibt es aber auch in Musikstücken ohne tierischen Bezug: Eduardo Moguillansky hat sich in seinem Stück bauauf an die Hörgrenze des Menschen begeben. Diese sinkt im Laufe des Alters, so dass junge Menschen hohe Frequenzen um 20 kHz noch wahrnehmen können, ältere Menschen aber nicht. Bei Eduardo Moguillansky teilt die elektronische Zuspielung das Publikum in Nicht-Hörer und Hörer. Vom Band erklingen Frequenzen um 17 kHz; ein junger Mensch sollte die Töne noch hören können. Für Moguillansky läuft diese Trennung des Publikums entlang einer konkreten Jahreszahl: 1982, dem Jahr, in dem die Diktatur in Argentinien zu Ende ging. Jeder vor 1982 Geborene, der somit die Diktatur noch miterlebt haben könnte, würde die Töne nicht mehr hören. Diese sonderbar hohen Frequenzen tragen insofern eine zarte politische Dimension in sich, als sie das Umbruchsjahr 1982 durch Physiologie auf die Musik projizieren. Diese Hörbarkeitsgrenze gilt allerdings so scharf, wenn überhaupt, nur ideellerweise; denn die Hörfähigkeit ist von Mensch zu Mensch verschieden, und weil zudem jeder Mensch altert, verschiebt sich auch die Jahresgrenze, die die Zuhörer spaltet, im Laufe der Zeit. Die elektronisch zugespielten hochfrequenten Töne sind aber nur ein passiver Bestandteil von bauauf. Moguillansky hat sich auch in den für alle hörbaren Tönen mit der argentinischen Diktatur beschäftigt, genauer mit den sinnlosen, aber systemerhaltenden Arbeitsprozessen dieses Staatsapparats, dem sogenannten «proceso de reorganización national». Vier Musiker interpretieren bauauf; sie spielen dabei selten auf ihren traditionellen Instrumenten, sondern meist mit kleinen Holzgegenständen auf hölzernen Kisten. Wie brave Bürokraten erfüllen sie sitzend ihre Anweisungen, halten damit das grosse Getriebe am Laufen, können aber das Ziel hinter den Einzelaktionen nicht erkennen. Eine absurde Stempel-Station auf einem Amt …

Moguillansky und sein politisch konnotiertes Spiel mit dem Unhörbaren ist ein Sonderfall in der unhörbaren Musik, weil es ja eine Teilgruppe gibt, die den Ton hören kann. Wobei natürlich die unhörbare Musik an sich ein Spezialfall ist – wie soll man sie aufführen, wenn sie bei der Aufführung aufgrund der Unhörbarkeit unfreiwillig wie Cages 4’33“ klingt? Die Klangkünstlerin Jana Winderen und der Komponist Wolfgang Loos alias KooKoon haben jeweils eine eigene Herangehensweise an die unhörbaren Frequenzen gewählt, die dieses Dilemma löst: Sie machen sie hörbar. Infraschall muss schneller abgespielt werden, damit die Schallwellen in den hörbaren Bereich verschoben werden, Ultraschall dagegen muss verlangsamt werden. Und plötzlich kann man hören, wie Ameisen plaudern, wie Elefanten sich austauschen, ja sogar wie ein Erdbeben klingt. Das Unhörbare hörbar zu machen, hat eine öko-soziale Dimension. Im für uns Unhörbaren kommunizieren Tiere, da spricht die Welt. – Das Unhörbare in hörbare Musik zu verwandeln ist aber nicht so einfach. KooKoon hat zusammen mit Frank Scherbaum, Professor für Geophysik, die tieffrequenten seismischen Wellen einer Formanten-Analyse unterzogen und aus den Ergebnissen eine fünfsätzige seismosonic symphony komponiert; Musik, die nur aus den transformierten seismischen Wellen besteht. Während es bei KooKoon tatsächlich grummelt und schwer atmet – wie man es vom Erdbeben auch erwartet, entführt Winderens Klangkunst out of range den Hörer in die akustische Welt einer Bodenritze. Es kruschelt und gluckst im Ohr, als würde man der brownschen Molekularbewegung lauschen.

Die Verwandlung von unhörbaren Schallwellen in für uns hörbare ist übrigens auch umkehrbar, das heisst, man kann ohne weiteres ein Musikstück wie Beethovens Fünfte in einen höherfrequenten Bereich übertragen. Und so gäbe es sie auch noch: Musik für Fledermäuse.
 

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Eine Stunde am stillsten Ort der Welt

Wie Musik hat auch die Stille eine dunkle Seite. Ist man ihr dauerhaft ausgesetzt, kann sie zu psychischen Störungen führen. Ein Selbstversuch.

Wie Musik hat auch die Stille eine dunkle Seite. Ist man ihr dauerhaft ausgesetzt, kann sie zu psychischen Störungen führen. Ein Selbstversuch.

Eine Wendeltreppe führt in den Keller des Staatlichen Instituts für Musikforschung mitten in Berlin. Hier, hinter der unscheinbaren weiss gestrichenen Eisentür liegt der wahrscheinlich stillste Ort der Stadt, ein reflexionsarmer Raum. Gebaut wurde er Anfang der 1980er-Jahre, heute werden hier Sprach- oder Instrumentalaufnahmen gemacht. Als ich die schwere Doppeltür öffne, weht mir abgestandene Luft entgegen. Die Wände sind komplett mit hautfarbenen Dämmkeilen gepolstert. Der Boden besteht aus einem schwebenden Gitter. 99 Prozent der Geräusche werden dadurch absorbiert. Kein einziger Laut von aussen dringt herein. Durch die Haus-in-Haus-Konstruktion wird kein Schall übertragen. Und auch wenn ich schreien würde, hörte es draussen niemand.

In dieser «Camera silens» will ich meinen Selbstversuch starten. Ich möchte herausfinden, wie angenehm oder quälend Stille sein kann. Wie lange werde ich es hier aushalten? Was werde ich wahrnehmen? Werde ich eine Erfahrung machen, an die ich lange und gerne zurückdenke?

Untersuchungen in Schallschutz-Kabinen wurden schon Ende des 19. Jahrhunderts durchgeführt. Im psychologischen Labor der Yale University existierte ein «room in room», in dem Versuchspersonen hinter dicken Wänden und doppelten Türen, abgeschirmt von der Aussenwelt, Experimenten unterzogen wurden. Das hatte den Vorteil, dass sie nicht von den Testleitern und Apparaturen beeinflusst und abgelenkt wurden.(1) In den 1950er-Jahren gab es in den USA und Kanada Experimente mit der sogenannten sensorischen Deprivation, dem Entziehen von Sinneseindrücken. Ziel war es, psychische Erkrankungen zu erforschen und neue Behandlungsmethoden zu finden. Der kanadische Psychologe Donald Hebb brachte seine Probanden in abgeschlossenen Räumen unter. Ihre Wahrnehmungen waren zusätzlich durch Augenbinden, schalldichte Kopfhörer und Handschuhe blockiert. Die Folge waren Angstanfälle und Halluzinationen. Ähnliche Versuche wurden in den 1960er-Jahren in Prag und in Hamburg gemacht.(2)

Der Sozialforscher Albert Biderman schrieb Ende der 1950er-Jahre, mit Isolation, Desorientierung und Stress könne der Wille von Menschen gebrochen werden. Seine Schriften wurden für die Ausbildung von Verhörspezialisten in Guantánamo eingesetzt.(3)

Stille ist eine Foltermethode, die in vielen Ländern genutzt wird. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International nennt in ihrem jüngsten Folter-Bericht die Isolation als eine von vielen weltweit praktizierten Foltermethoden. Dabei befinden sich die Opfer monate- oder sogar jahrelang in Einzelhaft. Einzelzellen sind auch aus Gefängnissen bekannt, beispielsweise jenen der DDR-Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen. In den Kellertrakt drang kein Tageslicht. Somit waren Tages- und Jahreszeit unbestimmbar. Auch der Kontakt zu Mithäftlingen fehlte. Eine Verständigung untereinander war nur durch Klopfzeichen möglich. Ehemalige Inhaftierte berichten von Halluzinationen, psychischen und depressiven Störungen, emotionaler Abstumpfung und extremer Sensibilisierung für Geräusche und visuelle Reize.(4)

Zurück in den Untergrund des Staatlichen Instituts für Musikforschung. Komplett dunkel ist es im reflexionsarmen Raum glücklicherweise nicht, in der Ecke baumelt eine Kellerlampe. Der Druck auf den Ohren ist unangenehm, als wären sie mit Watte ausgestopft. Dazu kommt ein tinnitusartiges Pfeifen. Überdeutlich nehme ich die Geräusche meines Körpers wahr. Trotzdem fühle ich mich auch geborgen zwischen dem ganzen Schaumgummi.

Ich habe eine Uhr dabei, ansonsten würde es mir schwer fallen, die Zeit einzuschätzen. Abgeschirmt von Tageslicht und Luft vergeht sie schneller als sonst. Mittlerweile sind 25 Minuten vorbei. Obwohl eigentlich unmöglich, bilde ich mir ein, Geräusche von draussen zu hören, wie von einem Spielplatz. Sind das schon Halluzinationen? Das Kratzen meines Bleistifts auf dem Papier beruhigt mich. Ein Institutsmitarbeiter schaut aus Sicherheitsgründen kurz herein. Nachdem er die Türen wieder geschlossen hat, verstärkt sich das Rauschen in meinen Ohren. Zehn Minuten später breitet sich ein leichter Kopfschmerz aus. Ich spüre meinen Herzschlag. Mein linkes Augenlid beginnt zu zucken.

Wenn keine Geräusche zu hören sind, wie hier im schalltoten Raum, ist die Zeitwahrnehmung gestört. Auch für die Halluzinationen gibt es eine rationale Erklärung. Da das Gehirn auf permanente Stimulation angewiesen ist, entladen sich die Nervenzellen immer wieder selbst. So entstehen die «künstlichen» Bilder.(5)  Davon berichten auch Probanden, die an dem BBC-Versuch Total Isolation teilnahmen. 48 Stunden lang verbrachten sie abgeschirmt in völliger Dunkelheit in einem Bunker. Währenddessen sahen sie Autos, Schlangen oder auch Zebras. Über 60 Jahre nach den ersten Forschungen sind die Folgen der Isolation offenbar noch nicht vollständig untersucht.

Eigentlich sehnen wir Grossstädter uns nach Stille. Sooft es möglich ist, versuchen wir uns eine Auszeit zu nehmen von Lärm und Stress. Hier – mitten in der Innenstadt – ist es nun endlich vollkommen still. Und das ist kaum zum Aushalten.

Mittlerweile ist eine Stunde vergangen. Der permanente Druck auf den Ohren, der auch durch Gähnen nicht verschwinden will, und das Tinnitus-Piepen lassen nicht nach. Ich muss wieder raus, in die Wirklichkeit. Ich wuchte die Schaumgummipolsterung und die schwere Tür zur Seite, laufe die Wendeltreppe nach oben, vorbei am Pförtner, und darf endlich wieder frische Luft atmen. Die Sonne blendet. Ich kneife die Augen zusammen und denke: Wie viel mehr muss Gefangenen nach Tagen, Monaten oder Jahren das Tageslicht bedeuten als mir jetzt!

Anmerkungen
1 Vgl. Schmidgen, Henning, Camera Silenta. Time Experiments, Media Networks, and the Experience of Organlessness, in: Osiris, Vol. 28, No. 1, Music, Sound and Laboratory from 1750-1980, University of Chicago Press 2013, S. 171 ff.
2 Vgl. zu diesem Absatz: Koenen, Gerd, Camera Silens. Das Phantasma der «Vernichtungshaft», http://www.gerd-koenen.de/pdf/Camera_Silens.pdf, S. 8 ff., zugegriffen am 19.05.2014.
3 Vgl. Mausfeld, Rainer, Psychologie, «weisse Folter» und die Verantwortlichkeit von Wissenschaftlern, in: Psychologische Rundschau, 60 (4), Göttingen 2009, S. 233.
4 Vgl. Lazai, Christina; Spohr, Julia; Voss, Edgar, Das zentrale Untersuchungsgefängnis des kommunistischen Staatssicherheitsdienstes in Deutschland im Spiegel von Opferberichten, http://www.stiftung-hsh.de/downloads/CAT_212/ZZ-InterviewauswertungMGB-MfSONLINE.pdf, zugegriffen am 18.05.2014.
5 Vgl. Kasten, Erich, Psychologisches Phänomen: Wenn das Hirn sich auf einen Trip macht, http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/psychologisches-phaenomen-wenn-das-hirn-sich-auf-einen-trip-macht- a-795483.html, zugegriffen am 19.05.2014.
 

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(No) sound is innocent?

Der brummende Kühlschrank als Zeitdokument – Die Stille in Aufnahmen frei improvisierter Musik re-listened.

Der brummende Kühlschrank als Zeitdokument – Die Stille in Aufnahmen frei improvisierter Musik re-listened.

Hustendes Publikum, vor dem Konzertsaal vorbeifahrende Motorräder, nervöses Stühlerücken – auf Aufnahmen frei improvisierter Musik aus der Zeit um die Jahrtausendwende bilden solche Nebengeräusche deutliche Ausschläge auf der Dynamikkurve, die ansonsten ohne grosse Veränderung bleibt. Hört man diese Aufnahmen heute, fällt sofort frappierend ins Ohr, dass der Stille darin eine enorm grosse Relevanz zugemessen wird. Egal, ob es sich um Aufnahmen aus London, der Schweiz, Berlin oder Japan handelt, überall überlagert das Raumgeräusch mit einer fast impertinenten Dominanz das eigentliche musikalische Geschehen, das sich zart verästelnd darunter ausbreitet, als wolle es sich im selbst geschaffenen Dickicht verstecken.

Liest man Zeitzeugenberichte, wird der Eindruck bestätigt, dass das Phänomen grassierte. Als regelrecht zwanghaft wird heute empfunden, dass die Musiker damals nicht nur fast ausnahmslos sehr leise spielten, sondern auch über weite Strecken explizit nicht spielten. Das Diktat der Stille verwandelte den Konzertsaal in eine Kathedrale, in der unbedingt Andacht gehalten werden musste – atmen also möglichst unauffällig und geräuschlos, keine raschelnden Jacken tragen, Gespräche ausnahmslos einstellen. Und dann lauschte man dem Konzert oder vielmehr: dem Barkühlschrank, der das Konzert um einige Dezibel übertönte.

Es ist kaum nachvollziehbar, wie ausgerechnet die Stille ihre leise, aber sehr bestimmte Herrschaft für einige Zeit über ein musikalisches Subgenre beanspruchte, das ansonsten gerade dafür bekannt ist, jeglichen Dogmatismus lauthals abzulehnen. Begibt man sich auf die Suche nach den Ursprüngen der Entwicklung, verlieren diese sich schnell in Mythen und Legenden. Im Falle der japanischen Onkyō-Bewegung(1) erzählt man sich, dass der hauptsächliche Konzertort der Szene in einem Wohnhaus lag und man deshalb zunächst aus Rücksicht leise spielen musste, bis schliesslich ein Stil daraus wurde, den man aus Gewohnheit übernahm. Geschichten wie diese sind letztlich symptomatisch für die Protagonisten der freien Improvisation, die seit jeher ein Unbehagen zu verspüren scheinen, wenn ihre Musik beschrieben wird. Da aber sowohl im Onkyō als auch im sogenannten Berliner Reduktionismus zeitgleich auf ähnliche Art sehr leise oder gar nicht gespielt wurde, ebenso wie in anderen Metropolen mit frei improvisierender Szene, liegt ein gemeinsames Motiv für die Erforschung der Stille zumindest nahe.

Mitte der 1990er-Jahre existierte die Idee der freien Improvisation seit ungefähr 30 Jahren. In den 60ern durch Gruppen wie AMM oder das Spontaneous Music Ensemble in Grossbritannien ausgerufen, war die Musik im Anfang ein Reflex auf die absolute Determination im Serialismus, während die anti-intellektuelle Haltung ihrer Protagonisten im unbändigen Gestus des Free Jazz wurzelte. Die Musik war im Ursprung laut, geprägt von lang ausgehaltenen Tönen in extremen Lagen mit hohem Geräuschanteil, atonal und durch Verwendung von found objects häufig der musique concrète näher als dem Jazz: ein enfant terrible, das grundsätzlich immer dorthin abbog, wo es möglichst unbequem war und wo es keiner erwartete. Von Eddie Prévost, Mitbegründer von AMM, existiert das geflügelte Wort «No sound is innocent», kein Klang ist unschuldig – und genau so wurden die Klänge auch behandelt.

Möglicherweise liegt die Zuwendung zur Stille ebenfalls in diesem Ausspruch begründet. Ist nicht die freie Improvisation mit ihrem Grundsatz des spontanen und instantanen Musizierens schon immer auf der Suche nach dem «unschuldigen», ungehörten, neuen Klang? Was, wenn ihre Protagonisten irgendwann kollektiv das Gefühl hatten, alle Experimente im Bereich der schrägen und lauten Töne durchgeführt zu haben – und nun der einzige verbleibende Weg in die unerforschte Stille führte? Womöglich hallen in Prévosts Satz auch ältere Ideen nach, welche die Flucht ins kaum Hörbare bereits antizipiert haben: die von Adorno festgestellte Korruption alles («schön») klingenden Materials nach Auschwitz etwa oder das Konzept der Stille als vom Ego gereinigter Klang bei Cage.

Es ist denkbar, dass die Veränderungen durch dahingehende Überlegungen ausgelöst wurden. Das Dilemma der Musik der Postmoderne und der freien Improvisation gleichermassen ist, dass alles, was erklingt, notwendig über Historizität verfügt und mithin niemals grundlegend frei sein kann. Die Protagonisten der freien Improvisation sind sich darüber im Klaren – wollte man Böses unterstellen, könnte man behaupten, der ganze Stil gestalte sich als ein einziger exaltierter Eskapismus, immer auf der Flucht vor der erschütternden Erkenntnis, dass er sein eigenes, namensgebendes Versprechen nicht einhalten kann. Falls man also annimmt, dass hier tatsächlich so etwas wie der Motor der freien Improvisation liegt, liesse sich von teleologischer Notwendigkeit sprechen, dass sich ein solch radikales Genre früher oder später der Stille zuwenden musste.

Letztlich ist der Sachverhalt sicher wesentlich komplizierter und es gibt nicht einen Grund allein, sondern die Antworten auf eine entsprechende Frage wären bei den unterschiedlichsten Musikern unfassbar vielfältig. Vielleicht war die rein ästhetische Idee ausschlaggebend, dass der Einzelklang durch eine dominantere Stille grössere Relevanz, Ereignischarakter, erhält und dadurch der Fokus gar nicht mehr auf der Stille läge, sondern wiederum auf dem vereinzelten Klang? Waren heilvolle Versprechungen des in jeglicher Hinsicht radikalen Minimalismus ausschlaggebend, die man in der formalen Strenge zu erkennen glaubte? Oder ging es doch um die Kommunikation unter den Musikern, die in der absoluten Stille ganz neue Kanäle des intentionslosen Austauschs erprobt haben?

Die Aufnahmen geben darüber keine Auskunft. Sie sind stille Dokumente einer Zeit, in der sich die freie Improvisation in einem Umbruch befand, der gleichzeitig Sinnkrise und kreative Hochphase war. Heute, da frei improvisierte Konzerte sich wieder aus der Stille als ihrem ausschliesslichen Habitat gelöst haben, klingen sie beklemmend, rätselhaft und in ihrer unbedingten Naivität tatsächlich irgendwie – unschuldig.

Anmerkung
1 Die Onkyō-Bewegung (jap. Onkyōkei) praktiziert eine bestimmte Form freier Improvisation und entstand Ende der 1990er-Jahre. Der Begriff Onkyō lässt sich als Geräusch, Krach oder Echo übersetzen, die Musik legt mehr Wert auf Klangtexturen denn auf musikalische Struktur und bezieht Elemente unterschiedlicher Stile wie elektronischer Musik oder Noise mit ein. Wichtige Vertreter des Onkyō sind Otomo Yoshihide, Sashiko M. und Taku Sugimoto.
 

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Stille – ausgerechnet in der Musik

Der Advent nennt sich gern «stille Zeit». Die Stille ist allerdings schwer zu fassen, auch in der Musik.

Oleg Kozlov – Fotolia.com
Stille - ausgerechnet in der Musik

Der Advent nennt sich gern «stille Zeit». Die Stille ist allerdings schwer zu fassen, auch in der Musik.

Zehn junge Autorinnen und Autoren haben vergangenen Winter im Rahmen einer Weiterbildung den CAS Musikjournalismus der Forschungsabteilung der Hochschule für Musik/FHNW besucht. Zum Abschluss verfassten sie Essays über die Stille, von denen wir vier in der Dezemberausgabe drucken, zwei davon in französischer Übersetzung. Illustriert werden die Texte mit Bildern von Kaspar Ruoff, in die man hineinhorchen kann.

Alle Essays finden sich hier, auf unserer Website. Dies auch in Hinblick auf das internationale Symposium Stille als Musik, das die Hochschule für Musik und das Musikwissenschaftliche Seminar vom 12. bis 14. Dezember in Basel veranstalten (www.musikforschungbasel.ch).

Sie gelangen zu den einzelnen Essays, indem Sie den jeweiligen Titel im untenstehenden Textfeld anklicken.

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Stille

Stille Nacht, Stille in der freien Improvisation, der stillste Ort der Welt, wo einem fast bang wird … – Junge Musikjournalistinnen und -journalisten haben sich mit dem Phänomen «Stille» in verschiedensten Ausprägungen beschäftigt. Wir präsentieren ihre Essays, die in einem Nachdiplom-Studiengang der Fachhochschule Nordwestschweiz entstanden sind.

Stille

Stille Nacht, Stille in der freien Improvisation, der stillste Ort der Welt, wo einem fast bang wird … – Junge Musikjournalistinnen und -journalisten haben sich mit dem Phänomen «Stille» in verschiedensten Ausprägungen beschäftigt. Wir präsentieren ihre Essays, die in einem Nachdiplom-Studiengang der Fachhochschule Nordwestschweiz entstanden sind.

Focus

… und ausserdem

RESONANCE


La voix d’ange de Fritz Albert Warmbrodt

Si loin, si proche : Susanne Abbuehl et Elina Duni au festival Jazzonze+

«Wichtig ist das Schaffen von Perspektiven»
Interview mit Balthasar Glättli, Präsident von Swiss Music Export

Comment fait-on chanter des enfants pour l’éducation ?
Des classes en Suisse romande et au Burkina Faso créent des chansons

Carte blanche: Hans Brupbacher zur Zukunft der SMZ

Rezensionen Klassik, Rock und Pop – Neuerscheinungen
 

CAMPUS


PreCollege Musik der ZHdK

Rezensionen Unterrichtsliteratur – Neuerscheinungen

klaxon Kinderseite
 

FINALE

Rätsel: Michael Kube sucht

 

 

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Jazzig – oder doch klassisch?

Kurze Stücke für Oboe und Fagott von Mathias Rüegg und Jean-François Michel. Nicht alle ohne Titel, aber alle mit Humor.

First, second oder third wife? Foto: Günter Havlena / pixelio.de
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Das kürzeste Stück der vorliegenden vier Hefte trägt selbstbewusst den Namen untitled, but lovely. Der Komponist Mathias Rüegg (*1952) entscheidet sich weder im Vorwort noch im Notentext, ebensowenig wie vor hundert Jahren George Gershwin, wie seine Musik gespielt werden sollte, «klassisch» oder «jazzig» phrasiert. Gershwin forderte «klassisch», spielte aber (gemeinsam mit seinen Bands) in seinen eigenen Aufnahmen alles andere als klassisch. Rüegg formuliert Offenheit: «Komponisten (wie ich) liefern Vorschläge und legen keinen Wert auf Werktreuefetischismus.»

Eine Durchsicht seiner beiden Stücke zeigt einen ausnehmenden Sinn für Humor: Die drei ineinander übergehenden Teile der Fagottkomposition farmers & wives sind als «first wife», «second wife» und «third wife» überschrieben – wobei der dritte Teil viele Elemente einer Reprise des ersten enthält. Jeder soll das so interpretieren, wie er will! Hinter der «second wife» verbirgt sich ein inspiriertes Recitativo, in dem auch mal «mit viel schonem Ton» (sic!) gespielt werden soll.

Eine unprätentiöse Miniatur in Satie-Manier ist der langsame Walzer, das eingangs erwähnte untitled, but lovely für Oboe und Klavier, dessen Schluss deutlich gewinnt, wenn er auf dem Englischhorn gespielt wird – dies ist in den Noten nicht vorgesehen, in der Aufnahme des Widmungsträgers kann man es aber so hören. Es lohnt sich, Rüeggs Musik mit viel Sorgfalt und Intensität zu begegnen, dann kommt sie zu einer intimen und oft doppelbödigen Wirkung!

Mathias Rüegg, farmers & wives (1995), für Fagott und Klavier, D 05 563, € 15.95, Doblinger, Wien 2012

Mathias Rüegg, untitled, but lovely (1995), für Oboe und Klavier, D 05 266, € 13.95, Doblinger, Wien 2012

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Als vielteilige Serie angelegt, möchten die Bagatellen von Jean-François Michel (*1957) unterhalten und «Humor, Parodie oder Spott freien Lauf lassen». Der Komponist reiht sich damit in die französische Tradition der luziden, klaren und tonalen Tonsprache des Neoklassizismus etwa eines Henri Tomasi oder Jean Françaix ein. Sowohl die jeweils zehnminütigen Fagott- als auch die Oboenbagatellen sind für interessierte Liebhabermusiker und -musikerinnen problemlos zugänglich und können sich, mit klanglicher Raffinesse gespielt, lyrisch und virtuos wirkungsvoll entfalten. Besonders erwähnenswert sind die langsamen Mittelsätze: Eine barockisierende Siciliana (Fagott) und ein Adagio misterioso (Oboe) sorgen für intensive und berührende Momente.
 

Jean-François Michel, 3 Bagatelles (2011), für Oboe und Klavier, OB 12, Fr. 15.00. Editions Bim, Vuarmarens 2012

Jean-François Michel, 3 Bagatelles (2013), für Fagott und Klavier, FG6, Fr. 15.00, Editions Bim, Vuarmarens 2013

Eine Wiederentdeckung wert

In einer repräsentativen Aufnahme kirchenmusikalischer Werke setzt das Ensemble Corund Johann Baptist Hilber ein Denkmal.

Ensemble Corund vor der Luzerner Hofkirche. Foto: zvg

«… mein ganzes bisheriges Leben [stand] im Zeichen dieses Klangwunders, das wir Musik nennen. Ich bin Musiker gewesen mit jedem Nerv, mit jedem Blutstropfen …» Das schrieb Hilber 1963, kurz nach der Vollendung seiner letzten Komposition, der Missa a cappella Vox clamantis in deserto. Seine ganz persönliche Wüste war eine Schwerhörigkeit, die schon in jungen Jahren begonnen hatte und die sich kontinuierlich verschlimmerte.

Trotzdem schuf Hilber ein reichhaltiges Œuvre und wurde vor allem mit seiner Kirchenmusik (verbreitet etwa die Missa pro Patria) über die Landesgrenzen hinaus bekannt. 1891 in Wil geboren, wirkte er ab den 1920er-Jahren bis zu seinem Tod 1973 in Luzern. Neben seiner kompositorischen Tätigkeit war ihm die pädagogische wichtig: Er gründete unter anderem die Katholische Kirchenmusikschule Luzern (heute Teil der Musikhochschule) und stand ihr bis 1967 vor, war Direktor der Luzerner Gesangsvereine und Mitredakteur musikalischer Zeitschriften. Er war Träger zahlreicher Ehrentitel und Preise, von denen hier nur der Titel eines Ehrendoktors der Universität Freiburg erwähnt sei.

Als Stiftskapellmeister an der Hofkirche St. Leodegar in Luzern fand Hilber ab 1934 ein ideales Wirkungsfeld. In eben dieser Kirche wurde die CD aufgenommen. Stephen Smith erweiterte sein professionelles Ensemble mit zehn Berufsmusikerinnen und -musikern und fünf ausgewählten Amateuren (ein gelungenes Experiment!), um so den Chor zu bilden, der wohl dem Komponisten vorgeschwebt haben mag. Der kongenial musizierende Titulaire Wolfgang Sieber setzte seine Orgel farbig und immer unterstützend ein, tadellos auch die Solistinnen Gabriela Bürgler und Anne Montandon und die Solisten Ross Buddie und Marcus Niedermeyr.

Hilbers spätromantische Klangwelt ist agogisch und dynamisch nuancenreich erstanden; die wunderschöne CD wird hoffentlich in vielen nacheifernden Chören ihre Wirkung entfalten.

 

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Johann Baptist Hilber: Chorwerke. Ensemble Corund, Leitung Stephen Smith; Wolfgang Sieber, Orgel.
Spektral SRL4-13121

Zwei Visitenkarten

Über die Musik hinausgreifen, wollen die Projekte der Klavierklasse von Patricia Pagny. Das wird nicht wirklich deutlich, die CDs zeigen aber ansprechende Programme.

Ausschnitt aus dem CD-Cover von «Entre la France et le Japon»,Tanja Biderman,Tomomi Hori,Patricia Pagny

Patricia Pagny, Klavierprofessorin an der Hochschule der Künste in Bern, ist Initiatorin des «Tasti’Era»-Projektes, das durch Interdisziplinarität neuen Wind in die Klassikszene bringen möchte. Ihr erklärtes Ziel ist es, musikalische Auftritte durch die Verknüpfung mit anderen Künsten attraktiv, vielseitig und ansprechend für das Publikum zu machen. Als greifbares Ergebnis und Visitenkarte sind bis jetzt allerdings nur zwei CDs entstanden, die trotz ansehnlicher Qualität kaum als bahnbrechend zu bezeichnen sind. Pagnys Klavierklasse spielt darin zwei gut geschnürte Programme ein, die sich aber nicht von gewöhnlichen Motto-CDs abheben.

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Ausgehend vom starken Einfluss der japanischen Malerei auf die französischen Künstler am Ende des 19. Jahrhunderts begibt sich die Klasse auf der CD Entre la France et le Japon auf die Suche nach etwas Vergleichbarem in der Musik. Tatsächlich gelingt eine überzeugende Gegenüberstellung durch eine treffende Stückwahl. Toshio Akaishi und Toru Takemitsu gewähren einen Einblick in die japanische Kompositionskultur, und durch mehr oder weniger bekannte französische Vertreter von Maurice Ravel bis Jean-Jacques Werner werden sehr bald Unterschiede, aber auch weitreichende Gemeinsamkeiten deutlich. Die meist atmosphärisch-schwebenden Werke, grenzen sich vornehmlich durch unterschiedliche Klangflächenstrukturen voneinander ab, die auf die verschiedenen Kulturkreise zurückzuführen sind. Das Prélude La Puerta del Vino von Claude Debussy mit seinen starken spanischen Einflüssen fällt da aus der Reihe, durch seine sehr schöne, thematisch aber unpassenden Klangwelt. Drei Ersteinspielungen, Jean-Jacques Werners Madigan Square, Toshio Akaishis A Heavy Cloud Drips in the North Winter’s Sky und The blue moon is rising from beyond a mountain ridge, weisen kompositorische Finesse und Individualität auf; bei Akaishi finden sich teilweise ausdrucksstarke und farblich überschwängliche impressionistische Elemente. Die Interpretinnen sind überzeugend und werden den Werken gerecht; neben Patricia Pagny selbst, welche als Mentorin qualitativ heraussticht, ist Mrika Sefa besonders hervorzuheben, die mit einer besonderen Ausdrucksstärke und Sensibilität für Phrasen und Zeit Poulencs Improvisation XIII und Takemitsus Song of love darbietet.

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In der zweiten CD Bern-Thun-Interlaken, véritable source d’inspiration wird das Spiel der Assoziationen weitergespielt, allerdings recht lose. Die vier miteinander eng verbundenen Komponisten (Ehepaar Schumann, Brahms und Mendelssohn) haben zwar alle die genannte Gegend gekannt und geschätzt, aber nur eines der aufgenommen Werke ist tatsächlich hier entstanden: Drei Fantasiestücke op. 111 von Schumann. Tanja Biderman eröffnet die Aufnahme mit der für den Anfang sehr intelligent gewählten Toccata op. 7 von Robert Schumann, einem Stück, das so schwer ist, dass nur wenige Pianisten es in ihr Repertoire aufnehmen können oder wollen. Es wird überraschend souverän und mit erleichternd wenig Betonung der Technik gemeistert, was sich auch bei Mendelssohns Variations sérieuses und Brahms’ Intermezzo op. 118 Nr. 6 nicht ändert. Dass direkt darauf die Intermezzi op. 117 von Brahms, gespielt von Tomomi Hori, erklingen, zeigt genauestens die Unterschiede der beiden Pianistinnen. Während Biderman Brahms ausholend, mit viel Rubato und Pathos vorträgt, gönnt sich Hori nicht viele Freiheiten, spielt streckenweise beinahe hölzern. Solche divergierende interpretatorische Auffassungen werden im Laufe der CD weiter sichtbar. Die Gesamtqualität bleibt trotzdem sehr hoch, besonders zu loben ist die Auffassung eines runden Klanges und die merkliche Hinwendung an die interne Logik der Kompositionen, die bei allen Unterschieden nie ins Willkürliche abgleitet.

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Schumann: Toccata op. 7
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Brahms: Intermezzo op.117, 2
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Der Saal der Hochschule der Künste Bern an der Papiermühlestrasse scheint aus allen Nähten zu platzen. Das Thema bewegt, und dies in vielfacher Hinsicht: Musizieren im Alter, das kann eine Chance sein für Menschen, ihren Lebensabend (oder bereits den -spätnachmittag) mit Emotionen und guten Erlebnissen zu füllen. Es kann für diejenigen, die ein Leben lang musiziert und sich damit ihr Auskommen erwirtschaftet haben, aber auch ein schmerzvoller Prozess des Loslassens und des Abbaus bedeuten. Das jährliche Symposium der Schweizerischen Gesellschaft für Musik-Medizin, das sich diesen Aspekten der klingenden Kunst angenommen hat, kann eine Rekordbeteiligung vermelden.


Ein zuversichtliches Zeichen setzt in dieser Hinsicht gleich zu Beginn das Trio Poetico, drei Holzbläser, die früher unter anderem im Scheinwerferlicht des Tonhalle Orchesters gesessen sind, sich auch nach der Pensionierung künstlerisch auf exzellentem Niveau weiterentwickeln und neues Repertoire entdecken, etwas die faszinierende Musik des brasilianischen «Messiaen» Heitor Villa-Lobos.


Dass sich einiges mit Blick aufs Musizieren im Alter geändert hat, bekräftigen in ihren Referaten die Medizinerin Maria Schuppert vom Zentrum für Musikergesundheit der Hochschule für Musik Detmold und der Zürcher Neuropsychologe Lutz Jäncke. Bis vor nicht allzu langer Zeit sind die menschlichen Fähigkeiten zum Erwerb neuer Fertigkeiten bis ins hohe Alter unterschätzt worden. Nicht zuletzt die Arbeiten von Jäncke und seinen Kollegen in Sachen Hirnplastizität zeigen jedoch, dass auch mit weissen Haaren bei durchschnittlicher Gesundheit weit mehr Ressourcen abgerufen werden können, als man auch vor noch nicht allzu langer Zeit geglaubt hat. Selbst auf hochklassige Ausdruckmöglichkeiten muss man dabei keineswegs verzichtet werden, huldigt man nicht einem Jugendlichkeitsideal, sondern begreift man die Kennzeichen des eigenen Alters als originale Eigenheiten.


Natürlich lassen die Sinne im Alter nach, das Gehör, die Augen; auch die Stimme ändert sich. Die männliche etwa wird höher, verliert in der Höhe aber aufgrund physiologischer Abbauprozesse an Umfang, wie Eberhard Seifert, der Leitende Arzt Phoniatrie der Universitäts-HNO-Klinik des Berner Inselspitals aufzeigt. Und wäre es früher undenkbar gewesen, mit einem Hörgerät in einem Ensemble mitzutun, hat die moderne Technik so grosse Fortschritte gemacht, dass selbst mit den entsprechenden Beeinträchtigungen ein Mitsingen im Chor oder Mitspielen im Orchester noch möglich ist, wie der Hörakustik-Meister Michael Stückelberger darlegt.


Die gestärkte Zuversicht bekommen auch die Musikschulen zu spüren, die sich auf immer mehr Musikschülerinnen und -schüler im dritten Lebensabschnitt einstellen können. Von einem Forschungsprojekt «Mach dich schlau – Lern- und Lehrstrategien im Instrumentalunterricht 50plus» der Berner Hochschule der Künste (HKB) und des Instituts Alter der Berner Fachhochschule berichtet in einem Workshop die Musikerin und Journalistin Corinne Holtz, die an der HKB auch den CAS «Musikalisches Lernen im Alter» leitet. Und der selber in die Jahre gekommene Chorleiter Karl Scheuber zeigt, wie mit altersgerechten Einsingübungen und kluger Repertoirepflege auch im hohen Alter kollektives Singen zur Lebensqualität beitragen kann.


Mittlerweile gibt es, worauf Hans Hermann Wickel vom Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Münster hinweist, sogar ein dediziertes Fachgebiet zum Thema, die Musikgeragogik. Sie soll Musikangebote für hochaltrige, eventuell multimorbide oder dementiell veränderte Menschen optimieren und die Möglichkeiten in der Palliativmedizin ausloten.


Gespräche am abschliessenden Apero des Symposium zeigen, dass neben Fachleuten durchaus auch interessierte Aussenstehende, die auf der Suche nach Möglichkeiten einer musikalische Betätigung auf fortgeschrittenem Lebensweg den Anlass besucht haben – ein Hinweis darauf, dass dazu eine spezielle Anlaufstelle einem Bedürfnis entsprechen könnte.


Thunerseespiele ausgezeichnet

Anfangs Dezember erhielten die Thunerseespiele einen Ehrenpreis für ihr Engagement in der Region.

Foto: Thunerseespiele

Die Jury des «Thunersee-Sterns», einer Auszeichnung, die das Qualitätsbewusstsein und die Innovationskraft bei den Leistungsträgern der Region fördern will, ehrte die Thunerseespiele für ihre langjährige Arbeit. Mit dem Export von Der Besuch der alten Dame – das Musical nach Wien hätten die Thunerseespiele dieses Jahr das geschafft, was zuvor noch keinem Schweizer Musicalproduzenten gelungen sei: ein Schweizer Musical erfolgreich international zu platzieren.
Nachdem Der Besuch der alten Dame – das Musical vor rund zwei Monaten alle Publikumspreise der Fachzeitschrift musicals abräumte, erhielt der Thuner Kulturbetrieb in seiner Heimat nun noch am 2. Dezember diesen speziellen Ehrenpreis.

 

Luzerner Musikwagen ausgezeichnet

Als eines von vier kulturellen Projekten erhält der Musikwagen des Luzerner Sinfonieorchesters (LSO) den Zentralschweizer Förderpreis des Migros-Kulturprozents. Der Preis ist mit 15‘000 Franken dotiert.

Foto: Ingo Höhn, © Luzerner Sinfonieorchester.

Der Holzwagen ist Anfang 2014 auf gemeinsame Initiative des LSO und der Drosos Stiftung zu dem Zweck gebaut worden, klassische Musik ausserhalb des kulturellen Zentrums der Stadt Luzern und des KKL Luzern anzubieten und musikalische Entdeckungen und Aktivitäten in die Dörfer und Städte der Zentralschweiz zu bringen. Der Wagen dient dabei als fahrende Bühne und wird zum Hörraum und zur Begegnungsstätte.

In den Werkstätten werden Schulklassen unter der Leitung von Künstlern selber zu Komponisten und Musikern. Seit der Eröffnung des Musikwagens im Juni 2014 war die mobile Konzertbühne bereits an der Kantonsschule Seetal, der Schule Hasle, dem Institut Rhaetia Luzern, der Montessori-Schule Luzern und am Kinderkulturfest in Kriens. Schüler wurden angeleitet, bewusst hinzuhören auf Klänge und Geräusche in der Umgebung und in der Musik. Abgeschlossen wurde jede Projektwoche mit einem öffentlichen Konzert.

Der Zentralschweizer Förderpreis des Migros-Kulturprozent wird an kulturelle Institutionen und Kulturschaffende verliehen, die «die Kulturwelt in der Zentralschweiz auf vielfältige Weise bereichern und leistet damit eine finanzielle Unterstützung für aufwendige und aussergewöhnliche Projekte». Dabei erfüllt der Musikwagen die Vergabekriterien der Erreichung eines breiten Publikums in Randregionen und der Musikvermittlung im Austausch zwischen Laien und Profis.

Die vier Projekte, die die siebenköpfige Jury aus rund 20 eingereichten Projekten heuer ausgewählt hat, vertreten die Sparten Film/Foto, Jugendtheater und Musik: Neben dem Musikwagen des Luzerner Sinfonieorchesters sind dies Luzern-Kosovo-retour des VorAlpentheaters Luzern (30‘000 Franken), The Big Picture Projekt von The Big Picture AG Alpnach (10‘000 Franken) und das Gasthaus Grünenwald in Engelberg (15‘000 Franken).
 

Bregenzer Festspiele suchen Mitwirkende

Auf der Seebühne wird vom 22. Juli bis 23. August 2015 Puccinis «Turandot» aufgeführt. Die Bregenzer Festspiele schreiben ein Casting für Statisten und Kleindarsteller aus.

Statisten in «André Chénier». Foto: Bregenzer Festspiele / Karl Forster,SMPV

Erneut können Opernfans in der kommenden Saison das Spiel auf dem See nicht nur von der Tribüne aus erleben, sondern als Statisten und Kleindarsteller selbst Teil der Inszenierung werden. Für die Oper Turandot suchen die Bregenzer Festspiele 34 Männer und Frauen, die während der Probenphase ab 11. Juni sowie an den Aufführungstagen bis einschliesslich 23. August zur Bregenzer Theaterfamilie am Bodensee gehören möchten. Voraussetzung ist eine Bewerbung über das Online-Formular auf der Festspiel-Internetseite sowie das erfolgreiche Abschliessen eines Castings.

Wer schon immer einmal die Zofe einer echten Prinzessin sein wollte und darüber hinaus über einen Sinn für tänzerische Gymnastik verfügt und ohne Höhenangst ist, hat gute Chancen, als Statistin in den chinesischen Hofstaat aufzusteigen. Das gleiche gilt für die «Persischen Mädchen» und die «Krankenschwestern», für die ebenfalls junge Frauen mit schauspielerischer Erfahrung gesucht werden. Aber auch ältere Damen sind laut Ausschreibung gewünscht, die als Kleindarstellerinnen in die Rolle der Krankenschwestern des Kaisers schlüpfen sollen. Ebenfalls sind Männerstatisten gefragt: Als Henkersknechte sollen diese über einen athletisch-muskulösen Körper verfügen und der Statist des Prinzen von Persien sollte zudem südländisch-exotisch aussehen.

Der Lohn ist neben einer finanziellen Vergütung vor allem das einzigartige Erlebnis, auf der weltgrössten Seebühne zum Teil einer einmaligen Theaterfamilie zu werden und Seite an Seite mit internationalen Künstlern auftreten zu können. Voraussetzungen:
– Mindestalter 18 Jahre
– Schwindelfreiheit
– schwimmen können
– durchgehend verfügbar sein während des Proben- und Aufführungszeitraums vom 11. Juni bis und mit 23. August, zum Teil wenn möglich auch tagsüber
– Schauspieltalent

Die Bewerbungsfrist endet am 7. Januar 2015. Hier geht es zum Online-Formular: http://bregenzerfestspiele.com/de/node/572

 

Weitere Informationen gibt es auf der Festspiel-Internetseite: www.bregenzerfestspiele.com
 

Hannover und Mannheim sind Städte der Musik

Hannover und Mannheim sind von der Unesco neu als Städte der Musik ins Netzwerk Creative Cities aufgenommen worden. Heidelberg als Stadt der Literatur. Abgelehnt worden sind die Bewerbungen von Essen und Weimar.

Musik auf dem Dach der Marienkirche, Mannheim. Foto: Dieter Schütz / pixelio.de

Die Unesco-Städte der Musik sind neben Hannover und Mannheim Sevilla, Bologna, Glasgow, Ghent, Bogota, Brazzaville und Hamamatsu.

Mitglieder des Netzwerks sind sogenannte Exzellenz-Zentren in einem der sieben Bereiche Film, Musik, Design, Gastronomie, Medienkunst, Handwerk oder Literatur. Sie unterstützen sich gegenseitig durch Kooperation und geben ihre Erfahrungen an andere kreative Städte oder Metropolen, vor allem in Entwicklungsländern, weiter.

Das Netzwerk unterstützt Städte dabei laut Eigencharakterisierung dabei, ihr kreatives Potenzial für die Stadtentwicklung zu nutzen. Schweizer Städte finden sich in dem Netzwerk nicht.

 

Lucerne Festival gewinnt einen Junge-Ohren-Preis

Im Kammermusiksaal der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart sind die diesjährigen Junge-Ohren-Preise des Netzwerks Junge Ohren vergeben worden. Eine der drei je mit 5000 Euro dotierten Auszeichnungen geht an das Projekt «Heroïca» des Lucerne Festivals.

Foto: Peter Fischli, Lucerne Festival

In der Kategorie Best Practice, Konzert wird das Lucerne Festival für «Heroïca» ausgezeichnet. Das inszenierte Konzert mit sieben jungen Mitgliedern der Lucerne Festival Academy verbindet musikalische Miniaturen in einer Revue. Spielfreude, Dynamik und Witz machten das Programm aus, das auch Mut zu leisen Tönen zeige, heisst es in der Mitteilung zum Preis.

Die Kategorie Best Practice, Partizipatives Konzert entschied das Klavier-Festival Ruhr mit «Ein Jahr mit György Ligeti» für sich. In einem inklusiven Ansatz setzten sich 165 Jugendliche in Duisburg-Marxloh schöpferisch mit der Musik des Komponisten auseinander und entdeckten im künstlerischen Prozess gleichberechtigte Formen der Zusammenarbeit.

Mit der Idee zu dem partizipativen Musiktheater «Die beste Beerdigung der Welt» überzeugten Regisseurin Verena Ries und das Quartett Plus 1 in der neuen Konzeptkategorie Labohr. Geplant ist eine kollektive Komposition im Raum zu Fragen nach dem Ende des Lebens. Musikalische und performative Elemente verschmelzen in der Interaktion mit dem Publikum zu einem poetischen Ritualhybrid.

Der Junge Ohren Preis wird seit 2006 vom Netzwerk Junge Ohren vergeben. Gefördert wird der Wettbewerb für junge Musikformate in seiner Best-Practice-Kategorie vom deutschen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und in der Kategorie Labohr von der Strecker Stiftung. Im nächsten Jahr feiert der Preis sein zehnjähriges Bestehen.
 

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