Seiler und Bucher gehen nach Chicago

Der Verein Städtepartnerschaft Luzern-Chicago hat an sechs Luzerner Kulturschaffende ein Atelierstipendium in Chicago vergeben. Darunter sind auch die Musikschaffenden Joan Seiler und Roland Bucher.

Blind Butcher. Foto: zvg

Mit dem von ihr skizzierten Thema «People of Color» setze sich die 1988 geborene Musikerin Joan Seiler «mit dem pulsierenden Schmelztiegel Chicago auseinander», schreibt die Stadt Luzern. Seiler nehme politische Themen auf und verarbeite sie spielend und komponierend. Sie pflüge ein breites musikalisches Terrain, das sie stets erweitere.

Roland Bucher (geboren 1976) ist die Rhythmusabteilung des Duos Blind Butcher, das in den letzten zwei Jahren in der Schweiz, in Deutschland oder Frankreich aktiv war. Als Mitbewohner im Künstlerhaus Das Gelbe Haus bewege sich der Musiker «in einem durchlässigen, kreativ-künstlerischen Kontext und arbeitet vielseitig und spartenübergreifend». Überzeugt hat die Jury sein Soloprojekt Noise Table.

Der Verein Städtepartnerschaft Luzern-Chicago unterhält seit dem 1. September 2001 in Zusammenarbeit mit Stadt und Kanton Luzern sowie mit Unterstützung von privaten Sponsoren in Chicago ein Wohnatelier, das Luzerner Kulturschaffenden zur Verfügung gestellt wird. Die Belegung des Ateliers für die Jahre 2020 und 2021 wurde Anfang dieses Jahres ausgeschrieben. Die Ausschreibung richtete sich an Kulturschaffende aller Sparten aus dem Kanton Luzern.

Über Tiermusik

Mathias Gredig rollt kulturhistorische und philosophische Fragen auf rund um eine Musik der Tiere vom Alten Ägypten bis ins 19. Jahrhundert.

Foto: Marek Michalsky/unsplash

Es ist ein ungemein gescheites Buch, gerade auch weil es der eigenen Gescheitheit kritisch gegenübersteht. Kaum vorstellbar, was für ein Wissen Mathias Gredig zum Thema Tiermusik zusammenträgt und doch bleibt er dabei skeptisch, methodisch getragen von der alles anzweifelnden, pyrrhonischen Skepsis der Antike: Können wir überhaupt sagen, ob Tiere Musik machen? Schliesslich müssten das ja die Tiere wissen. Was sich wohl die den Ägyptern heiligen Paviane dachten, wenn sie mit ihrem Geschrei/Gesang die Sonne begrüssten?

Mindestens so interessant ist freilich, wie sich die Menschen zu den Tieren und deren Musik verhielten. Dass Nachtigallen wunderschön singen, war allen klar, aber machen sie Kunstmusik? Nein, sagt Augustinus, weil sie nichts von den Zahlenverhältnissen und Intervallen verstünden. Seltsame Argumentation, aber durchaus typisch für Philosophen. «Darauf könnte einiges entgegnet werden», meint Gredig dazu vielsagend.

Das eine Beispiel zeigt schon, wie widersprüchlich und vielfältig unser menschliches Verhältnis zu den Tierlauten ist. Nicht nur lassen sich die Tonsysteme nicht miteinander vergleichen, die Ausdruckswelten sind völlig divers. Dieses Befremden schlug sich durch all die Jahrhunderte in zeichnerischen Karikaturen von musizierenden Eseln, Hunden, Gänsen und vor allem Affen nieder, aber auch in musikalischen Nachahmungen. Dabei kam es durchaus vor, dass da ein Künstler die Naturmusik dem Menschenlärm vorzog. Und manche Anekdote führt einmal mehr, wenig überraschend eigentlich, vor Augen, wie grausam das edle Menschengeschlecht mit den Tieren umging. Athanasius Kircher etwa berichtet von einer Katzenorgel: Den darin eingeschlossenen Tieren wurden dabei via Tastatur Nadeln in die Schwänze gestochen!

Das Quellenmaterial, das Gredig hier präsentiert, ist höchst disparat und reichlich. Der junge Musikwissenschaftler, der 2017 über das Thema in Basel dissertierte, legt nun ein überwältigendes Kompendium über «Tiermusik» vor. Es führt weite Wege, vom ältesten Altertum bis ins 19. Jahrhundert, von Pythagoras bis Thoreau und Alkan, von ptolemäischen Skulpturen bis zu Grandville, und schliesslich bis in unsere Tage, es ist manchmal auch weitschweifig, aber stets lehrreich, lädt zum Sich-Verlieren ein, zieht nebenher auch einige Gewissheiten in leisen Zweifel – und ist insgesamt doch leicht, ja amüsant zu lesen.

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Mathias Gredig: Tiermusik. Zur Geschichte der skeptischen Zoomusikologie; 506 S., € 64.00, Königshausen & Neumann, Würzburg 2018, ISBN 978-3-8260-6468-5

Schweizer Kleinkunstpreis geht an Knuth und Tucek

Das Zürcher Kabarett-Duo Knuth und Tucek wird auf Empfehlung der Eidgenössischen Jury für Theater mit dem mit 40’000 Franken dotierten Schweizer Kleinkunstpreis 2019 ausgezeichnet. Nominiert waren auch der mobile Märchenzirkus Nicole & Martin und die Komödiantin Marjolaine Minot.

Knuth und Tucek. Foto: © Sabine Rock

Das Duo Knuth und Tucek sind die Schauspielerin Nicole Knuth, aufgewachsen in Küsnacht in einer Theaterfamilie mit Wiener Wurzeln, und die Sängerin Olga Tucek, mit tschechischen Wurzeln aufgewachsen in Zürich und ausgebildet als klassische Sängerin. Sie bearbeiten laut dem Bundesamt für Kultur «in dramaturgisch geschickt gebauten Szenarien und Geschichten kritisch, aber auch lustvoll, alltägliche Missstände wie Machtmissbrauch oder gesellschaftliche Ungerechtigkeiten».

Der Schweizer Kleinkunstpreis wurde 1993 von Thuner Initianten als «Goldener Thunfisch» ins Leben gerufen. Später wurde er von der KTV ATP – Vereinigung KünstlerInnen – Theater – VeranstalterInnen, Schweiz, unter dem heutigen Namen übernommen und ausgerichtet. Seit 2015 ist der Kleinkunstpreis Bestandteil der Schweizer Theaterpreise und wird im Rahmen der Schweizer Künstlerbörse verliehen.

Bernstein – ein grosser Komponist?

Der Laaber-Verlag widmet Leonard Bernstein ein Kompendium, das sein kompositorisches Werk ins Zentrum rückt.

Leonard Bernstein 1955. Foto: Al Ravenna / Library of Congress

Das Jubiläumsjahr zu Leonard Bernstein (1918–1990) hat es eindrücklich gezeigt: Die Faszination für diesen Ausnahmemusiker ist ungebrochen; hoch gehandelt wird er nach wie vor als exzentrischer Dirigent und als Wiederentdecker der Musik Gustav Mahlers. Und der Komponist? Der Laaber-Verlag hat nun Bernstein und seiner kompositorischen Tätigkeit in all ihren Facetten einen Band seiner renommierten Buchreihe «Grosse Komponisten und ihre Zeit» gewidmet. Es ist ein staunenswertes Unterfangen, das «Enfant terrible» der Szene in einer Reihe mit so bedeutenden Exponenten wie Beethoven, Brahms oder Mahler zu präsentieren. Doch gerade darin liegt der Reiz dieses Kompendiums: in der sachlichen, musikwissenschaftlichen Annäherung. Es ist keine Biografie, das Buch besteht vielmehr aus Fachaufsätzen zu ausgewählten Themen, fünf davon sind dem Komponisten Bernstein gewidmet, fünf weitere einzelnen Werken wie den wunderbaren Chichester Psalms.

Und da gibt es wahrlich vieles zu entdecken; zumal am Anfang der Essay von Gregor Herzfeld «Auf der Suche nach einer amerikanischen Musik» die Anfänge klassischer Musikproduktion in den USA thematisiert. Ulrich Wilker widmet sich in «Krisenszenarien und Weltanschauungsmusik» Bernsteins sinfonischem Schaffen, Nils Grosch erläutert dagegen dessen «Musical Comedies». Natürlich dürfen auch Betrachtungen zum Dirigenten Bernstein und zu dessen «Vermittlung von Musik in Film und Fernsehen» – lange vor der Education-Welle – nicht fehlen. Seine Rolle bei der Mahler-Pflege wird ebenfalls kritisch reflektiert.

Ergänzt wird das Buch durch eine ausführliche Chronik, die bereits 1892 mit der Geburt des orthodox chassidischen Vaters, Shmuel Yosef, beginnt. Dann folgt auf nicht weniger als 42 Seiten eine ausgiebige Chronologie zu Leben und Wirken, wobei auch wichtige politische Ereignisse eingebunden sind. Herausgeber Andreas Eichhorn präsentiert ein interessantes, abwechslungsreiches Buch mit einem Werkverzeichnis, das aufzeigt, wie umfangreich Bernsteins kompositorisches Werk neben der West Side Story ist – auch wenn nur eine Auswahl aufgelistet ist.

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Leonard Bernstein und seine Zeit, hg. von Andreas Eichhorn, 407 S., € 37.80, Laaber-Verlag, Laaber 2017, ISBN 978-3-89007-768-0

Lagenspiel auf der Geige

Das im Selbstverlag herausgegebene Heft von Martin Keller wird besprochen von dessen «Kollegenfreund und advocatus diaboli».

Foto: Clem Onojeghuo / unsplash.com

Die Materialsammlung zum Lagenspiel von Martin Keller ist aus der intensiven Beschäftigung des Autors mit der Barockgeige hervorgegangen, die man ja mit der linken Hand und nicht mit dem Kinn festhält. Deshalb ist ein grosser Teil dem Lagenschleichen und den Halslagen gewidmet.

Der erste Eindruck ist geprägt von musikalischem und technischem Erfindungsreichtum. Eine Vielzahl von Lagenwechsel-Geheimnissen werden musizierend anregend erarbeitet. Das trifft zwei Fliegen auf einen Schlag. Das Heft enthält viel gutes Lesematerial in allen Tonarten, verschiedenen Stilen und Rhythmen, schöne Eigenkompositionen, anregende Duette. Längere Stücke, in welchen man in Schwung käme, fehlen dagegen. Die meisten Lagenwechsel-Probleme sind exakt und mit sprechenden Beispielen erhärtet. Die Benennung gewisser Praktiken durch Buchstaben wirkt allerdings etwas intellektuell. Sie sollten durch eindeutige fachliche oder bildhafte Namen ersetzt werden. Ein Plus ist die ausführliche Erläuterung und Einübung von Kontraktion und Extension. Es wird aber nicht präzisiert, dass diese Techniken nur geeignet sind für langsame, ausdrucksvolle Musik. Für schnelle Passagen sollte der zur jeweiligen Lage passende Quartgriff nicht noch mit Kontraktionen und Extensionen belastet werden, sonst leidet die Intonation. Ganz besonders gelungen sind die Teile Tonleitern und Läufe durch den Quintenzirkel S. 8 und 114/115 (exzellent!), Der Skispringer S. 13 und die Einführung ins künstliche Flageolett S. 112 und 113.

Dem Heft fehlt aber einiges, um als «Schule» zu gelten, d. h. didaktisch aufbauend zu sein:

  1. Das elementare Erlebnis des Griffbrettes, zuerst in seiner ganzen Länge; Armschwung seitwärts (Ellbogen) und vorwärts-rückwärts, Handgelenkbiegungen. Prinzip «vom Grossen zum Kleinen».
  2. Das Bewusstmachen der verschiedenen Kontakte des Fingers zur Saite in einem eigenen Kapitel: a nicht berühren (leere Saite) bei frei aufgesetzten Lagenwechseln (auch als Vorstufe zu c: Lagenwechsel mit Vorschlag der leeren Saite, um das Entlastens des Fingerdrucks zu lernen), b gleiten wie «Schlittschuh fahrende Mücke» (Flageolett(-glissando)), c lockeres Lagenwechselglissando als hörbares Tonhöhegleiten, d festes Greifen.
  3. Genügend Übungen und Stücke mit Lagenwechsel durch Messen des Lagenwechselintervalls des letzten Fingers der alten Lage («Taxi») zu dessen Hilfston («Taxistandplatz») in der neuen Lage mit Fingerkontakt c (siehe 2.) und erst dann entschlossenes Greifen mit dem Zielfinger. Dabei Bewusstmachen des Vorausfühlens der Zielgriffart.
  4. In diesen Zusammenhang gehörte auch das bewusste Umstellen des Spielfingers z. B. beim Rutschen einer grossen Terz von steil zu flach, bei einer kleinen umgekehrt.
  5. Nutzen der Resonanztöne für sichere Intonation.
  6. Wieso ist das Heft auf die ersten vier Lagen beschränkt? Meines Erachtens ist z. B. das Transponieren einer Melodie auf der (den) gleichen Saite(n) eine Oktave höher ein nützliches und deutliches Erlebnis für die Verengung des Quartgriffes (gehört eigentlich unter 1.), die ja bei allen Lagenwechseln stattfindet. Ferner sind all die wichtigen Kontakte der Hand mit dem Instrument unerwähnt und sollten alle drei bewusst gemacht werden: a 1. und 2. Lage freies Handgelenk, b 3. und 4. Lage Handgelenk am Korpus angelehnt, c 5. und höhere Lagen Daumenspanne am Halsansatz.
  7. Die Rolle des Handgelenk-Vor- und Zurückbiegens z. B. beim «Holen» einiger Töne in der halben Lage aus der 2. Lage und zu ihr zurück, das direkt zum echten Paganini-Lagenspiel führt (siehe Philippe Borer: The twenty-four caprices of Niccolo Paganini, their significance for the history of violin playing and the music of the romantic era, Stiftung Zentralstelle der Studentenschaft der Universität Zürich, 1997). Dort wird in vielen Beispielen gezeigt, dass Paganini sehr viele Lagen (etwa 1.–6.) aus der Handstellung der 3. Lage erreicht. Dieser Ansatz hat mir zur einfachen Lösung vieler kniffliger Stellen verholfen. Bei Keller finden sich gute ähnliche, aber kleinere Anforderungen mit sogenannten Scheinlagenwechseln, ohne aber die Rolle des Handgelenkes zu erwähnen, die erlaubt, den Arm stabil (und dadurch sicher) in einer Lage zu halten. Das Handgelenk ist auch der Motor für das Spiel zur halben Lage und zurück; der Arm bleibt in der ersten Lage.

Wenn der Autor den Lehrpersonen eine individuell passende Auswahl aus seinem Material empfiehlt, müssen diese sich bewusst sein, dass sein Material zwar wertvoll, aber nicht umfassend ist.

Martin Keller, Lagenspiel auf der Geige Einführung in die 1. (inkl. halbe) bis 4. Lage und deren Wechsel untereinander, Bewegungs- und Intonationsprobleme. Selbstverlag, erhältlich beim Autor zur Ansicht oder zum Kauf (Kopierkosten Fr. 22.50),
m.keller-rall@bluewin.ch

Nicht nur Tochter und Frau

Die überlieferten vier Klavierstücke von Otilie Suková (1878–1905) sind bei Bärenreiter Prag in einer mustergültigen Ausgabe erschienen.

Otilie Suková (2. v. re) als Fünfzehnjährige neben ihrem Vater Antonín Dvořák (re) 1893 in New York. Quelle: wikimedia commons

Otilie Suková, die Tochter Antonín Dvořáks und Ehefrau Josef Suks, war musikalisch begabt. Sie spielte nicht nur Klavier, sondern verfasste, inspiriert von ihrem Umfeld, auch einige eigene Kompositionen. Wie diese entstanden, beschrieb Suk in einem Brief auf anschauliche und anrührende Weise: «Einmal, nach meiner Rückkehr von einer Reise, gestand sie mir, dass auch sie einige kleine Stücke für Klavier komponiert hatte. Anfangs genierte sie sich, sie mir vorzuspielen, aber als ich sie endlich dazu gebracht hatte, machte es ihr grosse Freude, als ich beim zweiten Vorspielen einen Bleistift zur Hand nahm und alles so notierte, wie ich es von ihr hörte.»

Vier Klavierstücke sind auf diese Weise erhalten geblieben: Humoreske, Wiegenlied, Joschi auf dem Pferdchen und Dem teuren Papa. Alle vier hat nun Eva Prchalová bei Bärenreiter Prag in einer mustergültigen Edition herausgegeben. Das letztgenannte erscheint zum ersten Mal in gedruckter Form. (Das Haus in Prag tut sich überhaupt immer wieder durch ausgezeichnete Ausgaben hervor!)

Die Stücke sind pianistisch geschickt gesetzt, von mässigen Anforderungen und bezaubern durch Klangschönheit, aparte Harmonik und durch einen ganz eigenen Charme. Otilie Suková starb viel zu früh mit nur 27 Jahren, ein Jahr nach ihrem berühmten Vater. Josef Suk setzte seiner verstorbenen Frau mit der Sinfonie Asrael ein eindrucksvolles musikalisches Denkmal.

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Otilie Suková: Klavierstücke, Urtext hg. von Eva Prchalová, BA 11557, € 8.95, Bärenreiter, Prag 2018

Klarheit im Dschungel der Versionen

Die Orgelsinfonie No. V von Charles-Marie Widor ist in einer Reihe von Neuausgaben bei Carus erschienen, die zum Ziel hat, einen repräsentativen Ausschnitt aus den Orgelwerken des Komponisten vorzulegen.

Charles-Marie Widor 1924. Foto: Agence Roi; Quelle: gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France

Mit der Herausgabe der bekanntesten Orgelsinfonien von Charles-Marie Widor (1844–1937) liefert der Carus-Verlag nach seiner Edition der Orgelwerke Louis Viernes einen weiteren wichtigen Beitrag in der Edition französischer Orgelsinfonik. Stellt sich bei Vierne vor allem das Problem zahlreicher Druckfehler, zum Teil mit der Sehschwäche des Komponisten zu begründen, ist es bei Widor die Frage nach der verbindlichen Fassung, für die sich ein Herausgeber entscheiden muss. Der Komponist revidierte seine Orgelsinfonien im Verlauf seines Schaffens mehrfach, wobei er immer wieder grössere oder kleinere Korrekturen und Anpassungen vornahm oder sogar ganze Sätze austauschte, so zum Beispiel im Fall der 2. Sinfonie, wo ein typisch romantisches «Jagdhorn-Scherzo» durch ein Salve Regina im Spätstil Widors ersetzt wurde, das nur schwer in den Kontext der anderen Sätze zu passen scheint. Aufgrund dieser Unterschiede zwischen den Fassungen gilt es sorgfältig zu entscheiden, welche Ausgabe man benutzt, umso mehr, als im Internet oder bei amerikanischen Reprint-Verlagen durchaus auch frühe Fassungen kursieren, die nicht dem «letzten Willen» des Komponisten entsprechen. So gibt z. B. die unter Studierenden beliebte, kostengünstige Dover-Ausgabe sämtlicher Sinfonien in zwei Bänden die Fassung von 1887 wieder. Abnutzung der originalen Druckplatten bereitet zudem gewisse Schwierigkeiten in Bezug auf die Leserlichkeit des Texts.

Im Fall der vorliegenden, dank ihrer rauschenden Schluss-Toccata wohl bekanntesten Sinfonie Widors, der fünften, erschienen erste Ausgaben 1879 und 1887, die aber 1901, 1902–11, 1920 sowie 1928/29 revidiert wurden, wobei Widor wie immer den Notentext überarbeitete und auch nach der letzten Auflage noch weitere Änderungen vollzog. So wurde der zweite Satz (ursprünglich eine ABA-Form mit integraler Reprise des A-Teils sowie einer Binnenwiederholung) für die letzte Edition durch Verzicht auf die Wiederholung und einen drastisch verkürzten A’-Teil um fast 150 Takte reduziert; in der Toccata ergänzte Widor Artikulationen und Akzente und verlangsamte das Tempo von Viertel = 118 auf 100 – eine klare und durch Widors eigene Aufnahme von 1932 belegbare Anpassung, die allerdings viele Interpreten bis heute ignorieren.

Bereits in den 1990er-Jahren erschien bei A-R Editions in den USA eine Kritische Gesamtausgabe aller Sinfonien, die minutiös über deren Textunterschiede und Lesarten Aufschluss gab, hierzulande allerdings kaum Beachtung fand. Die nun vorliegende Carus-Ausgabe von Georg Koch verwendet ebenso die letzte Revision der Sinfonie von 1928/29 als Hauptquelle, ergänzt durch spätere handschriftliche Korrekturen Widors; die Unterschiede der beiden Neuausgaben sind daher marginal. Der Kritische Bericht gibt Einsicht in Lesarten der früheren Fassungen oder Ergänzungen aus Widors Schülerkreis (im vorliegenden Fall z. B. Albert Schweitzers Handexemplar mit einem Kürzungsvorschlag), die zum Teil interessante Alternativen darstellen könnten, etwa bei gewissen Registrierungen, die Widor in seinem Spätstil weniger farbig und «abgeklärter» gestaltete als noch zwei Jahrzehnte zuvor. So verfügt der Spieler über eine zuverlässige, mit einem informativen Vorwort versehene Quelle, die ein klares Bild der Entstehungsgeschichte des Werks schafft und, genauso wie ihr amerikanisches Pendant, sehr zu empfehlen ist.

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Charles-Marie Widor: Symphonie No. V pour Orgue op. 42,1, hg. von Georg Koch, CV 18.179, € 29.95, Carus, Stuttgart 2018

Urheber von Beethovens Magenverstimmung

Wilhelm Klingenbrunner versorgte Beethoven mit Fisch. Er war aber auch ein beliebter Komponist, der seine Werke mit technischen und aufführungspraktischen Hinweisen versah.

Foto: Bärbel selbst/pixelio.de

Wilhelm Klingenbrunner (1782–Mitte 19. Jh.), hauptberuflich als «landständischer Cassen-Beamter» beim niederösterreichischen Landobereinnehmeramt tätig, eignete sich, wie es sich für bürgerliche Kreise damals gehörte, Gesang, Flöten-, Klarinetten-, Bassetthorn- und Gitarrenspiel an. Musik nur zum Zeitvertreib, als «Dilettant», zu spielen, reichte ihm aber nicht. Er war ein hervorragender Flötist, Mitglied der 1812 gegründeten Gesellschaft der Musikfreunde und bewegte sich als Komponist und – unter dem Pseudonym Wilhelm Blum – auch als Volksdichter in den künstlerischen Zirkeln seiner Zeit in Wien. Knapp 70 Kompositionen unprätentiösen, aber gefälligen Charakters für Flöte oder Csakan sind von ihm überliefert, aber auch Bearbeitungen (z. B. von Mozarts Zauberflöte) und Instrumentalschulen, etwa eine «auf selbst gewonnenen Erfahrungen basierte Flötenschule in zwei Abtheilungen».

Die Werke der vorliegenden Neuausgabe sind der um 1815 erschienenen «Neuen theoretischen und praktischen Csakan-Schule» entnommen. Diese erfreute sich in kurzer Zeit grosser Beliebtheit, nicht zuletzt der blockflötentechnischen und aufführungspraktischen Anleitungen wegen. So lautet beispielsweise das zeitkonforme Verständnis des «Abstossungs-Zeichens staccato» folgendermassen: «Mit Punckte marquierte Stellen fordern das besondere Anschlagen jedes einzelnen Tones», also nicht wie heute üblich einen kurzen, sondern einen besonders hervorgehobenen Ton.

Die in der Reihe «Diletto musicale» herausgegebene Auswahl vereint neben dem informativen Vorwort 25 kleine Duette aufsteigenden Schwierigkeitsgrads und unterschiedlichen Charakters im leichtfüssigen Stil der Biedermeierzeit. Liedartige Sätze und gängige Tanzformen wie Menuett, Walzer, Alla Polacca oder Angloise wechseln sich ab.

Nicht nur als Komponist «beliebt gewordener Werkchen für die Flöte und den Csakan» (wie es in Gustav Schillings Musikalischem Lexikon von 1840 heisst) scheint Klingenbrunner aber Talent gezeigt zu haben. So besorgte er für Beethoven jeweils den Fisch und wurde von diesem deshalb scherzhaft als Fischoberaufseher bezeichnet. Einmal aber scheint er keinen frischen Fang erwischt zu haben, worauf Beethoven missmutig in sein Konversationsheft schrieb: «Ich habe einen verdorbenen Magen / Klingenbrunner / Er ist für die Flöte das, was Gelinek für das Klavier war. / Nichts als Variationen vom gewöhnlichen Schlage.»

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Wilhelm Klingenbrunner: 25 kleine Duette aus op. 40, für zwei Blockflöten in C (Flöten / Oboen / Violinen oder andere Melodieinstrumente), hg. von Helmut Schaller und Nikolaj Tarasov, DM 1490, € 17.95, Doblinger, Wien

Zauberlehrling zum Mitlesen

Eine praktische und hervorragend gestochene Studienpartitur von Paul Dukas‘ sinfonischem Scherzo.

Foto: Martin Jäger/pixelio.de

Das Schöne an guten Notenausgaben ist, dass sie nicht so rasch am Firmament verglühen wie all die Sterne und Sternchen der Musikszene. Schreit dort das Marketing regelrecht nach sofortiger Aufmerksamkeit (und Umsatzzahlen), so handelt es sich im Musikalienhandel um sogenannte Longseller – also um Produkte, auf die man immer wieder gerne zurückgreift. So ist es auch mit dem Zauberlehrling von Paul Dukas, der in der Edition Eulenburg im grösseren Format als Studienpartitur nach den Quellen und gestochen scharf erschienen ist.

Grundlage für das 1896/97 entstandene Werk bildet Goethes gleichnamige Ballade. Es sind aber nicht die vielen erfolgreichen Aufführungen in der Alten und Neuen Welt, die für das Nachleben der Komposition entscheidend waren, sondern Walt Disneys legendärer Zeichentrickfilm Fantasia (1940), in dem die Partitur kongenial umgesetzt wurde. Was hier ahnungslos als punktgenaues Mickey-Mousing wahrgenommen werden kann, wird vom Kenner als quasi bildhafte Umsetzung der ursprünglichen Ballade gehört, auf die sich Hollywoods Filmbilder erst nachträglich setzten. Ein Lehrstück über die verschlungenen Wege der Rezeptionsgeschichte. Daher ist auch die sauber gesetzte quellenkritische Neuausgabe der Partitur (einschliesslich Goethes Verse in englischer und französischer Übersetzung) zu begrüssen. – Sie könnte nicht nur heute, sondern auch auf lange Sicht pädagogischen Nutzen haben.

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Paul Dukas: L’Apprenti Sorcier, hg. von Jean-Paul C. Montagnier, Studienpartitur, ETP 8081, € 24.50, Eulenburg (Schott), Mainz

Lohnende Trouvaillen

Stücke aus fünf Jahrhunderten für Trompete und Klavier, die an einer Vortragsübung oder einem Wettbewerb eine gute Figur machen.

Foto: Priscilla Du Preez / unsplash.com

Das pädagogische Geschick von Kristin Thielemann, der Autorin des vorliegenden Sammelbandes, scheint offensichtlich, schaut man sich die mit Bedacht und Intelligenz zusammengestellten kurzen Trouvaillen aus den letzten fünf Jahrhunderten der Musikgeschichte an. Von Tilman Susato über Händel und Verdi bis zu kleineren Eigenkompositionen versteht es Thielemann, den jungen Solisten und Solistinnen Musik aufzutischen, die sie mit Freude an ihren Vortragsübungen und Wettbewerben zum Besten geben können. Unbekanntes (Deutscher Tanz von Johann Hermann Schein) steht in harmonischem Gleichgewicht mit den klassischen Evergreens (Freude schöner Götterfunken), die Klavierstimme ist einfach gesetzt und könnte auch von interessierten Klavierschülern übernommen werden. Um das Angebot zu komplettieren, findet sich für zuhause auch noch eine Begleit-CD in diesem Heft. Eine wirklich lohnenswerte Alternative bzw. Ergänzung für den Unterricht mit jungen Musikern, welche auf diese Weise behutsam mit den verschiedenen Musikstilen vertraut werden.

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Mein erstes Konzert. 26 leichte Vortragsstücke aus 5 Jahrhunderten, hg. von Kristin Thielemann, ED 22326, mit CD, € 18.50, Schott, Mainz 2017

Spanischer Tanz

Im G. Henle-Verlag ist eine Einzelausgabe des dritten spanischen Tanzes von Pablo de Sarasate erschienen.

Pablo de Sarasate (1844-1908), 1905. Anonymer Fotograf/wikimedia commons

Die acht spanischen Tänze von Pablo de Sarasate kamen erstmals 1878 im Simrock-Verlag heraus. Henle hat sie in einem Heft vereint (HN 1370) und den beliebtesten (und leichtesten), Romanza andaluza, als Einzelheft neu herausgegeben. Der Urtext folgt zur Hauptsache der alten Ausgabe und ist mit Detailanmerkungen und Taktzahlen ergänzt. Die Violinstimme ist zweimal gedruckt: als Urtext und mit sinnvollen Fingersätzen und Bogenstrichen von Ingolf Turban. Zudem sind in der Kavierpartitur im Violinsystem die originalen Fingersätze von Sarasate eingetragen, was von historischem Interesse ist.

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Pablo de Sarasate: Romanza andaluza, Spanischer Tanz Nr. 3 für Violine und Klavier, Urtext hg. von Peter Jost, HN 1346, € 7.50, G. Henle, München

Syrisch-schweizerischer Brückenschlag

Die CD «Alrozana» bietet Liedbearbeitungen, dargeboten von Interpreten und mit Instrumenten aus beiden Kulturkreisen.

Wirbelkasten einer Oud. Foto: wikimedia commons

Der syrische Komponist, Oud-Spieler und Arrangeur Hassan Taha lebt nicht ganz freiwillig in unserem Land. Er hat sich als Flüchtling in Bern niedergelassen und seine Ohren der Musiktradition seiner neuen Heimat zugewandt – auf der Suche nach einem emotionalen Brückenschlag zwischen seinem Herkunftsland und der Schweiz. Der Name seines Ensembles «Brunnen & Brücken» stehe dabei, heisst es im Booklet, als «Metapher für eine lebendige und völkerverbindende Kommunikation, gleichsam getragen vom Urelement Wasser». Die Symbolik erschliesst sich nicht unmittelbar, wird aber nicht weiter erläutert. Die CD Alrozana vereint bernisches und syrisches Liedgut, instrumentiert mit einem Ensemble aus Streichern, Alphorn, Hackbrett, Schwyzerörgeli und der arabischen Laute Oud. Es singen die Schweizerin Barbara Berger und die Syrerin Najat Suleiman. Tahas Einrichtungen wirken originell, klangliche Details überraschen, das Ensemble aus vornehmlich Schweizer Volksmusik-Instrumentarium tönt dabei oft exotisch verwandelt. Da scheint offensichtlich, dass ein Bearbeiter am Werk war, der nicht in die Falle x-fach reproduzierter Klang- und Formklischees tappt, die Musiker hierzulande wohl hindern würden, neue Wege zu beschreiten. Geleitet wird das Ensemble von Hans Martin Stähli. Er verfügt als Musiklehrer an einem Berner Gymnasium und als Chorleiter über reiche Erfahrung im Bearbeiten von Volksliedern, aber auch mit interkulturellen Musikprojekten.

Die Nummern, auch die syrischen, haben alle einen ähnlichen Duktus, schnellere Titel fehlen, was die Zusammenstellung etwas einförmig macht. Vom Berner Liedgut sind die Ikonen versammelt: Simelibärg und Es isch kei sölige Stamme, der erste Kuhreihen, der – vor allem in der Freiburger Variante des Ranz des vaches – gerne auch als Blues der Alpen bezeichnet wird; Stets i Truure, ein tieftrauriges Lied (ausgerechnet in Dur!) und das elegische Lueget vo Bärge und Tal. Aus dem Raster fällt deutlich das ursprünglich mittelalterliche Senfl-Lied Es taget vor dem Walde. Das Original wird von einer lydischen Quarte geprägt, die ja auch die Alphornmusik charakterisiert. Die hier gesungene Vokallinie scheint demgegenüber romantisch weichgespült. Wahl und Funktion dieses als einziges Hochdeutsch vorgetragenen Liedes bleiben auch deshalb rätselhaft. Dank all der Tonarten-Eigentümlichkeiten hätte man möglicherweise noch etwas mehr Schnittstellen zu der differenzierten Skalenwelt der syrisch-arabischen Musik finden können.

Gerade das Dur von Stets i Truure offenbart die Doppelbödigkeit der bernischen Volkslied-Ästhetik, die Leid und Schmerz mit Schlichtheit und scheinbarer Harmlosigkeit kaschiert. In Hassan Tahas Arrangements erfahren die Lieder hingegen eine manchmal hart anmutende Kurzatmigkeit, die von der Aufnahmeästhetik eher unterstrichen wird. Der Raum wirkt kahl und die Instrumente nahe mikrofoniert. Ein weicheres Klangbild hätte diese Unerbittlichkeit vielleicht etwas abgedämpft. Im Grossen und Ganzen zeugt das Projekt aber von einer intensiven und anregenden Auseinandersetzung mit den Gemeinsamkeiten und Unvereinbarkeiten zentraleuropäischer und nahöstlicher Expressivität.

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Alrozana. Hassan Taha; Ensemble Brunnen & Brücken, Leitung Hans Martin Stähli. Zytglogge ZYT 4649

Vorstoss in klangliche Tiefen

The Young Gods haben nach langen Jahren wieder ein Album eingespielt, das an die frühere Pionierarbeit mit der Verbindung von Rock und Computer anknüpft.

Foto: © Mehdi Benkler

Heimlich und traurig hatte man sich ja schon abgefunden mit dem Gedanken, dass es von den Young Gods nie mehr neue Musik zu hören geben werde. Umso freudiger die Überraschung, dass nun nach acht Jahren Funkstille doch wieder ein neues Album vorliegt. Die Renaissance einer der weltweit wichtigsten Bands, die je auf Schweizer Nährboden herangewachsen ist, liefert einen gewaltigen Grund zum Feiern. Vom ersten Ton an – die Debut-Maxi-Single Envoyé erschien 1986 – ging das Genfer Trio radikale, eigene Wege. Mit der damals wie heute ungewöhnlichen Kombination von organischem Schlagzeug, Elektronika und Stimme leistete es Pionierarbeit im Versuch, Rock mit Computer zu verbinden. Selbst David Bowie schwärmte von ihnen.

Nach dem Album Everybody Knows war aber der Elektroniker Al Comet nach 22 Jahren aus der Band ausgeschieden. Franz Treichler, der Kopf und die Stimme der Young Gods, fühlte sich verloren, bis er wieder einmal Cesare Pizzi begegnete, dem Apparatebastler, der einst zum Urtrio gehört hatte. Im Rahmen des Cully-Jazz-Festivals von 2015 bekamen Treichler, Pizzi und der langjährige Schlagzeuger Bernard Trontin die Gelegenheit, fünf Tage lang öffentliche Workshops durchzuführen. Im Verlaufe dieser zwanglosen «Jam-Sessions» kehrte bei allen drei Beteiligten die Lust auf Neues zurück.

Aus den in Cully gesäten Samen sind nun die sieben grossartigen Stücke von Data Mirage Tangram entstanden. Ähnlich wie bei den geistesverwandten Einstürzenden Neubauten hat sich das Augenmerk der Young Gods im Verlauf der Jahre von der Erzeugung und Vermittlung von Energie auf das Schaffen filigraner Klanggeflechte verschoben. Songs wie Tear Up the Red Sky und All My Skin Standing zeigen, dass die Young Gods auch heute noch gehörig Rockdampf im Bauch haben. Vor allem aber ihr souveräner Umgang mit der Laut/Leise-Dynamik, dazu Treichlers bemerkenswert subtiler Gesang und Pizzis schlauer Umgang mit Geräuschen sorgen dafür, dass Data Mirage Tangram in klangliche Tiefen vordringt, von denen die meisten anderen Bands nur träumen können.

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Data Mirage Tangram. The Young Gods (Franz Treichler aka Franz Muse, Cesare Pizzi, Bernard Trontin. Two Gentlemen Records, CD TWOGTL-073-2, Vinyl TWOGTL-073-LP

Eine Träne für die Menschheit

Für den Filmessay «Passion» von Christian Labhart hat Philippe Herreweghe mit seinem Collegium Vocale Gent Teile aus Bachs Matthäuspassion neu aufgenommen.

Filmstill aus «Passion»

Die Messlatte wird gleich zu Beginn hoch gelegt. Zum schwarzen Bildschirm rezitiert eine Stimme aus dem Off Bertolt Brechts Gedicht An die Nachgeborenen aus der Zeit des Nationalsozialismus, dann marschiert eine Hundertschaft schwer gerüsteter Polizisten zu den Klängen von Bachs Matthäuspassion durchs Bild. Die Fallhöhe ist entsprechend: Ein Schnitt, und wir sind am Zürcher Central, wo wir uns 1968 mit der Polizei geprügelt haben – linke Nostalgie in Schwarzweiss. Für Christian Labhart war das die politische Initialzündung. Sein Film ist die typische Autobiografie eines Schweizer Linken, der vor fünfzig Jahren Marx und Adorno las und trotz schwerer Zweifel bis heute an der Utopie vom «richtigen Leben im falschen» festhält. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so. Sackgasse Baader-Meinhof, Tschernobyl, 9/11, Finanzkrise, Roboter, Syrien, Globalisierung, kaputte Umwelt: ein Abreisskalender des Schreckens, eine permanente Dystopie, aufbereitet mit paradox schönen Bildern aus der sinnentleerten Dingwelt. Wenn Menschen als Individuen vorkommen, dann der Autor selbst und sein Umfeld, ansonsten sind sie anonyme Masse – der Fluch des Denkens in abstrakten Menschheitskategorien. Das unbedingte Ja zum Leben, wie es etwa in Afrika den Alltag der Menschen prägt, ist diesem vom Leiden an der Welt durchzogenen Filmessay fremd.

Als Balsam für die verletzte Seele erklingen Ausschnitte aus der Matthäuspassion mit Philippe Herreweghe und seinem Collegium Vocale Gent. Hier verrichten Menschen eine sinnerfüllte Tätigkeit, ein schroffer Kontrast zu den Bildern einer kaputten Welt. Doch mit Bach scheint Labhart einem Missverständnis aufgesessen zu sein. Durch die weltliche Umcodierung der Passion schlägt das hohe Pathos des religiösen Leidens in profanes Selbstmitleid um, und anstelle von Christus wird dann eben Ulrike Meinhof betrauert. «Was bleibt?», lautet der letzte Zwischentitel. Bachs Schlussmusik gibt die Antwort: «Wir setzen uns mit Tränen nieder.» Ein bisschen mehr hätte es schon sein dürfen.

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Passion. Zwischen Revolte und Resignation,ein Film von Christian Labhart. LookNow-Filmverleih.
Ab 18. April im Kino

Ein Klassiker des Repertoires

Ein Neuausgabe von Niels Gades «Fantasiestücken» mit einem klaren und aufgeräumten Notentext.

Gade-Prträtfoto von Hansen, Schou & Weller. Archive der Bergen Public Library/wikimedia commons

Die Fantasiestücke op. 43 von Niels Wilhelm Gade, ein Klassiker des Klarinettenrepertoirs, sind neu in der Henle-Urtext-Reihe herausgegeben worden. Nicolai Pfeffer hat die schöne Kritische Edition in gewohnter Henle-Qualität besorgt. Als Hauptquelle für diese Ausgabe wurde die 1864 bei Kistner in Leipzig erschienene Erstausgabe verwendet, als zusätzliche Quellen das Autograf des Komponisten von 1864 und eine Neuausgabe von 1878 bei Wilhelm Hansen, Kopenhagen. Zwischen dem überlieferten Autograf und der Erstausgabe hat der Komponist noch Veränderungen bei der Tempoangabe des ersten Satzes (von Larghetto über Larghetto con moto zu Andantino con moto) und bei der Taktart des zweiten Satzes (4/4 statt Alla breve) vorgenommen. Ansonsten betreffen die Abweichungen hauptsächlich einige kleinere Unterschiede bei Artikulation, Phrasierung und Dynamik. Das Notenbild dieser Neuausgabe ist klar und aufgeräumt. Im Notentext selbst sind fast keine Anmerkungen des Herausgebers, dafür befindet sich im Anhang ein ausführlicher Kritischer Kommentar.

Im Gegensatz zu früheren Ausgaben ist bei der Henle-Fassung keine Solostimme für Violine mit dabei. Diese wurde wohl nur aufgrund der damaligen Verlagspraxis bei der Erstausgabe beigelegt, zudem ist ihre Autorschaft unklar.

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Niels Wilhelm Gade: Fantasiestücke op. 43 für Klarinette und Klavier, Urtext hg. von Nicolai Pfeffer, HN 1353, € 14.00, G. Henle, München 2017

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