Königliche Unterhaltung von der Chaiselongue

Die vier Sängerinnen von «Dezibelles» mit einem A-cappella-Streifzug von Purcell bis Sting, vom Thronsaal bis zum Mercedes.

Dezibelles. Foto: Aram Ohanian,Bulgarisches Volkslied,Freddie Mercury,Henry Purcell

Vom Erlkönig bis zur Killer Queen, von Henry Purcell bis zu Janis Joplin – die musikalische Bandbereite der Dezibelles aus Zürich verblüfft. Auf ihrem Live-Album Die Thronfolgerinnen, aufgenommen am 16. Juni 2019 in der Helferei Zürich, glänzen die Sängerinnen mit schlackenlosen Stimmen, perfekter Intonation und ausgefeilten A-cappella-Arrangements, die jedem der elf Songs einen speziellen Charakter geben. Im bulgarischen Kaval sfiri mutiert das Quartett mit kehligem Stimmklang zu einem traditionellen Balkanensemble, Mercedes Benz (Arrangement: The Beggars, Rebekka Bräm) wird in einer kraftvollen Gospelversion gesungen, Freddie Mercurys Killer Queen entfaltet mit kräftigen Schwellern und scharfen Konturen echten Big-Band-Sound.

Nicole Hitz und Rebekka Bräm zeichnen kristalline Sopranlinien, Daniela Villiger (Mezzo) führt die Fäden zusammen und Editha Lambert sorgt mit ihrem tiefen Alt für das notwendige Fundament. Nur die gelegentlichen Percussion-Versuche haben Luft nach oben. Das klingt ein wenig brav oder ist manches Mal auch ganz verzichtbar wie am Ende des harmonisch gewürzten, mit tollen Farbwechseln und grossen Bögen veredelten Sting-Hits Russians. Die ausgefeilten Arrangements der musikalischen Leiterin Andrea Fischer machen die Songs dieser Thronfolgerinnen zu echten Kronjuwelen – angefangen von Henry Purcells berührendem, im Sopran mit Figurationen geschmücktem Music For A While bis zum poppigen Royals der neuseeländischen Sängerin Lorde. Die Melodien wandern ohne jeden Qualitätsverlust durch die Stimmen. Ob Leadgesang oder Begleitvokalisen, ob Verschmelzung im Chorsatz oder individuelles Standing – die Dezibelles sind Alleskönnerinnen. Und wer am Ende die CD nach dem letzten Ton noch ein bisschen weiterlaufen lässt, kann die vier Thronfolgerinnen auch noch pfeifen hören.
 

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Kaval sfiri
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Killer Queen
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Music For A While
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Dezibelles: Die Thronfolgerinnen, Let them eat cake!,
A Cappella aus Zürich, live. www.dezibelles.ch

Tourismusfreundliche Schweizer Romantik

Der Pianist Berkant Nuriev hat unbekannte, in Musik gefasste Reiseimpressionen von hiesigen Komponisten eingespielt.

Berkant Nuriev. Foto: zVg,Wilhelm Baumgartner (1820–1867),Charles Bovy-Lysberg (1821–1873),Wilhelm Baumgartner (1820–1867),Alfred Jaëll (1832–1882)

Nicht einem renommierten Schweizer Interpreten, sondern dem noch wenig bekannten, in Bulgarien mit türkischen Wurzeln geborenen Pianisten Berkant Nuriev sind einige der originellsten Repertoirebereicherungen aus jüngster Zeit zu verdanken. Seit einem Vierteljahrhundert lebt er in Bern, wo er sich an der Hochschule der Künste von Rada Petkova, Erika Radermacher und Bruno Canino als Solist, Kammermusiker und Liedbegleiter ausbilden liess. Seine wundersam unterhaltende CD Tour romantique de Suisse führt quer durch die touristische Schweiz des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Lauter vergriffene Klavierstücke, die Nuriev voll unbändiger Entdeckerlust in Archiven und Bibliotheken aufgestöbert hat, wecken Erinnerungen an beliebte Reiseziele zwischen Bodensee (Wilhelm Baumgartner: Am Bodensee, Romanze) und Genfersee (Johannes Wolfensperger: Am Genfersee, Polka). In Ersteinspielungen bringt uns der Pianist all diese touristischen Stätten in ihren musikalischen Spiegelungen zu Gehör.

Das Fehlen etwa der Konzertetüde Am Giessbach von Joachim Raff oder von passenden Stücken des aus Winterthur stammenden Mendelssohn-Schülers Johann Carl Eschmann macht der Pianist mit längst vergessenen Reisebildern eines einzigen Ausländers wett. Der Österreicher Alfred Jaëll lädt mit besonders anspruchsvollen Impressionen aus Interlaken, Zürich und dem Lauterbrunnental zu ausgiebigem Halt ein (Pèlerinage en Suisse).

Fortgesetzt wird die Reise mit liebenswürdigen Miniaturen der helvetischen Berufskollegen Bernhard Bogler (Polka Am Limmatstrand), Jacques Ehrhart (Valses luganaises) und dem einzigen Chopin-Schüler aus der Schweiz, Charles Samuel Bovy-Lysberg (Fantaisie sur des Airs Suisses). Das kürzeste und zugleich humorvollste Souvenir, das eine knappe Minute dauernde Spielstück Aroser Eisbahn, stammt von Heinrich Pestalozzi, der in dieser Bündner Gemeinde als Pfarrer wirkte.

Berkant Nuriev meistert in den insgesamt zwölf Raritäten, in denen nahrhaftes Virtuosenfutter mit leicht verdaulicher Salonmusik abwechselt, den heiklen Spagat zwischen Kunst und Kitsch mit Bravour und hörbarem Augenzwinkern.

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Am Bodensee, Romanze
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Ranz des Chèvres d’Appenzell
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Erinnerung an Interlaken, Valse Brillante
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Mit seinen bereits erfolgreich für Querflöte und Klarinette herausgegebenen Easy Jazz Studies for Alto Recorder füllt Tilmann Dehnhard eine Lücke im Blockflötenrepertoire. Seine Studien sollen beispielhaft Antwort auf die Frage geben, wie man schöne Melodien über bekannte Akkordprogressionen spielt und diese so stilgemäss artikuliert, dass es «groovt». Im Vorwort wird in die Jazznotation eingeführt, der Unterschied zwischen Straight oder Swinging Eights oder die Off-Beat-Artikulation erklärt, Gracenotes oder andere im Jazz gängige Besonderheiten und Konventionen werden erläutert.

Die zehn Eigenkompositionen im Schwierigkeitsgrad 3–4, eine davon mit «Easy Version», führen dann in die unterschiedlichen Jazz-Stile ein. Sie sind teilweise mit den vorgängig erlernten Artikulationen bezeichnet und wurden beispielhaft, wenn auch klanglich etwas eindimensional von Tobias Reisige (Blockflöte), Kai Brückner (Gitarre) und Marc Muellbauer (Kontrabass) eingespielt. Die beiliegende CD bietet Voll- und Play-along-Versionen der Stücke in verschiedenen Übetempi.

Wünschenswert wären Hilfestellungen gewesen, wie Blockflötistinnen und Blockflötisten selber zu improvisierten oder komponierten Melodien gelangen können, zumal einige der hier präsentierten Stücke auf den Akkordfolgen bekannter Jazz-Standards wie beispielsweise Georgia on My Mind oder Summertime beruhen. Als Einführung in die Welt des Jazz funktionieren die unterschiedlich gestalteten Studies aber sehr gut und können allenfalls mittels Play-along-Version die Ausgangslage für eigene zukünftige Improvisationen bieten.
 

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Tilmann Dehnhard: Easy Jazz Studies, 10 leichte Kompositionen für Altblockflöte als Einstieg in den Jazz,
UE 37222, mit CD, € 16.95, Universal Edition, Wien

 

Night of Light

Mit der Aktion «Night of Light» weisen Kulturveranstalter auf ihren Ausnahmezustand hin. Seit dem 16. März ist die Branche von den Massnahmen zur Eindämmung von Covid-19 massiv betroffen.

Symbolbild. Foto: efesenko/stock.adobe.com,SMPV

Die Ampel ist schon längst auf Rot gestellt: Der Lockdown hat die Veranstaltungsbranche in eine grosse Krise gestürztt. Mit den Lockerungen macht sich inzwischen «etwas Aufbruchstimmung» bemerkbar, wie die Veranstalter schreiben.

Am 22. Juni 2020 werden in der ganzen Schweiz unzählige Veranstaltungsorte von 22 bis 24 Uhr rot angeleuchtet. Das Motto dieser Aktion lautet: «Night of Light» – ein leuchtendes Mahnmal und ein flammender Appell der Veranstaltungsbranche.

Weitere Details siehe www.nightoflight.ch

Diabelli-Variationen

Jeden Freitag gibts Beethoven: Zu seinem 250. Geburtstag blicken wir wöchentlich auf eines seiner Werke. Heute auf die Variationen in C-Dur über einen Walzer von Anton Diabelli für Klavier.

Ausschnitt aus dem Beethoven-Porträt von Joseph Karl Stieler, ca. 1820

«Variationen über einen Walzer für Klawier allein (es sind viele).» Fast scheinen diese Worte untertrieben, mit denen Beethoven in einem Brief vom 5. Juni 1822 an den Verlag Peters seine 33 Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli op. 120 erwähnt. Angeregt wurde er zu dieser wahrhaft monumentalen Komposition bereits Anfang 1819. Der Wiener Musikverleger und Komponist Anton Diabelli (1781–1858) hatte sich an eine ganze Reihe in Österreich wirkender Komponisten und Pianisten mit der Bitte gewandt, für ein Gemeinschaftswerk je eine Variation zu einem Walzer einzusenden, den er für diesen Zweck entworfenen hatte. Auch Beethoven muss diese Einladung erreicht haben – allerdings wurde seine schöpferische Fantasie, vermutlich auch sein kompositorischer Ehrgeiz, durch das vorgegebene Thema so angeregt, dass bereits nach wenigen Monaten eine grosse Anzahl von Variationen skizziert vorlag. Mit der Fertigstellung anderer Werke beschäftigt, liess sie Beethoven dann allerdings für nahezu vier Jahre liegen; erst im April 1823 schloss er das Autograf endlich ab. Trotzdem gelang es ihm, Diabelli und dessen ursprünglichen Plan zeitlich einzuholen: Die 33 Veränderungen op. 120 erschienen im Juni 1823 im Druck; das am Ende aus 50 Variationen bestehende Gemeinschaftswerk hingegen erst ein Jahr später unter dem Titel Vaterländischer Künstlerverein. Veränderungen für das Pianoforte über ein vorgelegtes Thema.

Im Gegensatz zu diesem singulären Sammeldruck, in dem die einzelnen Beiträge wie in einem Lexikon alphabetisch nach den Namen der Komponisten geordnet sind, legte Beethoven seiner Komposition eine wohlkalkulierte Gesamtanlage zugrunde und schuf damit nicht nur eine Folge von Variationen, sondern einen in sich abgeschlossenen Zyklus. Wie komplex dessen Struktur ist, zeigt die Vielfalt der Gliederungsmöglichkeiten. So erscheint der Zyklus von aussen betrachtet als eine nahezu symmetrisch geordnete Abfolge von Gruppen zu jeweils vier Variationen (die letzte, Nr. 33, ausgenommen). Je nach Parameter oder Aspekt sind aber auch andere Einteilungen möglich, die weit über die zu jener Zeit standardisierten Modelle hinausgehen. Schon mit der ersten Variation vollzieht Beethoven einen Bruch zum Thema: Überschrieben mit alla Marcia maestoso sorgt sie entschieden für gehörigen Abstand. Im weiteren Verlauf sind es vielfach nur einzelne Motive, harmonische Fortschreitungen oder rhythmische wie melodische Elemente, die den Rückbezug hörend nachvollziehbar machen. Die angestaute Energie entlädt sich schliesslich in einer gewichtigen Doppelfuge, mit der Beethoven nun auch erstmals den tonalen Rahmen von C-Dur (und der Variante c-Moll) verlässt. Mehr als nur einen Epilog stellt am Ende die Variation 33 dar mit ihrer eigentümlich gelassenen, fast schon transzendenten Heiterkeit.

Selbst Hans von Bülow (1830–1894), der sich als Interpret der über Jahrzehnte als «unspielbar» geltenden Diabelli-Variationen annahm, fand kaum Worte für dieses summum opus der Variationskunst: Es sei für ihn der «Mikrokosmos des Beethovenschen Genius überhaupt, ja sogar ein Abbild der ganzen Tonwelt im Auszuge.»

 


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Musik in Zeiten von Corona

Das Angebot an gestreamter Livemusik von zu Hause ist unüberschaubar geworden. Was gibt es im klassischen Bereich zu sehen und wer schaut sich das an? Versuch einer Einordnung anhand einzelner Beispiele.

Das Schlagzeugregister des Luzerner Sinfonieorchesters mit einer gelungenen Bolero-Version

Von einem Tag auf den anderen ohne Konzerte dazustehen, das ist hart. Hart für das Publikum, das gewohnt ist, aus einer Überfülle von Konzerten das passende auszuwählen, und hart für die Interpretierenden, die sich plötzlich daheim im stillen Kämmerlein wiederfinden. Alle Musikerinnen und Musiker brauchen Anerkennung, die Freischaffenden bangen um ihre Existenz, und alle müssen sich irgendwie in Form halten. Denn Musikmachen ist wie Hochleistungssport, der tägliches Training erfordert. Gerade letzteres ging im Trubel des Lockdowns in der Öffentlichkeit fast vergessen. Üben ohne Ziel ist aber auf Dauer kaum zu ertragen.

Und so suchten die Musikmachenden nach Auswegen. Zuerst gab es anrührende Balkonkonzerte, die um die Welt gingen, dann feierten Wohnzimmerkonzerte Urständ. Verbreitet wurden sie als Streaming-Videos, die überall auftauchten und die sozialen Netzwerke überschwemmten. Im Schnellverfahren aus dem Boden gestampft, verbreiteten sie die Botschaft «Hallo, wir leben noch und schenken euch Musik». Doch wozu dient solche Hyperaktivität im Musikbereich letztlich; was nützt es, was schadet es, wenn täglich dreiminütige «Konzertli» angeboten werden?
 

Schauplatz Wohnzimmer

Das Luzerner Sinfonieorchester begann schon am 26. März mit seinem «Tagebuch eines verschollenen Orchesters» und legte mit fast 2000 Klicks einen fulminanten Start hin, andere Anbieter folgten. Es war im ersten Moment tröstlich, mit Musik «versorgt» zu werden und zu wissen, dass auch andere aktiv blieben. Der Wohnbereich wurde zum Musikschauplatz, doch fehlte meistens ein professionelles Equipment: Es gab Bildverzerrungen, ungenügende Synchronisationen von Bild und Ton, und zuweilen schepperte es gehörig aus dem Lautsprecher. Auch das «Vor-die-Kamera-Treten» geriet zum schwierigen Balanceakt. Viele stehen ungelenk da, versuchen ein «Grüezi» und spielen drauf los. Andere treten zusammen mit Kollegen im virtuellen Raum auf, auf dem Bildschirm sieht man je in einem «Fenster» zugeschaltete Personen mit Knopf im Ohr.

Als Zuschauerin werde ich damit nolens volens zur Voyeurin im privaten Raum: Wie wohnt die Person, ist Unordnung zu erkennen, gibt es ein schönes Sofa, wohnt sie in einem Haus oder in einer kleinen Mansarde usw. Natürlich kann es durchaus auch sympathische Züge tragen, wenn man «seine» Orchestermusiker, die im Konzertsaal weit weg in Frack oder schwarzem Kleid spielen, nun plötzlich privat erlebt. Doch das Interesse des Publikums nimmt schnell ab: Solche im Netz präsentierten Konzertreihen zeigen von Woche zu Woche sinkende Klickzahlen.

Bei mehrmaligem Anschauen von Wohnzimmer-Streams wird klar, dass oft mehr eine Verzweiflungstat dahintersteckt als gut geplante Überbrückung der konzertlosen Zeit. Die anfängliche Explosion der Besucherzahlen verkehrt sich schnell ins Gegenteil, und man wird erbarmungslos abgehalftert. Zu verwöhnt ist das Publikum durch die Qualität der eingespielten «Konserven». Aber auch die immer gleichen Bach-Partiten, kurzen Mozart-Stücke oder Hornquartette, die da geboten werden, verlieren ihren Reiz, wenn zu viele Musiker dasselbe tun.

Das Ziel ist natürlich, im Gespräch zu bleiben, das Publikum bei Laune zu halten, alle «machen es», dann muss ich auch. Die grossen Institutionen sind bei diesem Wettrennen gewaltig im Vorteil, sie können ihre Lagerbestände an Videos plündern und gratis hochladen, wie die Berliner Philharmoniker es vorgemacht haben und es auch das Opernhaus Zürich praktiziert. Die Aufmerksamkeit ist da und hilft über magere Zeiten hinweg, die Schere zwischen «Gross» und «Klein» öffnet sich.

Haben die Finanzschwächeren damit verloren? Nicht unbedingt, wie das Beispiel des Argovia philharmonic zeigt, das zweimal mit wenig Mitteln einen Livestream anbot: Einmal mit zwei Orchestermusikern am Hallwilersee, einmal als «Yoga-Konzert» zum Mitmachen. «Das Echo war positiv», erklärt Intendant Christian Weidmann, «es lässt sich dabei aber schon spüren, dass unser Publikum lieber ins Konzert kommt.» Die Musikwissenschaftlerin Susanne Rode-Breymann bringt es auf den Punkt: «Kunst auf der Bühne ist keine digitale Kunst.»

Das Livekonzert, so oft schon totgesagt, wird wohl auch in der Post-Coronazeit weiter blühen. Oder gerade umso mehr? Es hat den Vorteil, dass Interpreten und Publikum im Konzertsaal zu einer anderen Haltung gezwungen sind als beim Streamen, wie es die Pianistin Sophie Pacini frei heraus formuliert: «Ich weiss ja gar nicht, wo der Rezipient sitzt – sitzt der vielleicht gerade auf dem Klo?» Ein Gefühl wie im Konzertsaal aufzubauen sei unter solchen Umständen schwierig, berichtet sie weiter. Die unmittelbare Interaktion zwischen Podium und Zuhörerschaft ist also nach wie vor wertvoll.

Einen interessanten Ansatz, obwohl auch online, bieten die Reihen «at home» und «Salon Picasso», die das Sinfonieorchester Basel in regelmässigen Streams seit dem Lockdown anbietet. Hinter diesen Namen verbergen sich rund 30-minütige thematische Sendungen, zusammengehalten durch einen dramaturgischen Faden. Der künstlerische Direktor des Orchesters, Hans-Georg Hofmann, stellt im Gespräch mit Orchestermitgliedern einzelne Register vor, die anschliessend spielen – im Probesaal des Orchesters, oder mal auf witzige Weise zu Hause. Didaktisches verbindet sich mit Unterhaltendem. «Wir haben die Coronazeit genutzt, um ein digitales Archiv aufzubauen, die Beiträge bleiben für einen längeren Zeitraum abrufbar», erläutert Hofmann dazu.

Vorsichtig ins Freie

Die Sehnsucht nach Livemusik aber ist gross. Und so wagen sich nach der Lockerung der Coronaregeln viele Musikerinnen und Musiker wieder näher an den analogen Betrieb heran. Das Kammerorchester Basel veranstaltet «Coronaden»-Konzerte, kurze Auftritte im öffentlichen Raum, wie etwa in einem Buswartehäuschen. «Raus aus der Versenkung, hin zu den Menschen, das gibt eine tolle Energie», meint Konzertmeisterin Julia Schröder, die das Format auch nach Corona beibehalten möchte.

In ähnlicher Richtung tendiert das Musikkollegium Winterthur mit «Musik vor Ihrer Tür»: Abonnenten, Gönnerinnen und Vereinsmitglieder konnten gratis ein Kammerkonzert mit Musikerinnen und Musikern des Orchesters bestellen. Die Nachfrage war sehr gross, bis jetzt wurden 85 Konzerte gegeben, auch Nachbarn und Passanten waren unter den Zuhörenden. «Wir glauben, dass wir dadurch neues Publikum gewonnen und die Beziehung zum bestehenden Publikum gestärkt haben», lautet das Fazit.

Den momentanen zwangsweisen Mainstream ausnutzen möchte die Initiative «Digital Concerts» des Tenors Sascha Emanuel Kramer und des Tonmeisters Marcel Babazadeh. Jeden Montag um 20.30 Uhr wird via Facebook und Youtube ein Konzert aus einer Fabrikhalle am Zürichsee gesendet.

Die Idee ist, die Intimität eines klassischen Hauskonzerts in digitaler Form zum Konsumenten zu bringen. Acht Konzerte haben bereits stattgefunden, und die Klicks sind zahlreich. Die Streams beweisen allerdings die Schwierigkeit, aus digitaler Distanz Nähe zum Publikum aufzubauen. Die Begrüssungen in betont legerer Manier wirken unprofessionell, die Moderationen zuweilen aufgesetzt. Das Equipment allerdings ist professionell, die Musikerinnen und Musiker spielen auf hohem Niveau. Nur bewahrheitet sich auch hier, dass Qualität teuer ist: «Wir sind auf finanzielle Unterstützung angewiesen, damit wir die Kosten bewältigen und den Künstlerinnen faire Gagen bezahlen können.» Der Slogan, «die Konzerte sind gratis aber nicht kostenlos», bringt im Lockdown mangels Konzertalternativen Gelder zum Fliessen, finanzielle Solidarität ist in diesen Tagen grossgeschrieben. Das bestätigen auch andere klassische Konzertveranstalter. Aber danach? Welche Spuren hinterlässt die Streaming-Euphorie dieser Tage?
 


Bildnachweis

Das Schlagzeugregister (Iwan Jenny, Ramon Kündig, Marco Kurmann) des Luzerner Sinfonieorchesters mit einer gelungenen Bolero-Version

Foto: Screenshot aus «Tagebuch eines verschollenen Orchesters», 13. Eintrag
 

Unterstützung für Basler Orchester

Der Regierungsrat von Basel-Stadt hat die Fachjury für die Programmförderung der Basler Orchester bestimmt. Die Abteilung Kultur schreibt die Programmförderung für den Zeitraum bis Mitte 2023 aus.

Symbolbild. Foto: Kael Bloom /unsplash.com (Link zum Bild unten)

Die 2016 eingeführte Programmförderung Orchester richtet sich an professionelle Basler Orchester und grössere Instrumentalensembles der Alten und Neuen Musik. Eine Fachjury beurteilt die eingereichten Konzertprogramme über drei Spielzeiten hinweg nach transparenten Kriterien.

Die Fachjury besteht aus Valerio Benz, Musikredaktor und Musikproduzent bei SRF2 Kultur, Basel, Roman Brotbeck, Publizist und Berater für Musik, Kulturpolitik und Forschungsentwicklung, Basel, Lydia Rilling, Chefdramaturgin der Philharmonie Luxemburg, Alexander Steinbeis, Orchesterdirektor beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin und Lena-Lisa Wüstendörfer, Music Director Swiss Orchestra und Musikwissenschaftlerin, Zürich.

Begonnen hat ausserdem die Ausschreibung für die nächste Finanzierungsperiode: Für die Programmförderung Orchester in den Jahren 2021, 2022 und im ersten Halbjahr 2023 stehen infolge des Grossratsbeschlusses vom 11. März 2020 rund 4,7 Millionen Franken zur Verfügung. Um die Förderung können sich professionelle Orchester und Ensembles bewerben, die im Kanton Basel-Stadt eine regelmässige Konzertreihe etabliert haben.

Detaillierte Informationen zu den Zulassungsbedingungen und zu den einzureichenden Unterlagen unter: https://www.kultur.bs.ch/kulturprojekte/musik.html
 


Back on stage

Unter der Schirmherrschaft des Schweizer und des Deutschen Musikrates eröffnen die Festival Strings am Tag der Musik (21. Juni) im Konzertsaal des Kultur und Kongresszentrums Luzern die Konzertsaison mit Publikum nach dem Lockdown.

Konzertsaal im Kultur und Kongresszentrum Luzern (KKL). Foto: zVg,SMPV

Am Tag der Musik, der alljährlich am 21. Juni gefeiert wird, startet nach Monaten des Stillstands wieder der Konzertbetrieb. Das erste Konzert mit Publikum steht unter der Schirmherrschaft des Schweizer Musikrates und des Deutschen Musikrates, die auch die Träger des Aktionstages in der Schweiz und Deutschland sind. Das Konzert wird von Deutschlandfunk Kultur live übertragen, SRF 2 Kultur sendet es zeitversetzt.

 

Konzertprogramm

«Back on stage!» | Ein «Steinway Prizewinner Concert»

21.06.2020, 20:00 | Luzern (Schweiz), KKL Luzern, Konzertsaal

Claire Huangci, Klavier | Daniel Dodds, Leitung und Violine | Festival Strings Lucerne

Franz Schreker: Scherzo für Streichorchester (1900)
Frédéric Chopin: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 f-Moll op. 21, Fassung für
Streichorchester von Ilan Rogoff (2010)
Robert Schumann: Bilder aus Osten op. 66 (1849), Fassung für Streichorchester von Friedrich Hermann (1884)
Antonín Dvořák: Serenade für Streichorchester E-Dur op. 22 (1876)

 

Weiterführender Link

Silbermann-Handschriften digital verfügbar

Nach dem Erwerbung eines Reisetagebuchs von Johann Andreas Silbermann hat die SLUB Dresden weitere zentrale Handschriften des Strassburger Orgelbauers und Neffen von Gottfried Silbermann angekauft.

Notre Dame, Orgel von Thierry (1733) (Bild: SLUB Dresden, Ramona Ahlers-Bergner),SMPV

Das zwischen den 1720er und 1780er Jahren angelegte sogenannte Silbermann-Archiv ist eine Fundgrube für Kultur und Wissenschaft und dokumentiert das Familienwissen zum Orgelbau. Johann Andreas Silbermann legte eigenhändige Beschreibungen zu 35 Orgeln seines Vaters, des ursprünglich aus Sachsen stammenden Andreas Silbermann, an, beschrieb 31 Instrumente, die er selbst gebaut hatte, und trug Details zu knapp 250 Instrumenten aus ganz Europa zusammen.

Ein Silbermann-Tagebuch, ein mit Zeichnungen und Zeitungsausschnitten reich ausgestattetes Notizbuch, hatte die SLUB 2014 bereits bei Sothebys ersteigert. Darin schildert Johann Andreas Silbermann eine Rundreise im Jahr 1741, die ihn von Strassburg über Frankfurt durch die mitteldeutschen Residenzstädte bis nach Berlin und zurück führte.

Die Dokumente sind online zugänglich unter: www.slubdd.de/silbermannarchiv

Originalartikel:
https://www.slub-dresden.de/ueber-uns/presse/pressemitteilung/2020/6/15/weltbekannt-und-stilbildend-slub-dresden-erwirbt-wertvolle-handschriften-der-orgelbauerdynastie-sil/

Open Air im Livestream

Der Verein Summair bringt ein Open Air nach Hause, auf die Wiese, an den Strand oder wohin auch immer.

Foto: Fausto Garcia / unsplash.com (Link siehe unten),SMPV

Das Open Air findet in Hochdorf (LU) statt am Donnerstag, 18. Juni, 18 bis 23 Uhr.

Line Up:
Josua Romano, The B-Shakers, Veronica Fusaro, ZiBBZ, Marc Amacher & Band

Moderation:
Linda Fäh

Gestreamt wird von der grossen Bühne in Hochdorf. Dort können maximal 224 Personen das Konzert live miterleben. Tickets sind ausschliesslich über den Vorverkauf erhältlich.

Der Livestream ist hier unten oder über die Website des Veranstalters kostenlos zu verfolgen, Spenden sind willkommen.

 

Organisator: Verein Summair


Saalorgel-Zwillinge

Sowohl in Basel wie in Zürich werden derzeit neue Orgeln in die Konzertsäle eingebaut. Der Orgelspezialist Rudolf Meyer aus Winterthur nimmt dies zum Anlass, die Diskussion über Zweck und Charakter solcher Instrumente mit einigen Stichworten anzuregen.

Einbau der Metzler-Orgel im Musiksaal des Stadtcasions Basel. Foto: Jürg Erni

1956 wohnte ich einem Orgelabend von Helmuth Reichel in der Zürcher Tonhalle bei, es blieb wohl der einzige in neuerer Zeit. Seither beobachte ich das eher leidvolle Saalorgelkapitel aufmerksam. Und gerne trage ich dieses Votum bei, um Bewegung in die etwas zu ruhige Diskussion zu bringen im Hinblick auf die zwei im Bau begriffenen Instrumente. Es gilt, die sich eröffnenden, sagenhaften Chancen jetzt zu erkennen und zu nutzen! Wir sind einmal mehr gespannt auf den fairen Wettstreit zwischen «Basel und Zééri».

Konzertsäle verfügen über eine Akustik, die der absoluten Durchhörbarkeit des schwingenden Orchesterklangs dienen soll. Bei der Orgel sind Kirchenräume idealer, weil durch ihre Hallverhältnisse die starren Klänge der Pfeifen miteinander sozialisiert werden. Viele der neueren, mir bekannten Saalorgeln leiden darunter, dass sie knallig, gläsern und gerne zu laut klingen neben dem Orchester. Und dann heisst es, dass sie eigentlich unbrauchbar seien. Ist es nicht bezeichnend, dass in England Saalorgeln füllig und warm klingen und sich mit Orchestern wie von selbst mischen? Eher weniger geeignet sind sie für alte Meister. Meine Erinnerung an die Tonhallen-Orgel von 1939 bis 1986 geht genau in diese Richtung, weshalb ich mich 1985 für deren Erhalt einsetzte: als Alternative zum damals gängigen neubarocken Klanggewand bei Kirchenorgeln.

Freuen wir uns von Herzen, dass in zwei bedeutenden Konzertsälen neue Orgeln installiert werden und unser einheimischer Orgelbau einmal mehr seinen hohen Qualitätsstand beweisen darf. An beiden Orten ist es nun das dritte Projekt, das auf zwei «Provisoires qui ne durent pas» folgt.
 

Stichworte zu den neuen Instrumenten in Basel und Zürich

Stadtcasino Basel: Metzler-Orgel

  • Beibehaltung des historischen Gehäuses bei 56 Registern
  • Saalakustik: weitgehend Neuland für das Haus Metzler
  • Elektrisch gesteuertes Instrument mit mechanischem Effektmanual mit zwei Spieltischen für Dirigenten-, Ensemble- und Publikumsnähe
  • Klug beschränkte Disposition in Bezug auf die Windladengrösse und die Raumverhältnisse

 

Tonhalle Zürich: Kuhn-Orgel

  • Bezug zur alten Tonhalle-Orgel nach 1939 bei geglückter Neuinterpretation des damaligen Gehäuses. «Wiedergutmachung» für dessen Exil ins Neumünster
  • Reiche Erfahrung des Hauses Kuhn mit Sälen (USA, Japan, Europa)
  • Disposition beträchtlich und ausladend, wohl dank dem Wegfall der gesamten Spielmechanik, somit unter Preisgabe des physischen Kontakts zum Pfeifenventil
  • Echte Klangbereicherung durch neue Registerkreationen wie Flauto turicensis oder Nasenflöte!
  • Ein mobiler Spieltisch, dank fliegender Windlade bloss drei Manuale und damit bessere Dirigenten-, Ensemble- und Publikumsnähe
  • Pragmatischer Verzicht auf mechanische Traktur angesichts des Schaubedürfnisses des Publikums

Wunschzettel zur Wertschätzung

An beiden Standorten eigentliche Szenen für Orgel- und Orgel-Orchester-Anlässe, also ein Ruck durch die städtischen Musikwelten überhaupt
Was machen wir mit einer grossen, tollen, millionenteuren Villa auf der grünen Wiese? Gehen wir daran, Wege zu schaffen, damit sie öfter Gastgeberin sein kann. Die aufwendigen Neubauten sollten eine überregionale Ausstrahlung bekommen.

Lebendige Synergien mit beiden Musikhochschulen und Bühnen
Allein noch in Genf verfügt eine Musikhochschule über eine eigene grosse Saalorgel. An allen andern Orten ist das Instrument ideell und materiell ausgelagert in Kirchen, und ein grosses Repertoire an sinfonischer Orgelmusik muss mit dafür eher ungeeigneten Emporen vorlieb nehmen – mit und ohne Orchester. Mit den neuen Instrumenten soll die Zusammenarbeit erwachen zwischen Konzertgesellschaften, Hochschulen und Bühnen. Speziell im Bereich der Choreografie eröffnen sich mit diesen Sälen sensationelle Chancen. Orgeltänze kennen wir seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich: Widor, Vierne, Messiaen, Alain, Litaize, Heiller, Bovet. Hinzu kommen sinfonische Transkriptionen.

Die Konzertgesellschaften selber oder delegierte aktive Körperschaften als Orgelkonzertveranstalter
Dermassen gewichtige und ausladend-repräsentative neue Orgeln rufen nach einer eigenen Szene. Nach den Millionenaufwänden sind angemessene Einrichtungen für Orgelveranstaltungen zu schaffen. Entweder sind diese in den Betrieb der beiden Konzertgesellschaften integriert oder an Vereine zu delegieren. Dies ist deshalb vordringlich, weil das von mir mitinitiierte Projekt KunstKlangKirche Zürich infolge einer schwachen Interessenlage nicht zustande kam. Bei Luzerns KKL-Orgel sorgte bis vor Kurzem die Erbauerin und ortsansässige Firma Orgelbau Goll für Konzerte.

Mittel für den Betrieb proportional zu den hohen Baukosten und den prominenten Stellungen dieser Instrumente
Es sind beträchtliche Mittel bereitzustellen für Solistenhonorare, Werbung und die räumliche Infrastruktur wie etwa den Orgelunterhalt. In Basel und Zürich hat man bis heute seine Mühe mit letzterem.

Organisatorische Integration von Orgelkonzerten in den jeweiligen Saalbetrieb
Dem Vernehmen nach gibt es immer wieder Probleme, wenn Konzertsäle für einzelne Organisten stundenlang reserviert werden müssen. Ausreichende Probezeiten sind aber erforderlich, weil jedes Instrument ein Unikum ist und stets spezielles «Orchestrieren» jeder Partitur erfordert.

Titularstellen für Konzerte, Choreografien und ggf. Meisterkurse
Aus dem Geschriebenen resultiert die Errichtung einer gut alimentierten Organisten-Konzertstelle, weit über das Orchesteramt hinaus. Entweder spielen die künftigen Stelleninhaber selber, werden auch beigezogen bei Oratorienaufführungen, oder sie ziehen Konzertzyklen auf, auch mit Gästen aus dem In- und Ausland. In Zusammenarbeit mit den Dozenten der Musikhochschulen sollen auch Meisterkurse und dergleichen stattfinden können. Vorbilder haben wir in den angelsächsischen Städten mit ihren Town-Halls oder Universitäten, wo sich z. B. Mittags-Recitals einer grossen Beliebtheit erfreuen. Ist das Organistenamt jedoch mit einem städtischen Kirchenamt eng verbunden, so wird die Saalorgel immer zurückstehen müssen – wie die Geschichte beider Säle lehrt. Verhindern wir also das Dasein als «Seitenwagen» der tief verwurzelten Kirchenszene.

Orchester-Orgelkonzerte im Pflichtenheft von Haus- und Gastdirigenten
Warum kennen unsere Dirigenten die Eigenheiten eines jeden Orchesterinstrumentes, haben jedoch wenig Ahnung vom Wesen der Orgel? Noch immer wird an den Ausbildungsstätten die Orgel in die «ferne» Kirchenwelt wegbeordert. Kein Wunder, dass Dirigenten ohne konkreten Auftrag sich niemals an die zwei Dutzend wunderbare Orgelkonzerte mit Orchester heranwagen. Was habe ich dabei schon alles erleben müssen an absolut unbrauchbaren Anweisungen! Solche Konzerte gehören von jetzt an in die Pflichtenhefte von Chef- und Gastdirigenten. Wäre ein entsprechendes Interesse schon länger vorhanden, so hätte man die Saalorgeln in beiden Städten längst saniert und klanglich in Ordnung gebracht.
Freilich ist auch einzuräumen, dass der maschinelle Anteil an der Orgel viele Interpreten daran hindert, wirklich gestaltend zu spielen. Mit Apostel Paulus gesprochen: «… und könnte alle Noten tadellos hinbekommen, hätte aber der Musikliebe nicht …» Da verstehe ich gewisse Vorbehalte vonseiten der Dirigenten dann doch nur allzu gut!
 

Grundsätzliche Gedanken zum Orgelbau

Orgelbau als Balance zwischen Idealvorstellungen und Auftrag
Im Gegensatz etwa zum Geigenbau schwingt das nicht industrielle Handwerk der Orgelbauer hin und her zwischen eigenen Vorstellungen, die ganz aus dem Instrument selber herauswachsen, und den Wünschen der meist grösseren Gremien der Auftraggeber, der künstlerischen und materiellen Bauherrschaft.

Orgelkonzepte vom Instrument her denken
Es ist wichtig, dass instrumentenbezogenes Denken Vorrang hat vor den «Wünschbarkeiten» einer sehr zeitgebundenen Organistenschaft etwa in Bezug auf Finessen bei elektronischen Steuerungen. Solches heisst für mich Orgeldenken.

Das klassische Instrument ist wichtiger als Sensationseffekte
Es gibt Leute, die nach Sitzberg, Fribourg, Luzern oder Kufstein pilgern, nur um Zimbelsterne, Regenmaschine, Gewitter oder Flächensound zu bewundern. Im Orgelbau sollte die Grenze dort gezogen werden, wo die emanzipierte elektronische Klangbranche Tätigkeitsfelder besser beherrscht. Warum denn verfügen die Orchesterinstrumente nicht schon längst über elektronische Moderatoren an Geigenstegen, Bläserkörpern oder Schlagwerk?

Die wahre Kunst besteht aus dem fantasievollen Umgang mit der «starren» Tongebung
Gerade die gesteinsmässige Starrheit des Orgelklangs, sein Wesen von Klang oder Pause, ist so faszinierend wie herausfordernd. Oder wie es Marie-Claire Alain 1969 ausdrückte: «Le bon goût, c’est la connaissance du style.»
 

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Zurzeit sind beide Orgelzwillinge in statu nascendi. Mit vielen Glückwünschen, aber auch hohen Erwartungen an die beiden Orgelbauhäuser freue ich mich auf die Resultate und die neu und bald erblühenden Aktivitäten.


Philharmonische Königinnen

Basel (Musiksaal des Stadtcasinos), Genf (Victoria Hall), Luzern (KKL), Zürich (Tonhalle); europaweit in Essen (Philharmonie), Dresden (Kulturpalast), Duisburg (Philharmonie Mercatorhalle), Hamburg (Elbphilharmonie), Kopenhagen (Koncerthuset), Neubrandenburg (Konzertkirche St. Marien), Paris (Auditorium Radio France und Philharmonie), Salzburg (Mozarteum), Wien (Musikvereinssaal).

Detail der neuen Orgel der Tonhalle am See in Zürich. Foto: Hans Syz,Foto: Rieger-Orgelbau,Foto: Martin Döring,Foto: Urs Wyss

Auf dem Lettner oder ebenerdig steht die Orgel in der Kirche. Im Konzertsaal thront sie über dem Orchesterpodium. Sie wird neuerdings vom fahrbaren Spieltisch aus mit elektrischer Traktur oder vom angebauten Spieltisch mit mechanischer Traktur gespielt, solistisch oder als Begleitinstrument für Chöre und Orchester. Die Konzertsaalorgel ist eine eigene Gattung. Ihre Disposition mit 70 und mehr Registern, auf drei bis vier Manuale und Pedal verteilt, ist multifunktional ausgelegt mit tragenden Grundstimmen, krönenden Mixturen, starken Zungenregistern. Die Spieltraktur ist digitalisiert mit einem modularen SPS-Bussystem, das per Touchscreen Display schier unbegrenzte Voreinstellungen ganzer Konzertprogramme ermöglicht.

Eine Saalakustik mit Nachhallzeiten von um die zwei Sekunden und damit einem wesentlich kürzeren Nachklang als etwa eine gotische Kathedrale fordert ein präsentes Klangbild. Die Konzertsaalorgel muss eine Hundertschaft an instrumentalen und vokalen Stimmen übertönen können. Von der Orgelbank auf dem Podium gesteuert, entfacht das Instrument Klangzaubereien vom Säuseln bis zum Sturm in Schalldruckgrössen von wenigen bis über hundert Dezibel.

Konzertsaalorgeln sind wieder in Mode gekommen, nachdem sie fast nur noch als zentral positionierte Prospekt-Attrappen die traditionellen Säle geschmückt hatten. Eigentliche Konzertsaalorgeln sind auch die Instrumente an den Konservatorien und Musikhochschulen. Oft sind Saalorgeln schlecht gewartet, selten gestimmt, ihre Trakturen ausgeleiert. So bekommt man die Orgeln im Amsterdamer Concertgebouw, dem Prager Smetana-Saal oder im Jugendstil-Palau de la Musica von Barcelona nur selten zu hören. Sie scheinen sich an ihr Dornröschendasein gewöhnt zu haben.
 

Von Neubrandenburg bis Kopenhagen

Erst bei Neu- oder Umbauten der Kulturhäuser besinnt man sich wieder auf die Funktion einer Konzertorgel. 2004 baute die Firma Kuhn Männedorf für die Philharmonie Essen eine Orgel mit 62 Registern und 4502 Pfeifen auf drei Manualen und Pedal. Horizontal aus dem Prospekt ragen die 61 Pfeifen des 8-Fuss-Hauptwerk-Registers «Tuba en chamade» heraus. Die Traktur des Spieltisches auf der kleinen Empore ist mechanisch, diejenige des fahrbaren Spieltischs auf dem Podium elektrisch.

2009 baute die Firma Eule aus dem ostdeutschen Bautzen die Orgel in der Philharmonie Mercatorhalle Duisburg im Stil einer englischen Townhall-Orgel. Im Vereinigten Königreich des 19. Jahrhunderts wurde die Tradition populärer Saal-Orgelkonzerte gepflegt. So gab William Thomas Best, der 1871 die Orgel im Crystal Palace eingeweiht hatte, in der St. George’s Hall zu Liverpool virtuose Orgelpiecen zum Besten. Noch heute wird die Orgel der Londoner Royal Albert Hall bei den spektakulären Proms Concerts gefeiert. Als Vorbild der Duisburger Konzertorgel dienten die Orgeln der Kinnaird Hall im schottischen Dundee (Harrison&Harrison 1923) und der Usher Hall zu Edinburgh (Norman&Beard 1913). Klanglich aufgefächert und breitbandig voluminös klingt die Mercatorhallenorgel mit ihren 72 auf vier Manuale und Pedal verteilten Stops.

2010 baute die Vorarlberger Firma Rieger im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins eine Orgel mit 6138 Pfeifen und 81 Registern im historischen Prospekt der ersten Orgel, 1872 gestaltet vom Weissenfelser Friedrich Ladegast. Und im gleichen Jahr baute Eule Bautzen im Saal des Mozarteums Salzburg eine dreimanualige Orgel mit 51 Registern und mechanischer Traktur.
 

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Die Rieger-Orgel in der von Jean Nouvel erbauten Philharmonie de Paris

91 Register, auf vier Manuale und Pedal verteilt, hat die 2009 von Orgelbouw Van den Heuvel (Dordrecht) französisch disponierte Orgel im 2000 Plätze fassenden Koncerthuset Kopenhagen. Die drei Werke Positif, Récit und Solo expressif sind in Schwellkästen eingebaut, um ihre Klänge abgestuft zu mischen. Im Positif als eine Art spanische Trompete herausragend ist das Cor Harmonique, während Tuba Mirabilis und Tuba Magna nach englischem Vorbild intoniert sind.

Gleich zwei neue Konzertsaalorgeln entstanden in Paris: die 2014 von Gerard Grenzing mit Sitz in El Papiol bei Barcelona erbaute Orgel im Auditorium Radio France mit 86 Registern und 5320 Pfeifen sowie in der 2500 Plätze fassenden Philharmonie die 2015 von der Vorarlberger Firma Rieger erbaute, von Michel Garnier intonierte Orgel mit 6055 Pfeifen und 91 auf 4 Manuale und Pedal verteilten Registern.

Die Orgel in Hamburgs Elbphilharmonie hat 2017 die Bonner Orgelbauwerkstatt Johannes Klais errichtet. Die Pfeifenreihen des offenen, quadratischen Prospekts (15 x 15 Meter) sind über drei Etagen angeordnet. Zum Anfassen sind die Prospektpfeifen speziell beschichtet. Die 4765 Pfeifen und die 69 Register sind vier Manualen (Chorwerk, Hauptwerk, Schwellwerk, Solowerk) und Pedal zugeordnet. Aus der Höhe des Akustik-Reflektors strahlt das Fernwerk mit vier kräftigen Zungenregistern über die Weingärten des Rundherum-Konzertsaals. Die Klais-Orgel kann am angebauten Spieltisch in der Höhe mit mechanischer Traktur oder vom fahrbaren Spieltisch auf dem Podium mit elektrischer Traktur gespielt werden.

Dresden hat seinen Kulturpalast aus DDR-Zeiten mit einem neuen, 1800 Plätze fassenden Konzertsaal und einer 2017 von Hermann Eule Bautzen ebenfalls nach dem Prinzip der englischen Town Halls konzipierten Orgel ausgestattet. Die 4109 Pfeifen der 67 Register sind auf vier Manuale und Pedal verteilt und mit elektrischer Traktur am mobilen Spieltisch zugeordnet.
 

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Die Orgel von Schuke, Berlin und Klais, Bonn in der Konzertkirche Neubrandenburg

Zur 800-plätzigen Konzertkirche ist die backsteinerne Marienkirche in Neubrandenburg umgebaut worden. Hinter einem bis 12 Meter hochragenden Holzprospekt haben die Firmen Karl Schuke, Berlin, und Johannes Klais, Bonn, gemeinsam die im Juli 2017 eingeweihte Orgel gebaut. Ihre 2852 Pfeifen sind auf 70 Register, vier Manuale und Pedal verteilt und an zwei Spieltischen spielbar.

Von Genf bis Zürich

Nach dem Brand der 1894 erbauten Victoria Hall Genf im September 1984 musste auch die Orgel neu gebaut werden. Die holländische Firma Van den Heuvel baute ein Instrument mit 71 Registern auf vier Manualen und Pedal im Stile eines Aristide Cavaillé-Coll. Die 1992 über der Konzertbühne thronende Orgel hat eine mechanische Traktur, die mit einer pneumatischen Spielhilfe (Barker-Hebel) ausgestattet ist.

In der vom Architekten Jean Nouvel und dem Akustiker Russell Johnson entworfenen Salle blanche des KKL Luzern hat die Firma Goll, Luzern, im Sommer 2000 eine Orgel mit 66 Registern auf vier Manualen und Pedal eingebaut. Seit Herbst 2017 kann sie auch am Spieltisch auf dem Podium gespielt werden.

Online-Enzyklopädie der Musicals

Das Zentrum für Populäre Kultur und Musik (ZPKM) der Universität Freiburg hat eine Online-Enzyklopädie veröffentlicht. Sie beschreibt alle Werke des populären Musiktheaters, die im deutschsprachigen Raum zwischen 1945 und der Gegenwart zum ersten Mal auf die Bühne gebracht wurden.

(Bild: Screenshot Musicalllexikon),SMPV

Das Musical ist seit den 1980er Jahren die erfolgreichste Gattung des populären Musiktheaters – was die Zuschauerzahlen ebenso wie den Umsatz und die öffentliche Resonanz betrifft. Die Gattung ist aber nicht nur als Teil der internationalen Unterhaltungsbranche von Bedeutung, sondern hat sich auch künstlerisch zu einer Form des Musiktheaters entwickelt, die neben der traditionellen Oper oder der Operette ästhetisch bestehen kann und zudem aktuelle gesellschaftliche Konflikte verhandelt.

Das neue Online-Angebot richtet sich an alle Interessierten: von Fans und Theaterbesucherinnen und -besuchern über Journalistinnen und Journalisten bis hin zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Fächer.

Das Online-Angebot beruht auf den Beständen des Deutschen Musicalarchivs, das am ZPKM angesiedelt ist. Alle Interessierten können das Lexikon kostenlos und ohne Anmeldung nutzen. Das Archiv wurde im Jahr 2010 gegründet und steht seit 2013 unter staatlichem Denkmalschutz.

Mehr Infos: www.musicallexikon.eu

Musik hilft, Emotionen besser zu erkennen

Ein Team der University of Bath um die Psychologin Karin Petrini hat Hinweise gesammelt, dass Musik hilft, akustisch wahrgenommene Emotionen besser zu erkennen. Die Beobachtenden erleben die wahrgenommenen Emotionen dabei nicht selber.

Foto: Johnny Cohen / Unsplash (s.unten),SMPV

Musikkompetenz kann laut der Studie die Erkennung von Emotionen von Sprechenden verbessern. Ob sie die Erkennung von Emotionen durch andere Kommunikationsformen wie das Sehen verbessert, ist jedoch unklar. Das Bather Psychologenteam präsentierte Musikern und Nichtmusikern visuelle, auditive und audiovisuelle Clips von Kommunikationen zweier Personen. Die Teilnehmer beurteilten so schnell wie möglich, ob die zum Ausdruck gebrachte Emotion Glück oder Wut war, und gaben anschliessend an, ob sie auch die Emotion fühlten, die sie wahrgenommen hatten.

Musiker erwiesen sich dabei genauer als Nichtmusiker darin, Emotionen nur aufgrund akustischer Information zu erkennen. Obwohl das Musiktraining die Erkennung von Emotionen durch Klang verbessert, beinflusst es die selber gefühlten Emotionen allerdings nicht. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die emotionale Verarbeitung in Musik und Sprache überlappende, aber auch unterschiedliche Ressourcen verwenden kann oder dass einige Aspekte der emotionalen Verarbeitung weniger auf Musiktraining reagieren als andere.   

Originalartikel:
https://online.ucpress.edu/mp/article/37/4/323/106221/Musicianship-Enhances-Perception-But-Not-Feeling

Link zum Bild: Johnny Cohen / Unsplash

Streichquartett Nr. 14

Jeden Freitag gibts Beethoven: Zu seinem 250. Geburtstag blicken wir wöchentlich auf eines seiner Werke. Heute auf das Streichquartett Nr. 14 in cis-Moll.

Ausschnitt aus dem Beethoven-Porträt von Joseph Karl Stieler, ca. 1820

Ob das Quartett auch keine Bearbeitung sei, wollte 1826 der Schott-Verlag vor Abschluss des Vertrages über die Drucklegung wissen. Beethoven, darüber ein wenig verärgert, notierte auf die Stichvorlage: «zusammengestohlen aus verschiedenem diesem u. jenem.» Aus Sorge, man könnte ihn am Ende beim Wort nehmen, folgte nur wenig später in einem Brief aufklärend: «sie schrieben, daß es ja ein original quartett seyn sollte, es war mir empfindlich, aus Scherz schrieb ich daher bey der Aufschrift, daß es zusammen getragen. Es ist unterdeßen Funkel nagelneu.»

Abgesehen von dem Sprachwitz und der hintersinnigen Wortwahl dieser Bemerkung verweist sie auf ein Werk, das gleich in mehrerlei Hinsicht neu ist: Mit insgesamt sieben Sätzen (Beethoven sprach indes von «Stücken»), von denen sich vier zu zwei Paaren zusammenziehen lassen, stösst die Komposition schon rein äusserlich in neue Dimensionen vor. Doch auch die einzelnen Satzcharaktere weisen weit über den zeitgenössischen Horizont hinaus und bis in das 20. Jahrhundert hinein: das schwermütige Fugato des ersten Satzes, der auf feine Art in sich kreisende zweite, der rezitativische dritte, der zu den zentralen Variationen überleitet, das vorwitzige Presto sowie der kurze, elegische sechste Satz, der dem kantig-subjektiven Finale vorangeht. Auch wenn Beethoven keine öffentliche Darbietung des Werkes mehr erlebte, verlangte er doch eine Aufführung nahezu ohne Pausen. So fragte Karl Holz, der Cellist des Schuppanzigh-Quartetts, bereits Ende August 1826 in einem Konversationsheft: «Muß es ohne aufzuhören durchgespielt werden? – Aber dann können wir nichts wiederholen! – Wann sollen wir Stimmen?Wir werden uns verlässliche Saiten bestellen.» Die entsprechenden Antworten kann man sich mühelos vorstellen.

Vertraut man den später von dritter Hand aufgezeichneten Erinnerungen von Holz, so war es auch dieses Streichquartett, das zur letzten Musik wurde, die Franz Schubert hörte. Ein paar Tage vor dessen Tod soll es zu einer privaten Aufführung gekommen sein; möglicherweise übernahm Schubert gar selbst den Viola-Part. Ludwig Nohl berichtet darüber: «Die Herren Holz, Karl Groß, Baron König spielten es ihm zu liebe, es war nur noch Doleschalek, Clavierlehrer, zugegen. Schubert kam in solche Entzückung, Begeisterung und ward so angegriffen, daß alle für ihn fürchteten. Ein kleines Uebelbefinden, das vorhergegangen und noch nicht gründlich gehoben war, steigerte sich riesig, ging in Typhus über, und Schubert war nach fünf Tagen todt.» (Beethoven, Liszt, Wagner. Ein Bild der Kunstbewegung unseres Jahrhunderts, Wien 1874, S. 111 f.)

 


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