Musik für Augen und Kopf

Spätestens seit der musikalischen Avantgarde gilt die Notengrafik als eigenes Genre zwischen Bildender Kunst und Musik. Wie sieht diese Art von stiller Musik im digitalen Zeitalter aus? Und was kann sie leisten? Eine Untersuchung am Beispiel der «sheet music» von Johannes Kreidler.

Spätestens seit der musikalischen Avantgarde gilt die Notengrafik als eigenes Genre zwischen Bildender Kunst und Musik. Wie sieht diese Art von stiller Musik im digitalen Zeitalter aus? Und was kann sie leisten? Eine Untersuchung am Beispiel der «sheet music» von Johannes Kreidler.

Beim Stöbern im Souvenirshop fällt mein Blick auf eine Postkarte: eine Notenzeile, die sich über die gesamte Breite der Karte zieht. Am Anfang steht ein Violinschlüssel, sonst ist sie leer. «Geniesse die Ruhe», lautet die Unterschrift. Sie erinnert mich an eine Serie von Schwarz-Weiss-Drucken, der sheet music von Johannes Kreidler, die genau demselben Muster folgen: eine Grafik aus Notensymbolen mit Titel, Prinzip Minimalismus, wie im sheet Sunset, das nur aus einer Notenzeile und einer einzelnen Note besteht.

Das Postkartenmotiv ist zwar nett, irgendwie auch raffiniert und trotzdem wirkt es vor dem Hintergrund von Kreidlers Arbeiten blass. Offenbar haben die sheets etwas, was die Postkarte nicht hat, das aber auf den ersten Blick verborgen bleibt. Aber was?

Der Schlüssel dazu liegt in ihrem Ursprung: Ihr Schöpfer ist kein Grafikdesigner mit besonderem Gespür für Originalität, sondern Künstler, Performer und vor allem: Komponist. In den letzten Jahren fiel Kreidler mehrfach durch seine innovativen wie provokativen Arbeiten und Aktionen auf, die er immer auch in einen theoretischen Kontext stellt. Neuer Konzeptualismus lautet das Schlagwort, unter dem der 34-Jährige sein aktuelles Schaffen begreift und auf dessen Erde auch die sheets gepflanzt sind. Was zählt, ist die Idee, zu deren Umsetzung alle Mittel und Medien der Kunst erlaubt sind. Wie und ob das dann klingt, ist sekundär. Mit der sheet music, die Kreidler seit 2013 kreiert, wendet er sich komplett vom Hörbaren ab: Er komponiert Grafiken aus Noten, «Augenmusik» – und auch das mit Konzept.

Was das Material betrifft, ist dieses Konzept denkbar einfach: weisser Hintergrund, schwarze Schrift, Typ: Times New Roman, ein Dreiklang mit Titel 1+2=3, ohne Schnörkel. Schon dem widerspricht die Postkarte mit ihrem roten, kursiv gesetzten Spruch, der verrät, dass sie hübsch sein will. Die sheet music will das nicht, zumindest nicht nur. Sie will vor allem etwas mitteilen, und diese Mitteilung generiert der Betrachter selbst, indem er die zwei Zeichenebenen miteinander in Beziehung setzt. 1+2=3 zeigt eigentlich keinen Dreiklang, sondern Notationssymbole, die wir aufgrund ihrer Anordnung und des Titels als Dreiklang bezeichnen. Der Titel setzt dem Assoziationsspielraum Grenzen, ein Prinzip, das Kreidler in ähnlicher Weise bereits in seiner Aktion Fremdarbeit austestete. Dort beeinflusste er durch unterschiedliche Anmoderationen zu immer derselben Musik die auditive Wahrnehmung. «Präpariertes Hören» nannte er das, und hier liefert er das Pendant: «präpariertes Sehen».
 

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«Sunrise for Bejiing» (2014)

So funktioniert auch die Postkarte: Bild und Titel ergeben eine Aussage, die relativ leicht zu fassen und eindeutig ist. Haben wir sie kapiert, schauen wir weg. Die sheets hingegen halten unsere Aufmerksamkeit durch ihre Individualität, Offenheit und Rätselhaftigkeit wach. Ihre Interpretation ist nicht nur eine kognitive, sondern auch eine kreative Leistung. Jedes sheet liefert einen Denkanstoss, der in ganz unterschiedliche Richtungen führen kann. Ein Kontinuum bildet nur die Ironie, wie im sheet Sunrise for Bejing. Wenige grafische Elemente entpuppen sich in Kombination mit dem Kommentar, der das sheet auf Kreidlers Blog Kulturtechno ergänzt, als ein Cocktail aus Galgenhumor und Gesellschaftskritik: «Wegen des extremen Smogs wird in Peking auf einem grossen LED-Bildschirm die Abbildung eines Sonnenaufgangs gezeigt.»

Die meisten sheets führen thematisch aber zum Ursprung der kleinen Formen zurück. «Ich will, dass jetzt alle mal über Musik nachdenken!» Was Kreidler in einer seiner Performances forderte, gilt auch für die sheets. Sie greifen Topoi aus der Musikgeschichte auf, verarbeiten sie auf spielerische Art und erweitern sie um subtile Pointen, wie Tristan Motive, altogether, ein Cluster, der sämtliche Töne des Tristan-Motivs vereint ‒ Kreidlers Beitrag zu einer nicht enden wollenden Debatte der Musiktheorie.

Letztlich lassen sich die Drucke insgesamt auch als Reflexionen über das digitale Handwerkszeug des Komponisten von heute verstehen. Die Massenansammlungen von Notationssymbolen der sheet-Serie Depots stehen für die grenzlose Verfügbarkeit des Materials, das heutzutage besser in Grafiken als in Partituren aufgehoben zu sein scheint. Die sheets bringen uns die Software sowohl als Hilfsmittel nahe, das die Notation erleichtert und besser kommunizierbar macht, als auch als Medium, das zwischen Autor und Notat eine Distanz erzeugt. Die scheinbar willkürliche Zusammensetzung von Notenzeichen, z. B. in Beach Game, besitzt Symbolstatus: Der Komponist ist nicht mehr Herr dessen, was er in den Computer eingibt.

Kreidler aber hat seine Noten im Griff: Er verrückt Zeichen absichtlich, um Bewusstsein zu schaffen. Er komponiert, nur keine Klänge. Ist sheet music denn überhaupt Musik? Eine fast philosophische Frage, zu der Kreidler klar Stellung bezieht: «Musik muss auch mal raus aus der time-base. Musik ist nicht nur akustisch, sondern hat auch seine [sic!] visuellen Kontexte. Es ist dann immer noch Musik.» Tatsächlich suggerieren nur wenige der Bilder ein akustisches Moment. Kreidlers Antwort täuscht über die Komplexität der Sache hinweg, ebenso wie manches sheet über die seriösen Gedanken ihrer Verwandten: Eine Notenzeile, die sich über die gesamte Breite einer Leinwand zieht. Im vierten Zwischenraum liegt eine kreisrunde Note, sonst ist sie leer. «Asshole», lautet die Überschrift. Provozieren – auch das kann die Postkarte nicht.

sheet music unter

www.sheetmusic-kreidler.com

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Die Zerstörung der Stille

Ein wichtiger Topos der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ist die Stille. Oft suchten Komponisten die expressiven Momente gerade in den leisen Tönen. Der Musik des Noise wird im Gegenzug Gewalt und purer Krach nachgesagt. Lassen sich diese beiden Sphären verbinden?

Ein wichtiger Topos der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ist die Stille. Oft suchten Komponisten die expressiven Momente gerade in den leisen Tönen. Der Musik des Noise wird im Gegenzug Gewalt und purer Krach nachgesagt. Lassen sich diese beiden Sphären verbinden?

Laptoprauschen, Vogelzwitschern, eine Stichsäge aus dem Off, die Stadt summt aus der Ferne den Bordun. Türenschlagen im Hof, Kinderstimmen, das Knattern eines Mopedauspuffs, Flugzeuge, die in wenigen Augenblicken auf dem Tegeler Flugfeld landen werden. Die durchschnittliche Kulisse einer Stadt im Jahre 2014. Vormittags, in einer ruhigen Berliner Seitenstrasse. Die Bauarbeiten sind omnipräsent. Der Geräuschpegel, den die Schleif-, Säge- und Bohrmaschinen produzieren, ist Teil meiner Umwelt. Gewerkelt wird hier pausenlos, wenn nicht auf der Strasse, dann im Haus. Eine alltägliche Kulisse, meine Stille. Die stille Stille, die in der Musikgeschichte (vor allem der des 20. Jahrhunderts) und darüber hinaus immer auch als spirituell beschrieben wird und wurde, es gibt sie nicht, es hat sie wohl nie gegeben.

Eine andere Hörsituation begegnet mir an einem Februarabend im Berliner Berghain. Der Club, in den jedes Wochenende Techno-Fans aus aller Welt strömen, wird an diesem Abend mit Noisemusik bespielt: Druck auf die Ohren, Angriff auf die Körper. Konzentriertes Zuhören ist kaum möglich. Vielmehr wird mein Körper «unfreiwillig» von den Klängen attackiert, zugemauert. Allmählich erst, nach gefühlten 20 Minuten, gewöhnt das Ohr sich an die Geräuschmassen, und Differenzen zeichnen sich leise an der Ohrmuschel ab: zerfetzte MP3-Reste, Feedback-Schleifen, klingender Datenmüll.

Eigentlich ist dieser Krach, der kaum aushaltbare Lärm, der vermeintliche Konterpart zu der anfangs beschriebenen, eher romantisierten «Stille». Die oft benutzte Redewendung von der Wall Of Sound, das ist es, was hier klanglich für einmal eine passende Zuschreibung erfährt. Yasunao Tone ist der Komponist, Klangkünstler und zugleich Performer dieser Musik und in Kreisen des Noise einer der wohl wichtigsten Vertreter. Das Betätigungsfeld des Japaners ist wie bei anderen seiner Fluxus-Zeitgenossen vielfältig, er arbeitete u. a. mit Merce Cunningham und John Zorn zusammen. In den Achtzigerjahren jedoch widmet sich Tone vor allem der Manipulation und Präparierung von CDs und kreiert seitdem seine Musik aus dem Malträtieren von digitalen, binären Codes. Exemplarisch zeigt sich diese Ästhetik und Klanglichkeit des Glitch vor allem bei seinem Stück Solo for Wounded CD: Hierfür klebt Tone auf der vom Laser auszulesenden Seite der CD Tesafilm-Streifen, sodass der CD-Spieler die binären Daten «inkorrekt» wiedergibt.

Was aber nun hat die Musik des Noisemusikers Tone mit Stille zu tun? Man könnte meinen, Stille und Krach seien zwei unvereinbare Pole, in deren Zwischenraum irgendwo die Musik situiert sei: als eine organisierte Struktur bestehend aus Klang und Stille. Diese Fixpunkte aber gelten nicht mehr als normativ und starr, das hat die Musik im 20. Jahrhundert mehrfach bewiesen: Das Geräusch wurde emanzipiert und die Stille für Kompositionen und Konzepte genutzt. Dass aber selbst dieser Dualismus, so wie er hier vorgeschlagen wird, nicht notwendigerweise funktioniert, sondern als Figur aufgeweicht wird, beweist die Musik von Tone und weitergehend der Noise.

Ausserdem darf Noise als Musikgenre nicht ausschliesslich mit den Attributen Gewalt und Lärm versehen werden. Denn – und hier gibt es durchaus Gemeinsamkeiten mit dem, was wir Stille nennen – Noise thematisiert auch immer die Wahrnehmung der Klänge und der Musik, ja Noise kann gar kontemplativ gehört werden. Das zeigt sich bei Stücken des polnischen Komponisten Zbigniew Karkowski. Die Komposition White findet sich auf einer Zeitkratzer CD mit dem Titel Noise … [Lärm]; der Untertitel: «To Listen To At An Extremly Loud Level». Trotz der überwältigenden Lautstärke und Dichte der Klangereignisse lässt ein solches Stück Musik dem Hörer einen Freiraum und die Möglichkeit der Orientierung im Klanggeschehen. Ähnlich wie beim Lauschen in die Landschaft kann man hier von einem Hineinhorchen in die Klangdichte sprechen. In den Hörweisen des Noise offenbart sich demnach zumindest die Möglichkeit einer sanften Berührung der so differenten Pole. Denn beiden Phänomenen – der Stille und dem Krach – wohnt eine Idee gegenüber klanglichem Material inne, welches sich sensuell und körperlich erfahren lässt.

Dass es aber Yasunao Tone gerade nicht um die Ähnlichkeiten zum Phänomen der Stille geht, stellt er am ausdrücklichsten mit der Komposition Imperfection Theorem of Silence dar, in der die Stille gar direkt thematisiert wird. Hierfür benutzt er «klanglose» Pausen aus seinem Stück Wounded Soutai Man’yo BOOK III und verarbeitet dieses vermeintlich stumme Material zu einer neuen Komposition. Ergebnis ist ein im Vergleich zwar eher ruhiges, dennoch mit Rauschen und Störgeräuschen durchsetztes kurzes Stück. Die Stille wird also als klingende zum klanglichen Material eines Noise-Stückes umgedeutet. Nichts spricht dagegen, diese Musik kontemplativ zu hören und so Wahrnehmungsmodi der Stille zu inkorporieren. Wichtiger als dieses Wahrnehmen ist aber die Entromantisierung der Stille, die in der Musikgeschichte der letzten hundert Jahre einen beinahe mythischen Schweif nach sich zieht; man denke hier an Nono, Cage oder auch Pärt. Der Noise dekonstruiert die Vorstellung von Stille als Kontemplation, von Stille als natürlichem Rückzugsort und entmythisiert diesen. Der Noise als Negation von Kommunikation und Kommunizierbarkeit produziert bewusst Fehler, soll fehlerhaft sein und zelebriert dadurch die Störung der Ruhe und digitalen Glattheit und die Störung der Romantik der ohnehin immer fiktiven Stille. In der Musik des Noise wird damit auch unsere klangliche Umwelt reflektiert.
 

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Stille

Stille Nacht, Stille in der freien Improvisation, der stillste Ort der Welt, wo einem fast bang wird … – Junge Musikjournalistinnen und -journalisten haben sich mit dem Phänomen «Stille» in verschiedensten Ausprägungen beschäftigt. Wir präsentieren ihre Essays, die in einem Nachdiplom-Studiengang der Fachhochschule Nordwestschweiz entstanden sind.

Stille

Stille Nacht, Stille in der freien Improvisation, der stillste Ort der Welt, wo einem fast bang wird … – Junge Musikjournalistinnen und -journalisten haben sich mit dem Phänomen «Stille» in verschiedensten Ausprägungen beschäftigt. Wir präsentieren ihre Essays, die in einem Nachdiplom-Studiengang der Fachhochschule Nordwestschweiz entstanden sind.

Focus

… und ausserdem

RESONANCE


La voix d’ange de Fritz Albert Warmbrodt

Si loin, si proche : Susanne Abbuehl et Elina Duni au festival Jazzonze+

«Wichtig ist das Schaffen von Perspektiven»
Interview mit Balthasar Glättli, Präsident von Swiss Music Export

Comment fait-on chanter des enfants pour l’éducation ?
Des classes en Suisse romande et au Burkina Faso créent des chansons

Carte blanche: Hans Brupbacher zur Zukunft der SMZ

Rezensionen Klassik, Rock und Pop – Neuerscheinungen
 

CAMPUS


PreCollege Musik der ZHdK

Rezensionen Unterrichtsliteratur – Neuerscheinungen

klaxon Kinderseite
 

FINALE

Rätsel: Michael Kube sucht

 

 

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Komm, tanzen!

Was hören wir eigentlich den ganzen Tag mit dem inneren Ohr? Lässt sich dieser Klang gestalten?

Was hören wir eigentlich den ganzen Tag mit dem inneren Ohr? Lässt sich dieser Klang gestalten?

Jemandem ist ein Farbeimer hingefallen. Auf dem grossen Platz Spuren von Fahrradreifen, Fussabdrücke, Linien, Bögen und Rhythmen in Weiss. Dieser Farbunfall zeigt das Abbild vieler vergangener Bewegungen. Während ich diese weissen Spuren betrachte und sie mit dem Blick und in Gedanken nachfahre, fällt mir ein Zitat ein: «Alle Wahrnehmung eines Rauschens in der Kunst hat die Form eines Tanzes, wie reglos wir diesen auch ausführen mögen.»(1)

Ich mag diesen Satz und finde, irgendwas daran fühlt sich wahr an. Irgendwas daran hat mich allerdings auch schon immer gestört. In diesem Moment fasziniert mich daran besonders der Kontrast: reglos – Tanz / stumm – Musik. Auch weil ich mich schon sehr lange frage, wie das eigentlich funktioniert, innen im Kopf Musik zu hören, obwohl draussen vor den Ohren Stille herrscht.

Bei einem Soundwalk mit Hildegard Westerkamp habe ich zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, dass es sowas wie eine innere Klangwelt gibt. Die kanadische Komponistin hatte den Begriff verwendet, als sie uns darauf vorbereitete, dass wir während des Rundgangs unsere Gedanken nicht würden abstellen können. In unserem Inneren würden sie immer zu hören sein, so sehr wir uns auch auf die Klänge im Aussen konzentrierten. Darauf war ich also gefasst und störte mich nicht daran, während wir schweigend durch die Darmstädter Fussgängerzone liefen. Gemeinsam lauschten wir, wie der Metallgully unter unseren Füssen klapperte, wie die Mittagsglocken vom Kirchturm sich mit Motorengeräuschen mischten und wie verwaschen und undeutlich die Fahrradklingel im Hall der Unterführung klang. Kalt erwischte mich dann aber der Lärm der Werbebotschaften. STOP! SUPERGÜNSTIG! NUR 3,99€!, so dröhnte es in mir, obwohl niemand ein Wort sprach. Bilder und Slogans, Schilder und Schriften drängten grell in mich hinein. Da, wo Schrift ist, erkannte ich, kann es für den, der sie lesen kann, nicht still sein.

Da begann ich, das Toben und Treiben und Spiel in meiner inneren Klangwelt zu beobachten und mich darüber zu wundern. Hört eigentlich jeder seine eigene Stimme im inneren Ohr beim Lesen, fragte ich mich? Oder sind da auch andere Stimmen? Und wenn ja: Wo kommen die her? Lassen sie sich gestalten? Hörst du dann innen drin auch das, was ich höre, auch wenn draussen Stille herrscht?

Ein Komponist, der mit dem Klingen der inneren Stimmen arbeitet, ist der Litauer Ignas Krunglevicius. In seiner Performance Deviance (2011) wird ein Gespräch zwischen drei Parteien in Schriftform auf drei Leinwände projiziert: ein Verhör, eine Therapiesitzung, ein klärendes Gespräch zwischen einem Richter oder Therapeuten, einem Elternpaar und einem Psychopathen, der brutale Morde begangen hat. Das Erscheinen der Wörter wird von acht Musikern durch perkussive Signale begleitet. Von allein bilden sich in der Stille dazwischen die Charaktere heraus: drei Stimmen. Grossbuchstaben sorgen für mehr Lautstärke im Inneren, es kommt zu einem Schlagabtausch. Und da, ein Gender-Twist! Die ganze Zeit habe ich gedacht, der brutale, perverse Killer wäre ein Mann. Doch nein, es muss ein Mädchen sein! Und die Stimme, die ich mir vorgestellt habe, verändert sich, verharrt kurzzeitig in einer seltsamen Schräglage, halb Mann, halb Frau, bevor sie in eine Richtung kippt: Da! Das Mädchen!

Dass Buchstaben in die innere Klangwelt hineinwirken, ist eigentlich gar nicht so verwunderlich. Schliesslich hat man sie erfunden, um Laute zu symbolisieren. Rätselhaft ist eher, dass das Entziffern dieser Symbole so still in uns hineingesunken ist. Wie Alberto Manguel in seinem Buch Eine Geschichte des Lesens beschreibt, war Lesen ursprünglich eine laute Tätigkeit: «Seit den ersten sumerischen Tontafeln waren geschriebene Worte dazu bestimmt, laut gesprochen zu werden: Jedes Schriftzeichen trug in sich einen bestimmten Klang – wie eine Seele. […] Mit einem geschriebenen Wort konfrontiert, muss der Leser den stummen Buchstaben, den scripta, Stimme verleihen und sie […] in verba, in gesprochene Worte verwandeln.»(2) Das Gemurmel und Geschwatze, das früher überall zu hören gewesen sein muss, wenn jemand las, tragen wir jetzt zumeist innen mit uns umher.

Eine grosse Sensibilität für die innere Klangwelt beweist die irische Komponistin Jennifer Walshe in ihren Arbeiten. Sie ruft die inneren Klänge jedoch nicht mit Hilfe von Buchstaben, sondern über den Einsatz von Video hervor. In Violetta Mahon’s Dream Diaries 1988–2008 werden vier Videobilder neben- und übereinander gezeigt. Darauf zu sehen: das Zerschmelzen eines Schokoladenhasen. Wie pastellfarbene Bonbons mit Liebesmotiven hingelegt und wieder weggenommen werden. Wie ein batteriebetriebener Stoffhase trommelt. Manchmal sind nur zwei Bilder zu sehen. Manchmal übereinander, manchmal überkreuz. Durch die parallel stattfindenden Bewegungen entsteht so etwas wie Mehrstimmigkeit, allerdings ohne dass auch nur eine Stimme zu hören ist. Walshe begreift Video als essenziellen Bestandteil ihrer Kompositionen: «The video is never a seperate element that somebody else composes, its something that I compose.»(3)

Was aber geschieht in der inneren Welt beim Betrachten dieser Videos? Kann ich das wirklich Klang nennen? Ist das nicht eher ein Gefühl für Rhythmus, für Motive, für Linien und Bögen … Ist das Musik – oder ist das nicht eher – ein Tanz?

Ich schaue auf die weissen Spuren auf der Strasse, und auf einmal weiss ich, was mich an dem Zitat stört. Was soll da überhaupt das Rauschen? «Alle Wahrnehmung von Kunst hat die Form eines Tanzes, wie reglos wir diesen auch ausführen mögen.» Ein innerer, regloser Tanz, beim Lesen von Texten, beim Hören von Musik, beim Betrachten von Bildern und Videos.

Weisse Fussabdrücke, Fahrradreifen. Linien und Bögen. Ein Tanz in meiner inneren Welt.

 

Anmerkungen
1 Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2003
2 Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens, Berlin Verlag Volk und Welt, 1998, S. 60
3 Jennifer Walshe in einem Interview mit der Autorin bei den Darmstädter Ferienkursen, August 2012

 

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Musik zum Lesen

Es gibt Musik, die nur durch ihre Beschreibung innerhalb eines literarischen Werks existiert. Dabei kann der Autor ganz unterschiedlich vorgehen. Ein Blick in Bücher von Hermann Burger, Marina Zwetajewa und Thomas Mann.

Es gibt Musik, die nur durch ihre Beschreibung innerhalb eines literarischen Werks existiert. Dabei kann der Autor ganz unterschiedlich vorgehen. Ein Blick in Bücher von Hermann Burger, Marina Zwetajewa und Thomas Mann.

Musik braucht nicht immer eine Bühne. Manchmal reichen ihr zwei Buchdeckel, um zu entstehen. Wobei Texte über Musik, die flüchtige Klänge mit Wörtern begreifbar machen wollen, natürlich geläufig sind. Doch diese Beschreibungen versuchen meist «nur», das Gehörte, das ein anderer komponiert und gespielt hat, aufs Papier zu bannen. Seltener und ungewöhnlicher ist es dagegen, wenn die Musik überhaupt erst im literarischen Text entsteht, ohne lästige Interpreten sozusagen, allein und direkt im Kopf des Lesers. Musikalisierte Sprache, wie zum Beispiel Kurt Schwitters Ursonate, das Paradebeispiel der Lautdichtung, ist damit nicht gemeint. Vielmehr geht es um eine Musik, die im Stillen bleibt, also nie wirklich erklingt – sofern sich nicht jemand die Mühe macht, diese «literarische Musik» in Schallwellen umzusetzen. Sie erklingt einzig im Kopf, was allerdings nicht zwangsläufig heisst, dass die Musik weniger realistisch ist, und schon gar nicht, dass sie eine stille Musik sein muss. Hermann Burgers Roman Schilten ist dafür das beste Beispiel. Burger lässt seinen Anti-Helden Armin Schildknecht nämlich kräftig in die Tasten greifen. Wenn sich der frustrierte Volksschullehrer an sein Harmonium in der Mörtelgrube unterhalb der Turnhalle setzt, dann beschwört er schon mal die Apokalypse herauf, lässt das Inventar beben oder taucht seine Zuhörer in «stille Umnachtung» oder eine «schwermütige Trance».

Dem Leser wird die literarisch komponierte Musik ebenso wie der gesamte «Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz» – wie Burger seinen Roman untertitelt – sprachgewaltig um die «inneren» Ohren gehauen. Die Hauptperson Schildknecht liefert hier in der Ich-Form einen Bericht über den Zustand der Schiltener Schule ab, der gleichzeitig eine monierende Psycho-Selbstanalyse sowie das facettenreiche Zeugnis einer hochgradigen psychischen Pathologie darstellt: «Mein freiwilliger Arrest wird dadurch entschärft, dass ich zusammen mit meinem geliebten Harmonium eingesperrt bin. Die gemischte Schul- und Friedhofspflege von Schilten gab mir ein Instrument, zu sagen, was ich leide.» Die Musik bietet bei Burger einen Zugang in die tiefsten Abgründe der Romanfigur und damit – was nahe liegt – auch in die seelischen Abgründe des Autors selbst: Was das Harmonium spielt, wird zu einem morbiden Soundtrack, der Schildknechts Selbstmitleids-Exzesse begleitet und seinem Kampf mit der Umwelt Ausdruck verleiht: «Für die Dauer des Zwischenspiels jedoch sind sie [die Trauergäste] meiner Botschaft ausgesetzt. In der ersten Fantasie arbeite ich mit dem einfachen Trick der Panik in geschlossenen Räumen. Mit Oktavsprüngen greife ich die Proportionen des schabzigergrünen Ungemachs, lasse auch die kühle Gruft der Mörtelkammer in meinem Rücken erstehen, so dass die Trauergäste enger zusammenrücken und ängstlich nach den Ausgängen schielen.»

Obwohl die Musik in Schilten viel Raum einnimmt, ist sie nicht das Thema des Buches. Denn der Roman wäre schliesslich auch ohne die «literarische Musik» denkbar. Eine ganz andere Rolle spielt die Musik in dem kleinen autobiografischen Büchlein von Marina Zwetajewa Mutter und die Musik. Obwohl im Titel enthalten, erklingt darin fast nie Musik. Die Autorin beschreibt dafür umso poetischer ihre problematische Haltung zur ihr. Die Mutter wollte sie zur Musikerin erziehen, doch das tägliche Klavierüben war für das Mädchen Marina eine einzige Frustration, mit der sie ständig konfrontiert wurde: «Wenn ich nicht spielte, spielte Assja, wenn Assja nicht spielte, übte Walerija und – uns alle übertönend und überdeckend – die Mutter, den ganzen Tag und fast die ganze Nacht!» Die Erzählung kreist um die Musik und den Kampf mit ihr, der eigentlich der Kampf mit der Mutter ist: «Doch – ich liebte sie. Die Musik – liebte ich. Nur meine Musik liebte ich nicht. Das Kind kennt keine Zukunft, es lebt im Jetzt (welches immer bedeutet). Jetzt gab es nur Tonleitern, Kanons und schäbige ‹Stücklein›, die mich durch ihre Unscheinbarkeit kränkten.»

Um das Abarbeiten und Abquälen an der Musik geht es auch in Thomas Manns Doktor Faustus. Allerdings dringt das Bucht viel tiefer in historische, musikwissenschaftliche sowie theoretische Überlegungen zur Musik ein als die Werke von Burger und Zwetajewa. Thomas Mann hat seine Hauptfigur dem Komponisten Arnold Schönberg nachempfunden und sie gleichzeitig mit dem Urtopos des Faust verknüpft. Der Tonsetzer Adrian Leverkühn hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und kann dank diesem wie ein Besessener arbeiten mit einer Garantie auf geniale Ideen. Thomas Mann hat damit der Zwölftonmusik ein auf grosser Kennerschaft fussendes, literarisches Denkmal gesetzt. Er schlägt somit eine einzigartige Brücke zwischen Musik und Literatur, die um einiges stärker ist als bei Burger und Zwetajewa, weil sie über die literarische und poetische Spielerei hinausgeht. Konkrete Beschreibungen von Klängen gibt es hingegen kaum. Dafür lässt sich das Buch, wie es Theodor W. Adorno anregt, im Gesamten als musikalische Form interpretieren. Er notierte über den Doktor Faustus: «Die Höllenfahrt Fausti als eine grosse Ballettmusik.» Das Ballett zum Lesen, es wäre auch ein paar Überlegungen wert.
 

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Zwei Visitenkarten

Über die Musik hinausgreifen, wollen die Projekte der Klavierklasse von Patricia Pagny. Das wird nicht wirklich deutlich, die CDs zeigen aber ansprechende Programme.

Ausschnitt aus dem CD-Cover von «Entre la France et le Japon»,Tanja Biderman,Tomomi Hori,Patricia Pagny

Patricia Pagny, Klavierprofessorin an der Hochschule der Künste in Bern, ist Initiatorin des «Tasti’Era»-Projektes, das durch Interdisziplinarität neuen Wind in die Klassikszene bringen möchte. Ihr erklärtes Ziel ist es, musikalische Auftritte durch die Verknüpfung mit anderen Künsten attraktiv, vielseitig und ansprechend für das Publikum zu machen. Als greifbares Ergebnis und Visitenkarte sind bis jetzt allerdings nur zwei CDs entstanden, die trotz ansehnlicher Qualität kaum als bahnbrechend zu bezeichnen sind. Pagnys Klavierklasse spielt darin zwei gut geschnürte Programme ein, die sich aber nicht von gewöhnlichen Motto-CDs abheben.

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Ausgehend vom starken Einfluss der japanischen Malerei auf die französischen Künstler am Ende des 19. Jahrhunderts begibt sich die Klasse auf der CD Entre la France et le Japon auf die Suche nach etwas Vergleichbarem in der Musik. Tatsächlich gelingt eine überzeugende Gegenüberstellung durch eine treffende Stückwahl. Toshio Akaishi und Toru Takemitsu gewähren einen Einblick in die japanische Kompositionskultur, und durch mehr oder weniger bekannte französische Vertreter von Maurice Ravel bis Jean-Jacques Werner werden sehr bald Unterschiede, aber auch weitreichende Gemeinsamkeiten deutlich. Die meist atmosphärisch-schwebenden Werke, grenzen sich vornehmlich durch unterschiedliche Klangflächenstrukturen voneinander ab, die auf die verschiedenen Kulturkreise zurückzuführen sind. Das Prélude La Puerta del Vino von Claude Debussy mit seinen starken spanischen Einflüssen fällt da aus der Reihe, durch seine sehr schöne, thematisch aber unpassenden Klangwelt. Drei Ersteinspielungen, Jean-Jacques Werners Madigan Square, Toshio Akaishis A Heavy Cloud Drips in the North Winter’s Sky und The blue moon is rising from beyond a mountain ridge, weisen kompositorische Finesse und Individualität auf; bei Akaishi finden sich teilweise ausdrucksstarke und farblich überschwängliche impressionistische Elemente. Die Interpretinnen sind überzeugend und werden den Werken gerecht; neben Patricia Pagny selbst, welche als Mentorin qualitativ heraussticht, ist Mrika Sefa besonders hervorzuheben, die mit einer besonderen Ausdrucksstärke und Sensibilität für Phrasen und Zeit Poulencs Improvisation XIII und Takemitsus Song of love darbietet.

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In der zweiten CD Bern-Thun-Interlaken, véritable source d’inspiration wird das Spiel der Assoziationen weitergespielt, allerdings recht lose. Die vier miteinander eng verbundenen Komponisten (Ehepaar Schumann, Brahms und Mendelssohn) haben zwar alle die genannte Gegend gekannt und geschätzt, aber nur eines der aufgenommen Werke ist tatsächlich hier entstanden: Drei Fantasiestücke op. 111 von Schumann. Tanja Biderman eröffnet die Aufnahme mit der für den Anfang sehr intelligent gewählten Toccata op. 7 von Robert Schumann, einem Stück, das so schwer ist, dass nur wenige Pianisten es in ihr Repertoire aufnehmen können oder wollen. Es wird überraschend souverän und mit erleichternd wenig Betonung der Technik gemeistert, was sich auch bei Mendelssohns Variations sérieuses und Brahms’ Intermezzo op. 118 Nr. 6 nicht ändert. Dass direkt darauf die Intermezzi op. 117 von Brahms, gespielt von Tomomi Hori, erklingen, zeigt genauestens die Unterschiede der beiden Pianistinnen. Während Biderman Brahms ausholend, mit viel Rubato und Pathos vorträgt, gönnt sich Hori nicht viele Freiheiten, spielt streckenweise beinahe hölzern. Solche divergierende interpretatorische Auffassungen werden im Laufe der CD weiter sichtbar. Die Gesamtqualität bleibt trotzdem sehr hoch, besonders zu loben ist die Auffassung eines runden Klanges und die merkliche Hinwendung an die interne Logik der Kompositionen, die bei allen Unterschieden nie ins Willkürliche abgleitet.

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Schumann: Toccata op. 7
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Brahms: Intermezzo op.117, 2
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Temperamentvoller Gesprächspartner

Der Pianist und Komponist Victor Fenigstein wird in sehr persönlichen Zeugnissen gewürdigt. Zugleich sind einige seiner Werke neu aufgelegt worden.

Foto: zvg

Den Komponisten Victor Fenigstein, einen gebürtigen Zürcher mit Jahrgang 1924, habe ich vor ein paar Jahren in seinem Haus in Moutfort bei Luxemburg aufgesucht – der Leser möge mir diese persönliche Reminiszenz verzeihen. Ich war damals auf der Suche nach ehemaligen Schülern Emil Freys, des wunderbaren Pianisten, Komponisten und Pädagogen, der leider heutzutage gerade in der Schweiz fast vergessen ist. Dabei stiess ich eben auf Victor Fenigstein, der mir nicht nur über die Lehrtätigkeit Freys, sondern auch über seine menschlich grossartige Seite viel zu erzählen hatte.

Der Empfang bei Fenigstein und seiner Frau Marianne war überaus herzlich. Dass der Mann seit vielen Jahren an MS litt, konnte man zwar an seinen beeinträchtigten Bewegungen nicht übersehen. Gleichzeitig aber war da ein überaus wacher, um nicht zu sagen temperamentvoller und sehr offener Gesprächspartner.

Diese Offenheit ist auch im «Lebensprotokoll» zu spüren, dem ersten Teil eines Buches, das Fritz Hennenberg ganz dem Wahlluxemburger widmet. Die persönlichen Erinnerungen sind relativ frei angeordnet, gleich einer Collage, und vielleicht gerade deshalb so echt.

Das Buch enthält auch einen umfangreichen Werkkatalog sowie eingehende Analysen der wichtigsten Kompositionen. Fenigstein hat sich oft von sozialkritischen Texten zu Singspielen, Balladen und Liedern inspirieren lassen, gleichzeitig aber auch immer wieder das Klavier bedacht. Schliesslich war er ja vor seiner Erkrankung Konzertpianist.

Soeben sind bei Simrock einige dieser Werke neu erschienen, darunter auch Kadenzen zu Klavierkonzerten Mozarts. Zum Teil ziemlich umfangreich zeigen diese einen frischen und sehr individuellen Zugang zur Wiener Klassik: Bei aller stilistischer Nähe bricht diese Musik immer wieder aus zu ungeahnten Überraschungen.
 

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Fritz Hennenberg, Victor Fenigstein. Lebensprotokoll, Werkkommentare, Kataloge, 292 S., € 28.00, Pfau-Verlag, Saarbrücken 2013, ISBN 978-3-89727-475-4

 


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Victor Fenigstein, Kadenzen zu den Klavierkonzerten KV 482, 491, 466, 467 und 537 von W. A. Mozart, EE 5394,
€ 17.99, Simrock, Berlin (Schott) 2013

Verkannter Bekannter

Zur späten Renaissance von Joachim Raff (1822–1882) trägt jetzt eine umfangreiche Biografie wesentlich bei.

Raff 1878. Fotografie von Mondel & Jacob, Library of Congress’s Photographs division

Seine Sinfonik beeindruckte einst Liszt, Tschaikowsky, Mahler und Richard Strauss, dennoch hielt die Erinnerung an ihn nur eine Miniatur wach, die Cavatina op. 85 Nr. 3 für Violine und Klavier. Sie trug den Namen des Komponisten in alle Welt hinaus und musste sich unzählige Bearbeitungen gefallen lassen. Als sein erfolgreichstes Stück versperrte sie den Blick auf das vielseitige Gesamtwerk mit 216 Opuszahlen fast ein Jahrhundert lang, wo Raff doch bei Lebzeiten zu den am häufigsten aufgeführten Komponisten deutsch-schweizerischer Herkunft gezählte hatte.

Seit 1972 setzt sich die Joachim Raff-Gesellschaft in Lachen SZ, wo der Musiker als Sohn eines Deutschen und einer Schweizerin geboren wurde, für den besonders von Liszt und Hans von Bülow geförderten Komponisten, Pianisten, Bearbeiter und Musikpädagogen ein. Ihr Präsident Res Marty legt jetzt das Resultat mehrjähriger Recherchen in Archiven, Bibliotheken und Museen vor. Das bescheiden als Biografie bezeichnete, fast drei Kilos schwere Buch ist weitaus mehr als eine solche. Es gleicht einer gewichtigen Kulturgeschichte der deutschen Romantik. Der Autor vereinigt unveröffentlichte Dokumente von Goethe, Mendelssohn Bartholdy, Liszt und Wagner bis zu Hans von Bülow, Richard Strauss und Ibsen mit einer stattlichen Zahl neuer Einsichten.

Bezüglich Format, Bilderreichtum und Informationsdichte nur mit den Chopin, Liszt und Schumann gewidmeten «Lebenschroniken in Bildern und Dokumenten» von Ernst Burger und mit dem vierbändigen Werk über Ernest Bloch von Joseph Lewinski und Emmanuelle Dijon vergleichbar, stellt das 440 Seiten mächtige Buch innerhalb der Biografien von Schweizer Komponisten die umfangreichste Publikation dar. Der Berufsberater und Sänger Res Marty hat als musikforschender Quereinsteiger ein Standardwerk über Raff geschaffen.

Es ist zu hoffen, dass die darin reproduzierten und klug kommentierten Empfehlungsschreiben und Rezensionen u. a. von Mendelssohn Bartholdy und Schumann zur längst fälligen Überwindung der Vorurteile renommierter Dirigenten und Konzertveranstalter beitragen werden. Mit programminspirierten Hauptwerken wie der 3. Sinfonie Im Walde, der 5. Sinfonie Lenore, dem auf Rachmaninow vorausweisenden Klavierkonzert c-Moll op. 185 oder den vier Orchestersuiten verdient es der raffiniert instrumentierende Mitarbeiter an Liszts sinfonischen Dichtungen, endlich wieder regelmässig aufgeführt zu werden.

Die meisten unveröffentlichten Dokumente stammen aus der Bayerischen Staatsbibliothek München. Als leidenschaftlicher Forscher und Sammler steuerte Res Marty viele biografisch aufschlussreiche Briefe und weitere Trouvaillen bei.

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Res Marty, Joachim Raff. Leben und Werk, mit einem Beitrag von Bernhard Billeter, 440 S., Fr. 69.00, MP Bildung, Beratung und Verlag AG, Altendorf SZ 2014

Bild auf dem Buchumschlag:
Portrait des ersten Direktors des Hoch’schen Konservatoriums von Frankfurt: Joseph Joachim Raff, Heinrich Georg Michaelis, 1882, Öl auf Leinwand, ungerahmt. Das Porträt wurde bei der Recherche für diese Publikation im Archiv des Historischen Museums Frankfurt wiederentdeckt, identifiziert und wird in dieser Publikation erstmals veröffentlicht. (historisches museum frankfurt / Foto: Horst Ziegenfusz)

Joachim-Raff-Gesellschaft

Chancen statt
Defizite

Mit «Musizieren im Alter» beschäftigte sich in Bern das 12. Symposium der Schweizerischen Gesellschaft für Musik-Medizin SMM und der Schweizerischen Interpretenstiftung SIS


Der Saal der Hochschule der Künste Bern an der Papiermühlestrasse scheint aus allen Nähten zu platzen. Das Thema bewegt, und dies in vielfacher Hinsicht: Musizieren im Alter, das kann eine Chance sein für Menschen, ihren Lebensabend (oder bereits den -spätnachmittag) mit Emotionen und guten Erlebnissen zu füllen. Es kann für diejenigen, die ein Leben lang musiziert und sich damit ihr Auskommen erwirtschaftet haben, aber auch ein schmerzvoller Prozess des Loslassens und des Abbaus bedeuten. Das jährliche Symposium der Schweizerischen Gesellschaft für Musik-Medizin, das sich diesen Aspekten der klingenden Kunst angenommen hat, kann eine Rekordbeteiligung vermelden.


Ein zuversichtliches Zeichen setzt in dieser Hinsicht gleich zu Beginn das Trio Poetico, drei Holzbläser, die früher unter anderem im Scheinwerferlicht des Tonhalle Orchesters gesessen sind, sich auch nach der Pensionierung künstlerisch auf exzellentem Niveau weiterentwickeln und neues Repertoire entdecken, etwas die faszinierende Musik des brasilianischen «Messiaen» Heitor Villa-Lobos.


Dass sich einiges mit Blick aufs Musizieren im Alter geändert hat, bekräftigen in ihren Referaten die Medizinerin Maria Schuppert vom Zentrum für Musikergesundheit der Hochschule für Musik Detmold und der Zürcher Neuropsychologe Lutz Jäncke. Bis vor nicht allzu langer Zeit sind die menschlichen Fähigkeiten zum Erwerb neuer Fertigkeiten bis ins hohe Alter unterschätzt worden. Nicht zuletzt die Arbeiten von Jäncke und seinen Kollegen in Sachen Hirnplastizität zeigen jedoch, dass auch mit weissen Haaren bei durchschnittlicher Gesundheit weit mehr Ressourcen abgerufen werden können, als man auch vor noch nicht allzu langer Zeit geglaubt hat. Selbst auf hochklassige Ausdruckmöglichkeiten muss man dabei keineswegs verzichtet werden, huldigt man nicht einem Jugendlichkeitsideal, sondern begreift man die Kennzeichen des eigenen Alters als originale Eigenheiten.


Natürlich lassen die Sinne im Alter nach, das Gehör, die Augen; auch die Stimme ändert sich. Die männliche etwa wird höher, verliert in der Höhe aber aufgrund physiologischer Abbauprozesse an Umfang, wie Eberhard Seifert, der Leitende Arzt Phoniatrie der Universitäts-HNO-Klinik des Berner Inselspitals aufzeigt. Und wäre es früher undenkbar gewesen, mit einem Hörgerät in einem Ensemble mitzutun, hat die moderne Technik so grosse Fortschritte gemacht, dass selbst mit den entsprechenden Beeinträchtigungen ein Mitsingen im Chor oder Mitspielen im Orchester noch möglich ist, wie der Hörakustik-Meister Michael Stückelberger darlegt.


Die gestärkte Zuversicht bekommen auch die Musikschulen zu spüren, die sich auf immer mehr Musikschülerinnen und -schüler im dritten Lebensabschnitt einstellen können. Von einem Forschungsprojekt «Mach dich schlau – Lern- und Lehrstrategien im Instrumentalunterricht 50plus» der Berner Hochschule der Künste (HKB) und des Instituts Alter der Berner Fachhochschule berichtet in einem Workshop die Musikerin und Journalistin Corinne Holtz, die an der HKB auch den CAS «Musikalisches Lernen im Alter» leitet. Und der selber in die Jahre gekommene Chorleiter Karl Scheuber zeigt, wie mit altersgerechten Einsingübungen und kluger Repertoirepflege auch im hohen Alter kollektives Singen zur Lebensqualität beitragen kann.


Mittlerweile gibt es, worauf Hans Hermann Wickel vom Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Münster hinweist, sogar ein dediziertes Fachgebiet zum Thema, die Musikgeragogik. Sie soll Musikangebote für hochaltrige, eventuell multimorbide oder dementiell veränderte Menschen optimieren und die Möglichkeiten in der Palliativmedizin ausloten.


Gespräche am abschliessenden Apero des Symposium zeigen, dass neben Fachleuten durchaus auch interessierte Aussenstehende, die auf der Suche nach Möglichkeiten einer musikalische Betätigung auf fortgeschrittenem Lebensweg den Anlass besucht haben – ein Hinweis darauf, dass dazu eine spezielle Anlaufstelle einem Bedürfnis entsprechen könnte.


Bregenzer Festspiele suchen Mitwirkende

Auf der Seebühne wird vom 22. Juli bis 23. August 2015 Puccinis «Turandot» aufgeführt. Die Bregenzer Festspiele schreiben ein Casting für Statisten und Kleindarsteller aus.

Statisten in «André Chénier». Foto: Bregenzer Festspiele / Karl Forster,SMPV

Erneut können Opernfans in der kommenden Saison das Spiel auf dem See nicht nur von der Tribüne aus erleben, sondern als Statisten und Kleindarsteller selbst Teil der Inszenierung werden. Für die Oper Turandot suchen die Bregenzer Festspiele 34 Männer und Frauen, die während der Probenphase ab 11. Juni sowie an den Aufführungstagen bis einschliesslich 23. August zur Bregenzer Theaterfamilie am Bodensee gehören möchten. Voraussetzung ist eine Bewerbung über das Online-Formular auf der Festspiel-Internetseite sowie das erfolgreiche Abschliessen eines Castings.

Wer schon immer einmal die Zofe einer echten Prinzessin sein wollte und darüber hinaus über einen Sinn für tänzerische Gymnastik verfügt und ohne Höhenangst ist, hat gute Chancen, als Statistin in den chinesischen Hofstaat aufzusteigen. Das gleiche gilt für die «Persischen Mädchen» und die «Krankenschwestern», für die ebenfalls junge Frauen mit schauspielerischer Erfahrung gesucht werden. Aber auch ältere Damen sind laut Ausschreibung gewünscht, die als Kleindarstellerinnen in die Rolle der Krankenschwestern des Kaisers schlüpfen sollen. Ebenfalls sind Männerstatisten gefragt: Als Henkersknechte sollen diese über einen athletisch-muskulösen Körper verfügen und der Statist des Prinzen von Persien sollte zudem südländisch-exotisch aussehen.

Der Lohn ist neben einer finanziellen Vergütung vor allem das einzigartige Erlebnis, auf der weltgrössten Seebühne zum Teil einer einmaligen Theaterfamilie zu werden und Seite an Seite mit internationalen Künstlern auftreten zu können. Voraussetzungen:
– Mindestalter 18 Jahre
– Schwindelfreiheit
– schwimmen können
– durchgehend verfügbar sein während des Proben- und Aufführungszeitraums vom 11. Juni bis und mit 23. August, zum Teil wenn möglich auch tagsüber
– Schauspieltalent

Die Bewerbungsfrist endet am 7. Januar 2015. Hier geht es zum Online-Formular: http://bregenzerfestspiele.com/de/node/572

 

Weitere Informationen gibt es auf der Festspiel-Internetseite: www.bregenzerfestspiele.com
 

Thunerseespiele ausgezeichnet

Anfangs Dezember erhielten die Thunerseespiele einen Ehrenpreis für ihr Engagement in der Region.

Foto: Thunerseespiele

Die Jury des «Thunersee-Sterns», einer Auszeichnung, die das Qualitätsbewusstsein und die Innovationskraft bei den Leistungsträgern der Region fördern will, ehrte die Thunerseespiele für ihre langjährige Arbeit. Mit dem Export von Der Besuch der alten Dame – das Musical nach Wien hätten die Thunerseespiele dieses Jahr das geschafft, was zuvor noch keinem Schweizer Musicalproduzenten gelungen sei: ein Schweizer Musical erfolgreich international zu platzieren.
Nachdem Der Besuch der alten Dame – das Musical vor rund zwei Monaten alle Publikumspreise der Fachzeitschrift musicals abräumte, erhielt der Thuner Kulturbetrieb in seiner Heimat nun noch am 2. Dezember diesen speziellen Ehrenpreis.

 

Luzerner Musikwagen ausgezeichnet

Als eines von vier kulturellen Projekten erhält der Musikwagen des Luzerner Sinfonieorchesters (LSO) den Zentralschweizer Förderpreis des Migros-Kulturprozents. Der Preis ist mit 15‘000 Franken dotiert.

Foto: Ingo Höhn, © Luzerner Sinfonieorchester.

Der Holzwagen ist Anfang 2014 auf gemeinsame Initiative des LSO und der Drosos Stiftung zu dem Zweck gebaut worden, klassische Musik ausserhalb des kulturellen Zentrums der Stadt Luzern und des KKL Luzern anzubieten und musikalische Entdeckungen und Aktivitäten in die Dörfer und Städte der Zentralschweiz zu bringen. Der Wagen dient dabei als fahrende Bühne und wird zum Hörraum und zur Begegnungsstätte.

In den Werkstätten werden Schulklassen unter der Leitung von Künstlern selber zu Komponisten und Musikern. Seit der Eröffnung des Musikwagens im Juni 2014 war die mobile Konzertbühne bereits an der Kantonsschule Seetal, der Schule Hasle, dem Institut Rhaetia Luzern, der Montessori-Schule Luzern und am Kinderkulturfest in Kriens. Schüler wurden angeleitet, bewusst hinzuhören auf Klänge und Geräusche in der Umgebung und in der Musik. Abgeschlossen wurde jede Projektwoche mit einem öffentlichen Konzert.

Der Zentralschweizer Förderpreis des Migros-Kulturprozent wird an kulturelle Institutionen und Kulturschaffende verliehen, die «die Kulturwelt in der Zentralschweiz auf vielfältige Weise bereichern und leistet damit eine finanzielle Unterstützung für aufwendige und aussergewöhnliche Projekte». Dabei erfüllt der Musikwagen die Vergabekriterien der Erreichung eines breiten Publikums in Randregionen und der Musikvermittlung im Austausch zwischen Laien und Profis.

Die vier Projekte, die die siebenköpfige Jury aus rund 20 eingereichten Projekten heuer ausgewählt hat, vertreten die Sparten Film/Foto, Jugendtheater und Musik: Neben dem Musikwagen des Luzerner Sinfonieorchesters sind dies Luzern-Kosovo-retour des VorAlpentheaters Luzern (30‘000 Franken), The Big Picture Projekt von The Big Picture AG Alpnach (10‘000 Franken) und das Gasthaus Grünenwald in Engelberg (15‘000 Franken).
 

Hannover und Mannheim sind Städte der Musik

Hannover und Mannheim sind von der Unesco neu als Städte der Musik ins Netzwerk Creative Cities aufgenommen worden. Heidelberg als Stadt der Literatur. Abgelehnt worden sind die Bewerbungen von Essen und Weimar.

Musik auf dem Dach der Marienkirche, Mannheim. Foto: Dieter Schütz / pixelio.de

Die Unesco-Städte der Musik sind neben Hannover und Mannheim Sevilla, Bologna, Glasgow, Ghent, Bogota, Brazzaville und Hamamatsu.

Mitglieder des Netzwerks sind sogenannte Exzellenz-Zentren in einem der sieben Bereiche Film, Musik, Design, Gastronomie, Medienkunst, Handwerk oder Literatur. Sie unterstützen sich gegenseitig durch Kooperation und geben ihre Erfahrungen an andere kreative Städte oder Metropolen, vor allem in Entwicklungsländern, weiter.

Das Netzwerk unterstützt Städte dabei laut Eigencharakterisierung dabei, ihr kreatives Potenzial für die Stadtentwicklung zu nutzen. Schweizer Städte finden sich in dem Netzwerk nicht.

 

Musiknoten und -rechte seit 125 Jahren

Die Bosworth Music GmbH feiert im November ihr 125-jähriges Bestehen. Der in Berlin ansässige Musikverlag ist eine deutsche Tochter der weltweit agierenden Music Sales Group. Er ist heute sowohl ein Verlag für Notenbücher wie auch Rechteinhaber von Musikwerken und Songs.

Jubiläumsfeier vom 21. November 2014 in Berlin. Foto: zvg,SMPV

Arthur Edwin Bosworth gründete den Verlag 1889 in Leipzig unter dem Namen Bosworth & Co., um die Bühnenwerke von Arthur Sullivan deutschlandweit zu vertreiben. Michael Ohst ist seit 1998 als Geschäftsführer für Deutschland zuständig.

Im Print-Bereich produziert Bosworth Music chart-aktuelle Sammelalben sowie hochwertige Songbücher renommierter deutscher Künstler aus Rock & Pop wie z. B. die ärzte, Element of Crime, Die Toten Hosen, Söhne Mannheims, Max Raabe, Silbermond oder Unheilig. Daneben widmet sich der Verlag dem Ausbau deutschsprachiger Unterrichtsmaterialien: Methoden für Klavier, Gitarre, Bass, Schlagzeug, Ukulele, Cello, Blockflöte oder Saxophon verbinden konsequent zeitgemässe Gestaltung und anspruchsvolle, moderne Didaktik.

Die Abteilung Copyright beschäftigt sich mit der Auswertung von Verlagsrechte in den Bereichen Spielfilm und Kommunikation sowie der Neuproduktion von Musik für alle Medien. Dies beinhaltet die Vermittlung und Lizenzierung von Musikrechten für Film und Werbung, die Vermittlung und das Erstellen von Auftragsmusiken, Filmsoundtracks etc.

Dem Verlag gehören die Musikrechte weltbekannter Titel wie Tainted Love, Diamonds Are A Girls Best Friend, Unchain My Heart sowie aktuelle Kompositionen von Hauschka oder William Fitzsimmons. Renommierte Verlagskataloge gehören zu Bosworth Music: der Robert Mellin Musikverlag mit Titeln wie Only You, Hang On Sloopy, Twist And Shout, Will You Still Love Me Tomorrow oder die Eaton Music GmbH mit der Musik von George Fenton und den von ihm komponierten Scores zu der BBC Serie Der blaue Planet.

Das Tonträgerlabel BRM – Bosworth Recorded Music rundet ein Verlagsprogramm ab, das seiner Tradition verpflichtet ist und gleichzeitig neuen Entwicklungen kreativ und innovativ gegenübersteht.
 

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