Die ersten Mendelssohntage in Aarau

Im Herbst 2015 bereichert ein neues Festival die Schweizer Musiklandschaft, das Felix Mendelssohn Bartholdy und seinem Schaffen gewidmet ist. Initiator ist der Sänger und Dirigent Dieter Wagner.

Stadtkirche Aarau. Foto: Roland Zumbühl, picswiss

Einen neuen Blick auf Mendelssohns musikalisches Schaffen und seine Zeit in der Schweiz (überliefert sind vier Aufenthalte 1822, 1831, 1842 und nach dem Tod seiner Schwester Fanny 1847) eröffnen die Mendelssohntage, die vom 30. Oktober bis 1. November 2015 erstmals in Aarau stattfinden werden.

Die Mendelssohntage Aarau werden vom Orchester argovia philharmonic in Zusammenarbeit mit der Reformierten Landeskirche Aargau, der Reformierten Kirchgemeinde Aarau und der Reformierten Kirchgemeinde Frick organisiert.

Die Zusammenarbeit vom Intendanten des argovia philharmonic, Christian Weidmann, mit Dieter Wagner, Initiator der Mendelssohntage hat ein Festival entstehen lassen, das unter anderem einen musikalischen Stadtspaziergang, ein Kirchenmusik-Symposium, eine Ausstellung im neuen Stadtmuseum und einen Internationalen Orgelwettbewerb umfasst.

Mehr Infos: www.mendelssohntage.ch

Musikgeschichte der Schweiz

Mit der umfassenden Neuerscheinung von Angelo Garovi – Historiker, Musikologe und Organist – wurde eine Lücke geschlossen.

Kathedrale/Stiftskirche, St. Gallen. Foto: Zairon

Angelo Garovi – Organist, Historiker, Musikologe, langjähriger Radioredaktor, Staatsarchivar und Universitätsprofessor – bedauerte jahrelang das Fehlen einer neueren Musikgeschichte der Schweiz, bis er sich selber ans Schreiben machte. Vorerst plante er einen Sammelband ähnlich dem Schweizer Musikbuch, das Willi Schuh 1939 zusammen mit zwölf Mitarbeitern herausgegeben hatte. Je mehr der Autor sich aber mit dem Thema in seiner ganzen Breite von der spätrömischen Wasserorgel in Avenches bis zu Mathias Spohrs eben erschienener Anthologie Schweizer Filmmusik beschäftigte, desto klarer wurde die Absicht, das Manuskript nach dem Vorbild von Antoine-Elisée Cherbuliez‘ Standardwerk Die Schweiz in der deutschen Musikgeschichte (1932) als Einzelpublikation zu verfassen. Die Einladung der nordostdeutschen Universität Greifswald zu zwei Gastsemestern erlaubte es Garovi, sein Konzept zu einer Musikgeschichte der Schweiz zu erproben und den Vorlesungstext anschliessend für das vom Verlag verlangte Taschenbuch zu verdichten.

Vor kurzem konnte ein 160-seitiges Büchlein erscheinen, das in 30 knappen Kapiteln über den verblüffend vielseitigen Musikbeitrag der Schweiz informiert. Ein Anhang listet rund dreihundert Namen von Musikschaffenden auf – unter ihnen bisher kaum bekannte komponierende Klosterfrauen und ausländische Komponisten, die sich durch Motive aus der schweizerischen Volksmusik oder Aufenthalte in der Schweiz zu Tonwerken haben anregen lassen. In diesem Zusammenhang dürfte ergänzt werden, dass Bohuslav Martinů seine drei letzten Lebensjahre in der Schweiz verbracht und in Liestal die Oper Die griechische Passion geschrieben hat.

Die Selektion der weiterführenden Literatur zeugt von der Belesenheit und Originalität des Autors. So werden die zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Einzelpublikationen und Aufsätze von Arnold Geering ins rechte Licht gerückt, während man Max Peter Baumanns massgebende Dissertation Musikfolklore und Musikfolklorismus, die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Jodelkultur, vermisst. Diese Makel, zu denen auch kleine, ganz vereinzelte Ungenauigkeiten zählen – der St. Galler Komponist und Erneuerer der Alphorntradition Ferdinand Fürchtegott Huber wird zum Beispiel als Johann Fürchtegott angeführt – lassen sich in einer weiteren Auflage dieses leicht lesbaren und nützlichen Buches beheben und schmälern weder Dankbarkeit noch Anerkennung für eine Publikation, die ihresgleichen sucht.

Man kann ihr entnehmen, dass im Kloster St. Gallen des 10. Jahrhunderts mit Sequenz (einstimmige Vertonung des Alleluia-Verses) und Tropus (syllabische Textgestaltung melismatischer Gesänge) neue Formen der vokalen Kirchenmusik gepflegt und gefördert wurden. Die Wichtigkeit des Konzils von Basel für die mehrstimmige A-cappella-Musik wird dem aufmerksamen Leser bewusst, führte man damals, im 15. Jahrhundert, doch Werke von Dunstable, Dufay und anderen noch lebenden Komponisten auf. Der Autor, ein quellenkundiger Historiker, kann aus Luzerner Rechnungsbüchern des 14. und 15. Jahrhunderts die Musik alltäglicher Bürger auffächern, während sich die Militärmusik jener Zeit in den Bilderchroniken der alten Eidgenossen spiegelt. Ebenfalls der Hinweis auf den Franzosen Antoine Brumel, Musiker aus Ferrara und von 1486-1490 Organist in Genf, überrascht. Erstmals lässt sich zudem die Erfolgsgeschichte des von verschiedenen Kirchenmusikern vertonten und 1573 auf Deutsch übersetzten Genfer Psalters erahnen, diente dieses erste Gesangbuch der Reformierten doch bis ins 19. Jahrhundert als verbreitetes Hausbuch, das heute noch bei konservativen Old Order Amish in im mittleren westen Nordamerikas verwendet wird.

Unter den Barockkomponisten verdienen Nicolaus Scherrer, der von Händel bewunderte Genfer Geiger Gaspard Fritz und der Luzerner Chorherr Franz Joseph Leonti Meyer von Schauensee, dessen Werke Leopold Mozart in Salzburg aufführte, mehr Beachtung. Als schweizerische Musikgattung des 19. und 20. Jahrhunderts wird das Festspiel bis hin zu Arthur Honegger, Frank Martin und die von Mal zu Mal neu geschaffenen Kompositionen der Fête des vignerons in Vevey erwähnt.

Garovi, der Sohn eines der Zwölftonmusik verpflichteten Komponisten, war von Haus aus vertraut mit der zeitgenössischen Musik und vertiefte seine Kenntnis auch als Radioredaktor dieser Sparte. So gelten denn die Kapitel zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts – sie machen ein Viertel der Publikation aus – als besonders informativ und dokumentieren, dass die Schweiz mit weltberühmten Komponisten wie Klaus Huber, Heinz Holliger, aber auch mit Jürg Wyttenbach, Roland Moser, Hans Ulrich Lehmann, Alfred Schweizer, Balz Trümpy , Beat Furrer u. a. m. einen wichtigen Beitrag zur Musik unserer Zeit leistet.

Angelo Garovis Musikgeschichte der Schweiz verdient grosse Verbreitung und würde sich, auf Englisch übersetzt, als Pflichtlektüre für die zahlreichen ausländischen Musikstudierenden an schweizerischen Musikhochschulen eignen.

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Angelo Garovi, Musikgeschichte der Schweiz,
160 S., Fr. 19.90, Stämpfli, Bern 2015,
ISBN 978-3-7272-1448-6

Endspurt im «Jahr der Klarinette»

Die Musikschule Alato möchte einen Rekord aufstellen und die Musikschule der Region Burgdorf bringt eine Rarität zur Aufführung.

Richard von Lenzano / pixelio.de,SMPV

Der Schweizer Blasmusikverband hat das Jahr 2015 zum «Jahr der Klarinette» erklärt (wir haben berichtet). Damit will er den musikalischen Nachwuchs motivieren, das Klarinettenspiel zu erlernen. Viele Organisationen haben sich mit zahlreichen Aktionen daran beteiligt, eine Aufstellung findet sich auf der entsprechenden Website www.jdk-adlc.ch.

«Der längste Klarinettenton»
Wer gerne Rekorde aufstellt, melde sich sofort bei der Musikschule Alato, um am 21. November in Dietlikon bei der Aktion «Der längste Klarinettenton» mitzumachen. Wer sich zutraut, einen konstanten Ton auf einer Klarinette während möglichst langer Zeit hervorzubringen, ist herzlich eingeladen, sich am Stafetten-Ton zu beteiligen.
Eine Anmeldung bis 17. November ist erforderlich. Informationen unter:
Telefon 052 354 23 30 oder klarinettenton@ms-alato.ch
ms-alato.ch/aktuell.html

Zugänge zu Schumann

Die Ergebnisse eines Symposiums an der Musik-Akademie Basel vom Dezember 2010 und einige zusätzliche Beiträge sind gesammelt erschienen.

Karl Hartung: Robert-Schumann-Denkmal, Düsseldorf 1956 Foto: Matthias Neugebauer, flickr commons

Ganz in der Forschungstradition einer Musikhochschule steht hier die Musikwissenschaft in fruchtbarem Dialog mit der Musikpraxis. Historiker und Interpreten kommen gleichermassen zu Wort und diskutieren miteinander. Das 570 Seiten starke Buch zeichnet sich denn auch durch seine Vielfalt auf verschiedenen Ebenen aus. Selbstverständlich können von den einundzwanzig Artikeln nur einige herausgegriffen werden.

Auf einer ersten Ebene ist die Internationalität zu nennen. Neben Basel und der restlichen Schweiz, sind Deutschland, Österreich, Kanada und die USA als Herkunftsländer der Beiträger und Beiträgerinnen vertreten. Das Buch ist grösstenteils auf Deutsch, ausser einem Artikel auf Französisch (Georges Starobinski zu den ersten Sängerinnen und Sängern von Schumanns Liedern) und einem auf Englisch (eine Analyse von Alfred Cortots Ausgabe der Kreisleriana durch Roe-Min Kok). Hier wäre allerdings – gerade weil die Fremdsprache eine Ausnahme bedeutet – eine kurze Zusammenfassung auf Deutsch wünschenswert gewesen.

Das Zusammentreffen von Musikern und Historikern spiegelt sich in der unterschiedlichen Form der Beiträge neben dem traditionellen wissenschaftlichen Artikel. Thomas Gartmann interviewt Mario Venzago zu seinen Erfahrungen beim Dirigieren der Schumann-Sinfonien. Zwei aufgezeichnete Gesprächsrunden thematisieren das Spätwerk Schumanns (Dagmar Hoffmann-Axthelm, Andreas Staier, Michael Struck) sowie die Probleme bei der Herausgabe schumannscher Werke (Bernhard R. Allep, Joachim Draheim, Kazuko Ozawa, Matthias Wendt, Anselm Hartinger). Sogar ein Interpretationsworkshop zur dritten Violinsonate wird verschriftlicht (Hansheinz Schneeberger, Rainer Schmidt – mit zahlreichen Bemerkungen von weiteren damals Anwesenden).

Zwar ist das Buch monografisch Schumann gewidmet. Zwei Beiträge stellen jedoch Vergleiche zu anderen Komponisten auf, die auf den ersten Blick nicht selbstverständlich scheinen. John P. MacKeown vergleicht Schumanns Mondnacht (aus dem Liederkreis) mit Mondtrunken aus Schönbergs Pierrot Lunaire. Thomas Kabisch stellt die Klavierkonzerte von Schumann und Liszt nebeneinander im Kontext einer allgemeinen Theorie der Konzertkomposition im 19. Jahrhundert.

Schliesslich ist die Vielfalt im Quellenmaterial zu nennen, das als Grundlagen für die Betrachtungen dient. Martin Kirnbauer untersucht die vielen mechanischen Apparate zur Übungshilfe, die zu Schumanns Zeit und auch von seinem Schwiegervater Friedrich Wieck weithin akzeptiert und verbreitet waren und ihm persönlich (auf nicht ganz geklärte Weise) zum Verhängnis wurden. Roe-Min Kok vermag wertvolle Einsichten zur Schumann-Interpretation aus Cortots «unkritischer» Ausgabe zu gewinnen. Thomas Synofzik analysiert Carl Reineckes Aufnahmen auf den Klavierrollen der Marken Welte (Warum? aus den Fantasiestücken, 1905) und Hupfeld (Nr. 6 aus Kreisleriana, 1907).

In durchaus sinnvoller Weise angesichts der einheitlichen Thematik des Sammelbands besteht der Index aus einem Register zu den besprochenen Werken Schumanns.

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Schumann interpretieren, hg. von Jean-Jacques Dünki, mit Thomas Gartmann und Anette Müller, 570 S., Fr. 38.80, Studiopunkt Verlag, Sinzig 2014, ISBN 978-3-89564-155-8

Orgelschule für Profis

Der dritte Band von Jon Laukviks Standardwerk zur historischen Aufführungspraxis beschäftigt sich mit der Moderne.

Jon Laukvik. Foto: zvg

Nach dem Band über Musik des Barocks und der Klassik sowie jenem zur Romantik – bereits zu unumgänglichen Standard-Werken geworden – legt Jon Laukvik, Professor an der Stuttgarter Musikhochschule, nun den dritten und letzten Band seiner Orgelschule zur historischen Aufführungspraxis vor. Es handelt sich dabei nicht um eine Schule im eigentlichen Sinn, die sich an Anfänger richtet, sondern um ein höchst umfangreiches Lehr-, Studien- und Nachschlagewerk für fortgeschrittene Spielende, die darin wertvolle Informationen, Quellentexte und praktische Anregungen zu verschiedensten Aspekten einer historisch informierten Musikpraxis finden, die – im Unterschied zu anderen derartigen Büchern – auch auf die Musik des 19., im vorliegenden Fall sogar des 20. und 21. Jahrhunderts ausgedehnt wird.

Für diesen Band hat Laukvik verschiedene Koautoren für (naturgemäss zum Teil ausgesprochen subjektiv geprägte) Beiträge zu ihren jeweiligen Spezialgebieten verpflichtet. Armin Schoof schreibt zunächst über Neoklassizismus deutsch-österreichischer Prägung am Beispiel von Distler, Hindemith, David und Hessenberg, also von vier Komponisten, deren Ästhetik a priori bereits sehr stark divergiert, während man andere wichtige Namen (Reda, Bornefeld) etwas vermisst. In Jeremy Filsells Beitrag über Marcel Dupré dominiert der «hagiographische» Aspekt zum Teil etwas die kritische Auseinandersetzung mit dieser prägenden, doch auch sehr umstrittenen Figur der frühen Moderne Frankreichs; zudem ärgert man sich über einige Übersetzungs-Stilblüten in diesem sonst ausgesprochen sorgfältig gestalteten Buch («toes» sind im Zusammenhang mit Pedalspiel nicht die Zehen, sondern die Fuss-Spitzen). Hans Fagius’ Beitrag zu Maurice Duruflé gibt einige interessante Einblicke in das Schaffen des selbstkritischen Meisters, ergänzt durch knappe persönliche Erinnerungen an Fagius’ Unterricht bei Duruflé.

Auf fast 150 Seiten folgt sodann der erste Höhepunkt des Buchs, ein von Hans-Ola Ericsson, Anders Ekenberg und Markus Rupprecht verfasster Aufsatz über Olivier Messiaen. Eine allgemeine Einführung vermittelt die wichtigsten Informationen über Leben und Werk des Komponisten, die wichtigsten Parameter seines Komponierens (Rhythmik, Modalität, Harmonik) und seinen Umgang mit dem Instrument Orgel hinsichtlich Registrierung, Artikulation oder Tempowahl. Daran schliessen sich umfangreiche Einzelbetrachtungen der verschiedenen Werke an, die auch ganz praktische, streckenweise vielleicht sogar (zumindest für den französisch geschulten Leser) etwas gar «technisch» anmutende Umsetzungsvorschläge, auch für «stilferne» Instrumente, und wertvolle Übhinweise enthalten. Zusammen mit vergleichbaren Publikationen von Olivier Latry und Loïc Mallié (L’oeuvre d’orgue d’Olivier Messiaen, ebenfalls bei Carus), Jon Gillock (Performing Messiaen’s Organ Music, Indiana University Press) oder der kürzlich verstorbenen Almut Rössler dürfte dieser Beitrag zu einer äusserst wichtigen Informationsquelle bezüglich Messiaen werden, umso mehr, als alle genannten Autoren intensiv mit dem Komponisten zusammengearbeitet hatten.

Guy Bovets Beitrag zu Jehan Alain stützt sich vor allem auf die Erstausgaben seiner Werke aus den Jahren 1939 – 1945, die noch frei sind von späteren editorischen Zusätzen anderer Familienmitglieder (wie die Leduc-Ausgabe von 1971) oder verschiedene Fassungen kompilieren (Bärenreiter), regt also zu einer textnahen Auseinandersetzung mit dem Komponisten an. Mit zwei Aufsätzen von Bernhard Haas, einerseits zur Orgelmusik von Schönberg, Milhaud und Kodály, anderseits zu (nach Schwierigkeitsgrad geordneten) Schlüsselwerken der letzten 60 Jahre erreicht Laukviks Buch dann seinen absoluten Gipfel. Haas’ prägnante und fundierte analytische Bemerkungen, seine von jahrelanger Vertiefung in diese Werke geprägten Arbeits- und Übhinweise, inklusive umfangreicher Textkorrekturen, aber auch die farbige Sinnlichkeit seiner Werkbeschreibungen gehören zweifellos zum Besten, was in den letzten Jahren zum Thema Neue Orgelmusik publiziert worden ist. Mit Kurzkommentaren zu weiteren Werken und einer ergänzenden Liste mit Kompositionen der jüngsten Zeit gelingt Haas zudem eine an Aktualität kaum zu überbietende, nicht auf ein bestimmtes Sprachgebiet beschränkte Werkschau, die man jedem professionellen Orgelspielenden als Pflichtlektüre für persönliche Weiterbildung ans Herz legen sollte.

Fazit: Mit diesem dritten und letzten Band ist die Orgelschule von Jon Laukvik nochmals um ein wesentliches Element bereichert worden und kann in jeder Beziehung als Lese- und Studienbuch empfohlen werden, das in jede Organisten-Bibliothek gehört!

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Orgelschule zur historischen Aufführungspraxis –
Teil 3: Die Moderne, hg. von Jon Laukvik,
352 S., € 80.00, Carus-Verlag, Stuttgart 2014,
ISBN 978-3-89948-227-0

Suche nach einer musikalischen Identität des Tessins

Carlo Piccardi widmet sich in seiner Untersuchung dem Festspiel in der Südschweiz, das um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielte.

Foto: Heinz Hasselberg/pixelio.de

In der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart wird im vierten, 1954 erschienenen Band der ersten Ausgabe der unter dem Stichwort «Feste und Festspiele» die wichtige Stellung erwähnt, welche im Schweizer Musikleben die Gattung des Festspiels einnahm: «Heute [ist] kaum ein grosses Fest (insbesondere Sängerfeste, Zentenarfeste u. ä.) ohne Festspiel denkbar.» Damals konnte diese Gattung auf eine etwa hundert Jahre alte Tradition zurückblicken. Ursprung dieser Erfolgsgeschichte war die erste Fête des vignerons, welche François Grast 1851 komponiert hatte. Einmal ländlich-volkstümliche Themen wie im Waadtland, einmal historisch-patriotische Ereignisse bearbeitend, von Laiendarstellern und -darstellerinnen gespielt und meistens von Laienorchestern begleitet, verbreiteten sich diese reichlich musikalisch untermalten Bühnenwerke schnell in der französischen und in der deutschsprachigen Schweiz. Allen Festspielen gemeinsam war ihre ideologische Konnotation: Diese Werke wollten die (musikalische) Identität des Schweizer Volks stärken. Im Kanton Tessin konnte die Gattung erst in den 1920er-Jahren Fuss fassen. Die Tessiner hatten ähnliche (musikalische) Identitätsprobleme zu bewältigen wie die Eidgenossenschaft als Ganzes. Sie standen jedoch vor einem zusätzlichen Dilemma: Einerseits galt es, auch in der Südschweiz eine als typisch schweizerisch angesehene Tradition zu pflegen, andererseits wollten die Tessiner Autoren bei ihrer Selbstdarstellung touristische Gemeinplätze vermeiden.

Nach einigen vereinzelten Versuchen (zuerst 1924 für die Festa delle camelie in Locarno) entstand anlässlich der jährlichen Mustermesse in Lugano zwischen 1933 und 1944 eine kontinuierliche Tradition von Festspielen, welche dann sporadisch bis 1953 weiterverfolgt wurde. Sie steht im Zentrum des jüngsten Buches von Carlo Piccardi, dem Doyen der Tessiner Musikwissenschaft. Jedem Festspiel der Blütezeit wird ein eigenes Kapitel gewidmet. Die erwähnten ideologischen Spannungen bekamen zur Zeit des italienischen Faschismus und während des zweiten Weltkriegs selbstverständlich eine neue Dimension und Dringlichkeit. Die besten Tessiner Künstler der Zeit leisteten ihren Beitrag zu den Luganeser Festspielen, wie zum Beispiel die Literaten Guido Calgari und Vinicio Salati, die Komponisten Otmar Nussio und Enrico Dassetto und die Choreografin Ada Franellich. Ein überaus reicher Dokumentationsteil macht gut die Hälfte des Buches aus und zeigt zahlreiche Partiturausschnitte, Libretti und Bildmaterial.

Mit viel Liebe zum Detail hat Piccardi diese Werke und ihren Kontext rekonstruiert und ein lebendiges Bild von der Tessiner Spätblüte einer verschollenen Musikgattung wiedergegeben. Ihre Stoffe kommen uns heute fremd oder zumindest veraltet vor, ihre ideologischen Hintergründe hatten aber damals durchaus eine Berechtigung. Würdig unserer Anerkennung ist sie schon allein deshalb, weil zahlreiche Künstler mit grosser Hingabe daran gearbeitet haben.

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Carlo Piccardi, La rappresentazione della piccola patria:
gli spettacoli musicali della Fiera Svizzera di Lugano, 1933–1953, 6 + 631 S., € 24.00, Libreria musicale italiana, Lucca 2013, ISBN 9788870967388

Ausgetretene Pfade

Eine hervorragende Einspielung von Cellosonaten aus der Sowjetunion. In dieser Sparte wäre allerdings noch viel zu entdecken.

Reliefstein vor dem Grab Alfred Schnittkes. Foto: Wwwrathert, wikimedia commons,Sonate in C-Dur op. 119, Andante grave,Sonate in d-Moll op. 40, IV Allegro,1. Sonate, Presto (Ausschnitt)

Zwischen der Sonate d-Moll op. 40 von Dmitrij Schostakowitsch und der 1. Sonate (1978) von Alfred Schnittke liegen nur wenig mehr als vier Jahrzehnte. Die ästhetischen Positionen und die formalen Unterschiede könnten jedoch nicht grösser sein. Widerspiegelt Schostakowitschs Sonate einen hohen Grad an Klassizität, so zeugt Schnittkes experimentierfreudiger Gattungsbeitrag von einer weitaus grösseren, kulturpolitisch begründeten Freiheit. Überraschungen gibt es bei Schostakowitsch keine, bei Schnittke umso mehr. Das von den raffiniert barockisierenden Largo-Ecksätzen umrahmte Presto präsentiert sich als dämonisches Scherzo mit Perpetuum-mobile-Charakter von aufwühlender Ausdruckskraft.

Schon in der zeitlich dazwischen liegenden, 1949 entstandenen Sonate op. 119 von Sergej Prokofjew fällt die berückend schöne Kantabilität des Cellisten Mattia Zappa auf. Bei genauem Hinhören zeigt sich aber, dass er die Phrasierung insofern auf die Spitze treibt, als er einen Bindebogen an den andern reiht und dadurch eine fast endlose, unstrukturierte melodische Linie entwickelt. Mehr Profil und rhythmische Schärfe weist der solistisch ebenso stark geforderte Pianist Massimiliano Mainolfi auf. Ihm gelingt in Schnittkes Presto das Kunststück, ffff e martellatissimo zu spielen, ohne metallische Härte zu erzeugen.

Diese drei Werke bilden eine in vielen Einspielungen zementierte Trias. Sie ragen aus einem Eisberg von spielenswerten Sonaten für Cello und Klavier hervor, die es aus der Sowjetzeit zu erkunden gäbe, etwa bei Alexander und Boris Tschaikowskij, bei Alexandrow, Bogdanow-Beresowskij, Brumberg, Eiges, Feldman, Finkelstein, Goedike, Golubew, Jewsejew, Kirkor, Kossenko, Kotschurow, Mjaskowsky, Nikolajew, Roslavetz, Scharonow … Der grösste Teil dieser Sonaten wurde entweder Mstislav Rostropowitsch oder Daniel Schafran gewidmet und wartet auf eine Wiederentdeckung.

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Sergej Prokofjew
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Alfred Schnittke
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A Russian Album (Sonaten von Prokofjew, Schostakowitsch, Schnittke). Mattia Zappa, Violoncello; Massimiliano Mainolfi, Klavier. Claves 50-1504

> www.claves.ch

Groove entwickeln

Eine neue Sammlung bietet variationsreiche Spirituals und Gospels für den Gesangsunterricht in zwei Varianten.

Foto: Geoffrey Froment, flickr commons

Das Genre des Spirituals und Gospels ist beeinflusst von unterschiedlichen modernen Stilarten wie Jazz, Blues, Pop und Rock. Bernd Frank hat für den Schott-Verlag eine Zusammenstellung von Gospels und Spirituals herausgegeben, die sich für den Gesangsunterricht mit Anfängern und Laiensängern eignen, aber auch für die Arbeit mit Schul- oder Kirchenmusikern, die sich vielleicht auf eine Aufnahmeprüfung vorbereiten und über den Rand des klassischen Repertoires hinausschauen wollen .

Den Schwierigkeitsgrad der vorliegenden Ausgabe würde ich bei leicht bis mittel ansetzten. Die Songs sind aber durchaus auch für Vortragssituationen geeignet, z. B. als Soloergänzung eines Gospelchorprogramms, in Musikschulvortragsübungen oder als Bereicherung des herkömmlichen kirchenmusikalischen Repertoires .

Während des Entstehungsprozesses wurde die Sammlung in einem Workshop von den Schulmusikstudierenden der Mainzer Musikhochschule mit Ideen ergänzt und auf ihre Praxistauglichkeit überprüft.

Die Ausgabe bietet durch interessante Klavierbegleitungen vielfältige Aufführungsvarianten an: sowohl in Klavier- als auch Gesangsstimme können improvisatorische «Fill-ins» eingebaut werden. Viele Songs bieten sich an, als Duo oder als «Call & Response» auch zweistimmig gesungen zu werden.

Mehrere Strophen können frei improvisierend über den zugrunde liegenden «Changes» gestaltet werden. Spezifische Gesangstechniken der Gospelmusik wie z. B. das Anschleifen der Töne verlangen stilistische Vielfalt und Flexibilität. Gospelsongs sind rhythmische Lieder , die auch dem Gesangsanfänger sofort erlauben, sein Gefühl für «Groove» zu entwickeln und zu schulen.

Die Sammlung erscheint in zwei Ausgaben, für hohe Stimme und für mittlere oder tiefe Stimme, wobei die letztere wirklich tief ist und die höhere nicht wirklich hoch. Die Bände umfassen je 33 Songs, und die Titelliste enthält neben Bekanntem wie Amazing grace, Sometimes I feel like a motherless child auch weniger Verbreitetes wie Calvary oder Chilly water.

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Spirituals & Gospels im Unterricht, 33 Songs
für Stimme und Klavier, hg. von Bernd Frank;
Ausgabe für hohe Stimme, ED 21712;
Ausgabe für mittlere oder tiefe Stimme, ED 21713;
je € 19.50, Schott, Mainz

 

Von Angklung bis Zimbel

Endlich gibt es wieder ein umfassendes Nachschlagewerk für die Schlagzeugpraxis.

Angklung aus Metall, Sammlung Emil Richards. Foto: Xylosmygame, wikimedia commons

Fast ein halbes Jahrhundert ist es her, seit zum letzten Mal ein Buch über die vielfältige Welt des Schlagzeugs erschienen ist (Peinkofer/Tannigel: Handbuch des Schlagzeugs, Schott, 1969). Vor diesem Hintergrund war Das grosse Buch der Schlagzeugpraxis herausgegeben von Gyula Racz geradezu überfällig. Er stellt in Zusammenarbeit mit 14 Autoren das Schlagzeug und alles, was dazu gehört, im Detail vor. Das Kompendium ist aufgeteilt in die Sektionen Instrumentenkunde, Spielpraxis und Pädagogik, wobei die Instrumentenkunde die prominenteste Stellung einnimmt.

In diesem farbigen, reich und zum Teil mit historischen Sujets illustrierten Kapitel erzählen die Autoren über Herkunft und Geschichte des Schlagzeugs. Bereits an dieser Stelle finden sich die ersten wichtigen Rudiments für die kleine Trommel in ausnotierter Form. Und auch über die Basler Trommel sowie deren Notation, die Fritz Berger entwickelt hat, wird schon einiges verraten.

In Gyula Racz’ Buch kann man sich genauso über exotische Instrumente wie Angklung, Löwengebrüll oder Eselsgebiss wundern, wie man sich über Zwiebelflöten, Trillerpfeifen oder Vogelgezwitscher schlau machen kann. Obwohl letztere keine Schlaginstrumente sind, gehören sie zum Instrumentarium des klassischen Schlagzeugers.

Benjamin Franklin war nicht nur Präsident der USA, sondern auch ein genialer Erfinder. Unter anderem erfand er die Glasharmonika. Diese wird in der Regel von speziell dafür ausgebildeten Musikern bedient. Einige bekannte Kompositionen für die Glasharmonika stammen aus dem 18. Jahrhundert. Zu denjenigen, die das Instrument in ihren Kompositionen einsetzten, gehören auch grosse Meister wie Mozart oder Gluck. Die Glasharmonika geriet aber schliesslich in Vergessenheit, weil sie gemäss Presseberichten aus dem 19. Jahrhundert für die Nerven von Ausführenden und Zuhörenden nicht ganz ungefährlich sein sollte. Dennoch schrieb Richard Strauss Anfang des 20. Jahrhunderts in seiner Oper Frau ohne Schatten wieder einige Akkordfolgen für die Glasharmonika.

Im ersten Unterkapitel der Sektion «Literatur und Spielpraxis» werden vor allem Solo- und Ensemblestücke aus der Ära der Neuen Musik vorgestellt, die den Leser mit Komponisten wie Varèse und Cage, aber auch vielen anderen bekanntmachen. Dem Jazz-Vibrafon und dem Drumset sind zwei eigene, reichhaltige Unterkapitel gewidmet. Auch die Welt der Latin Percussion darf natürlich nicht fehlen. Anhand zahleicher Notenbeispiele und vieler Bilder kann der Leser in diesen faszinierenden Kosmos eintauchen.

Das grosse Buch der Schlagzeugpraxis entstand in Kooperation mit der Firma Kolberg, die bestens als Herstellerin von hochwertigen Schlaginstrumenten und Qualitätszubehör bekannt ist. Mit seiner genreübergreifenden Gliederung ist es ein geeignetes Nachschlagewerk für Dirigenten, Komponisten, Lehrer und alle Musikinteressierten. 360 Seiten stark und perfekt gelayoutet, überzeugt es auf den ersten Blick und sollte in keiner gut sortierten Musikbibliothek fehlen.

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Das grosse Buch der Schlagzeugpraxis, hg. von Gyula Racz, 364 S., € 39.90, ConBrio, Regensburg 2014,
ISBN 978-3-940768-43-8

Himmelreich für Chöre

Ein Querschnitt durch das geistliche Repertoire Skandinaviens, ergänzt mit traditionellen Volksliedsätzen in drei Varianten.

Foto: Tilmann Jörg/pixelio.de

Wussten Sie, dass in den skandinavischen Ländern mehr Menschen in einem Chor singen, als in jedem andern Land der Erde? Von Skandinavien bis ins Baltikum stellt das Chorsingen eine regelrechte Volksbewegung dar. Chorkompositionen aus Schweden, Norwegen, Dänemark und Finnland sind auch für deutsche Chöre schon lange kein Geheimtipp mehr. Wie ist es zu dieser einzigartigen skandinavischen Chortradition gekommen? Das professionelle Musikleben im 17. und 18. Jahrhundert bezog sich auf die Höfe in Stockholm und Kopenhagen. Dabei waren die skandinavischen Länder in Sachen Musik über Jahrhunderte hinweg «Importnationen». Sie wurden im 18. und 19. Jahrhundert stark von der deutschen Musiktradition beeinflusst.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts fanden die Ideen der Romantik ihren Weg über Kopenhagen in den Norden. Deutsche Musiker waren massgeblich an der Sammlung und Bearbeitung skandinavischer Volksmusik beteiligt. Die ersten Ausgaben schwedischer, dänischer und norwegischer Volksweisen erschienen um 1814. Ihre in Moll gehaltene Charakteristik passte ideal zur Suche nach dem Mystischen, nach Naturverbundenheit, der sich deutsche Romantiker verschrieben hatten.

Mit der Blüte der Männerchorbewegung wurde das deutsche Chorrepertoire in Skandinavien bekannt. Gleichzeitig begründeten die skandinavischen Sängerfeste eine nordische Chortradition. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte das Bedürfnis nach politischer und kultureller Unabhängigkeit zu einer stärkeren Eigenständigkeit.

Unter dem Titel I Himmelen (Im Himmelreich) hat die Edition Peters drei umfangreiche Bände mit geistlichen Kompositionen, Gesängen für Advent und Weihnacht sowie weltlichen und Volksliedsätzen herausgebracht, und zwar für gemischten Chor, für 1–2 hohe Stimmen und für 3–4 hohe Stimmen. Dabei tauchen auch die Namen der bekanntesten skandinavische Komponisten wie Grieg, Alfvén und Sibelius auf. Neben der Originalsprache sind deutsche Texte unterlegt. Die meisten Sätze werden a cappella gesungen; obligate Begleitungen für alle drei Ausgaben sind in einem Heft zusammengefasst.

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I Himmelen, 70 skandinavische Chorstücke für gemischten Chor, hg. von Hans Wülfing, EP 11410, € 24.95, Edition Peters, Leipzig u. a. 2014

id., 10 skandinavische Chorstücke für 1–2 hohe Stimmen, EP 11414, € 12.95

id., 20 skandinavische Chorstücke für 3–4 hohe Stimmen, EP 11412, € 14.95

Klavier- und Orgelbegleitungen zu: I Himmelen, EP 11410a, € 14.95
 

Grocks Akkordeon

Der legendäre Clown spielte 15 Instrumente und schrieb die Musik für seine Auftritte selbst. Hier liegen seine schönsten Akkordeonstücke vor.

Ausschnitt aus dem Titelbild

Dieses wunderbare Heft mit Werken des Clowns Grock (Charles Adrien Wettach), neu arrangiert für Akkordeon-Solo und -Duo von Andreas Hermeyer und Thomas Svechla, enthält auch eine spannende Kurzbiografie des berühmten Künstlers, erstellt von seinem Grossneffen Raymond Naef. Ausgeschmückt ist dieser Teil des Heftes mit eindrücklichen Fotos und Plakaten, die die überzeugende Lebendigkeit noch unterstreichen.
Der Textteil besteht zudem aus der interessanten Schrift von Thomas Eickhoff zu Grocks Bezug zum Akkordeon und seiner Arbeit als Komponist.

Der «praktische» Teil beinhaltet 14 inspirierende und klanglich sehr ansprechende Kompositionen von Grock. Sieben dieser Stücke wurden mit einer 2. Stimme ergänzt und können also in Duo-Besetzung genossen werden, die zweite Stimme ist eingelegt. Die Arrangements sind harmonisch sehr interessant und lassen viel Raum für die eigene Interpretation (keine Dynamik- und keine Artikulationsangaben). Ich empfinde dieses Heft als sehr gelungen (über den einen oder anderen Druckfehler sieht man gerne hinweg) und empfehle es all denen, die gerne in diese verträumten, schwungvollen bis zu übermütigen Melodien abtauchen und sich dabei vor technischen Herausforderungen, speziell auch für die linke Hand (Standardbass), nicht scheuen.

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Grock, Akkordeonwerke des berühmten Clowns, hg. von Thomas Eickhoff, MH 15122, € 18.99, Matthias-Hohner-Verlag (Schott), Mainz 2014

Polonaise oder Bluegrass?

Diese drei Sammlungen mit Cello-Duetten lassen stilistisch kaum Wünsche offen.

Ausschnitt aus dem Titelbild der «Duo-Schatzkiste»

Duospielen von Schüler und Lehrer ist ein wesentliches Element im Musikunterricht. Die Interaktion im gemeinsamen Musizieren hilft sowohl elementare intonatorische wie auch technische Probleme leichter zu erkennen und zu lösen. Die folgenden Sammlungen gehen stilistisch ganz unterschiedliche Wege. Sie können etwa ab dem zweiten Unterrichtsjahr verwendet werden.

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Elmar Preusser hat seine Duo-Schatzkiste in eher traditioneller Weise gepackt. Die Originalkompositionen und Bearbeitungen überzeugen durch ihr breites stilistisches Spektrum von der Renaissance bis zur Moderne und ihren konsequent systematischen technischen Aufbau von der 1. bis zur 4. Lage.

 

 

 

 

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Pop-Hits für Cello enthält Evergreens aus dem Film und Hits aus der Popmusik. Zusätzlich zur 2. Cellostimme wird eine CD mit funkigen Begleitungen in einer Komplettfassung und einer Play-along-Version mitgeliefert. Die technische Stufe von Heft 1 bewegt noch ausschliesslich in der 1. Lage mit engem Griff. Sinnvollerweise wurden die meisten Song-Texte in der Partitur abgedruckt.

 

 

 

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Mit der Groovestrich-Schule bietet die kalifornische Cellistin Susanne Paul eine originelle Einführung in die Welt der lateinamerikanischen Musik. 15 kurze Duo-Stücke demonstrieren den «Groovestrich», eine Strichart, die in Samba, Bossa Nova, Salsa, Jazz, Rock oder Bluegrass verwendet wird. Für die linke Hand sind die Stücke eher einfach zu bewältigen. Die spezielle Bogentechnik setzt jedoch eine fortgeschrittene Stufe bei der Koordination der linken und rechten Hand voraus, damit die rhythmischen Finessen zur Geltung kommen können. Auf der Website www.groovecello.de sind alle 15 Stücke in einer Sound-Cloud abhörbar. Auch Lehrpersonen ist diese Sammlung sehr zu empfehlen!

 

Duo-Schatzkiste, hg. von Elmar Preusser, ED 21386, € 14.00, Schott, Mainz

Pop For Cello 1, hg. von Michael Zlanabitnig, ED 21134, mit CD, € 18.50, Schott, Mainz

Susanne Paul, Die Groovestrich-Schule, PON 1012, € 19.95, Ponticello-Edition, Mainz
 

Jenseits des Ästehtischen?

Max E. Keller hat vier Hörstücke aus den Siebzigerjahren wieder oder erstmals auf CD herausgebracht

Foto: Kai Stachowiak/pixelio.de

Natürlich sind Max E. Kellers Werke für Tonband politische Musik, radikale sogar. Deutlich insistierende Sprechstimmen in Sicher sein beziehen sich auf Schweizer Banken, die schon Mitte der 70er-Jahre ihre Gewinne maximierten, während die Arbeitslosigkeit rapide zunahm. In den 1979 entstandenen Hymnen ist ein authentischer Bericht eines gefolterten Chilenen zu hören. Konterkariert wird die Grausamkeit von Phrasen, die aus einem Tourismusprospekt stammen könnten, während im Hintergrund die selbstbewussten Hymnen verschiedener Länder laufen. Die Marsellaise drängt sich in den Vordergrund, Gleichheit und Brüderlichkeit – zeitgleich ist von elektrischen Schlägen, Tritten, Blutlachen und Verbluteten die Rede.

Solch direkte Weltspiegelung ist und war schon immer ein ästhetisches Problem. Was sollen Betrachtungen über Zeitdauern, Tonhöhen-Organisation oder kompositorische Qualität, wenn ganz bewusst realitätsnah von Folter, Tod und Unterdrückung berichtet wird? Sicher sind das Fragen, die auch Arnold Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau betreffen. Bei diesen vier Hörstücken drängt sich die Frage wieder auf. Leider auch die Einsicht, dass vieles seit den 70ern, aus denen alle Werke stammen, kaum besser geworden ist – mit dem Unterschied, dass es nur noch wenige so kritisieren, wie Keller es schon vor 40 Jahren tat.

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Max E. Keller: Vier politische Kompositionen für Tonband, Tochnit Aleph TA 134 

Musikbeispiel Hymnen

 

Musik zum Sehen

Eine Anthologie in drei CDs, einer DVD und einem Buch bietet umfassende Einblicke in die Geschichte und das Wesen der Schweizer Filmmusik.

Foto: Rainer Sturm/pixelio.de

Schon komisch mit der Filmmusik. Wer direkt nach dem Kinobesuch nach der Musik gefragt wird, wei in der Regel nicht, was er gehört hat. Andererseits, und nun stelle man stelle sich kurz Spiel mir das Lied vom Tod vor, kommen bei manchen Klängen sofort Bilder in den Kopf, die man Jahre, manchmal Jahrzehnte zuvor gesehen hat. Die tiefgreifende Ambivalenz von Filmmusik zeigt sich auch in anderen Bereichen: Weder zu billig oder kitschig sollten Klänge zu Bildern sein, noch zu eigenständig. Thomas Meyer berichtet im fast 400-seitigen Buch der Anthologie Schweizer Filmmusik 1923–2012 von Arthur Honeggers Musik zu den Filmen Rapt (1934), Der Dämon des Himalaya (1935) und Farinet (1938). Meyers Resümee fällt für den Musikliebhaber ernüchternd aus: «Vielleicht war Honeggers Musik auch schlicht zu originell für den Schweizer Film. Originalität ist eine schwierige Qualität. Sie führt zu einem ästhetischen Problem, das bei diesen drei Filmen immer wieder auffällt: Die Musik ist über dem Bild – und nicht im Bild. Sie trägt ‹drüber weg›, entführt die Aufmerksamkeit, schafft Distanz, gibt den Blick auf eine intelligente Betrachtung frei, sie lässt den Zuschauer durchaus schaudern, aber sie lädt nicht zur Identifikation ein und schleust ihn nicht in die Gefühle der Handelnden ein.» (S. 89)

Honeggers erfolglose Griffe in die Trickkiste der hohen Kompositionskunst waren gewiss nicht die einzigen Beiträge zu einer Schweizer Filmmusik. Auf drei CDs und einer DVD dokumentiert die Anthologie, die von der Fondation Suisa ermöglicht wurde, eine reiche Auswahl diverser Richtungen. Da wären die Komponistenkollegen Honeggers, zum Beispiel Bruno Spoerri, der gleich sechs Mal auf der DVD präsentiert ist. Zu La Maggia, einem 1970 entstandenen Experimentalfilm von Kurt Aeschbacher, der diverse Wasseraufnahmen zeigt, steuerte Spoerri eine elektronische Musik bei, die Tropfgeräusche akustisch verdoppelt, aber auch energetische Wasserzustände wie Flieen oder Stillstand widerspiegelt. Mathias Spohr, Herausgeber der umfassenden Anthologie, legt Wert auf die Vielfalt, den «vielstimmigen Chor» der Schweizer Filmmusik. Tatsächlich beachtlich ist die Breite und die besondere Entwicklung, die von der Instrumentalmusik der frühen 1920er-Jahre über die ersten elektrischen Klangerzeuger (Ondes Martenot, Trautonium) bis hin zu modernen Sounddesigns reicht. Als besonders ergiebig erweisen sich die kulturhistorischen Hintergründe, die Bruno Spoerri lebendig und eindrücklich beschreibt. Dazu gehört das Aufkommen des Tonfilms, der vielen Schweizer Musikern die Arbeitslosigkeit bescherte. Und dazu gehören auch Einblicke ins Zürcher Kinowesen der 20er- und 30er-Jahre. Etwas fragwürdig sind so einige Werbespots von Orange oder Migros, die weder inhaltlich noch musikalisch überzeugen. Aber gut, das sind Kleinigkeiten. Die äuerst gründlich lektorierte Anthologie bleibt nicht nur für die seltene Spezies der Filmmusikforscher von grossem Wert.

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Mathias Spohr, Anthologie Schweizer Filmmusik 1923–2012, Box mit drei Audio-CDs, einer DVD und
einem Buch (396 S.), hg. von Mathias Spohr, in deutscher, französischer, italienischer und englischer Sprache, gebunden, Fr. 69.00, Chronos Verlag, Zürich 2015,
ISBN 978-3-0340-1265-2

Wie lernen
 Senioren?

Mechanismen der
Hirnplastizität beim
Musikunterricht im Alter.


Musik machen und Musik hören gehören zu den wichtigsten Freizeitaktivitäten. Musikalische Aktivitäten sind dabei schon lange nicht mehr auf das Kindes- und Jugendalter beschränkt, sondern eine steigende Anzahl von älteren Erwachsenen will erstmals ein Instrument erlernen. Deren Anteil stabilisiert sich schon seit vielen Jahren bei etwa 10 Prozent der Schülerbelegungen der Musikschulen.


Musizieren ist eine der anspruchsvollsten Leistungen des menschlichen Zentralnervensystems. Die koordinierte Aktivierung zahlreicher Muskelgruppen muss mit höchster zeitlicher und räumlicher Präzision und häufig mit sehr hoher Geschwindigkeit geschehen. Dabei unterliegen die Bewegungen einer ständigen Kontrolle durch das Gehör, durch den Gesichtssinn und durch die Körpereigenwahrnehmung. Darüberhinaus werden Gedächtnissysteme und Emotionsnetzwerke aktiviert.


Es ist unbestritten, dass Musizieren die Entwicklung des Nervensystems in allen Lebensaltern, also auch im hohen Erwachsenenalter fördert. So findet man bei älteren Berufsmusikern zahlreiche Anpassungen, die Zeichen der «Hirnplastizität» sind: Das Broca’sche Sprachzentrum in der linken Stirnhirnregion ist vergrössert – was erklärbar ist, da Musiker in Klängen «sprechen». Das Kleinhirn, zuständig für feinmotorische Koordination, ist grösser, und die Hörrinde im oberen Anteil des Schläfenlappens weist ebenfalls eine grössere neuronale Dichte auf. Übungsabhängige neuroplastische Anpassungen der Nervenfasern betreffen neben dem Balken auch andere Faserstrukturen: Die sogenannte Pyramidenbahn, die von den motorischen Hirnrindenanschnitten zu den motorischen Nervenzentren im Rückenmark zieht, ist bei Pianisten stärker ausgeprägt als bei nicht musizierenden Kontrollen.


Auch bei älteren musikalischen Laien ist der Einfluss musikalisch-sensomotorischen Lernens auf die neuronalen Netzwerke der Grosshirnrinde schon vor über zehn Jahren beim Erlernen des Klavierspiels nachgewiesen worden. Überraschend war hier die zeitlichen Dynamik: Bereits nach 20 Minuten Klavierüben entstand bei erwachsenen Anfängern eine funktionelle Kopplung mit gleichzeitiger Aktivierung der Nervenzellverbände in den Hörrinden und in den sensomotorischen Arealen. Diese schnelle Änderung kann nur durch Zunahme der Vernetzung erklärt werden. Nach fünf Wochen Training am Klavier waren diese zunächst nur vorübergehenden Änderungen der neuronalen Vernetzung stabil und es kam zu einer Zunahme des neuronalen Austausches und der neuronalen Leitgeschwindigkeit zwischen den Hör- und Bewegungsregionen. Diese Veränderungen können bereits mit einer verstärkten Bemarkung der Nervenfasern, die Hör- und Bewegungsverarbeitung verbinden, erklärt werden. Aber nutzt das auch etwas für die allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit?


Die bislang wohl aussagekräftigste Studie, in der mit psychologischen Methoden Transferleistungen musikalischer Aktivität auf andere Denkfertigkeiten älterer Menschen untersucht wurde, stammt von Bugos und Kollegen. Die Autoren erteilten 16 Senioren im Alter zwischen 60 und 85 Jahren über sechs Monate Klavierunterricht und verglichen die kognitiven Leistungen mit einer Kontrollgruppe von 15 gleich alten Probanden vor und nach dem sechs Monate anhaltenden Klavierunterricht. Drei Monate nach Abschluss des Trainings wurde eine letzte Testung der kognitiven Fertigkeiten durchgeführt. Die Klaviergruppe hatte nach dem Unterricht eine Verbesserung von Leistungen, die Arbeitsgedächtnis und exekutive Funktionen, wie Planung und Strategiebildungen mit einschlossen. Diese Leistungsverbesserungen waren allerdings eher schwach ausgeprägt und teilweise drei Monate nach Beendigung des Unterrichts nicht mehr nachweisbar. Dennoch ist hier ein erster Nachweis der oben aufgeführten Veränderungen durch musikalisches Training gelungen.


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