In «Pop und Populismus» analysiert Jens Balzer Songtexte, die, wie er findet, parallel zur Politik provokanter und aggressiver werden. Der Rezensent stimmt dieser Analyse nur bedingt zu.
Musikzeitung-Redaktion
- 04. Sep. 2019
Interessant sind die Fragen schon: Wie viel Verantwortung hat ein Rockmusiker? Wann erreicht er oder sie die Grenze, wo Provokation übergeht in Tabuzonen, in so genannte «No-Gos»? Seit jeher tummeln sich Rock- und Popmusiker in prekären Gefilden – seien es offen zur Schau gestellte Sexfantasien (Rammstein beredt: Bück Dich) oder düstere Gewaltszenerien mit Bezügen zum Dritten Reich (Slayer: Angel of Death). Nur sind nicht alle Textzeilen für bare Münze zu nehmen. Manches ist – siehe Rammstein – ironisch gebrochen, manch anderem ist – siehe Slayer – jener Skandal bewusst eingeschrieben und nicht unbedingt politisch motiviert, sondern bloss verkaufsfördernd. Ein grosser Aufschrei ist Werbung. Er weckt Interesse.
Auf einen Nenner bringen lassen sich die vielen Pop- und Rock-Erscheinungen kaum. Insofern tut der Autor und Pop-Kritiker Jens Balzer gut daran, von einigen ausgewählten Beispielen auszugehen. Da wären zum Beispiel jene Rapper, die Spätpubertierende im Blick haben. «Jung, brutal, gutaussehend xxx» schrieben sich die Rapper Kollegah und Farid Bang auf die Fahnen. Ihre Texte strotzen von Sex, von Gewalt, auch von Antisemitismus, was zum Echo-Skandal führte. «Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen», heisst es im Song 0815. Andernorts rappen sie: «Mache wieder mal ’nen Holocaust, komm‘ an mit dem Molotow.»
Ob so etwas mit dem Begriff künstlerischer Freiheit gerechtfertigt wird, bleibt zweifelhaft. Für Balzer jedenfalls sind solche Verfehlungen ein Indiz für die Verrohung der Sitten. Er sieht klare Parallelen von Musik und heutiger Politik, wo Syrer, Moslems oder Juden ins verbale Fadenkreuz kommen. Verantwortung des Pop hiesse für Balzer: eine bewusste Gegenreaktion auf die neue Rechte im Sinne intelligenter Texte ohne Phrasen, ohne Schlagwörter à la Kollegah. Und durchaus auch eine politisch korrekte Sprache, wie er sie im Fall des englischen Performance-Künstlers Planningtorock beschreibt, die sich dem Andersartigen, dem Fremden öffnet im Sinne differenzierter Transgender-Betrachtungen. «Es geht», so Balzer resümierend, «um die durch nichts zu ersetzende Hoffnung, dass der Pop uns Orte und Räume, Momente und Möglichkeiten zu schenken vermag, in denen Menschen, die vielleicht ganz anders sind als wir selber, uns nicht als Konkurrenten und Gegner begegnen, sondern als Freundinnen und Freunde.»
Das rund 200-seitige Buch Pop und Populismus regt schon zum Denken an. Es ist jedoch fraglich, ob der Mantel des Schweigens nicht die bessere Alternative wäre als eine Kritik, die im Fall wenig intellektueller Rapper leichtfällt, aber letztlich ins Leere zielt. Pop als Massenphänomen ist per se meist oberflächlich bis hochnotpeinlich. Ähnliches gilt in der Tat für rechte Politik. Dortige Texte sind auch «gefühlig» – aber weitaus gefährlicher als Musik für Teenies, die einfach nur stark sein wollen.
Jens Balzer: Pop und Populismus. Über Verantwortung in der Musik, 206 S., € 17.00, Edition Körber, Hamburg 2019, ISBN 978-3-89684-272-5
Für einen Chemiestudenten, dessen Violinlehrer und sich selbst schuf Antonín Dvořák das «Terzetto» C-Dur op. 74 für 2 Violinen und Viola.
Musikzeitung-Redaktion
- 04. Sep. 2019
Dies ist die für den praktischen Gebrauch geeignetste Ausgabe des Terzetts von Antonín Dvořák! Die Seiten sind vom Herausgeber so eingerichtet, dass man bis zum Ende des zweiten Satzes nicht umblättern muss, das Papier ist von stabiler Qualität und die Taktzahlen sind am Anfang jeder Linie gesetzt und zählen den Auftakt nicht mit. Keine der mir bekannten gedruckten Stimmen erfüllte in den vergangenen fünf Jahrzehnten alle diese Kriterien gleichzeitig. Der knappe Kritische Bericht zu dieser Urtext-Ausgabe zeugt von grosser Sorgfalt. Auf Unterschiede zwischen der autografen Partitur und dem Erstdruck von Stimmen und Partitur wird in den Bemerkungen hingewiesen. Die Herausgeberin Annette Oppermann gibt der jeweils plausibelsten Lösung den Vorrang. Die Stimmen enthalten keine bogentechnische Einrichtung, nur originale Fingersätze, welche sich auf gelegentliche Flageolette und leere Saiten beschränken. Auch das ist eine Wohltat für die Ausführenden!
Amüsant ist die Entstehungsgeschichte dieses Kleinods der Kammermusik: In Dvořáks Haus lebte 1887 ein Chemiestudent und Amateurmusiker, der in seinem Zimmer Violinunterricht erhielt. Dvořák hörte während seiner Arbeit an sinfonischen Kompositionsaufträgen die beiden Geiger und bekam Lust, mit seiner Bratsche in deren Bund der Dritte zu sein. Mangels Literatur für diese Besetzung komponierte er innert einer Woche das Tercet op. 74 (so lautet der originale tschechische Name) und lieferte kurz darauf die Drobnosti (Kleinigkeiten) nach. Letztere wurden in der Bearbeitung des Komponisten für Violine und Klavier als Romantische Stücke op. 75 allerdings populärer.
Den italianisierenden Namen Terzetto erhielt das Opus 74 in C-Dur von Dvořáks Verleger Fritz Simrock, welcher dem Wunsch des Komponisten nach einem tschechischen Titel angesichts des deutschen Musikalienmarktes nicht entsprechen wollte. Der deutsche Name «Terzett» wiederum hätte Dvořáks böhmische Heimatgefühle verletzt.
Meisterhaft, welche Klänge Antonín Dvořák mit dieser kleinen Besetzung hervorzaubert! Und dabei bleiben die instrumentaltechnischen Ansprüche dem Niveau fortgeschrittener Schüler und erfahrener Amateure angemessen. Diese Ausgabe erleichtert jetzt auch die Probenarbeit und bannt alle Sorgen beim Umblättern.
Antonín Dvořák: Terzetto C-Dur op. 74, für zwei Violinen und Viola, hg. von Annette Oppermann; Stimmen, HN 1235, € 12.00; Studienpartitur, HN 7235, € 8.00; G. Henle, München
Das einzige Klavierkonzert von Antonín Dvořák wurde lange in einer bearbeiteten Version aufgeführt oder fiel ganz aus dem Repertoire. Zu Unrecht!
Musikzeitung-Redaktion
- 04. Sep. 2019
Denkt man an Dvořáks Solokonzerte, dann sicher in erster Linie an sein geniales Cellokonzert op. 104, «das perfekte Konzert überhaupt», so der Pianist (!) Rudolf Buchbinder. In zweiter Linie dann wohl an das Violinkonzert op. 53. Seinem einzigen Klavierkonzert in g-Moll op. 33 begegnet man in unseren Konzertsälen eher selten. Was sind die Gründe dafür?
Dvořák besass zu jener Zeit als Komponist bereits einige Erfahrung auf dem Gebiet der Kammermusik und der Sinfonie. Seine ganz eigene Klangsprache offenbart sich in den drei Sätzen des Werkes aber erst zum Teil. Noch sind Anleihen von Meistern wie Beethoven, Chopin, Wagner und Brahms unüberhörbar. Dies vor allem im Kopfsatz, während der langsame zweite Satz schon sehr persönliche Züge verrät. Was aber viele Pianisten immer wieder davon abgehalten hat, dieses Konzert ins Repertoire aufzunehmen, ist wohl der sperrige, unbequeme Klaviersatz, der zwar stellenweise bezaubernd klingt, aber kein virtuoses Auftrumpfen zulässt.
Aus diesem Grund sah sich vor etwa 100 Jahren der tschechische Klavierpädagoge Vilém Kurz veranlasst, den Solopart gründlich zu überarbeiten. Jahrzehntelang scheint nur noch seine Fassung gespielt worden zu sein. Einer der ersten Pianisten, die sich für die Originalversion stark machten, war kein geringerer als Swjatoslaw Richter. Er spielte das Konzert recht häufig und nahm es 1976 mit dem Bayerischen Staatsorchester (unter Carlos Kleiber!) sogar auf.
Kürzlich hat Robbert van Steijn diese Originalfassung im Bärenreiter-Verlag neu herausgegeben, sowohl den Klavierauszug wie auch die Partitur. Im Vorwort erfährt man allerhand Erhellendes über die komplizierte Rezeptionsgeschichte, und Ivo Kahánek steuert noch einige sehr brauchbare Tipps zu Interpretation und Fingersatz bei.
Das steigende Interesse an Dvořáks Klavierkonzert gerade in letzter Zeit ist nicht zu übersehen. Die neue Bärenreiter-Ausgabe wird diesen Trend vermutlich noch verstärken. András Schiff hat wohl nicht unrecht, wenn er meint: «Zahlreiche Klavierkonzerte des 19. Jahrhunderts, welche zum Repertoire vieler Pianisten gehören – und viel zu häufig erklingen –, sind pianistisch nicht weniger kompliziert, ohne dass sie Dvořáks Werk im musikalischen Ausdruck und kompositorischen Können erreichen würden.»
Antonín Dvořák: Konzert g-Moll op. 33 für Klavier und Orchester, Urtext hg. von Robbert van Steijn; Partitur, BA 10420, € 59.00; Klavierauszug, BA 10420-90, € 32.50; Bärenreiter, Prag
Foto: Anonyme Aufnahme aus dem Dvořák-Museum in Prag /wikimedia commons
Lebensgeschichte von Debussys letztem Werk
Zu den wenigen Werken für Violine und Klavier von Claude Debussy gehört die Violinsonate. Diese Neuerscheinung beleuchtet die Hintergründe ihrer Entstehung und die unterschiedlichen Quellen.
Musikzeitung-Redaktion
- 04. Sep. 2019
Der tüchtige amerikanische Herausgeber Douglas Woodfull-Harris erzählt in seinem englischen Vorwort (französisch und deutsch übersetzt) mit vielen Zitaten aus der Zeit, wie Debussy erst am Lebensende auf die Idee kam, Kammermusik zu komponieren: 1914 gefielen ihm Arrangements zweier seiner Klavierstücke durch den ungarisch-amerikanischen Geiger Arthur Hartmann für Violine und Klavier so sehr, dass er ein weiteres Stück für diese Besetzung einrichtete – alle drei sind in diesem Heft enthalten – und mit Hartmann zusammen bezaubernd aufführte. Danach plante er die Werkserie Six Sonates pour divers instruments, von der er die Cellosonate (1915), die Sonate für Flöte, Viola und Harfe (1916) und die Violinsonate fertigstellen konnte. 1917 erarbeitete der an Krebs erkrankte Debussy die Uraufführung der noch nicht fertig gedruckten Violinsonate mit dem Geiger Gaston Poulet – sein letzter öffentlicher Auftritt. Ausführlich vernimmt man von Umständen späterer Aufführungen und Ausgaben.
Die Sonate ist hier zweimal, nach den beiden wichtigsten Quellen, abgedruckt. Die grossen Bögen der ersten Version entsprechen den Phrasierungsintentionen des Komponisten, die der zweiten violintechnischen Bedürfnissen. Versuchen wir die erste zu verwirklichen mit Hilfe der zweiten! Im Critical Commentary (nur englisch) staunt man, wo überall der Herausgeber Quellen aufgestöbert hat: in Paris, Winterthur, Washington DC, Genf. Sie liefern das Material für über hundert Anmerkungen; es sind wertvolle Details für die eigene Interpretation.
Claude Debussy: Werke für Violine und Klavier (Sonate, Minstrels, La fille aux cheveux de lin, Il pleure dans mon coeur), hg. von Douglas Woodfull-Harris, BA 9444, € 18.95, Bärenreiter, Kassel
Auf «Solare» haben Elena Càsoli, Virginia Arancio und Teresa Hackel etliche Stücke von Fausto Romitelli erstmals eingespielt.
Musikzeitung-Redaktion
- 04. Sep. 2019
Die Gitarristin Elena Càsoli ist immer wieder für Überraschungen gut. Sie ist mittendrin in der heutigen Musikproduktion und lehrt an der Musikhochschule Bern Gitarre und Interpretation zeitgenössischer Musik. Beim italienischen Label stradivarius hat sie schon mit StrongStrangeStrings Furore gemacht, darauf folgte Changes Chances mit Musik von Cage, Carter und Riley.
Ihre neuste CD ist der Gitarrenmusik des italienischen Spektral- und Computermusikers Fausto Romitelli (1963–2004) gewidmet, der mit nur 41 Jahren nach langer Krankheit verstarb. Romitelli hatte in Mailand studiert und sich danach bei Franco Donatoni kompositorisch weitergebildet. Seinem Interesse für «Klangerforschung» folgend, ging er 1991 nach Paris, um mit Hugues Dufourt und Gérard Grisey am IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique) in Kontakt zu kommen. Von 1993 bis 1995 war er dort «compositeur en recherche». Er etablierte sich als junger Komponist im Umfeld von Ligeti, Scelsi und Grisey in der «Klangavantgarde» auf den führenden europäischen Bühnen für Neue Musik und ergründete unerhörte Klangdimensionen, sei das im Bereich instrumentaler und vokaler Musik, oder mit Elektronik, Live-Elektronik und Multimedia,
Elena Càsoli vermag Romitellis visionären Kosmos auch in seinen Gitarrenstücken zu offenbaren. Hochmusikalisch wie sie ist, gestaltet sie die minutiös notierten und deshalb schwer zu entziffernden Partituren mit dramaturgischer Raffinesse und einer vielschichtigen Farbpalette. Solare (1984) für Gitarre solo gibt der CD ihren Namen. Càsoli weiss den leisen, flirrenden Anfang so spannend zu gestalten, dass man interessiert mit ihr mitgeht: Es ist ein ruhiges Stück voller Überraschungen, das mit wenigen Mitteln eine dramaturgisch eigenwillige und klanglich differenzierte Poesie entfaltet. Càsoli ist mit jeder seiner Finessen vertraut, und gegen Schluss sinniert sie gar mit leisem Summen den vereinzelten Tönen nach.
Die CD bietet fünf Ersteinspielungen, Solare ist eine davon. Für die Stücke, die zwei Gitarren oder eine elektronische Gitarre verlangen, hat Càsoli Virginia Arancio mit ins Boot geholt, dazu die Blockflötistin Teresa Hackel. Diese bringt in Seascape (1994) und Simmetria d’oggetti (1987/88) für Flöte und Gitarre den «Hauch» mit ein, gestaltet Romitellis fantasievollen Umgang mit dem Atmen beeindruckend aus. – Wer diese CD zu hören beginnt, wird von der zarten, einnehmenden Klangwelt gefangen.
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Kulturbotschaft des Bundesrates: Guter Ansatz für Begabtenförderung
Die Schweizer Musikhoch-schulen bilden auf hohem Niveau professionelle Musikerinnen und Musiker aus. Der kulturelle Auftrag lautet, die Musikwelt zu bereichern und in aller Breite Musiklehrpersonen auszubilden.
Antoine Gilliéron
- 04. Sep. 2019
MK/MvO — Musiklehrpersonen haben eine wichtige kulturelle Rolle in unserem Bildungssystem, geht es doch im Musikerberuf darum, vor allem auch jungen Menschen die Welt der Musik zu vermitteln und musikalische Talente zu fördern. Das Schweizer Volk hat sich im September 2012 mit einem erfreulich klaren Ja zur musikalischen Förderung der jungen Generation ausgesprochen. Im neuen Verfassungsartikel 67a haben wir seither die Grundlage, junge Menschen an die Musik heranzuführen, musikalische Ausbildung auf Ebene der Volks- und Musikschulen zu ermöglichen und durchaus auch, um junge Talente zu fördern. Dies wenigstens war die Auffassung der Politik und einer vom Bund eingesetzten Expertenkommission zur Umsetzung dieses Verfassungsartikels. Ähnlich wie im Sportbereich, welcher ebenso wie die Musik im Schweizer Bildungssystem breit verankert ist, sollen dabei sowohl Breiten- als auch Spitzenleistungen im Fokus stehen. Beide bedingen sich gegenseitig! Musikalische Bildung hat sicherlich in erster Linie das Ziel, junge Menschen an die Musik heranzuführen, an kulturelle Fragestellungen und an kreativ-künstlerische Sinnhaftigkeit und Sinnlichkeit. Das gleichzeitige Anwenden von Geist und Emotion, Können und Intuition, Wissen und Erfahren gehört integral zu jenen Qualitäten, welche eine Persönlichkeit ausmachen. Ob diese Persönlichkeit dann am Ende professionelle Musikerin oder Musiker wird, ist nicht die prioritäre Frage. Viele Fragestellungen in der Musik sind dieselben wie in anderen Bereichen auch, und musikalische Kenntnisse sind in fast allen Lebensbereichen wertvoll: Musik trainiert beide Hälften des Gehirns!
Deshalb haben die Musikhochschulen das durch die letzte Kulturbotschaft 2016-2019 lancierte Programm Jugend und Musik («j+m») sehr begrüsst, auch wenn es bei diesem Programm um die breite Musikförderung von Jugendlichen durch die Unterstützung von Kursen und Musiklagern geht, die in erster Linie von den Musikverbänden sowie den Musikschulen ausgerichtet wird. «j+m» ist aus Sicht einer möglichst lückenlosen Musikbildung ab dem Schulalter sicherlich eine erste wichtige Grundlage für ein Hinausgehen über den Normalunterricht an den Volksschulen. Diese Grundlage reicht aber weder von der Zielsetzung des Verfassungsartikels her noch bezüglich der finanziellen Ausstattung mit jährlich rund 3 Mio. Franken aus. Ein Blick auf das Sportförderungsprogramm Jugend und Sport («j+s»), welches insgesamt mit mittlerweile fast 100 Mio. Franken pro Jahr subventioniert wird, zeigt vor allem auf, dass es neben der Breitenförderung eben auch immer um Begabtenförderung gehen muss. Musik ist auf den ersten Blick nicht so kompetitiv wie der Sport – und doch ist der Ansatz der Begabtenförderung entscheidend, wenn es darum geht, junge Menschen mit einem höheren Interesse für Musik mit entsprechendem Zusatzunterricht (beispielsweise zusätzliche Lektionen am Instrument, Ensemblespiel, Gehörtraining, Musiktheorie) weiter zu bringen. Dies können die öffentlichen Musikschulen in gezielter Form nicht gewährleisten, systematische Begabtenklassen und weitere Massnahmen sind in den wenigsten Kantonen etabliert, und im Normalfall haben Musikschulen dazu die Mittel nicht.
Deshalb war und ist es auch aus Sicht der Musikhochschulen unabdingbar, das Setting der Umsetzung des Verfassungsartikels 67a über «j+m» hinaus mit dem Element der Begabtenförderung zu ergänzen.
Musikalische Bildung – auch Begabte speziell fördern!
Aus der Sicht der Schweizer Musikhochschulen sollte es eine systematische Begabtenförderung auf Ebene der kantonal verantworteten Musikschulen geben. Daran angeschlossen – sozusagen als letzte Meile für die Hochtalentierten, die eine professionelle Musiklaufbahn anstreben – folgt das PreCollege, also die Vorbereitung auf die Eintrittsprüfung an eine Musikhochschule. Egal ob vorbereitende Ausbildungen an Musikschulen, Gymnasien oder an den Hochschulen stattfinden: wichtig ist die gezielte und qualitativ hochstehende Ausbildung, damit die Studierenden eine echte Chance für eine professionelle Laufbahn als Musikerin und Musiker haben. Grundsätzlich sollten dabei, getragen von allen Kantonen oder eventuell auch durch Bundesgelder, alle Begabten aus allen Kantonen eine entsprechende PreCollege-Finanzierungsbasis haben. Eine Forderung, die bisher längst nicht in allen Landesregionen erfüllt ist.
Aus diesem Grund haben sich in den letzten Jahren die Konferenz Musikhochschulen Schweiz (KMHS) mit dem Verband Musikschulen Schweiz (VMS) zusammengetan und unter anderem das Leitbild über die «Förderung von musikalischen Begabungen in der Schweiz» erarbeitet, welches die gemeinsamen Positionen festhält und mögliche Förderangebote definiert. Es geht darum, gemeinsam die Modalitäten von PreCollege-Studiengängen zu definieren, um so die lückenlosen Übergänge von der schulischen Musikausbildung (Begabtenförderung an Musikschulen) zum professionellen Hochschulstudium zu gewährleisten. Dazu gehört auch die sogenannte «Talent Card» als Eintrittsbedingung für Talentprogramme auf Stufe Musikschulen und daran anschliessend ein «PreCollege Label». Letzteres soll an dazu geeignete Musikschulen und weitere vorbereitende Institutionen vergeben werden, die einen gewissen Minimalstandard der Vorbereitung auf eine Hochschule garantieren.
Nachholbedarf in der Schweiz
Nicht unerwähnt darf die Tatsache bleiben, dass die Schweiz in dieser Hinsicht einen deutlichen Nachholbedarf gegenüber vielen musikalischen Ausbildungsprogrammen für Junge und Begabte in unseren Nachbarländern hat. Dies zeigt etwa ein Vergleich, der im Leitbild von KMHS und VMS erwähnt wird und der sich insbesondere auch auf die Definitionen zur kulturellen Bildung von UNO und UNESCO abstützt. Den Hochschulen wird oft vorgeworfen, sie hätten einen zu hohen Anteil an ausländischen Studierenden. Die Tatsache ist aber, dass bei Aufnahmeprüfungen das Niveau der erwiesenermassen sehr begabten schweizerischen Bewerbenden oft tiefer ist, als jenes der gleichaltrigen ausländischen Talente. Eine systematische und qualitativ hochstehende Begabten- und PreCollege-Ausbildung in der Schweiz würde diesen Wettbewerbsnachteil rasch wett machen und das inländische Potenzial von professionellen Musikerinnen und Musikern besser ausschöpfen.
Vor dem Hintergrund all dieser Überlegungen und Konzepte kann man den neuen Vorschlag des Bundesrates und des Bundesamtes für Kultur im Rahmen der neuen Kulturbotschaft 2021-2024, nebst der Weiterführung von «j+m» in Zukunft auch die Begabtenförderung zu unterstützen, nur begrüssen. Der vorgeschlagene neue Absatz im Kulturförderungsgesetz ist die Rechtsgrundlage für die oben skizzierte Begabtenförderung, welche die Musikverbände und die KMHS in den letzten Jahren mit Nachdruck verlangt haben. Deshalb unterstützt die KMHS diesen Vorschlag. Sie erwartet allerdings, dass dieser verpflichtend ins Gesetz aufgenommen wird und dass die Politik mithilft, diese wichtige Lücke im Schweizer Musikbildungssystem zu schliessen. In einem gemeinsamen Vorgehen von Bund und Kantonen können hier effiziente kantonale Modelle gefunden werden, um die hohen musikalischen Potenziale noch besser zu nutzen. Dies nicht etwa als Selbstzweck, sondern weil die Gesellschaft Musik als Kulturgut dringend nötig hat – und vielmehr noch qualitativ hochstehend ausgebildete Musikpädagoginnen und -pädagogen, die an unseren Volks- und Musik-schulen Musik unterrichten und vermitteln.
Die Vernehmlassung der KMHS zur Kulturbotschaft 2021-2024 des Bundesrates finden Sie hier:
Das 17. SMM/SIS-Symposium steht am 2. November 2019 in Basel im Zeichen der Prävention.
Wolfgang Böhler
- 04. Sep. 2019
SMM — Prävention und Gesundheitsförderung im Musikerberuf sind zentrale Ziele der Schweizerischen Gesellschaft für Musik-Medizin. Ins Thema einführen werden in den Räumen der Basler Musikakademie eine Hornklasse und ein Referat von Peter Knodt, der als Dozent für Fachdidaktik Trompete an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) amtet. Knodt hat Absolventinnen, Absolventen und das Lehrenden-Team des Fachs Horn zum Thema befragt und sieht interinstitutionelle Kooperationen, geeignete individuelle Kompetenzprofile und gemeinsame künstlerisch-pädagogische Grundüberzeugungen als wichtige Faktoren für Gesundheit und nachhaltige Zufriedenheit im Berufsalltag.
Knodts Erörterungen ergänzt Horst Hildebrandt, Leiter des Schweizerischen Hochschulzentrums für Musikphysiologie, mit Überlegungen zu Selbsthilfekonzepten, die für Vorbeugung und Therapie eine entscheidende Rolle spielen. Er wird aufzeigen, wie hilfreich eine Mischung aus Wahrnehmungsschulung, Tonusregulation, Kraftaufbau, Bewegungs-, Atmungs- und Haltungsschulung sein kann – ergänzt um Techniken der Schnellregeneration sowie der Muskel- und Faszienpflege.
Der Rheinfeldener Psychiater Andreas Schmid zeigt am Symposium, wo Berufsmusikerinnen und ‑musiker Kraft und Erholung finden, wenn sie an Grenzen stossen. Er erörtert die Quellen der Resilienz, die verhindern, dass es zu Kreativitätskrisen, Erschöpfung oder gar zu psychischen Krankheiten kommt. Sein Vortrag schlägt den Bogen von allgemeinen Prinzipien der Resilienz hin zu deren praktischen Bedeutung im Musikeralltag.
Der Zürcher Musikphysiologe Oliver Margulies stellt Konzepte für die Verankerung eines musikphysiologischen Angebotes an Musikaus-bildungsstätten vor. Sie gehen auf das von Horst Hildebrandt in den 1990er-Jahren an der deutschen Musikschule Lahr entwickelte Pilotprojekt «Musikphysiologische Beratung» zurück. Aus ihm entwickelten sich unter anderem die heute bestehenden musikphysiologischen Lehr- und Beratungsangebote an den Musikhochschulen Zürich und Basel. Der Vortrag gibt Einblick in zwei seit 2010 vom Margulies betreute Projekte am Vorarlberger Landes- konservatorium und an der Musikschule Konservatorium Zürich. Dazu gehören Einzelberatung für Lehrkräfte und deren Studierende, Lehrerfortbildungen, Bühnentrainings, Begabtenförderung, Zugang zu Forschungsprojekten und spezialisierte Beratungen an der ZHdK.
Elke Hofmann ist Beauftragte für Digitalisierung und Dozentin für Gehörbildung an der Basler Musikhochschule. Sie macht sich Überlegungen zum digitalen Wandel, der Informationen jederzeit und überall verfügbar macht. Die sich rasant verändernden neuen Technologien erfordern zusätzliche Verfügbarkeiten, Flexibilität und Kommunikativität und stellen damit auch Anforderungen, die als belastend empfunden werden können.
Wer am Symposium teilnimmt, kann sich zusätzlich zu den Referaten in zwei Workshops weiterbilden. Der eine steht unter dem Motto «Wer bewegt – gewinnt : Physische Ressourcen optimal nutzen mit FBL Functional Kinetics». Die Musik- und Bewegungsphysiologin Irene Spirgi Gantert zeigt dabei auf, wie physische und psychosoziale Ressourcen in engen Wechselbeziehungen zueinander stehen. Eine Stärkung der physischen Ressourcen beinhaltet sowohl Geschicklichkeits- als auch Beweglichkeits-, Ausdauer- und Kraftübungen.
Der zweite Workshop widmet sich der «Freude am musikalischen Ausdruck – Dispokinesis für Musiker». Die Flötistin Karoline Renner zeigt auf, wie die Methode Lösungswege unter anderem bei Schmerzen, Atemproblemen, mangelndem Erfolg beim Üben und Auftrittsängsten anbietet. Ziel ist die Verbesserung der eigenen instrumentalen und künstlerischen Fähigkeiten. Der Workshop vermittelt einen ersten Eindruck, welche Zusammenhänge zwischen körperlicher und mentaler Haltung bestehen und wie sich durch Selbstbeobachtung Selbstwertgefühl entwickeln kann.
Eine Hymne für das Eidgenössische Volksmusikfest
Fünf junge Volksmusikanten trafen sich an einem von der SUISA initiierten Komponierwochenende, um unter der Leitung von Dani Häusler eine Hymne für das Eidgenössische Volksmusikfest 2019 zu schreiben.
Sibylle Roth und Manu Leuenberger
- 04. Sep. 2019
Nachdem 2015 die Hymne für das Eidgenössische Volksmusikfest in Aarau als Auftragskomposition von Hanspeter Zehnder im Alleingang komponiert worden war, wollte man dieses Jahr auf den Nachwuchs setzen. Das Komponierwochenende wurde von der SUISA angeregt und von Markus Brülisauer vom Verband Schweizer Volksmusik (VSV) in Zusammenarbeit mit dem Organisationskomitee des EVMF organisiert.
Die Organisatoren waren für die Auswahl der eingeladenen Musikanten verantwortlich. Dabei wurde darauf geachtet, die gängigsten Instrumente der Volksmusik vertreten zu haben. So kam es, dass sich Eva Engler, Klarinette, Alessia Heim, Hackbrett, Jérôme Kuhn, Kontrabass, Florian Wyrsch, Schwyzerörgeli und Siro Odermatt am Akkordeon an einem Samstagmorgen im Mai 2019 in Crans-Montana trafen.
Ausser Siro Odermatt, der seit 2017 SUISA-Mitglied ist und bereits mehrere Stücke selber geschrieben hat, besassen die jungen Musikantinnen und Musikanten keine grosse Erfahrung im Komponieren. Deshalb wurde mit Dani Häusler ein erfahrener Volksmusikant als Leiter des Wochenendes engagiert.
Der Anfang auf dem weissen Blatt Papier
Bevor im Seminarraum des Hotels «La Prairie» die ersten Töne aus den mitgebrachten Instrumenten erklangen, setzte sich die Gruppe an einen Tisch und begann die Arbeit sprichwörtlich auf dem weissen Blatt Papier. Der erste Gedankenaustausch war geprägt von verschwommenen Vorstellungen: Eine Hymne – das ist ein grosses Wort. Was soll das sein? Wie soll das klingen? Wie gehen wir vor? Welche Tanzart ist geeignet? Wie findet man nun Melodien und Akkorde? Und: Kriegen wir bis morgen Sonntag wirklich ein Stück fertig?
Der Leiter Dani Häusler gab Denkanstösse, bündelte die Fragen, gemeinsam wurden nach Antworten gesucht, die Ideen und Gedanken auf Papier festgehalten, die Vorstellungen wurden konkretisiert, und bald einmal war eine Grundlage für das Stück definiert – vorerst immer noch auf dem Papier. Man hatte sich nach einigen Diskussionen für einen Schottisch entschieden. Zudem wollte man gerne einen Text zum Mitsingen haben.
Danach wurde erstmals mit den Instrumenten musiziert: Die Jugendlichen setzten sich zu zweit oder zu dritt zusammen und sammelten gemeinsam musikalische Ideen. Was in den Kleingruppen erarbeitet worden war, wurde hernach vor voller Runde präsentiert und mit möglichen Begleitstimmen ergänzt. So fand sich nach kleinen Startschwierigkeiten die zündende Idee im Verlauf des Samstagnachmittags, und bis zum Abendessen war das Gerüst der Hymne fertiggestellt.
Zu diesem Gerüst gehörte auch bereits der Entwurf für einen Text zum Stück, aus dem neben dem titelgebenden Ausruf «Ab is Wälschland …!» eine kernige Sprechgesangzeile sofort im Gedächtnis haften bleibt: «Glich oder glich ned glich.» Jérôme Kuhn erklärte dazu: «In der ganzen Schweiz gibt es Volksmusik, aber in vielen Gebieten gibt es verschiedene Stilrichtungen.» Ob «gleich oder doch nicht gleich» können Neugierige am kommenden Eidgenössischen Volksmusikfest in Crans-Montana erfahren.
Die erste Aufführung
Am Sonntagmorgen wurde an den einzelnen Teilen des Stücks vor allem hinsichtlich Arrangement weitergefeilt. In Gruppen oder alleine übten die Musikantinnen und Musikanten ihre Einzelstimmen. Gegen Mittag war das neu geschaffene Werk dann erstmals im Gesamten zu hören und wurde in weiteren Probedurchläufen ständig verfeinert.
«Es ist ein ‹ghörfälliges› Stück entstanden, das etwas Einzigartiges hat und doch fürs grosse Publikum geeignet ist», meinte Siro Odermatt gegen Ende des erfolgreichen Komponierwochenendes. Die Hymne wurde im Nachhinein mit den Musikanten und Dani Häusler im Studio professionell aufgenommen und kann auf CD gekauft werden. Der Verkaufserlös kommt vollumfänglich dem VSV-Nachwuchsfonds zugute.
Das 13. Eidgenössische Volksmusikfest findet vom 19. – 22. September 2019 in Crans-Montana statt.
Was sich genau abspielt, wenn Musik bewegt, und wohin das führen kann, ist nicht genau einzugrenzen. Maximen zu guter Führung können auch musikalische Organisationsstrukturen in Bewegung bringen.
SMZ
- 04. Sep. 2019
Was sich genau abspielt, wenn Musik bewegt, und wohin das führen kann, ist nicht genau einzugrenzen. Maximen zu guter Führung können auch musikalische Organisationsstrukturen in Bewegung bringen.
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Focus
Musik bewegt–warum, wissen wir nicht Die Emotionsforschung sucht weiterhin nach konkreten Antworten
Il existe une infinité d’émotions possibles Interview avec Didier Grandjean, directeur au NEAD à Genève
Wenn Lieder Politik machen Kann Musik unsere Haltung beeinflussen, unser Handeln bestimmen?
Le rap d’extrême droite en France Une microscène dynamique et fragile
Mit guter Steuerung zu mehr Demokratie «Good Governance» bringt Orchester- und Verbandsstrukturen in Bewegung
Seit Januar 2017 setzt sich Michael Kube für uns immer am 9. des Monats in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb.
Hier können Sie die aktuelle Ausgabe herunterladen. Bitte geben Sie im Printarchiv den Suchbegriff «e-paper» ein. Für Abonnentinnen und Abonnenten ist der Download kostenlos.
Allen andern Interessentinnen und Interessenten wird das PDF der aktuellen Ausgabe (oder einer früheren Ausgabe) gerne per E-Mail zugestellt. Kosten: Fr. 8.-. Hier geht es weiter zur Bestellung des e-papers.
«Music for Peace» ist eine Initiative des Hiroshima Symphony Orchestra, die mit dem Friedensgedanken die Welt bewegen will und von Martha Argerich unterstützt wird.
Musikzeitung-Redaktion
- 03. Sep. 2019
Hiroshima, 6. August, 8.15 Uhr: Siebenmal wird die Friedensglocke angeschlagen. Es ist der Moment, in dem 1945 ein amerikanischer Bomber zehn Kilometer über der Stadt die Atombombe ausklinkte. Innert Sekunden starben damals Zehntausende, und bis zum Jahresende wuchs als Folge der Radioaktivität die Zahl der Opfer auf rund hundertvierzigtausend an. Die Glockenschläge eröffnen jedes Jahr die Gedenkzeremonie, zu der sich jeweils die Überlebenden und ihre Familien, ranghohe Offizielle, ein Grossteil des diplomatischen Korps aus Tokio sowie Tausende von einfachen Bürgern am Nullpunkt der Explosion, im heutigen Friedenspark, einfinden. Nach einer Schweigeminute folgen Ansprachen des Bürgermeisters von Hiroshima und des Ministerpräsidenten, ein Taubenschwarm fliegt auf, zwei Kinder verlesen ein Friedensgelöbnis.
Foto: Max Nyffeler
Ein Ausstellungsobjekt im Frieden und Gedächtnismuseum Hiroshima: Die Küchenuhr blieb in dem Moment stehen, als die Bombe explodierte.
Die kurze und würdevolle Zeremonie ist der medial weithin sichtbare Teil einer sorgfältig gepflegten Erinnerungskultur in der Stadt, die heute wieder über eine Million Einwohner zählt. Dazu gehört neben verschiedenen Gedenkstellen im Park die als «Atombombenkuppel» weltweit bekannte Ruine der ehemaligen Industrie- und Handelskammer und vor allem das Friedens- und Gedenkmuseum. Es dokumentiert auf ebenso sachliche wie erschütternde Weise den Tod und das massenhafte Leiden der Opfer und führt in einer vorbildlich gestalteten pädagogischen Abteilung das zerstörerische Potenzial der Bombe vor Augen. Ein Schrecken durchfährt einen bei der Vorstellung, dass sich so etwas irgendwo auf der Welt heute wiederholen könnte.
Foto: Max Nyffeler
Point Zero und das heutige Hiroshima, links das Monument der «Atombombenkuppel»
«Music for Peace» als internationales Austauschprogramm
Diese traditionellen Aktivitäten werden seit 2015 ergänzt durch die Initiative «Music for Peace», in deren Zentrum das Sinfonieorchester von Hiroshima steht. Sie hat sich zur Aufgabe gemacht hat, den in dieser Stadt hoch gehaltenen Friedensgedanken in die Welt hinauszutragen. Unter den Unterstützern steht an vorderster Stelle Martha Argerich mit dem Ehrentitel einer Friedensbotschafterin des Orchesters. Initiator und treibende Kraft ist Shoji Sato, im Hauptberuf Mitarbeiter einer Tokioter Künstleragentur, und als künstlerischer Träger fungiert das Sinfonieorchester. Mit thematisch ausgerichteten Konzertprogrammen und unter Nutzung der globalen Verflechtungen im heutigen Musikbusiness bildet es die Drehscheibe eines langfristig angelegten, internationalen Austauschprogramms, das sich nicht nur auf gegenseitige Orchesterbesuche und Solistentätigkeiten erstreckt, sondern je nach Projekt auch Orchestermusiker einzeln oder in Gruppen einbezieht.
Foto: Max Nyffeler
Der Konzertsaal in Hiroshima
Die «Transplantation» von Orchestermusikern ist ungewöhnlich und verweist auf einen Grundgedanken der Initiative. Über das legitime Bemühen hinaus, das eigene Orchester besser am internationalen Markt zu platzieren, geht es nämlich darum, den Erfahrungshintergrund sowohl der einzelnen Musiker als auch des gesamten Orchesters zu erweitern und durch die menschlichen Begegnungen etwas zur Verständigung über die Kontinente, Sprachgrenzen und kulturellen Eigenheiten hinweg beizutragen. Orchesterpädagogik und Friedenserziehung ergänzen sich. «‹Music for Peace› will den Menschen den Gedanken der Abrüstung nahebringen», sagt Sato. Dass für solche japanischen Friedenssignale ausgerechnet unsere europäische Klassik als Medium dient, ist nicht erstaunlich. Sie hat im Fernen Osten einen hohen Stellenwert, das Publikum ist begeisterungsfähig und, wie man zumindest in Japan beobachten kann, durchwegs gut informiert. Es wächst auch kontinuierlich, nicht zuletzt durch den Einfluss der Medien, ohne die heute nichts mehr geht.
Eine Uraufführung von Toshio Hosokawa
Am Vorabend des diesjährigen Gedenktages gab das Hiroshima-Orchester unter der Leitung seines ständigen Gastdirigenten Christian Arming nun ein Konzert mit einem neuen Werk von Toshio Hosokawa, dem ersten Cellokonzert von Dmitri Schostakowitsch und der ersten Sinfonie von Gustav Mahler. Hosokawa ist in Hiroshima geboren und derzeit Composer-in-Residence des Orchesters. Im Unterricht bei Klaus Huber in Freiburg hat er sich die westlichen Kompositionstechniken angeeignet, doch seine Tonsprache wurzelt hörbar im asiatischen Musikempfinden. Hier tritt die lebendig gestaltete Linie als Formprinzip und Ausdrucksträger an die Stelle einer harmonisch strukturierten Ordnung; der harmonische Raum wird ersetzt durch die Räumlichkeit der Geste, die – analog zu dem aus der Körperbewegung entstehenden Pinselstrich in der Kalligrafie – im Nichts, und das heisst: in der Stille beginnt und endet.
Auf diese Parallele weist Hosokawa im Zusammenhang mit der nun uraufgeführten Komposition Lied V hin. Es ist ein kurzes, sehr konzentriert wirkendes Konzert für Violoncello und Streichorchester mit Schlagzeug und Harfe. Eine charakteristische ostasiatische Symbolik zeigt sich auch in der formalen Anlage: Der Solopart stellt nach Hosokawa die Stimme des Menschen dar, während das Orchester für die innere und äussere Natur steht. Die Melodielinie wird ins Riesenhafte vergrössert, sie durchmisst den ganzen Tonraum, zerfasert und verknäuelt sich und wuchert zu ausdrucksgeladenen Klangprozessen aus – ein permanent unter Hochspannung stehender Energiestrom, der vom englischen Cellisten Steven Isserlis mit packender Intensität zur Entfaltung gebracht wurde. Das farbenreiche Orchester liefert dazu den passenden Resonanzraum.
Das Hiroshima-Sinfonieorchester gehört zu den japanischen Spitzenorchestern, es ist reaktionsschnell und pflegt einen prickelnd transparenten Klang. Auffällig sind die brillante Bläsergruppe und der flexible Streicherklang. Seine Qualitäten konnte es bei der abschliessenden Mahlersinfonie voll ausspielen, wobei es unter Armings inspirierender Leitung mit seinem kollektiven Rubatospiel, den kleinen Schlenkern und Glissandi vor allem im melancholischen langsamen Satz etwas Wiener Atmosphäre am fernen Pazifik heraufbeschwor.
Martha Argerich spielt zeitgenössische Musik
Foto: by courtesy of Hope Project, Hiroshima
Akikos Klavier vor der «Atombombenkuppel»
Das Orchester hat mit seiner Initiative bereits zahlreiche Fäden nach Europa und Kanada geknüpft. Eine besonders enge Beziehung besteht zur Sinfonia Varsovia; beide sind nach dem Krieg in einer dem Erdboden gleichgemachten Stadt gegründet worden, und zum hundertjährigen Bestehen der diplomatischen Beziehungen zwischen Japan und Polen sind die beiden Orchester vor Kurzem in Warschau in einer Mischformation aufgetreten, wobei sie gemeinsam Beethovens Neunte spielten und Martha Argerich mit Chopin auftrat. Im Juni war schon Krzysztof Penderecki in Hiroshima zu Gast. Er dirigierte nebst Beethoven sein 2009 in Krakau unter Valery Gergiev uraufgeführtes Prelude for Peace und sein zweites Violinkonzert; als auswärtige Orchestermusiker waren damals zwei Mitglieder des Dänischen Radio-Sinfonieorchesters mit von der Partie.
Das ganz grosse Feuerwerk wird aber im nächsten August in Hiroshima steigen, wenn das Orchester mit zwanzig Gastmusikern aus Polen, Dänemark, Frankreich, Deutschland und den USA und mit Choristen aus Hannover, der Partnerstadt Hiroshimas, wiederum die Neunte aufführt. Und die Überraschung des Abends: Martha Argerich, sonst nicht gerade als Vorkämpferin für Gegenwartsmusik bekannt, wird ein neues Klavierkonzert uraufführen. Es heisst Akiko’s Piano, der Komponist ist Dai Fujikura. Er ist in der Schweiz kein Unbekannter; 2004 lud ihn Pierre Boulez zur ersten Festival Academy nach Luzern ein und dirigierte ein Jahr später sein Orchesterstück Stream State. Das Klavierkonzert endet mit einer Kadenz, die sich am Schluss im dreifachen Piano verflüchtigt. Martha Argerich wird dazu vom Flügel auf Akikos Klavier wechseln. Akiko war ein neunzehnjähriges Mädchen aus Hiroshima, das am Tag nach der Explosion an der atomaren Strahlung starb. Ihr Klavier, ein hochwertiges Instrument des amerikanischen Herstellers Baldwin, hat die Apokalypse überlebt, wurde restauriert und wird nun in diesem Konzert erstmals öffentlich erklingen, zunächst in Hiroshima, dann auch in Europa; auch mit Luzern steht man dem Vernehmen nach in Kontakt.
Die Bilder der Toten, die zerfetzten Kleider und die zu Klumpen geschmolzenen Alltagsgegenstände im Friedensmuseum von Hiroshima sind stumme Zeugen des Untergangs der Stadt. Vom Schrecken, aber auch wie man ihn überwindet, erzählt Akikos Klavier in Tönen.
Foto: Max Nyffeler
Der Frieden- und Gedächtnispark von Hiroshima
Komponistinnen im 19. Jahrhundert
Das Ensemble Les Métropolitaines präsentiert zum 200. Geburtstag von Clara Schumann-Wieck Lieder und Kammermusik von ihr und ihrem musikalischen Freundes- und Einflusskreis.
Musikzeitung-Redaktion
- 03. Sep. 2019
«Ich spiele nicht nur Klavier …» betitelte 2016 der Sender SWR2 eine Musikstunde, die komponierende Frauen verschiedener Jahrhunderte portraitierte. Das Klavierspiel, sozusagen die Grundausstattung einer Tochter aus gutem Hause, ist meist einer der Schwerpunkte der Komponistinnen im 19. Jahrhundert. Sie treten als Pianistinnen auf und erteilen Klavierunterricht, aber eben nicht nur, sie komponieren auch für dieses Instrument. Daneben erhalten sie oft Gesangsunterricht und begleiten sich dann selbst am Klavier. So wächst auch der zweite Kompositionsschwerpunkt, das Lied, aus dieser häuslichen Musiktradition heraus.
Viele der Komponistinnen, die wir für unser Konzert zu Ehren von Clara Schumann ausgewählt haben, sind in ihrer Familie mit weiblichen «Vorbildern» aufgewachsen, die in der Öffentlichkeit als Musikerinnen aufgetreten sind. Clara Schumanns Mutter, Marianne Tromlitz, trat solistisch in den Leipziger Gewandhauskonzerten auf. Claras langjähriger Freundin, Pauline Viardot Garcia wird das Singen sozusagen in die Wiege gelegt: Ihr Vater ist Operntenor und Komponist, ihre Mutter Sängerin und Schauspielerin. Nach dem Tod ihrer älteren Schwester, der berühmten Sängerin Maria Malibran, tritt die zunächst als Pianistin ausgebildete Pauline dann in die Fussstapfen ihrer Schwester. Josephine Langs Mutter ist ebenfalls Sängerin. Und auch Fanny Hensel und Mary Wurm haben Mütter, die ihren Kindern selbst Unterricht erteilen und für eine solide musikalische Ausbildung sorgen.
Wenn auch mit der Musik vertraut und eng verbunden mit Frauen, die ihren Beruf als Musikerinnen öffentlich ausüben, betreten die Komponistinnen mit ihrer Tätigkeit Neuland. Komponieren gilt nicht als Frauensache. So schreibt der Kritiker Hans von Bülow: «Reproductives Genie kann dem schönen Geschlecht zugesprochen werden, wie productives ihm unbedingt abzuerkennen ist. Eine Componistin wird es niemals geben, nur etwa eine verdruckte Copistin. Ich glaube nicht an das Femininum des Begriffes: Schöpfer. In den Tod verhasst ist mir ferner alles, was nach Frauenemancipation schmeckt.»
Clara Schumann
Clara Schumann sieht sich selbst primär als Pianistin. «Ich fühle mich berufen zur Reproduction schöner Werke […]. Die Ausübung der Kunst ist ja ein grosses Teil meines Ichs, es ist mir die Luft, in der ich athme.» Ihre eigenen Kompositionen bewertet sie zum Teil als wenig geglückt. «[…] natürlich bleibt es immer Frauenzimmerarbeit, bei denen es immer an der Kraft und hie und da an der Erfindung fehlt.» Und: «Componieren aber kann ich nicht, es macht mich zuweilen ganz unglücklich, aber es geht wahrhaftig nicht, ich habe kein Talent dazu.» Ihre Begründung: «Frauen als Komponisten können sich doch nicht verleugnen, dies laß ich von mir wie von anderen gelten.» Daneben gibt es auch Aussagen, die Freude an den eigenen Kompositionen zeigen: «Es geht doch nichts über das Vergnügen, etwas selbst komponiert zu haben und dann zu hören.»
Robert schätzt Claras Kompositionen, er ermahnt sie zum Teil, das Komponieren nicht zu vernachlässigen. Er sieht auch bedauernd, dass sie neben den vielen Aufgaben nicht zum Komponieren kommt. «Clara hat eine Reihe von kleineren Stücken geschrieben, in der Erfindung so zart und musikreich, wie es ihr früher noch nicht gelungen. Aber Kinder haben und einen immer phantasierenden Mann und komponieren, geht nicht zusammen. Es fehlt ihr die anhaltende Übung, und dies rührt mich oft, da so mancher innige Gedanke verloren geht, den sie nicht auszuführen vermag.» In diesen Zeilen erscheint Clara als ernst zu nehmende Komponistin. Eine Lösung für das Problem wird allerdings nicht gesucht. Und wenn die beiden direkt in Konkurrenz treten, ist es mit der Gleichberechtigung vorbei. Robert leidet, wenn Clara auf Konzertreisen im Zentrum steht. Auf einem Doppelmedaillon will Robert über Clara abgebildet sein, weil der produktive Komponist über der reproduzierenden Künstlerin steht. Dass sich hinter der vordergründigen Ebenbürtigkeit eine klare Hierarchie verbirgt, zeigt sich auch im Zitat von Franz Liszt: «Keine glücklichere, keine harmonischere Vereinigung war in der Kunstwelt denkbar, als die des erfindenden Mannes mit der ausführenden Gattin, des die Idee repräsentierenden Komponisten mit der ihre Verwirklichung vertretenden Virtuosin.»
Pauline Viardot
Für Pauline Viardot sind schaffende und ausübende Künstlerinnen und Künstler gleichwertig. « […] der dramatische Künstler muss fortwährend schaffen – er muss menschliche, lebendige, fühlende, leidenschaftliche, vollendete, bis in den kleinsten Details naturwahre Gestalten sich erdenken und dem Zuschauer vorführen. Vor allem verehre ich den schaffenden Meister, unmittelbar neben ihm den schaffenden Künstler. Beide sind unzertrennbar – denn Jeder allein für sich bleibt stumm, und zusammen schaffen sie den höchsten und edelsten Genuss des Menschen, die Kunst.» Pauline kann beide Seiten intensiv durchleben, sie widmet sich lange Zeit ihrer Bühnenkarriere. Die älteste Tochter wächst bei ihrer Mutter auf und ihr Mann begleitet Pauline häufig auf ihren Tourneen. Dann beendet sie mit 42 Jahren ihre Bühnenlaufbahn, unterrichtet, komponiert und gibt nur noch wenige Konzerte. Clara Schumann bewundert die Leichtigkeit, mit der Pauline alles umsetzt. So schreibt sie nach der Aufführung von zwei kleinen Operetten von Pauline: «Mit welchem Geschick, feinsinnig, anmuthig, abgerundet das alles gemacht ist, dabei oft amüsantester Humor, das ist doch wunderbar! […] und kaum hat sie das alles aufgeschrieben, spielt es nur so aus Skizzen-Blättern! Und wie hat sie das einstudiert, die Kinder, wie sind sie bezaubernd […]! Überall in der Begleitung hört man die Instrumentation heraus – kurz ich fand wieder bestätigt, was ich immer gesagt, sie ist die genialste Frau, die mir je vorgekommen, und wenn ich sie so sitzen sah am Klavier, das alles mit der grössten Leichtigkeit leitend, so wurde mir weich ums Herz […].»
Fanny Mendelssohn
Fanny Mendelssohn erhält zwar die gleiche musikalische Ausbildung wie ihr Bruder Felix, ihre Situation als Frau verunmöglicht es ihr aber, ihre Kompositionen zu veröffentlichen. So schreibt ihr Vater der fünfzehnjährigen Tochter: «Was du mir über dein musikalisches Treiben im Verhältnis zu Felix in einem deiner früheren Briefe geschrieben, war ebenso wohl gedacht als ausgedrückt. Die Musik wird für ihn vielleicht Beruf, während sie für dich stets nur Zierde, niemals Grundbass deines Seins und Tuns werden kann und soll; […]. Beharre in dieser Gesinnung und diesem Betragen, sie sind weiblich, und nur das Weibliche ziert die Frauen.» Auch später ermahnt er sie in diesem Sinne, was Fanny einem Freund gegenüber folgendermassen kommentiert: «Daß man übrigens seine elende Weibsnatur jeden Tag, auf jedem Schritt seines Lebens von den Herren der Schöpfung vorgerückt bekömmt, ist ein Punkt, der einen in Wuth, und somit um die Weiblichkeit bringen könnte, wenn nicht dadurch Übel ärger würde.»
Felix, der andere Komponistinnen wie Josephine Lang und Johanna Kinkel in ihrem Komponieren ermutigt, bleibt Fannys Bemühungen gegenüber ablehnend. So schreibt er an seine Mutter: «Du lobst mir ihre neuen Compositionen, u. das ist wahrhaftig nicht nöthig, […] denn ich weiss ja, von wem sie sind. Auch […] dass ich, sowie sie sich entschliesst, etwas herauszugeben, ihr die Gelegenheit dazu, so viel ich kann, verschaffen und ihr alle Mühe dabei, die sich ihr ersparen lässt, abnehmen werde. Aber zureden etwas zu publicieren kann ich ihr nicht, weil es gegen meine Ansicht und Überzeugung ist. […] ich halte das Publicieren für etwas Ernsthaftes […] und glaube, man soll es nur thun, wenn man als Autor sein Lebenlang auftreten und dastehn will. […] Und zu einer Autorschaft hat Fanny, wie ich sie kenne, weder Lust noch Beruf, dazu ist sie zu sehr eine Frau, wie es recht ist, […].» Als sich Fanny mit vierzig Jahren entschliesst, ihre Kompositionen herauszugeben, im Wissen darum, dass das ihrem Bruder missfällt, erteilt ihr Felix endlich den «Handwerkssegen» und wünscht ihr viel Freude.
Johanna Kinkel
Johanna Kinkel scheint schon sehr früh gewusst zu haben, dass sie Musik «zu ihrem Geschäft machen» will. Die Familie findet das nicht angemessen. Die Grossmutter sagt: Wir «haben es ja, Gott sei Dank nicht nötig, dass unser einziges Kind Musik zu seinem Unterhalte lernen sollte». Darum wird Johanna auf eine Schule geschickt, wo sie das «Haushalten» lernen soll. Das liegt ihr allerdings gar nicht. «Ach wie viel lieber und leichter hätte ich Generalbass gelernt, denn dass ein Ding dieses Namens existierte, welches einem zum Begriff des Komponierens verhelfe, hatte ich schon irgendwo gehört.» «Ich mag keine Dilettantin sein, ich will Künstlerin werden.» Dieses Ziel strebt sie in der Folge mit grosser Konsequenz an. So reist sie zu Felix Mendelssohn, um ihm vorspielen zu können, und organisiert dann ihre Musikausbildung in Berlin. Nach dem Studium in Generalbass fühlt sie sich befähigt, ihre Ideen umzusetzen. «Ich hatte von Jugend auf den Trieb des Komponierens gefühlt, aber ich wollte ihn nicht dadurch abschwächen, dass ich ohne Kenntnis der Theorie eine Menge dilettantischer Einfälle zu Papier brachte, wie es so oft geschieht. […] Jetzt, wo ich erkannte, was mich ehedem am klaren Hinstellen meiner inneren Melodienwelt gehindert, drängte es in mir, als ob alle meine Gedanken knospen und zu Tönen erblühen wollten.»
Louise Adolpha Le Beau
Glaubt man den Rezensenten der Zeit, komponiert keine der Frauen so «männlich» wie Louise Adolpha Le Beau. «Man erwartet solche Solidität der theoretischen Durchbildung, solche Gewandtheit in der Formenbehandlung, wie in der Orchestrierung, von Damen für gewöhnlich nicht; hier finden wir einen männlich ernsten Geist, einen künstlerischen Ausbau auf äußerst solidem Fundament, verbunden mit feiner Empfindung für Formen- und Klangschönheit,» so ein Lob an Le Beau. Als sie bei Rheinberger in München vorspricht, um Stunden nehmen zu können, lehnt er ab. Er will keine Frauen unterrichten. Nach dem Vorspielen eigener Kompositionen wird sie als «Herr Kollege» akzeptiert, dabei attestiert er ihrer Violin-Sonate op.10 ausserordentliche Qualität, sie sei «männlich, nicht wie von einer Dame komponiert». Dieses Lob zieht sich wie ein roter Faden durch die Rezensionen, so auch in folgendem Kommentar: «Frl. le Beau gehört unter die Ausnahmen, die es weiter bringen; schrieben nicht viele Männer wirklich schlechte Musik, dann würde ich mein Lob in die Worte kleiden: sie komponirt wie ein Mann!» Einerseits sucht Le Beau die Anerkennung als Komponist(in), andererseits gerät sie in Konkurrenz zu ihren männlichen Kollegen. Trotz ihrer Qualitäten sucht sie vergeblich ein Opernhaus, das ihre Oper aufführt, auch eine Professur für Komposition in Berlin bleibt ihr verschlossen. Frauen sind für diese Stelle nicht vorgesehen.
Klavierwerke und Lieder
Wenn man sich die Kompositionen der Frauen aus dem 19. Jahrhundert anschaut, so dominieren ganz eindeutig Klavierwerke und Lieder das Bild. Dies ist so bei Clara Schumann, Johanna Kinkel, Josephine Lang und weitgehend bei Fanny Hensel. Wobei eine Übersicht über die Kompositionen von Fanny Hensel auch heute noch nicht vorhanden ist.
Fanny Hensel beschreibt ihre Schwierigkeit, längere Werke zu schreiben, folgendermassen: «Es ist nicht sowohl die Schreibart, an der es fehlt, als ein gewisses Lebensprinzip, u. diesem Mangel zufolge sterben meine längeren Sachen in ihrer Jugend an Altersschwäche, es fehlt mir die Kraft, die Gedanken gehörig festzuhalten, ihnen die nöthige Consistenz zu geben. Daher gelingen mir am besten Lieder, wozu nur allenfalls ein hübscher Einfall ohne viel Kraft der Durchführung gehört […].» Wenn Frauen sich schon in die Komposition vorwagen, dann im Bereich Klaviermusik, Lied und Kammermusik. Die grossen Formen, Oratorium, Oper und Sinfonie gehören zum «männlichen» Komponieren. In diesem Bereich bewegen sich – wenn auch nicht mehrheitlich – Mary Wurm und Louise Adolpha Le Beau.
Sinfonien
Seit Beethoven ist die Sinfonie sozusagen die Krönung der Komponistenkarriere. Mary Wurm schreibt eine Kindersinfonie und Louise Le Beau eine (einzige) Sinfonie (op.41), was ihr bewundernde Rezensionen einbringt: «Es ist wohl das erste Mal, daß eine Dame sich auf den Höhepunkt der Instrumentalmusik empor geschwungen hat, und zwar mit Erfolg. Die Komponistin versteht nicht bloß die sinfonische Form meisterhaft zu behandeln, sondern dieselbe auch durch einen Reichtum musikalischer Gedanken einheitlich zu verbinden.» Und: «Es gehört unzweifelhaft für eine Dame ein großer Muth dazu, eine Symphonie zu schreiben, sowohl wegen der eigenthümlichen Schwierigkeiten dieser Musikgattung wie auch wegen des Vorurtheils, das man im Publikum der Leistung einer Dame auf diesem bisher ausschließlich Männern vorbehaltenen Gebiete der Composition entgegenbringt. Frl. Le Beau durfte den Muth dazu aus dem Reichthum ihrer musikalischen Erfindung, ihrer für eine Dame phänomenalen Compositionstechnik und ihrer sicheren Beherrschung der orchestralen Ausdrucksmittel schöpfen. Ihre Symphonie in F dur ist ein zwar nicht immer gleichwerthiges, aber in allen Sätzen fesselndes und ausgezeichnet durchgearbeitetes Musikwerk…»
So gesehen hat also nur eine der von uns ausgewählten Komponistinnen wirklich den Olymp erreicht. Musikalische Qualität gibt es aber zum Glück auch ohne Götterberg. Diese grossartige, vielseitige Welt der Komponistinnen ist eine Reise wert, es gibt immer noch viel zu entdecken.
Konzert
Roche ermuntert Kompositions-Nachwuchs
Kirsten Milenko und Alex Vaughan, zwei junge Komponisten aus Australien, erhalten die Kompositionsaufträge der Roche Young Commissions für 2021. Ausgewählt wurden sie von Wolfgang Rihm, dem künstlerischen Leiter der Lucerne Festival Academy.
Musikzeitung-Redaktion
- 03. Sep. 2019
Die 1992 geborene Australierin Kirsten Milenko lebt und komponiert in Kopenhagen und studiert an der Royal Danish Academy of Music bei Niels Rosing-Schow und Simon Løffler. Zuvor hat sie bei Liza Lim, Rosalind Page, Natasha Anderson und Ursula Caporali am Sydney Conservatorium of Musik studiert. Sie ist beim australischen Label Muisti-Records unter Vertrag und ihr Debutalbum Caeli wurde im Juni 2019 veröffentlicht.
Alex Vaughan, 1987 in Sidney geboren, begann im Alter von acht Jahren mit Posaunen-Unterricht, darauf folgten mehrere Jahre der Ausbildung in Jazz- und Musiktheorie an der Music Life-School of Performing Arts unter der Leitung von Rory Thomas in Sidney. Er studierte Komposition und Jazz-Posaune an der University of New South Wales und zog dann nach Weimar, um sein Studium in Deutschland fortzusetzen. Zu seinen Lehrern zählen unter anderem Reinhard Wolschina, Jörn Arnecke und Hansjörg Fink.
Die Roche Young Commissions wurden 2013 erstmals als einzigartige Kooperation zwischen Roche, Lucerne Festival und der Lucerne Festival Academy ins Leben gerufen. Seit 2003 werden im Rahmen der Roche Commissions Werke an weltweit renommierte Komponisten in Auftrag gegeben, mit den Roche Young Commissions wurde die Partnerschaft erweitert. Die Werke der Roche Commissions und der Roche Young Commissions werden jeweils alternierend alle zwei Jahre uraufgeführt.