Meditative und vergnügliche Etüden

Christoph Enzel hat in seinen «Mantras» für Saxofon die Wiederholung auf eine neue Ebene versetzt. Bei den Übungsstücken von James Rae steht das Musikantische im Vordergrund.

Foto: Walter J. Pilsak/pixelio.de

Instrumentaltechnische Übungen haben einen schlechten Ruf – zu Unrecht, wie ich meine, denn schliesslich schaffen sie die notwendigen Grundlagen und unterstützen die Aneignung schwieriger Passagen im Repertoire. Etüden für das Saxofon gibt es bekanntlich nicht in grosser Vielfalt. Es mangelt insgesamt an Etüden zur Entwicklung von Fingerfertigkeiten, die im Kern auch einen musikalischen Ausdruck haben und eine kompositorische Idee verfolgen, wie wir es beispielsweise von Klavier- oder Violinschulen kennen. So ist es kein Wunder, dass aus diesem Fundus viele Stücke für Saxofon transkribiert wurden. Und umso erfreulicher ist es, wenn neue Ideen das Repertoire bereichern.

Christoph Enzel hat mit seinen 15 von Minimal Music inspirierten technischen Studien Mut zur simplen Idee der Wiederholung bewiesen und diese noch dazu spirituell untermauert. Seine musikalischen Mantras sind Anregung, den Prozess des Übens von seiner Mühsal zu befreien, indem man den scheinbar langweiligen Bewegungsabläufen zum Flow verhilft und die Heiligkeit der Repetition weit weg von jeglicher stupiden Wiederholungsmechanik zum Erklingen bringt. Dies ist nicht jedem Schüler so leicht zugänglich und erfordert von der Lehrperson pädagogisches und methodisches Fingerspitzengefühl, erst recht, wenn die Übungen in exponierten Lagen eine blastechnische Herausforderung darstellen. Da der Komponist und Saxofonist im Vorwort Schwierigkeiten beim Einstudieren eines Konzerts als Ausgangspunkt dieser Publikation angibt, könnten Lehrer wie Schüler, dieser Idee folgend, selbst Mantras komponieren, die ihrem individuellen Niveau entsprechen. Viel Spass!

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Die Hefte von James Rae sind seit Jahren ein fester Bestandteil vieler Unterrichtsbibliotheken – allen voran die sogenannten klassischen Saxofonistinnen und Saxofonisten schätzen den Fundus an pop- und jazzverwandten Unterrichtsstücken. Seine Produktion von inzwischen unzähligen Publikationen mag inflationär erscheinen, da sich dem Musikpädagogen nicht immer ein innovativer musikalischer Impetus erschliesst, mit dem man neue Aspekte in den Unterricht einfliessen lassen könnte.

Letztlich ist es aber wahrscheinlich die musikantische Natur, die überzeugt – so wie in den 18 Concert Etudes for Solo Saxophone. Hier ist Spielfreude angesagt: man wechselt zwischen rhythmischen, melodischen und harmonischen Solostücken hin und her, die auch als Vortragsstücke bestimmt grossen Anklang finden. Zusammen mit den 12 Modernen Etüden (UE 18795) und den 20 Modern Studies (UE 18820) bilden diese Etüden ein gern gezogenes Unterrichtsregister.

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Christoph Enzel: Saxophone Mantras, 15 Technical Studies for Saxophone, ADV 7158, € 14.95, Advance Music, Mainz 2017

James Rae: 18 Concert Etudes for Solo Saxophone (S, A, T, B), UE 21705, € 16.95, Universal Edition, Wien 2017

Sisera unterrichtet an der Hochschule Luzern

Das Institut für Jazz und Volksmusik der Hochschule Luzern – Musik kann zum Start des Studienjahrs 2018/2019 einen weiteren neuen Dozenten begrüssen: Dario Sisera wird in den Bereichen Körper & Rhythmik und Perkussion Jazz unterrichten.

Dario Sisera (Bild: Mayk Wendt)

Der 1978 geborene Dario Sisera machte 2007 sein Performance Jazz-Diplom an der Hochschule Luzern. Er spielt zusammen mit seinem älteren Bruder, dem Bassisten Luca Sisera, und dem Gitarristen Franz Hellmüller (beides ebenfalls Absolventen der Hochschule Luzern) und dem aus Barcelona stammenden Saxophonisten Carles Peris in der Formation «Radar Suzuki».

Dario Sisera hat an diversen Musikproduktionen mitgewirkt (unter anderem Where’s Africa, Bahur Ghazis Palmyra) und unterrichtet seit 2007 an verschiedenen Schweizer Musikschulen Perkussion und Schlagzeug, unter anderem an der Musikschule Neuenkirch (Luzern) und der  Musikschule Domat/Ems (Graubünden). 2004 erhielt Sisera den Unterstützungsbeitrag der Axelle und Max Koch-Kulturstiftung und 2008 den Kulturförderpreis des Kantons Graubünden.

Mehr Infos: dariosisera.ch

Handschin-Preis geht an Miriam Roner

Dieses Jahr verleiht die Schweizerische Musikforschende Gesellschaft (SMG) bereits zum fünften Mal den Handschin-Preis für Musikforschung. Die mit 10’000 Schweizerfranken dotierte Auszeichnung geht an die Berner Nachwuchsforscherin Miriam Roner.

Miriam Roner (Bild: zVg),SMPV

Die 1986 in Bozen geborene Preisträgerin Miriam Roner ist Akkordeonistin und arbeitet seit April 2018 an der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden. Dort ist sie unter anderem für die Betreuung des Archivs zeitgenössischer Komponisten und für die Erschliessung von Musikhandschriften und musikalischen Nachlässen zuständig.

Von 2013 bis 2015 war sie an der Universität Bern im Forschungsprojekt «Klingendes Selbstbild und ‚Schweizer Töne’» tägig und wurde dort 2016 mit Ihrer Dissertation «Autonome Kunst als gesellschaftliche Praxis: Hans Georg Nägelis Theorie der Musik» promoviert. In ihrer Arbeit setzt Miriam Roner sich auf breiter Quellenbasis erstmals umfassend mit einer der wohl bedeutendsten und vielseitigsten Figuren der Schweizer Musikgeschichte auseinander.

Insgesamt hatten sich sieben frisch Promovierte um den Preis beworben. Der Findungskommission, bestehend aus den Vorstandsmitgliedern der SMG, fiel es nicht leicht, unter den eingereichten Dissertationen eine Wahl zu treffen. Damit vergibt die Schweizerische Musikforschende Gesellschaft zum fünften Mal den nach dem in Moskau geborenen Schweizer Musikwissenschaftler und Organisten Jacques Handschin (1886–1955) benannten Preis, der alle zwei Jahre an junge WissenschaftlerInnen verliehen wird. Das genaue Datum der Preisverleihung wird noch bekannt gegeben.

Mit der Kraft des Lyrischen

Das Zurich Jazz Orchestra unter Leitung von Steffen Schorn weiss um die Traditionen seines Genres, schaut aber lieber nach vorne. Folgerichtig präsentiert sich das neue Album «Three Pictures» nicht nur wagemutig, sondern auch innovativ.

Zurich Jazz Orchestra. Foto: Palma Fiacco

Seit 23 Jahren besitzt Zürich eine Big Band. Ein Luxus, gewiss, aber ein höchst willkommener. En vogue sind grosse Jazzbands derzeit nicht, was den Leistungen des Zurich Jazz Orchestra, kurz ZJO, jedoch keinerlei Abbruch tut. Gegründet wurde es ursprünglich als Versuchsvehikel für lokale Tonschöpfer und Arrangeure. Vor vier Jahren übernahm dann der renommierte Kölner Komponist und Multiinstrumentalist Steffen Schorn die Leitung der 18 Musiker.

Nun liegt mit «Three Pictures» das erste Tondokument dieser Zusammenarbeit vor – es ist das insgesamt vierte Album des ZJO. Die zwölf Tracks stammen allesamt aus der Feder von Schorn und zeugen von dessen musikalischer Virtuosität. Auf die Frage, was das Ensemble einzigartig mache, lässt der 50-Jährige wissen: «Wir haben Fantasie, wir haben Risikobereitschaft.» Wer der Platte bereits gelauscht hat, wird dieser Einschätzung nur beistimmen können. Mit Eye Of The Wind beginnt die Aufnahme mit generösen Melodiebögen, allerdings eher zurückhaltend und vergleichsweise traditionell. Das dreiteilige Africa zeigt sich anschliessend nicht bloss deutlich dichter, sondern auch vertrackter, forscher und erfinderischer. Klug gesetzte Gitarren- und Saxofon-Soli brechen immer wieder das Geschehen auf, sind für eruptive Momente besorgt und scheuen selbst vor Dissonanzen nicht zurück.

Nicht minder wagemutig präsentiert sich die fast 21-minütige Titelsuite Three Pictures. Sie versteht zwischen pulsierenden Beats und perlender Lauschigkeit zu variieren und gerät dabei nie in Gefahr, in seichte Musikgewässer abzudriften, im Gegenteil. Vielmehr wartet die Komposition mit viel lyrischer Kraft und einem durchdachten Spannungsbogen auf. Mit seinem Sound gelingt es dem ZJO, swingende Rhythmen mit groovenden Tempoverschärfungen und sich stets wandelnden Motiven zu verbinden. Ein Kunststück, das die Klangmalereien ebenso innovativ wie vielschichtig wirken lässt. Nicht unerwähnt bleiben soll die Tatsache, dass auf dem Album auch der Improvisation viel Platz eingeräumt wurde. Das macht es nicht bloss unberechenbar, sondern geradezu vollendet.

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Steffen Schorn & Zurich Jazz Orchestra: Three Pictures. Mons Records MR874611

Mehr Infos: zjo.ch/

Vorurteil ade!

Zwischen Durchhörbarkeit und klanglicher Opulenz liegt diese exakt austarierte Aufnahme der Streicherwerke Othmar Schoecks.

Cristoph Croisé. Foto: ©Elina Neustroeva

Sicher war Othmar Schoeck der radikale Bruch mit Vergangenem weniger wichtig als jenes solide Handwerk, das er lernte bei Max Reger. Der 1886 in Brunnen am schönen Vierwaldstättersee geborene Schoeck verblieb in romantischen Gefilden und hielt – gerade aufgrund seiner Lied-Vorlieben – am Melodiösen fest. Mit der CD Summer Night präsentiert das Kammerstreichorchester I Tempi aus Basel nun einen zu wenig beachteten Schaffensstrang: Drei Werke für Streichorchester gibt es, alle entstanden sie Mitte der 1940er-Jahre kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Zum Auftakt eine Suite für Streichorchester in A-Dur op. 59. Oft pflegt Schoeck einen beschaulich-skeptischen Ton, zu dem ein Satz mit dem Titel «Pastorale tranquillo» gut passt. Instrumentatorisch ist das herausragend gemacht. Schoeck sorgt so für eine latente innere Spannung, die sich in zwei schnelleren Sätzen entlädt. Vor allem im dritten Satz «Tempo di marcia allegro» kommt ein ganz neuer Ton, der – da hat der Autor des sehr guten Booklets, Chris Walton, recht – Züge trägt von Sergej Prokofjews Musik. Parallelen etwa zu «Montague und Capulet» aus Romeo und Julia drängen sich fast schon zu sehr auf.

Stärker als die Suite ist das zwei Jahre später beendete Konzert für Cello und Streichquartett op. 61. Der Solist Christoph Croisé findet einen passenden und vor allem stets flexiblen Ton für diese Klanglandschaften, in denen er immer wieder changieren muss zwischen unaufdringlichem Im-Vordergrund-Stehen und Integration im Orchester. Besonderes Lob verdienen auch das tief in die heikle Musik eindringende Kammerorchester I Tempi und der Tonmeister Karsten Zimmermann. Im Radiostudio Zürich gelang allen ein Spagat. Der Musik die nötige Klangopulenz zu geben, ihr zugleich nicht die analytische Durchhörbarkeit zu nehmen, ist eine technische wie ästhetische Herausforderung, die geradezu artistisch bewältigt wurde.

So ist die CD, die mit der titelgebenden Pastorale Sommernacht op. 58 schliesst, dem häuslichen Klangfetischisten ebenso zu empfehlen wie demjenigen, der schlicht Freude an guter und gut gespielter Musik hat. Etwaige Vorurteile in Richtung «Schoeck der Konservative» sollten sich jedenfalls schnell verabschieden angesichts all dieser Qualitäten.

Summer Night. Works by Othmar Schoeck. Kammerorchester I Tempi, Leitung Gevorg Gharabekyan; Christoph Croisé, Cello. Genuin GEN 18497

reden

Sprechen oder Schreiben über Musik ist weit verbreitet: Worauf kommt es an oder was passiert, wenn man sein Wort an ein Publikum richtet?

reden

Sprechen oder Schreiben über Musik ist weit verbreitet: Worauf kommt es an oder was passiert, wenn man sein Wort an ein Publikum richtet?

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Focus

 

Discuter de musique pour découvrir le monde
Christophe Erard partage l’expérience acquise lors de concerts scolaires

Reden in der Musikvermittlung
Über die Rolle des Wortes im und um das Konzert

Le concert doit être un événement social
Contrechamps et la discussion avec le public

Es ist alles angepasster geworden
Wo steht die Berichterstattung über Musik heute? Interview mit Sigfried Schibli

 

… und ausserdem

FINALE


Rätsel
— Michael Kube sucht


Reihe 9

Seit Januar 2017 setzt sich Michael Kube für uns immer am 9. des Monats in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb.

Link zur Reihe 9


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Appenzell Ausserrhoden fördert Kulturprojekte

Ein Freilufttheater mit dem Titel «Das glückselige Leben», das im Herbst 2019 unter Mitwirkung eines Laienchores auf dem Dorfplatz in Trogen aufgeführt werden soll, wird von Appenzell Ausserrhoden mitfinanziert. Es ist eines von fünf Projekten, das von Fördergeldern des Kantons profitiert.

Trogener Landsgemeindeplatz. Foto: Joachim Kohler, Bremen. WikimediaCommons

Das Freilufttheater verhandelt laut der Mitteilung des Kantons ein über die Jahrhunderte hinweg relevantes gesellschaftliches Thema – die Suche nach individueller und gemeinsamer Glückseligkeit – und verbindet dieses mit dem aktuell geplanten Umbau des Dorfplatzes. Umgesetzt wird das Projekt mit professionellen Darstellenden unter Einbezug von rund 70 Laien, darunter ist auch ein Chor.

Auf Empfehlung seines Kulturrates hat der Regierungsrat von Appenzell Ausserrhoden im Rahmen der ersten Fördertranche im Jahr 2018 fünf Gesuchen eine Unterstützung zugesprochen. Unter den vier weiteren geförderten Projekten findet sich der Dokumentarfilm «Plötzlich Heimweh» von Yu Hao, der den Prozess der Integration durch die Kamera der Chinesin behandelt, die im Jahr 2002 zum ersten Mal in die Schweiz kam.

Von Formen des individuellen und gesellschaftlichen Engagements handelt das Theaterprojekt «Apéro riche» der Theatergruppe Varain. Das Stück steht im Zusammenhang mit dem Landesstreik 1918 und will herausfinden, wofür sich Menschen heute engagieren. Von einem persönlichen Entwicklungsprozess handelt die interdisziplinäre, autobiografische Trilogie «Ryf» von Michael Finger. Zum Bühnenstück, zu dem er die Texte schreibt und die Musik komponiert, wird auch ein Album produziert. Der fünfte Förderbeitrag geht an das Literaturprojekt Schulhausromane.

Zudem hat das Departement Bildung und Kultur in der Zeit von Ende Oktober 2017 bis Februar 2018 für 33 Gesuche insgesamt 54’600 Franken gesprochen.

Über Musik reden

«Über Musik reden ist wie Architektur tanzen.» Das ist das gängigste und zugleich umstrittenste Zitat über den Sinn der Logik, angewandt auf Gebiete wie die Kunst, die keiner Logik gehorchen.

Das ebenso schöne wie unbestimmte Zitat wird regelmässig Frank Zappa zugeschrieben, aber auch Elvis Costello oder Bob Dylan, während zuverlässigere Äusserungen auf den amerikanischen Schauspieler und Komiker Martin Mull weisen.

Jenseits dieser Unklarheit steht die Frage nach dem Sinn des Aphorismus: Wörter – Logos – zu verwenden, um etwas Nonverbales zu beschreiben, führt zu einem ebenso unergiebigen (wenn nicht ungeschickten oder gar lächerlichen) Resultat, wie wenn man den Sinn eines Gebäudes mit einer Arm- und Beinbewegung erfassen wollte.

Musik kann ausschliesslich gehört werden, daher bildet nur der Höreindruck die symbolisch-semantische Welt dieser Kunst wirklich ab.

Warum also, wenn es doch keinen Sinn hat, sprechen wir weiterhin über Musik?

Eine erste Antwort ist praktischer Natur: Über Musik zu reden dient dazu, sie von einem Blumenkohl, einem Lächeln oder einer Pandemie zu unterscheiden. Denn es gibt sie, diese «Musik», sowohl in der realen Welt – bestehend aus tatsächlich wahrnehmbaren Objekten – wie im Reich der Vorstellungen. Und darüber zu sprechen hilft, sich dieser Existenz gewahr zu werden.

Über Musik zu reden dient auch dazu, dass die Erfahrungen, die uns berühren, eine Spur hinterlassen. Indem wir unsere Handlungen und Gefühle im Zusammenhang mit Musik beschreiben, entsprechen wir einem grundlegenden menschlichen Bedürfnis, nämlich uns und anderen gegenüber Rechenschaft abzulegen über unsere Existenz. Mitteilen, was unser Leben mit Musik zu tun hat, wird zu einer ebenso plausiblen Bestätigung unserer Existenz, wie manches andere auch.

Indem wir kommunizieren, entsteht zudem eine höhere Ebene des «Redens über Musik», eine Ebene, auf der wir gemeinsame Werte aufbauen; eine Ebene auch mit kulturellen Nuancen, denn beim Argumentieren rund um Musik bringen wir uns ein, wir zeigen, wer wir sind, und wir hinterlassen Spuren unserer Identität.

Die höchste Stufe des Redens über Musik schliesslich lässt dem Bewusstsein Gerechtigkeit widerfahren, den objektiven, übertragbaren und universellen Werten, die ausgewählten menschlichen Erfahrungen entspringen. Einem Bewusstsein, das wir alle zugleich empfangen und weitergeben.

Schliesslich ist Reden über Musik so unverzichtbar wie Reden über sich selbst. Denn am Ende ist der Mensch Wort und es scheint, so schreibt es der Evangelist Johannes, als wäre Gott das auch.

 

Zeno Gabaglio
… ist Musiker und Philosoph, Präsident der Tessiner Subkommission der Musik, Jurymitglied des Schweizer Musikpreises und Mitglied des SUISA-Vorstands.

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Stabile Schwarmfinanzierung in der Musikbranche

Die Anzahl Musikprojekte, die 2017 auch mit Schwarmfinanzierung realisiert wurden, hat im Vergleich zum Vorjahr 2016 leicht abgenommen. Die pro Projekt eingeworbene Summe hat hingegen ganz leicht zugenommen. Dies sind einige der Resultate der neuesten Schweizer Studie zum Crowdfunding.

Foto: Paylessimages / fotolia.com

Im Bereich «Musik, Konzerte, Musik-Festivals» sind 2017 laut des jüngsten Monitorings des Luzerner Hochschule 241 Projekte mit Schwarmfinanzierung realisiert worden (2016: 241). Die durchschnittlich eingeworbene Summe erhöhte sich dabei von 7577 auf 7816 Franken. Mit Crowdfunding konnten im Bereich der Kultur- und Kreativwirtschaft allgemein schätzungsweise 800 bis 900 Projekte erfolgreich finanziert werden. Dies sei durchaus ein beachtlicher Wert, heisst es in der Studie. Crowdfunding stelle aber gerade im Kulturbereich oftmals nur einen Teil der Finanzierung dar. Auch öffentliche Fördermassnahmen hätten eine grosse Bedeutung.

In der Kultur- und Kreativwirtschaft hat die Schwarmfinanzierung mittlerweile eine sehr hohe Relevanz. In der Summe wurden in diesem Bereich mittels Crowdfunding im vergangenen Jahr schätzungsweise 9,5 bis 10.5 Millionen Franken gesammelt (Vorjahr: 6.5 bis 7 Millionen Franken). Der grösste Teil davon entfiel mit 4.1 Millionen Franken auf die Kategorie «Medien, Buch, Literatur», gefolgt von «Musik, Konzerte, Festivals» mit 1,8 Millionen Franken. Der Medienbereich ist stark beeinflusst durch die Crowdfunding-Kampagne des Magazins Republik, welche insgesamt 3.5 Millionen Franken ausmachte.

Mehr Infos:
https://www.hslu.ch/de-ch/hochschule-luzern/ueber-uns/medien/medienmitteilungen/2018/05/28/crowdfunding-studie/

Lauthals zu Tisch

Vom Essen und Trinken und Singen im Allgemeinen und Besonderen

Sextett Maulauf. Foto: Heinrich Gattiker

Das Kochen mag noch nicht zu den Artes liberales gehören, unbestritten ist jedoch, dass es sich in den letzten Jahrzehnten in den Rang einer neunten, zehnten oder wievielten Kunst auch immer gehievt hat. Mehr noch: Es übertrifft, was Ausstrahlung und geschmacksästhetische Diskussion betrifft, fast alle guten alten Künste bei Weitem. Nur mit den Preisen des Kunstmarkts kann es noch nicht ganz mithalten, aber man ist gewillt, für einen Abend bei einem Spitzenkoch gleichviel hinzulegen wie für einen mit Anna Netrebko. Da zeigt sich, wie sehr sich die unentwegte Vermittlungsarbeit via Kochsendungen und -bücher gelohnt hat. Die Laien sind hier längst einbezogen worden. Leider gibt es nun mal keinen Jamie der Spektralmusik.

Auf der anderen Seite ist Sancta Innovatio, die Schutzgöttin der Neuen Musik, auch bei der Avantgarde-Küche angelangt. Da wird klassische Viergängigkeit überwunden, süss-pfeffriger Kontrapunkt betrieben, Molekulartonalität erforscht, und selbst die extended techniques tauchen in der Verwendung von Moos und Asche auf – bloss bekömmlich sollte es sein. Von da her ist es erstaunlich, wie selten noch der Cross-over gewagt, also Kurtág mit Nouvelle Cuisine, Lachenmann mit Stefan Wiesner kombiniert werden. Hier wäre der Diskurs bitter nötig.
 

Essen und Musik – kein einfaches Menü

Ist der wahrhaft multisensuelle Cross-over noch weitgehend Zukunftskulinarik, so hat sich das gemeinsame Essen doch als Teil der Performance-Kunst etabliert. In zahlreichen Festivals ist’s ein fester Bestandteil. Nicht zu Unrecht: Das Essen macht, dass die Atmosphäre denn doch weitaus gelöster ist als sonst im Konzert.

Darauf baut nun auch die hier zu besprechende Tavolata mit Musik auf, durchaus lustig und lustvoll, wie schon der Titel zeigt: Lauthals. Das frisch gegründete Vokalsextett Maulauf lud zu seiner ersten Produktion ein. Die Schwierigkeit war in diesem Fall weniger, dass man nicht mit vollem Mund sprechen bzw. singen soll. Den Akteuren ist derlei während einer Aufführung ohnehin nur in Ausnahmefällen zu empfehlen. Und sie taten’s denn hier auch nach der Performance. Schwieriger ist, dass das Publikum isst und trinkt, auch wenn die Darbietung läuft. Der Klang wird zur Musique d’ameublement. Wie soll man sich da verhalten?

Die Gratwanderung, jedem Cross-over eigen, besteht darin, dass sich zwei Ebenen, auf gleicher Stufe begegnen müssen. Das gelang – bei der Vorstellung im Kosmos Zürich vom 16. Mai – nicht restlos. Spät erst, in einer Pause nach einer halben Stunde, wurde serviert. Da verspürte man schon ein Hüngerchen. Und Essen und Musik verharrten ziemlich getrennt voneinander. Zum Verzehr gab’s eher einen delikaten, aber etwas käselastigen Apéro riche als ein veritables Menü. Die strukturellen Beziehungen zwischen dem normalen Essen und dem «Food of love», eben der Musik, blieben ephemer.
 

Ein opulentes Stimmengericht

Umso überzeugender das vokale Menü für sich, denn dieses klangservierende Ensemble ist von höchster Güte. Die Stimmen von Irina Ungureanu, Isa Wiss, Dorothea Schürch, Urs Weibel, Mischa Käser und Urban Mäder sind nicht nur virtuos, sondern auch sehr unterschiedlich. Sie verbinden sich im Kollektiv und behalten doch alle ihren Charakter. Jeder und jede von ihnen bekommt sein Solo, eines köstlicher als das andere. Die eine hält eine verschupfte Rede, der andere stemmt schimpfend seinen Stuhl durch die Menge. Kaum jedoch bleibt Zeit für einen Zwischenapplaus, da geht’s auch schon gemeinsam weiter. Sie skandieren einzelne Worte in einem Höllentempo, variieren sie in der Repetition allmählich, lassen so neue Wort- und Bedeutungsfelder entstehen, die sich ausbreiten und wieder ausdünnen. Laut und Leise. Manchmal flüsternd, manchmal schreiend. Singend sprechend gurgelnd etc., poetisch, aber auch theatral. Man weiss nie, ob nicht im nächsten Moment jemand einen Streit anzettelt oder zu winseln beginnt. Unappetitliches wäre wohl auch denkbar, wird aber dankenswerterweise aus gehaltsästhetischen Erwägungen beiseitegelassen. Aber ein bisschen ungemütlich ist diese Tafelmusik in aller Gemütlichkeit denn doch.

Die zentrale, wenn auch nicht ausschliessliche Textgrundlage bilden die an sich schon lautpoetischen Texte Ernst Jandls, dessen wienerischer Blues oft über die Spartengrenzen hinausschwingt. Neue Musik? Vielleicht. Dadaismus? Auch ein wenig. Stimmperformance? Gewiss, freilich entfällt in dieser Gruppe wohltuenderweise jene Selbstverliebtheit, die gelegentlich bei Sprachmusikvirtuosen aufscheint. Spürbar wird hingegen die ungemeine Subtilität, die aus nächster Nähe erfahrbar wird, aber auch die enorme stimmliche Wucht. Und mittendrin sitzt das Publikum (etwa vierzig Personen insgesamt), isst und trinkt, darf auch mal schwatzen, staunt und wird grossartig unterhalten. Wunderbar schliesslich auch die Zugabe: ein langes strohbassiertes Grunzen, das allmählich in ein helles Summen überging.
 

Bayreuther Wagnerarchiv wird online zugänglich

Mit einem auf drei Jahre angelegten Digitalisierungsprojekt will das Bayreuther Wagnerarchiv den Schutz seiner Bestände und deren Langzeitsicherung gewährleisten. Über 16’000 Dokumente aus dem Nachlass Richard und Cosima Wagners sollen zudem über das Internet allgemein zugänglich werden.

Notenblatt mit Brief von Richard Wagner (Bild: zVg),SMPV

Ziel des Digitalisierungsprojektes ist es, Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen sowie Interessierten über die Website des Richard Wagner Museums Bayreuth an jedem Ort der Welt mit Zugang zum Internet Zugriff auf die Archivbestände zu ermöglichen. Die Dokumente des Archivs können dabei online nach unterschiedlichen Aspekten wie Urheber, Datierung oder Entstehungsort recherchiert und als hochaufgelöste Farbscans auf dem Bildschirm angezeigt werden.

Nach Beendigung von Vorarbeiten werden jetzt Digitalisierung und Erschliessung in der Datenbank in Angriff genommen: Derzeit wird mit den originalen handschriftlichen Briefen Cosima und vor allem Richard Wagners sowie seinen Notizbüchern und den Reinschriften seiner Partituren ein Herzstück der Archivbestände digitalisiert. Anschliessend werden die Digitalisate in der museumseigenen Datenbank erfasst und so die Grundlage für ihre Online-Präsentation geschaffen.

Das Nationalarchiv in Bayreuth verwahrt und betreut die weltweit grösste Sammlung von Archivalien zu dem in Leipzig geborenen Komponisten Richard Wagner (1813-1883), seiner zweiten Frau Cosima (1837-1930) und deren Nachkommen.

Aargauer Werkbeiträge 2018

Drei Musikerinnen und Musiker aus dem Aargau kommen in den Genuss eines Werkbeitrags in der Höhe von je 30’000 Franken. Im Bereich Klassik sind dies die Bratschistin Petra Ackermann (Baden) und der Komponist Dieter Ammann (Zofingen). Im Bereich Rock/Pop kommt der Sänger und Komponist Donat Kaufmann (Rieden) in den Genuss eines Werkbeitrags.

Petra Ackermann. Foto: © Arturo Fuentes

Vier Förderbeiträge von je 10’000 Franken gehen im Jazz an die Komponistin und Bandleaderin Sarah Chaksad (Basel), an den Trompeter Bodo Maier (Biberstein) und an den Saxophonisten Simon Spiess (Aarau). In der Sparte Rock/Pop wird der Schlagzeuger Lukas Weber (Luzern) mit einer Auszeichnung bedacht. Ein Werkbeitrag für ein neues Projekt im Bereich Film geht zudem an Natalie Oesterreicher (Beinwil am See).

Atelieraufenthalte in Paris, Berlin, London oder Nairs im Bereich Bildende Kunst haben erhalten: Erich Busslinger (Basel), Andreas Bertschi (Zürich), Lea Schaffner (Zürich), Laura Meitrup (Basel), Remy Erismann (Bern) und Stefanie Kobel (Zürich). Die Sängerin Corinne Nora Huber (Erlinsbach) und der Musiker James Varghese reisen nach London. Dem Pianisten Thomas Lüscher wurde ein Atelieraufenthalt in Nairs im Unterengadin gewährt.

Die Übergabe der Auszeichnungen erfolgt, zusammen mit der Verleihung der Werkbeiträge in den Fachbereichen Literatur sowie Theater und Tanz, anlässlich der öffentlichen Beitragsfeier am 1. November 2018 im Kulturhaus Odeon in Brugg.
 

Treffpunkt der klassischen Musikwelt

Mitte Mai öffnete die Fachmesse für den Klassikmarkt in Rotterdam wieder ihre Tore. 330 Aussteller, 24 von einer Jury ausgewählte musikalische Programmpunkte, 14 Werkstattformate und eine dichte Konferenz: Mehr als 1300 Besucher aus 40 Ländern nahmen an der siebten Ausgabe teil.

Gedränge im Rotterdamer Konferenzzentrum De Doelen. Foto: Eric van Nieuwland / Classical:next

Der französische Musikmarkt bildete einen Schwerpunkt im Programm; so war das Eröffnungskonzert mit Künstlerinnen und Künstlern wie dem Quatuor Van Kuijk, der Flötistin Juliette Hurel, Alexandre Tharaud und Les Voix Animées besetzt, ein weiterer Konzertabend mit zeitgenössischer Musik unter anderen von Chloe und Vassilena Serafimova oder Accroche Note folgte am Freitag.

Die Austauschmöglichkeiten waren auch in diesem Jahr gut vorbereitet und noch besser besucht. Neben dem zu erwartenden Vermittlergeschäft und der Ausstellung (Verlage, Institutionen, Ensembles, Produzenten und Agenturen) war das Workshop-Programm (in Englisch) abwechslungsreich kuratiert.

Teils ketzerisch und kontrovers

Ein Workshop widmete sich unter dem Titel Biased? der Frage, warum der vielbeschworene kulturelle Wandel in Organisationen und Institutionen so wenig Schwung zeigt – und den Beteiligten so wenig Freude bereitet. Die ketzerische Frage von Stephen Frost (Frost Included, London), ob jeder der Anwesenden Diversität und Inklusion begrüsse, war offensichtlich nur mit Ja zu beantworten. Den Hinweis, wie gefangen jede und jeder durch sozial homogene Gruppenzusammenhänge oftmals ist und welchen Einschränkungen, die Welt zu ordnen, wir alle unterliegen, erweiterte Susanna Eastburn (Sound and Music, London) um die Frage, ob es nicht möglich sei, Teilhabe anders zu denken: von «Mit wem wollen wir arbeiten?» zu «Wer will mit uns arbeiten?».

Wie in den vergangenen Jahren boten Fragen zu Streaming und digitaler Nutzung musikalischer Produkte Anlass zu kontroversen Diskussionen, woraus folgendes Fazit gezogen werden könnte: Wenn sich die jungen «Digitalheinis» mit ihrem Know-how in die Marketingstrategien der Häuser und Ensembles einmischen, weil sie den Fans ihre Musik auf ihren Portalen bereitstellen wollen, dann sind Intendanten alten Schlags gefordert, «ihr» Produkt loszulassen und dem geneigten Publikum, das vielleicht zukünftig das Live-Erlebnis «Konzert» besuchen wird, auf seine Hörwege zu folgen.

Etwas altbacken wirkten Ausführungen zur Musikvermittlung für junges Publikum; hier wären Beiträge aus den Zielgruppen heraus eine erfrischende Abwechslung zu den immer ähnlichen «Konzert für …»-Konzepten.

Der Gemeinschaftsgeist lebt auf

Der viertägige Anlass scheint sich für viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem breiten Spektrum des Musiksektors zu lohnen: Internationale Kontakte, Wissenserweiterung über die eigene Sparte hinaus und ein erneuerter «community spirit», wie Classical:next-Direktorin Jennifer Dautermann betont, machen die jährliche Veranstaltung zunehmend zu einer festen Grösse in den Agenden der Orchesterintendantinnen, Festivalplaner und Agenturen.

Für den Schweizer Musikmarkt war der von der Fondation Suisa betreute Messestand ein guter Standort; für Gespräche, gegenseitiges Kennenlernen (oder das Auffrischen der Bekanntschaften aus den Vorjahren) und Vernetzung auf internationaler Ebene fand sich ein präsentables Dach. Wohl nicht zuletzt durch die Unterstützung der Pro Helvetia hatten sich vermehrt Künstlerinnen und Künstler zur Teilnahme entschlossen, eine Möglichkeit, die sich noch weiter herumsprechen wird.

Die nächste Classical:next findet vom 15. bis 18. Mai 2019 wiederum im Musikzentrum De Doelen in Rotterdam statt.

Ansturm der Sousafonisten

Ausgerüstet mit Sousafon und Wanderschuhen machten sich am 19. Mai zahlreiche Musikanten auf den Weg von Schwyz nach Brunnen und liessen dabei ihre Instrumente erklingen. Die Veranstaltung fand Anklang – mehr als von den Organisatoren erwartet.

Foto: Angélique Bühlmann

Damit hätte noch vor wenigen Wochen niemand gerechnet: Über 150 Sousafonisten und Sousafonistinnen fanden sich kurz vor 10 Uhr auf dem Hauptplatz in Schwyz ein, um zusammen die «9. Sousiwanderig» nach Brunnen zu bestreiten. Waren es letztes Jahr noch vier Wanderer aus der Region, reisten dieses Jahr Bassisten aus der ganzen Schweiz und dem benachbarten Ausland an – mit dem Zug, dem Auto, mit einem Wohnmobil oder sogar mit dem Car. Die Begeisterung für den einzigartigen Anlass war bei den Beteiligten, welche sich sonst oft als Stiefkinder der Guggenmusik empfinden, bereits am Startpunkt deutlich zu spüren. Durch die Gassen von Schwyz hallten «Sousafon»-Rufe und Dutzende Schaulustige waren vor Ort.

«Heute Morgen sagte ich noch, wenn 60 Leute kommen, haben wir es geschafft», liess Bruno Föhn wissen, der zusammen mit Patrick Reichmuth die Wanderung seit sechs Jahren organisiert. Über eine Facebook-Veranstaltung machten sie den Anlass publik und liessen zusätzlich rund 1000 Flyer drucken. Dass aber so viele Teilnehmer kommen würden, hätten sie in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet. «Sorgen über den Ansturm machten wir uns keine, jedoch gingen wir das Ganze mit viel Respekt an. Wo sollen all die Leute essen? Wie regeln wir das mit dem Verkehr?»

Für einen reibungslosen Ablauf wurden schnell freiwillige Helfer gefunden, die für die Verkehrssicherheit sorgten, und ein Fahrzeug organisiert, das bei der Wanderung mit medizinischer Versorgung bereitstand. Bei bewölktem Wetter und angenehmen Temperaturen wanderten die Viererkolonnen los über Ibach, Oberschönenbuch, die Himmelsleiter hinunter nach Ingenbohl und schliesslich nach Brunnen an den See. Gespielt wurden von der Organisation arrangierte Liederausschnitte, die man sich schon Wochen vor dem Anlass über einen Link herunterladen konnte. So ertönten unter anderem Klänge aus «Herr der Ringe» oder der Refrain von Ottowans «Hands Up». Da sich die Karawane aber an gewissen Stellen über mehrere hundert Meter in die Länge zog, war nicht immer genau herauszuhören, was nun gespielt wurde. Auf dem Weg war für Verpflegung gesorgt.

Das Wetter spielte lang Zeit gut mit, kaum in Brunnen angekommen, wurden die Sousafonisten und Sousafonistinnen jedoch von starkem Regen begrüsst. Diese liessen dennoch zum Abschluss für die Zuhörer, die ebenfalls dem Wetter trotzten, nochmals die einstudierten Lieder erklingen.

Nächstes Jahr soll dann die «10. Sousiwanderig» stattfinden. Die Organisatoren rechnen wieder mit zahlreichen Teilnehmern und haben sich für das Jubiläum bereits etwas Besonderes ausgedacht.
 

Chorgesang, der süchtig macht

Das 11. Europäische Jugendchor Festival (EJCF) fand über das Auffahrts-Wochenende in Basel und Region statt. An fünf Tagen und Abenden verfolgten gegen 30 000 begeisterte Zuhörende die Auftritte der insgesamt über 2000 Stimmen der 18 Gastchöre aus 12 Ländern und weiterer 17 Chöre.

Coro Infantil da Universidade de Lisboa unter Erica Mandillo auf dem Jugendchorschiff

Was gibt es Schöneres, als singenden Jugendlichen zuzuhören und zuzuschauen? Das Lächeln des Gesangs berührt die Seele. Man beneidet geradezu, wie die jungen Stimmen ihre bald schlichten, bald kunstvollen Gesänge auswendig, gestisch wie mimisch ausgeklügelt und so unverstellt natürlich vortragen. Sie füllen die Räume und singen von allen Seiten über Emporen hinweg. Sie wandeln und tanzen und unterstützen damit den Text, so dass man auch ihre fremde Sprache versteht. Eine Choreografie des Gesangs, die ein Volkslied zum Gesamtkunstwerk erhebt.

Romanisch, russisch, appenzellisch …

Chara lingua della mama intonieren die Mädchen und Burschen des Bündner Incantanti-Chores und verzaubern das Publikum mit ihrem Chantun Grischun in der Muttersprache. Der engagierte Leiter Christian Klucker feuert sie an. Jede Silbe ein Zoll Ausdruck. Zum Lied Ina dultscha melodia formieren sie sich im Kreis vorm Altar der Laufener Kirche und lassen die süsse Melodia von der Rheinquelle ins Birstal hinauf wie auf einer sanften Barke in Schallwellen schaukeln.

Ausgelassenheit und Strenge markieren die Stimmen der Swerdlowsk Kinderphilharmonie. Zwischen den romantischen Russen Mussorgski und Glinka begeistern die strammen Kinder und Jugendlichen im stampfenden Rundgesang Rotola oder in der wirbligen Puppenshow Balaganchik.

In der halligen Leonhardskirche juchzen die Jutz-Jugis urig appenzellisch die Zäuerli vom Schwäbberg mit dem typischen Alphorn-Fa, hopsen in ihren Sennechutteli und Trachten, die Hände in der Hosentasche, den Schnittertanz doppelt so lüpfig und recken im Stellijuiz die Köpfe wie zum Säntis hoch. Swissness pur.

Im Kirchenraum verstreut der ungarische Cantemus-Kinderchor klangfarblich abgestimmte Sakura-Kirschblüten und rasselt zu einer fröhlichen Schlittenfahrt.

Eine Spezialität des EJCF ist, dass die Gastchöre aufgefordert werden, auch Stücke eines andern Chors einzustudieren und sie gemeinsam aufzuführen. So intoniert die Knabenkantorei Basel mit dem stämmigen Drakensberg Boys Choir das traditionelle Marokeni aus Namibia und lässt sich vom Temperament der Südafrikaner anstecken. Oder der Mädchenchor Bat-Kol vereint sich im Stück Hadudaim des israelischen Komponisten Tzvi Sherf und in einem Canto von Fernando Lopes-Graça mit dem Coro Infantil da Universidade de Lisboa. Da finden ganz unterschiedliche Temperamente in fremdem Stil und fremder Sprache zueinander.
 

Drei Uraufführungen aus drei Landesteilen

Das vom finnischen Chorleiter Kari Ala-Pöllänen präsidierte Chormusik-Programm «Songbridge» projiziert in drei Uraufführungen eine moderne Landeserkundung ins Rund der schönen Jugendstil-Pauluskirche.

Zunächst malen die Fribourger Zik’Zag-Jeunes in Carlo Bollers A Moléson stimmungsvolle Lichtklänge vom Greyerzer Berg, angespornt von Jocelyne Crausaz, um danach mit dem Kammerchor des Gymnasiums Muttenz (Leitung: Jürg Siegrist) und den Grischuner Incantanti die klangfarblich raffinierte Neuschöpfung Fribourg von Fabien Volery aus der Taufe zu heben. In S Freikunsärt orientiert sich Stefan Furter am bodenständigen Oberbaselbieter Dialekt des Bauerndichters Hans Gysin, wie er in den Dörfern Oltige, Weislige, Ammel am Fusse der Schafmatt gesprochen wird. Der Gesang der «tuusigfältigen» Vögel hat es ihm angetan. Im Sprechchor graviert der Specht Claves Flurnamen in den Stamm. Ein wundersames Natur- und Heimatstück für «allergattig» Stimmen. Die Himni al sulegl des Bündners Gion Andrea Casanova entpuppt sich als Hymne an die Sonne, an die weisse Pracht des Schnees, an Kälte und Wolke. Ein klanglich funkelndes Wechselbad von Naturstimmungen und Gefühlen.

Den drei Uraufführungen gemeinsam ist, dass sie von den Stimmen einiges an Ausdruck und Affekt verlangen, ohne die Stimmbänder allzu arg zu strapazieren, wie das die Neue Musik gerne tut.

Den Abschluss der Konzerte macht jeweils der Festivalsong Music is everywhere mit dem Refrain, in den das Publikum unisono einstimmt. Mit Standing Ovations werden die Darbietungen in den überfüllten Kirchen wie im ausverkauften Musical-Theater gefeiert.
 

Ein geballtes Programm, das nachklingt

«Uff dr Stross», auf fünf Bühnen und Plätzen, gehts an praller Sonne hitzig zu und her. Da wird getanzt und gehottet, gejuchzt und gepfiffen, getrommelt und gekämpft, dass sich die Bretter auf den Bühnen biegen. Der Leiter des Coro de Jovenes de Madrid, Juan Pablo de Juan, treibt das Publikum zum Mitsingen und Klatschen an. Als feurige Carmens schwingen die Sängerinnen ihre Hüften, umworben von den jungen Torreros. Bei der «Parade à l’envers» standen die Chöre am Strassenrand und liessen das Publikum vorbeidefilieren.

Neu war bei dieser Ausgabe des EJCF unter der bewährten Leitung von Kathrin Renggli ein Jugendchorschiff, das mehrfach mit seiner sangesfreudigen Fracht an Bord – darunter ein Workshop für Kids bis 8 Jahre – auf dem Rhein bis ans Dreiländereck kreuzte.

Zum 8. Mal versammelten sich Chorleiterinnen und Chorleiter zu Vorträgen und Demonstrationen, um ihre Jugendensembles für Pop-up-Performances, in Sachen Bühnenpräsenz und wirkungsvolle Repertoires bei festlichen Auftritten fit zu machen.

Lange klingen die Gesänge der fröhlichen Jugend nach und bereiten Freude und Genugtuung ob soviel friedfertigen Musizierens über alle Grenzen hinweg. Auch Politikern sollte man das Singen beibringen, dann wäre der Weltfriede gewiss eher möglich.
 

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