Geschenke der besonderen Art
Die Wittener Tage für neue Kammermusik 2014 waren prall gefüllt mit guter bis sehr guter Musik.

Man kann Musik zu Hause hören. Aber live klingt es eben doch anders, erst recht dieses raumgreifende Le Temps Mode d´emploi, komponiert von Philippe Manoury. Vorne spielen die fantastischen Pianisten Andreas Grau und Götz Schumacher und von hinten kommen ihre Parts zeitversetzt aus Lautsprechern. Das Virtuelle und Reale vermengen sich zu einem imposant räumlichen Klangbild voll berstender Energie. Philippe Manoury, 1952 im französischen Tulle geboren, ist bei den diesjährigen Wittener Tagen sehr präsent. Im Rahmen des ihm gewidmeten Komponistenporträts gibt es neben diesem Klavierwerk orchestrale Trauermärsche und ein Streichquartett namens Melencolia (d´après Dürer), das von Albrecht Dürers bekanntem Kupferstich von 1514 inspiriert ist. In dem in Witten uraufgeführten Le Temps Mode d´emploi war die klangliche Opulenz beeindruckend, in Melencolia schrieb Manoury sehr fein ziselierte Musik. Gegliedert durch Glockentöne treten immer wieder neue, interessante Klangbilder hervor. Spannung ist garantiert – Manoury hält sie, fast lässig, und das über 40 Minuten.
Gifts and Greetings
Solch heikle Stücke kommen nur dann adäquat zur Entfaltung, wenn hochrangige Interpreten spielen. Irvine Arditti, Ashot Sarkissjan, Ralf Ehlers und Lucas Fels gehören dazu. Bei all ihrer geradezu aufreizend lockeren Bewältigung vergisst man zuweilen die enormen Schwierigkeiten der Werke. In Manourys Melencolia wird aber wieder deutlich, warum das Arditti String Quartet (in wechselnder Besetzung) seit 40 Jahren das zeitgenössische Musikgeschehen bereichert. So etwas wie Unspielbarkeit gibt es für die «Ardittis» nicht. Stets behalten sie die Kontrolle, an Präsenz, Strahlkraft und Energie fehlt es ihnen ganz gewiss nicht. Das 40-jährige Bestehen des Quartetts war für Harry Vogt, den künstlerischen Leiter der Wittener Tage für Neue Kammermusik, Anlass für eine besondere Party. 14 Komponisten schickten dem Quartett Präsente in Form etwa fünfminütiger Miniaturen. Bei der Aufführung der «Stückchen» gab es zwar schon mal ein kleines Schmunzeln der Fachleute, aber musikalischer Humor ist nicht die Stärke der Neuen Musik. Das bemühte Geschehen unter dem so legeren Titel Gifts and Greetings offenbarte einen beträchtlichen «Beethovenbartókardittiangstfaktor», wie es der junge Komponist Philipp Mainz einmal ausdrückte. Tatsächlich ist Streichquartett-Komposition kein Kindergeburtstag – zumal dann, wenn solch ein steter Wegbegleiter der Ardittis wie Brian Ferneyhough als Gast erscheint. Die New Complexity, für die Ferneyhough berühmt (und berüchtigt) wurde, lässt offenbar wenig Raum für so etwas wie ein heiteres musikalisches Ständchen.
Hörbare Forschung
Brian Ferneyhough hat sich schon zu Lebzeiten einen Platz in der Musikgeschichte gesichert. Dem italienischen Komponisten Giacinto Scelsi gelang dies erst nach seinem Tod 1988. Einerseits als Dilettant verschrien, andererseits als Halbgott verehrt, gibt Scelsi bis heute Anlass zu Kontroversen. Neuer Diskussionsstoff ergibt sich nun durch die Freigabe von Tonbändern aus dem Scelsi-Archiv. 600 Stunden Musik- und Sprachmaterial tauchen da auf: Teile einer auf Band gesprochenen Autobiografie, Klavierimprovisationen, Radiosendungen, und Aufnahmen von Ondiolen, Vorläufern des Synthesizers. Im Rahmen eines Projekts der Abteilung Forschung der Hochschule für Musik Basel beschäftigen sich Musikwissenschaftler mit der Auswertung der Tonbänder. Zugleich gibt es eine in Witten präsentierte Form der hörbar künstlerischen Erforschung. Komponisten wie Improvisatoren setzen sich mit Scelsi auseinander, unter ihnen auch der Schweizer Komponist Michael Pelzel. In seinem Sculture di suono – in memoriam Giacinto Scelsi konzentriert er sich auf die aparte «Schwebewelt», die sich durch mikrotonale Engführungen ergibt. Dem Ensemble Klangforum Wien gelingt eine fantastische Uraufführung des hochinteressanten Werks, das auch Scelsis «biegsame Orgelklanglichkeit» (Pelzel) in Form exzessiver Terz- und Sextfolgen gekonnt integriert.
Die neue Lockerheit im Umgang mit Tradiertem ist ein Grund für einen ausgesprochen gelungenen Wittener Jahrgang mit 25 Uraufführungen und vier deutschen Erstaufführungen. Arbeit an der Kammermusik lohnt sich dank hervorragender Komponisten wie Philippe Manoury, aber auch dank hochklassiger Spezialensembles wie den Ardittis, dem Klangforum Wien, dem Freiburger Ensemble und dem in Witten frisch aufspielenden Trio Catch. Das Klavierduo GrauSchumacher hat es das erste Mal nach Witten verschlagen. Wiederkommen würden sie offenbar gerne in dieses Laboratorium der Moderne. Nach drei prall gefüllten Tagen voll guter bis sehr guter Musik sind sie nicht die einzigen.