Glocken

Was bedeutet es eigentlich, wenn Glocken läuten? Wir lauschen «zweisprachigem» Geläute an der Sprachgrenze, den Röhrenglocken im Orchester, dem Glockenspiel und dem englischen Change Ringing. Zudem berichtet der Leiter der letzten Glockengiesserei in der Schweiz über historische Techniken und heutige Herausforderungen.

Glocken

Was bedeutet es eigentlich, wenn Glocken läuten? Wir lauschen «zweisprachigem» Geläute an der Sprachgrenze, den Röhrenglocken im Orchester, dem Glockenspiel und dem englischen Change Ringing. Zudem berichtet der Leiter der letzten Glockengiesserei in der Schweiz über historische Techniken und heutige Herausforderungen.

Focus

Was klingt denn da?
Unterschiedliche Geläute aus Schweizer Glockentürmen

Glockengiessen ist nie zweimal das Gleiche
René Spielmann über Tradition und Wissenschaft

Le carillonneur et les grands carillons en Suisse

Le plus lourd de tous les instruments
Deutsche Fassung und Klangbeispiel

Quand l’orchestre fait sonner les cloches
Un instrument recrée la sonorité des cloches : le carillon tubulaire

Wo Glocken stundenlang läuten

Die Tradition des Wechselläutens in England
Artikel, PDF zum Download und Tonbeispiel

 

… und ausserdem

RESONANCE


Le studio de la Fondation Tibor Varga dans la tourmente

L’orchestra prova a tornare strumento della creazione
«Œuvres Suisses» – Neues sinfonisches Musikschaffen für die Schweiz

Rezensionen Klassik, Rock & Pop — Neuerscheinungen Bücher, Noten, CDs

Carte Blanche mit John Wolf Brennan

CAMPUS

IRMAS  Institut de recherche des HEM et de la Haute école de Théâtre

Corelli als Modell Symposium der Schola Cantorum Basiliensis

Rezensionen Neuerscheinungen Unterrichtsliteratur

klaxon Kinderseite

SERVICE


Leserreise nach Krakau

FINALE

Rätsel Dirk Wieschollek sucht

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Corelli als Modell

Referate, Diskussionen und Konzerte am Internationalen Symposium der Schola Cantorum Basiliensis vom 5. bis 9. Dezember 2013. Ein Bericht.

Konzerte zeichnen die Schola-Symposien aus. Foto: SCB / Susanna Drescher

Jubiläen bestimmen Festivalthemen und Konzertreihen, regen die Tonträgerindustrie an, Neues einzuspielen und Altbekanntes wieder aufzulegen, und verleiten das Verlagswesen zur Publikation zahlreicher Buchtitel. Dass mit all diesen Veröffentlichungen nicht immer neue Erkenntnisse einhergehen (können), ist unbestritten. Umso bedenkenswerter ist der Umstand, dass Jubiläumsanlässe mittlerweile auch die Musikforschung vor sich herzutreiben scheinen; Während etwa in Chicago ein Symposium zu Giuseppe Verdi stattfand, die Folkwang-Universität Essen neben Verdi auch gleich Richard Wagner ins Zentrum ihrer Tagung rückte und die Hochschule der Künste Bern bereits ihre Forschungsergebnisse zur historischen Aufführungspraxis von Wagners Fliegendem Holländer vorgestellt hat (SMZ 11/2013), liess die Schola Cantorum Basiliensis nicht vergessen, dass es 2013 einen weiteren Komponisten zu feiern gab: Arcangelo Corelli (1653–1713).

Gewiss, Corelli ist eine gut erforschte musikalische Persönlichkeit, weshalb das Symposium der Schola Cantorum laut Ankündigung auf Aspekte seines Lebens und der historiografischen Situation in Rom nicht eigens eingehen wollte. Vielmehr sollte Corelli als Kristallisationsfigur barocken Komponierens und Musizierens betrachtet werden, die einen hohen Einfluss auf Zeitgenossen und nachfolgende Generationen hatte: Corelli als Modell.

Breiter Deutungsspielraum
Dennoch kommt man um Rom und die dort damals herrschenden Zustände nicht herum, will man über Corellis Komponieren sprechen – schliesslich musste Corelli die Wünsche und Anregungen seiner Auftrag- und Geldgeber aufnehmen. So gab es denn doch eine ganze Reihe an Vorträgen, die sich den äusseren Umständen seines Lebens und Wirkens widmeten. Im Fokus standen etwa die Architektur im spätbarocken Rom als Kontext für Corelli (Andrew Hopkins) und das Leben als Künstler im Rom der Corelli-Zeit (Renata Ago). Aber auch Rom als Zentrum der katholischen Kirche ist untrennbar mit Corellis Komponieren verbunden.

Antonella D᾽Ovidio stellte den römischen Kardinal Pietro Ottoboni vor, der Corelli gezielt förderte und seine Werke im privaten Rahmen wie auch später in halböffentlichen Akademien aufführte. D᾽Ovidio zeigte auf, wie Corelli seine Musiksprache an den spezifischen ästhetischen Kontext dieses Hofes angepasst und die Vorlieben des Kardinals – melancholische Stimmungen etwa – beispielsweis in seinen Sonaten op. 4 aufgenommen hat. Agnese Pavanello schliesslich stellte die These auf, dass Corelli gezielt daran gearbeitet habe, für die Musiker seiner Generation als kompositorisches Modell zu gelten; seine strikte Veröffentlichungspolitik und seine Erfolge als Orchesterleiter, besonders bei prestigeträchtigen Anlässen im päpstlichen Rom, können darauf hindeuten.

Einblicke in den «Maschinenraum» des Komponisten boten Dominik Sackmann mit Überlegungen zu Corellis möglicherweise wegweisenden Einführung von bestimmten Wiederholungsmustern und Schlussbildungen als formgebendes Prinzip und Nicola Cumer, der auf die Bedeutung der corellischen Werke als musikdidaktisches Modell nicht nur bei der Violine, sondern auch beim Partimento-Spiels hinwies. Alessandro Palmeri und Gregory Barnett beschäftigten sich mit der bislang noch ungeklärten Frage, ob Corelli eine Violone, ein Violoncello da spalla oder gar ein anderes Instrument für seine Kompositionen bevorzugte; und Barbara Leitherer erprobte tanzenderweise, ob sich wegen mangelnder zeitgenössischer Quellen zum italienischen Tanz die französischen Choreografien jener Zeit auf Corellis Tanzsätze übertragen lassen – was bei der Gigue gar nicht, bei anderen Tänzen aber mit Modifizierungen möglich ist, und was dennoch nicht die Frage beantwortet, ob zu Corellis Tänzen tatsächlich getanzt wurde.

Wenn auch die Erkenntnisse der zahlreichen Vorträge nicht immer grundlegend neu und die zur Thesenerhärtung herangezogenen Quellen mitunter einen breiten Deutungsspielraum zuliessen, so konnte sich die Zuhörerschaft zu manchen Themen dank hochstehender Musikdarbietungen selbst ein Urteil bilden.

Überraschende, farbenreiche Tonsprache
Beim nahezu ausverkauften ersten Abendkonzert stellten Studierende der Schola Cantorum unter der Leitung von Giovanni Alessandrini (im Rahmen der Reihe Freunde Alter Musik Basel) das Weihnachtsoratorium von Giovanni Lorenzo Lulier vor. Lulier war ein enger Kollege Corellis am Hof des Kardinals Ottoboni und nahm unter anderem die von Corelli geprägte Aufteilung der Orchestermusiker in Concertino und Concerto grosso auf. So waren herrliche Soli-Wettstreite zu vernehmen; und die variierende Besetzungsstärke erlaubte zusätzliche dynamische und charakterliche Differenzierungen. Da die einleitenden Instrumentalsätze, der damaligen Praxis gemäss, von einem anderen Komponisten – in diesem Fall von Corelli – stammten, hörte man aber deutlich, dass Luliers Tonsprache weniger prägnant, weniger farbenreich, weniger überraschend ist als diejenige Corellis.

Doch was macht Corellis Tonsprache eigentlich aus? Dieser Frage konnten die Teilnehmer des Symposiums beim Mittagskonzert mit Studierenden nachgehen, die Sonaten von Corelli mit geklärter und solche mit ungeklärter Autorschaft vorstellten. Sind es die virtuosen Violin-Soli? Sind es die kantablen Melodielinien? Ist es gar der eloquente Gebrauch der None (den zuvor Johannes Menke in seinem Vortrag eigens gewürdigt hatte)?

Dass auch die Corelli-Forscher sich in diesen Fragen uneinig sind, zeigte eine Gesprächsrunde über die problematische Zuschreibung derjenigen Sonaten, die Hans Joachim Marx in seinem Katalog als Werke mit zweifelhafter Autorschaft bezeichnet. Agnese Pavanello stellte dabei zur Diskussion, wie man philologische und stilistische Kriterien bei der Beurteilung gewichten und miteinander verknüpfen könnte – was bei einem so umfangreichen Œuvre und einer so vielschichtigen Quellenlage besonders schwierig ist.

So ging ein interessantes, vielgestaltiges Arbeitsgespräch zu Ende. Vermutlich wäre es noch ertragreicher gewesen, wenn man nicht so manchen Vortragenden aufgefordert hätte, seine Thesen spontan in einer anderen Sprache als in der vorgesehenen zu präsentieren. Das trug nicht unbedingt zur Verständigung bei – und hätte ohne Mühe auch im Vorfeld abgesprochen werden können.

Hervorzuheben bleibt, dass gerade bei den Konzerten im zahlreich erschienenen Publikum eine freudig gespannte Atmosphäre herrschte, in der Erwartung, hier etwas Neues Altes zu hören. Solche Konzerte mit wissenschaftlichen Tagungen zu verbinden, ist nach wie vor ein wichtiges Qualitätsmerkmal der Schola-Symposien – auch an Jubiläumsanlässen.
 

Wo Glocken stundenlang läuten

In England existiert sein Jahrhunderten eine besondere Tradition des Glockläutens: das Wechselläuten. Zu Besuch bei der University Guild of Change Ringers von Cambridge.

Foto: Robert Kendall/flickr (Bildinformationen siehe unten)
Wo Glocken stundenlang läuten

In England existiert sein Jahrhunderten eine besondere Tradition des Glockläutens: das Wechselläuten. Zu Besuch bei der University Guild of Change Ringers von Cambridge.

Wenn in einer südenglischen Stadt am Sonntagnachmittag oder am Abend die Glocken läuten, dann oft nicht, um die Stunde zu schlagen oder gar die Gläubigen zum Gottesdienst herbeizurufen. Möglich nämlich, dass das Geläute über eine ganze Stunde fortdauert oder in Ausnahmefällen gar drei Stunden, ohne Unterbruch notabene. In solchen Momenten ist «eine englische Besonderheit» zu erleben, die «wie alle englischen Besonderheiten der übrigen Welt unbegreiflich» ist. So zumindest schrieb einst die englische Krimiautorin Dorothy Sayers in The Nine Taylors (Der Glockenschlag, 1934). Dort dauert das Glockenläuten ganze 15 Stunden. Und währenddessen stirbt natürlich jemand. Das ist Literatur.

Es handelt sich hier also nicht um ein gewöhnliches Geläute, sondern um einen typisch englischen Spleen, wie er wohl nur auf dieser Insel vorkommen kann: das Change Ringing, das Wechselläuten, ein Brauchtum, das eine lange Tradition hat. In seinem Heimatland hat dieser musikalische Sport zahlreiche Anhänger, darüber hinaus ist er wenig bekannt. Er kommt in den ehemaligen Kolonien vor; und in Norditalien soll etwas Ähnliches existieren. Aber es bedarf wohl auch einer gewissen britischen Toleranz, dass sich niemand daran stört. Als ich die Change Ringers der Universität Cambridge besuchte, probten sie am Freitagabend von 20 bis 22 Uhr, zunächst mit gedämpften, dann aber mit ungedämpften Glocken – und das in der Kirche von St. Benet mit dem ältesten Turm, der noch aus sächsischer Zeit, aus dem 10. Jahrhundert, stammt und mitten im Städtchen steht. Das Geläute dann sonntags in der grossen Kirche von St. Mary dauerte vormittags eine Stunde und nachmittags nochmals.

Bildlegende

Change Ringing in der National Cathedral in Washington DC (von St. Mary in Cambridge gibt es leider keine Fotos der Glöckner in Aktion). Die kleine Glocke im vordergrund dient als Modell zur Erklärung der Läuttechnik: Beim ersten Zug schwingt der nach oben geöffnete Glockenmund nach unten, beim zweiten Zug vollendet die Glocke den Kreis.
Folgende Mitglieder der Washington Ringing Society läuten: Ed Donnen, Carleton MacDonald, Paula Fleming, Haley Barnett, Rob Bannister, Mary Clark (von links nach rechts).

Besten Dank an Robert Kendall und die Washington Ringing Society

Tonkombinatorik, die an serielle Musik erinnert

Das alles hat System: Die britischen Change Ringers sind in Guilds organisiert, die sich regelmässig zu Proben und «Aufführungen» treffen, sie haben einen Dachverband, den 1891 gegründeten Central Council of Church Bell Ringers, dazu eine wöchentlich erscheinende Zeitschrift und diverse Websites, auf denen von erfolgreichen Peals (to peal = läuten) berichtet wird; sie führen regelmässig regionale und nationale Treffen und Wettbewerbe durch. Der Weltrekord liegt bei 17 Stunden 58 ½ Minuten, aufgestellt 1963 in der Loughborough Bell Foundry nach zwei erfolglosen Versuchen.

Die Ursprünge reichen bis ins 17. Jahrhundert (oder sogar noch weiter) zurück. 1668 jedenfalls gab Fabian Stedman, einer der Gründerväter des Change Ringing, zusammen mit Richard Ruckworth ein Buch mit dem Titel Tintinnalogia heraus, in dem er das Verfahren erläuterte. Stedman läutete einst im Turm von St. Benet. Eine Tafel erinnert daran, und ¬einige der vielgespielten Methoden sind nach Fabian Stedman benannt. Denn es geht hier eben nicht um ein wildes Drauflosbimmeln, sondern um mathematische Verfahrensweisen mit Methode, um eine Tonkombinatorik, die an die serielle Musik erinnert. Die Glocken werden nacheinander geläutet, aber nie in der gleichen Reihenfolge, sondern bei jedem Durchgang, bei jedem Change, in einer anderen Abfolge. Dabei soll keine wiederholt werden, was einige Anforderungen an die Kombinatorik stellt, denn die Reihenfolge lässt sich nicht beliebig verändern, eine Glocke kann bei jedem Durchgang nur um eine Position wechseln. Die zum Teil sehr schweren Glocken lassen sich nämlich nur kurze Zeit kontrollieren, wenn sie nach dem Aufschwung kopfüber stehen. Der Change Ringer gibt ihr dann im richtigen Moment wieder einen Impuls, indem er am Seil zieht. Beherrscht man diese Bewegungen, entsteht ein völlig harmonisch wirkender, ja mühelos scheinender Ablauf. Am Seil zielen – loslassen – wieder fassen – ziehen, schön regelmässig.

Bei vier Glocken ergibt das nun zum Beispiel folgende Sequenz: 1-2-3-4, dann 2-1-4-3, dann 2-4-1-3, dann 4-2-3-1, dann 4-3-2-1 usw. Die Anzahl der Changes ist begrenzt. Bei zwei Glocken gibt es zwei Möglichkeiten des Wechsels, bei drei sechs, also drei Fakultät, bei vier schon 24, was nur wenig Zeit in Anspruch nimmt. Bei sechs Glocken sind es aber schon 720 Changes, bei sieben 5040 Wechsel. Über 5000 Wechsel aufzuführen ist in der Sprache der Change Ringer ein Peal – und dauert gute drei Stunden. Das durchzustehen ist schon eine Leistung. Bei acht Glocken sind es über 40 000 Changes, bei zwölf wären es fast eine halbe Milliarde, aber derlei hat bislang nie jemand gewagt. Der Weltrekord zählte 40 320 Changes an acht Glocken, die ohne jeden Unterbruch von einem Team ohne jede Auswechslung gespielt wurden.
 

Glocken von St. Mary in Cambridge

Sport, Hobby, Geselligkeit und ein wenig Musik

Durch diese Changes muss man nun einen Weg finden, eine Methode. Und ihrer gibt es unzählige; ständig werden neue entwickelt und veröffentlicht. Kein Wunder, finden sich unter den Change Ringers zahlreiche Mathematiker und Naturwissenschaftler. Musikalität nämlich ist keine Voraussetzung dafür. Es geht darum, möglichst gleichmässig und fehlerlos zu läuten. Und das will geübt sein, in der Kirche oder auch zuhause, denn die Methoden lassen sich auch mit Handglocken, hand bells, umsetzen. Eine junge Wechselläuterin der 1879 gegründete University Guild of Change Ringers von Cambridge erzählte mir, sie arbeite oft an neuen Methoden und probiere sie dann mit Kollegen und Kolleginnen in ihrem Schlafzimmer aus.

Ein erfahrener Wechselläuter bringt es auf ein paar Tausend dreistündige Peals in seinem Leben. Was uns nochmals die Spleenigkeit zeigt – ein wenig «geeky» sei es ja schon, meinte Claire Barlow, meine Fachexpertin in Cambridge, lachend: eine Mischung aus Sport, Hobby, Geselligkeit und ein wenig Musik. Dabei ist die Tradition durchaus auch in den kirchlichen Zusammenhang eingebunden. Das Wechselläuten umrahmt den Gottesdienst, und der Pfarrer kommt jeweils für ein kurzes Gebet in die Turmstube hinauf. Gespielt werden etwa zehnminütige Abschnitte, geleitet von einem Master oder, wie in Cambridge mit Liz Orme, einer Masterin. Ähnlich wie ein Trainer ordnet sie an, wer beim nächsten Durchgang welche Glocke und welche Funktion übernimmt (denn ein Change Ringer gibt per Zuruf die Wechsel – die Dodges, die Hunts, die Jumps – in der Methode an). Schliesslich soll jeder mal drankommen. Das ist eine Frage der Balance. Über die gespielten Changes wird dabei genau Buch geführt.

Es gebe übrigens, so sagte mir ein Change Ringer in Cambridge, durchaus ein kleines Revival bei der jüngeren Generation. Offenbar ist das für einmal eine Tätigkeit ohne Nachwuchsprobleme. Aber jenseits der Insel ist sie nur wenigen vertraut, oft nicht einmal Komponisten, die sich mit Kombinatorik und Permutationen beschäftigen. Aber es gibt durchaus auch Kenner, zum Beispiel den Amerikaner Tom Johnson, einen Spezialisten für logische Musik (er hat ähnliche Permutationstechniken in eigenen Stücken entwickelt). Detlev Müller-Siemens hat sich damit beschäftigt, Alfred Zimmerlin, von dem ich den Tipp bekam, oder auch Regina Irman, die dem Läuten einen ihrer Songs von 2009 widmete. Sie lernte das Change Ringing in einer kleinen Gruppe in Winterthur kennen – ja, es gibt sie auch in der Schweiz. Da jedoch die geeigneten Glockentürme fehlen, wird meist mit Handglocken gespielt. Übrigens hat auch Pierre Boulez, wie er mir einmal erzählte, einige Passagen seines Meisterwerks Répons nach der Methode des Change Ringing gestaltet. Das sei aber das einzige Mal geblieben, weil er diese Methode dann doch etwas simpel finde.

Als mathematische Methode stösst das Change Ringing bei vielen zeitgenössischen Komponisten auf Interesse; die Praxis bleibt vorderhand den Angelsachsen vorbehalten. Und wohl nur, wer zufällig an einem Sonntagnachmittag in einer südenglischen Stadt einem solchen Geläute begegnet, wird die eigentümliche Faszination leibhaftig erfahren: die gewaltige Intensität des repetitiven und sich doch ständig verändernden Glockenklangs, dieses Heraustreten aus dem Alltag, diese scheinbar wildgewordene und doch gebändigte Kombinatorik.
 

RADIOSENDUNG
Thomas Meyer hat das Change Ringing in Cambridge in einer Radiosendung dokumentiert:
www.srf.ch/player/radio (Suchbegriff: Wechselläuten)


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SAJM nach 50 Jahren aufgelöst

Es herrschte Einmütigkeit unter den wenigen Vereinsmitgliedern der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Jugendmusik und Musikerziehung SAJM, die Ende November 2013 der Einladung zur Ausserordentlichen Generalversammlung gefolgt waren: Der Beschluss zur Auflösung des Vereins fiel einstimmig.

Foto: Claudia Hautumm / pixelio.de

Obwohl der Verein auf dem Papier insgesamt knapp 500 Einzel- und Kollektivmitglieder zählt, konnte kein neuer Vorstand bestellt werden. Gepaart mit dem schwindenden Interesse für den Blockflötenunterricht und mit bereits seit Jahren andauernden Liquiditätsengpässen infolge ausstehender Mitgliederbeiträgen ist der nun erfolgte Schnitt eine nachvollziehbare und logische Konsequenz.

Hilfestellung für die Gründung von Musikschulen
1954 angedacht und wenige Jahre danach in Zürich gegründet, verschrieb sich der Verband dem Vorsatz, den Kindern auf möglichst breiter Basis einen finanziell für alle Bevölkerungsschichten erschwinglichen Musikunterricht zu ermöglichen. Dutzende der heute fest etablierten Musikschulen in der Schweiz und sogar jene des Fürstentums Liechtenstein wurden unter kräftiger Mithilfe der damaligen Mitglieder des Verbandsvorstandes gegründet. Aus dem Verband hervorgegangen ist ebenso der heutige Verband Musikschulen Schweiz VMS.

33 1⁄3 Jahre Popjournalismus

Das deutsche Magazin für Popkultur «Spex» blickt mit einer Artikelsammlung auf drei Jahrzehnte Popkritik zurück, die es massgeblich mitgeprägt hat.

Bild: jazzia – Fotolia.com

«Es gab nur zwei Lager: Wir selbst und die Doofen.» Für die deutsche Autorin Clara Drechsler war die Welt 1980 noch einfach gestrickt. Es gab jene, die sich mit der aktuellen Popkultur auskannten, mit Bands wie Throbbing Gristle, den Fehlfarben oder den Simple Minds. Und es gab jene, die davon keine Ahnung hatten. Zur ersten, eingeschworenen Truppe gehörte Drechsler selbst. Mit weiteren Eingeweihten gründete sie 1980 in Köln das Magazin für Popkultur Spex, das den deutschen Popjournalismus im Folgenden erheblich prägen sollte. Zu den Anderen gehörten nicht zuletzt die Feuilletons, für die Pop eher Fremdkörper denn ernstzunehmendes Massenphänomen war.

Heute, 34 Jahre später, ist alles anders. Pop ist überall. Die Zeitungen haben keine Berührungsängste mehr – die Ressorts heissen statt «Kultur» und «Feuilleton» «Entertainment» und «Lifestyle». Neue Medien wie Internet oder Gratiszeitungen drangen in die Sphäre von Spex. Für den ehemaligen Chefredakteur Max Dax und die Autorin Anne Waak ist die Zeit gekommen, zurückzublicken. In dem fast 500 Seiten starken Band Spex – Das Buch. 33 1/3 Jahre Pop versammeln sie über siebzig, in Spex veröffentlichte «Schlüsseltexte» von Joy Division über Northern Soul bis zu den Pet Shop Boys.

Die Sammlung beschreibt die Entwicklung einer kleinen und unabhängigen Musikredaktion mit freien Mitarbeitern hin zum etablierten Popmagazin und gibt einen Einblick in die neue Sprache, die Spex für die Popkritik zu erfinden hatte; ein Mix aus szeneaffiner Slangsprache und intellektueller Feuilleton-Schreibe. Der Fokus auf scheinbare Nebensächlichkeiten und der rasche Wechsel von Interview und Fliesstext – um nur zwei Stilelemente herauszugreifen – liest sich in den besten Momenten erfrischend, neu und anregend. In den schlechtesten Momenten aber auch abgehoben, skurill und unverständlich.

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Die Stärken von Spex liegen in der Analyse von Pop als interdisziplinäres, nicht auf Musik beschränktes Phänomen in Verbindung mit gesellschaftlichen und politischen Aspekten. Eine Dimension, der das Buch in Interviews mit Modeschöpfern wie Raymond Pettibon oder Penny Martin Beachtung schenkt. In dieser Hinsicht ebenso zu erwähnen sind ein ausgedehntes Interview mit Filmemacher Claude Lanzmann über dessen radikales Filmepos Shoah und eine soziokulturelle Analyse der Trip-Hop-Band Massive Attack.

Was die Artikelsammlung keineswegs leisten kann, ist ein Überblick über drei Jahrzehnte Popkultur. Vielmehr ermöglicht das Buch exemplarische Einblicke, die immer wieder – gerade aus der historischen Perspektive – überraschend sind. Wenn zum Beispiel auffällt, dass damals zeitaktuelle Referenzen und Verweise heute nicht mehr vorauszusetzen sind, oder über Bands wie Daft Punk berichtet wird, die damals noch vor ihrem grossen Durchbruch standen. Andere Bands wie Cpt. Kirk &. Oder 39 Clocks sind heute wiederum nur noch (oder immer noch nur) Insidern bekannt.

Vieles wird angesprochen und genauso vieles bleibt auf der Strecke. Die Texte werden weder kommentiert, noch in ihren jeweiligen Zeitkontext eingebettet. Was einerseits ein Verlust ist, wirkt andererseits aber auch der eigenen Bequemlichkeit entgegen und fordert die Lesenden auf, diese kritische Arbeit selbst zu übernehmen. Fehlende Illustrationen, Bilder und Plattencover reduzieren die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Pop jedoch gleichzeitig zu einer rein textlichen. Das ist ebenso schade, wie die Unterbesetzung weiblicher Protagonistinnen. Wirklich verpasst hat Spex jedoch, dass die Geschichtsschreibung des Pop längst in andere Erdteile abgewandert ist. Die Globalisierung wird in Spex – Das Buch nur am Rande spürbar, der Blick bleibt auf dem deutsch- und englischsprachigen Raum haften. Dadurch entgehen dem Magazin aber eine ganze Reihe neuer, zentraler Fragestellungen. Gut möglich, dass wir mit dieser Blickrichtung schon lange wieder zur Gruppe der «Doofen» gehören.

Spex – Das Buch. 33 1/3 Jahre Pop, hg.von Max Dax und Anne Waak, 480 S., CHF 38.50, Metrolit-Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-8493-0033-3

Bekanntes und Unbekanntes aus Russland

Eine wertvolle Stückesammlung erweitert die bekannte «Russische Klavierschule».

Ausschnitt aus dem Titelblatt

All jene, ob Lehrpersonen oder Klavierlernende, die auf der Suche nach spielbaren, jedoch musikalisch anspruchsvollen Stücken sind (z. B. für das Nebenfach Klavier), finden im 2013 erschienenen Band Russische Klaviermusik eine breite Auswahl und werden die musikalische Qualität dieser Stücke schätzen lernen.

Die Sammlung baut auf dem zweiten Band der Russischen Klavierschule auf, die seit drei Jahrzehnten in der deutschen Version erhältlich ist, und vereint in 74 Stücken ein progressiv geordnetes Repertoire im Schwierigkeitsgrad von leicht bis mittelschwer. Darunter finden sich Kompositionen bekannter Komponistinnen und Komponisten von Glinka bis Gubaidulina, von Tschaikowsky, Glière, Goedicke und Schnittke. Man hat aber auch grossen Wert darauf gelegt, im Westen weniger bekannte Musikschaffende und Pädagogen zu berücksichtigen und regionalen Koloriten Platz einzuräumen (Agafonnikow, Tigranjan, Kolodub, Sewastjanow).

Alle Stücke sind relativ kurz, musikalisch und pianistisch sehr ergiebig und tragen einen programmatischen Titel. Zudem zeigt sich die Sorgfalt der Stückwahl auch darin, dass immer wieder inhaltliche Sinnzusammenhänge berücksichtigt wurden und so zum Beispiel Der Tag ist vergangen und Gute-Nacht-Geschichte oder auch In den Bergen (von Gubaidulina) und Echo einander gegenübergestellt abgedruckt sind. Es ergeben sich reizvolle Kombinationen für Konzerte und Vorspiele, die dem Hörer ansprechende Musik bieten.

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Russische Klaviermusik, Eine Sammlung für junge und erwachsene Klavierspieler, leicht bis mittelschwer, Band 1, SIK 2409, € 22.90, Sikorski, Hamburg 2013

Das amerikanische Auktionshaus RR Auctions bringt ein Manuskriptblatt Beethovens mit Notizen zur Missa Solemnis auf den Markt. Es stammt aus dem Nachlass des Beethoven-Zeitgenossen Anton Schindler

Auf dem Blatt, das von Beethoven offenbar lose aufbewahrt wurde, finden sich Entwürfe zur Messe «Missa Solemnis» mit Ergänzungen. Aufgefunden worden ist es erst 1996 im Nachlass des Beethoven-Biografen Anton Schindler.

Im Fundjahr ist es in London für 110’000 Dollar versteigert worden. Für den Weiterverkauf wird ein Erlös von 200’000 Dollar erwartet. Angeboten wird es von einem europäischen Sammler. Die Versteigerung ist für den 15. Januar angesetzt.

Mehr Infos: www.rrauction.com/bidtracker_detail.cfm?IN=855

Aargauer Nachwuchsbands können sich für die 8. Ausgabe des kantonalen Wettbewerbs bandXaargau noch bis 20. Januar anmelden. Das entsprechende Festival findet im März 2014 statt.

BandXaargau bietet jungen Aargauern zwischen 12 und 23 Jahren und Schulbands unter der Leitung einer Lehrperson die Möglichkeit, auf einer professionellen Bühne zu stehen.

Die Vorausscheidungen finden im März 2014 in Aarau (Flösserplatz), Baden (Merkker), Brugg (Piccadilly) und Aarburg (Moonwalker) statt. Eine Jury bestehend aus Musikschaffenden bewertet den Auftritt und gibt den Bands nach ihrem Konzert ein konstruktives Feedback.

Aus vier Vorausscheidungen werden sechs Finalisten erkoren. Diese erhalten ein Coaching durch eine Fachpersonen aus dem Musikbusiness. Im eigenen Übungsraum wird an Arrangements und an der Live-Performance gefeilt und die Bands erhalten Tipps und Tricks rund um Themen wie CD-Aufnahmen oder Auftrittsbewerbungen. Zudem gibt es einen DVD-Mitschnitt des Auftrittes.

Die Siegerband spielt eine Konzerttour durch den Kanton Aargau und kann so Erfahrung und Referenzen sammeln. Anmelden können sich die Bands über das Online-Formular unter www.bandxaargau.ch.

 

Brahms total

Das gesamte Œuvre in Einzelartikeln interpretiert – fundiert und perspektivenreich zum Durchlesen und Nachschlagen.

Brahms’ Ankunft im Himmel aus «Dr. Otto Böhlers Schattenbilder» Lechner, Wien. wikimedia commons

Fünf solcher Herkules-Aufgaben hat der Laaber-Verlag hinter sich: Opulente Bände kamen schon heraus über das Gesamtwerk Beethovens, Schumanns, Mahlers und Schönbergs. Und jetzt also über Johannes Brahms, den viel zu lang Vernachlässigten, der im Fortschrittsdenken der Musikwissenschaft keinen Platz finden wollte und konnte. Den Nachholbedarf befriedigen nun 46 Autoren. Mit 160 Werken des Hamburger Meisters in einzelnen Artikeln. Nicht streng chronologisch, aber nach Opuszahlen und Werken ohne Opuszahlen aufgeführt, behandeln sie das gesamte (bekannte) Œuvre, zu dem auch die in den letzten Jahren aufgetauchten Jugendwerke Männerchor-Lieder in Es- und H-Dur gehören sowie ein Albumblatt für Klavier in a-Moll.

Der interpretatorische Zugang erfolgt, wie die Herausgeber Claus Bockmaier und Siegfried Mauser erwähnen, über ein ganzes «Spektrum methodischer Zugangsformen, die sich nach Herkunft des jeweiligen Autors, aber auch nach der gattungsspezifischen und entwicklungsgeschichtlichen Zugehörigkeit des betrachteten Werks durchaus unterscheiden». Mal umfassen einzelne Werkinterpretationen vier Seiten, mal, wie im Falle der Sinfonien, mehr als zehn Seiten. Fast jeder Eintrag bietet Informationen zum Entstehungshintergrund. Danach kann der Leser mit analytischen Betrachtungen rechnen, durchsetzt mit Kommentaren von Brahms’ Zeitgenossen, etwa von Clara Schumann oder von Freund und Biograf Max Kalbeck. Etwas schwach vertreten bleibt die neuere Rezeptionsgeschichte. Ein kurzer, dafür aber ergiebiger Essay von Giselher Schubert kompensiert diesen Mangel. Zugleich plädiert der Brahms-Fachmann Schubert für eine stärkere Akzentuierung inhaltsästhetischer Deutungen, die vor allem die Balladen Opus 10 für Klavier oder das erste Klavierkonzert Opus 15 nahe legen.

Stets fundiert, fernab grassierender Unterhaltungsmoden, erfüllen die zwei Bände an jeder Stelle wissenschaftliche Standards. Unbedingt gehören sie somit in jede Musikbibliothek, aber auch ins Bücherregal des Musikliebhabers. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis erleichtert tieferes Eindringen in Werke, die man im Falle Brahms nie erschöpfend behandeln kann; das Namensregister wiederum bietet Anhaltspunkte für ein schnelles Nachschlagen -das wohl öfter vorkommen wird als eine durchgehende Lektüre.

Demnächst erscheinen im Laaber-Verlag weitere Bände in dieser Reihe: über Felix Mendelssohn Bartholdy und Claudio Monteverdi. In «schwierigen Zeiten», wie sie die Herausgeber angesichts stagnierender Verlagsgeschäfte konstatieren, sind das riskante, aber in dieser Qualität umso lobenswertere Mammutprojekte.

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Johannes Brahms. Interpretationen seiner Werke, hg. von Claus Bockmaier und Siegfried Mauser, 136 Notenbeispielen und 11 Abb., 1094 Seiten, in zwei Bänden, gebunden, ca. € 178.00 (=Subskriptionspreis bis 31.3.2014, danach ca. € 198.00), Laaber-Verlag, Laaber 2013, ISBN 978–3–89007–445–0

33 1⁄3 Jahre Popjournalismus

Das deutsche Magazin für Popkultur «Spex» blickt mit einer Artikelsammlung auf drei Jahrzehnte Popkritik zurück, die es massgeblich mitgeprägt hat.

Bild: jazzia – Fotolia.com

«Es gab nur zwei Lager: Wir selbst und die Doofen.» Für die deutsche Autorin Clara Drechsler war die Welt 1980 noch einfach gestrickt. Es gab jene, die sich mit der aktuellen Popkultur auskannten, mit Bands wie Throbbing Gristle, den Fehlfarben oder den Simple Minds. Und es gab jene, die davon keine Ahnung hatten. Zur ersten, eingeschworenen Truppe gehörte Drechsler selbst. Mit weiteren Eingeweihten gründete sie 1980 in Köln das Magazin für Popkultur Spex, das den deutschen Popjournalismus im Folgenden erheblich prägen sollte. Zu den Anderen gehörten nicht zuletzt die Feuilletons, für die Pop eher Fremdkörper denn ernstzunehmendes Massenphänomen war.

Heute, 34 Jahre später, ist alles anders. Pop ist überall. Die Zeitungen haben keine Berührungsängste mehr – die Ressorts heissen statt «Kultur» und «Feuilleton» «Entertainment» und «Lifestyle». Neue Medien wie Internet oder Gratiszeitungen drangen in die Sphäre von Spex. Für den ehemaligen Chefredakteur Max Dax und die Autorin Anne Waak ist die Zeit gekommen, zurückzublicken. In dem fast 500 Seiten starken Band Spex – Das Buch. 33 1/3 Jahre Pop versammeln sie über siebzig, in Spex veröffentlichte «Schlüsseltexte» von Joy Division über Northern Soul bis zu den Pet Shop Boys.

Die Sammlung beschreibt die Entwicklung einer kleinen und unabhängigen Musikredaktion mit freien Mitarbeitern hin zum etablierten Popmagazin und gibt einen Einblick in die neue Sprache, die Spex für die Popkritik zu erfinden hatte; ein Mix aus szeneaffiner Slangsprache und intellektueller Feuilleton-Schreibe. Der Fokus auf scheinbare Nebensächlichkeiten und der rasche Wechsel von Interview und Fliesstext – um nur zwei Stilelemente herauszugreifen – liest sich in den besten Momenten erfrischend, neu und anregend. In den schlechtesten Momenten aber auch abgehoben, skurill und unverständlich.

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Die Stärken von Spex liegen in der Analyse von Pop als interdisziplinäres, nicht auf Musik beschränktes Phänomen in Verbindung mit gesellschaftlichen und politischen Aspekten. Eine Dimension, der das Buch in Interviews mit Modeschöpfern wie Raymond Pettibon oder Penny Martin Beachtung schenkt. In dieser Hinsicht ebenso zu erwähnen sind ein ausgedehntes Interview mit Filmemacher Claude Lanzmann über dessen radikales Filmepos Shoah und eine soziokulturelle Analyse der Trip-Hop-Band Massive Attack.

Was die Artikelsammlung keineswegs leisten kann, ist ein Überblick über drei Jahrzehnte Popkultur. Vielmehr ermöglicht das Buch exemplarische Einblicke, die immer wieder – gerade aus der historischen Perspektive – überraschend sind. Wenn zum Beispiel auffällt, dass damals zeitaktuelle Referenzen und Verweise heute nicht mehr vorauszusetzen sind, oder über Bands wie Daft Punk berichtet wird, die damals noch vor ihrem grossen Durchbruch standen. Andere Bands wie Cpt. Kirk &. Oder 39 Clocks sind heute wiederum nur noch (oder immer noch nur) Insidern bekannt.

Vieles wird angesprochen und genauso vieles bleibt auf der Strecke. Die Texte werden weder kommentiert, noch in ihren jeweiligen Zeitkontext eingebettet. Was einerseits ein Verlust ist, wirkt andererseits aber auch der eigenen Bequemlichkeit entgegen und fordert die Lesenden auf, diese kritische Arbeit selbst zu übernehmen. Fehlende Illustrationen, Bilder und Plattencover reduzieren die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Pop jedoch gleichzeitig zu einer rein textlichen. Das ist ebenso schade, wie die Unterbesetzung weiblicher Protagonistinnen. Wirklich verpasst hat Spex jedoch, dass die Geschichtsschreibung des Pop längst in andere Erdteile abgewandert ist. Die Globalisierung wird in Spex – Das Buch nur am Rande spürbar, der Blick bleibt auf dem deutsch- und englischsprachigen Raum haften. Dadurch entgehen dem Magazin aber eine ganze Reihe neuer, zentraler Fragestellungen. Gut möglich, dass wir mit dieser Blickrichtung schon lange wieder zur Gruppe der «Doofen» gehören.

Spex – Das Buch. 33 1/3 Jahre Pop, hg.von Max Dax und Anne Waak, 480 S., CHF 38.50, Metrolit-Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-8493-0033-3

Horizonterweiterung

Erkundungsgänge in ganz unterschiedliche Musiklandschaften für drei oder vier Trompeten.

Ausschnitt aus dem Titelblatt

«Die Trumpet-Outings-Serie ist für Trompeter aller Niveaus erdacht, um sie mit einem breiten musikalischen Horizont vertraut zu machen.» – Was der Verlag Bim hier schreibt, das hält er auch: Mit Charles Reskin hat er einen Arrangeur und Komponisten gefunden, der mit viel Witz, Charme und Handwerkskunst dieser Serie seinen unverkennbaren Stempel aufdrückt.

Das vorliegende Heft beinhaltet zwölf mittelschwere Stücke für drei oder vier Trompeten. Über das Internet können kostenlos Begleitungen als MP3-Dateien heruntergeladen werden, was sicherlich eine zusätzliche Stimulation für den Übe-Alltag darstellt. Die musikalische Spannweite reicht von Funk über Fanfare bis hin zu einer Invention im Stile Bachs. Bemerkenswert sind auch die Widmungsträger der einzelnen Stücke. Darunter finden sich so illustre Namen wie Tony Plog, Thomas Stevens und nicht zuletzt der Grand Seigneur der Editions Bim: Jean Pierre Mathez.

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Charles Reskin, Intermediate Ensemble Outings, for 3 or 4 trumpets, TP 321, Fr. 22.00, Edition Bim, Vuarmarens 2012

Das grosse Flow-Erlebnis

Geige und Bratsche dürfen hier in Bearbeitungen der bekanntesten Klassik-Klassiker schwelgen.

Foto: Arrows – Fotolia.com

Dies ist ein Heft (zwei Spielpartituren) für den Unterricht. Von Bachs h-Moll-Suite bis zu Griegs In der Halle des Bergkönigs, von Vivaldis Quattro Stagioni über Beethovens Für Elise und Mozarts Kleine Nachtmusik bis zu Verdis La donna è mobile findet sich hier beliebtes Klassik-Repertoire in leicht zu spielender Bearbeitung, die sich auch zum Blattspiel eignet. Die Besetzung Violine und Bratsche schafft einen «orchestralen» Klang, der den Spass für die Ausführenden noch bereichert. Der Satz ist «demokratisch»: auch die Bratsche hat gelegentlich die Hauptstimme. Ich spielte das ganze Heft auf einmal durch mit einer fortgeschrittenen Geigenschülerin: Strahlend verliess sie danach die Stunde und bat darum, diese Stücke wieder spielen zu dürfen!

In der Reihe ready to play, herausgegeben von George A. Speckert, sind auch erschienen: Beautiful Adagios Neun Stücke für zwei Violinen (BA 10615), ebenfalls von Vladimir Bodunov gesetzt, und Folk, für zwei Violinen (BA 10624). Das ganz grosse Flow-Erlebnis bieten aber die Classic Hits!

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Classic Hits für Geige und Bratsche, ready to play, hg. von Vladimir Bodunov, zwei Spielpartituren, BA 10626, € 13.95, Bärenreiter, Kassel 2013

Neue Schweizer Kompositionen

Werke für Klarinette, mit oder ohne Klavier, von David Philip Hefti, Edoardo Torbianelli und Jean-François Michel

Foto: luisgbatista – Fotolia.com

Die drei zur Betrachtung vorliegenden, neu erschienenen Werke für Klarinette geben einen wunderbaren Einblick in die Verschiedenheit aktuellen Komponierens. Alle drei sind im Jahr 2012 von Schweizer bzw. in der Schweiz lebenden Komponisten geschrieben worden, womit die grundsätzlichen Gemeinsamkeiten aber auch bereits genannt sind. Das erste ist ein Solostück für Bassklarinette, das zweite eine klassische Sonate für Klarinette und Klavier, das dritte Werk sind drei Bagatellen in gemässigt modernem, tonalem Stil.

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Canto für Bassklarinette solo des erfolgreichen Zürcher Komponisten David Philip Hefti ist dem Klarinettisten Elmar Schmid gewidmet. Aus dem Namen des Widmungsträgers ist das Tonmaterial abgeleitet: E-La-Mi-A-Re eS-C-H-MI-D. Der aus Quart-/Quint-Intervallen bestehende Vorname erweist sich dabei als weniger ergiebig und tritt in der Folge nicht mehr gross in Erscheinung, dafür wird die Tonfolge Es-C-H-E-D ausgiebig verwendet. Das siebenminütige Werk bezieht seine grundsätzliche Gliederung aus zwei zueinander im Verhältnis 3:1 stehenden Tempi (132/44); diese ergeben einen Wechsel zwischen ruhigen, melodiösen und klanglich spannenden Passagen mit vielen Mehrklängen auf der einen und hektischen, von Slaps, Klappen- und Luftgeräuschen sowie teils abrupten Dynamikwechseln geprägten Abschnitten auf der anderen Seite. Die als Empfehlung angegebenen Mehrklänge funktionieren bestens und ergeben interessante Klangverläufe.

David Philip Hefti, Canto, für Bassklarinette solo, GM 1882, € 12.00, Edition Kunzelmann, Adliswil 2012

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Eine ganz andere musikalische Sprache spricht Edoardo Torbianelli in seiner Sonate Nr. 2 für Klarinette und Klavier. Torbianelli ist 1970 in Triest geboren und hat in seiner Heimatstadt Klavier und Cembalo studiert. Heute wirkt er als Dozent und Spezialist für historische Aufführungspraxis, vor allem der klassisch-romantischen Epoche, unter anderem an der Schola Cantorum Basiliensis und der Hochschule der Künste Bern.

Seine dreisätzige Sonate ist im Stil der Musik in Wien um 1805 komponiert. Der erste Satz des zwanzigminütigen Werks ist mit Allegro amabile überschrieben, steht im 3/4-Takt und wird von der Klarinette mit einem eingängigen C-Dur-Dreiklangsthema eröffnet, welches den ganzen Satz dominiert und seinen Gegenpart in einer gehaltenen, absteigenden Dreiklangsfigur findet. Der zweite Satz im 12/8-Takt mit perlenden Achteln im Klavier besticht durch eine wunderbar kantable Melodie in der Klarinette, die im Mittelteil abgelöst wird durch einige Unruhe und Dramatik. Dem dritten Satz, überschrieben mit Finale – Tema con variazioni, liegt ein Thema von Antonio Salieri aus der Oper Les Danaïdes zu Grunde. Bei den Variationen kann der Klarinettist seine Fingerfertigkeit unter Beweis stellen. Diese klassische Sonate aus dem Jahre 2012 bereitet Spielvergnügen und stellt eine Bereicherung des klassischen Repertoires für Klarinette dar.

Edoardo Torbianelli, Sonata No. 2, for Clarinet and Piano, CL 34, Fr. 25.00, Edition Bim, Vuarmarens 2012

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Nochmals in eine andere musikalische Welt führt der Genfer Trompeter und Komponist Jean-François Michel mit seinen 3 Bagatelles für Klarinette und Klavier. Mit musikalischem Witz baut er gekonnt eine Art Filmmusik, die plastische Bilder vor den Augen des Zuhörers ablaufen lässt. Der erste Satz Cortège beginnt geheimnisvoll mit einer rhythmisch akzentuierten Eröffnung im Klavier und einem Gemurmel in der Klarinette und erinnert an einen frühmorgendlichen Narrenzug. In der Folge versteigt sich die Klarinette zu leicht absurd anmutenden, grandios vorgetragenen Gesten, vom Klavier abwechselnd mit fliessenden Bewegungen (dem vorherigen Murmeln der Klarinette) oder ermunternder Begleitung unterstützt. Der zweite Satz mit dem Titel Chanson ist eine ruhige, mit üppigem Wohlklang ausgestattete Kantilene mit bewegtem Mittelteil. Der Schlusssatz Trafic schliesslich wechselt ständig zwischen geradem und ungeradem Grundpuls und zieht daraus seine rhythmische Prägnanz. Der Klarinettist kann in perlenden Kaskaden seine Virtuosität ausleben. Der Satz ist effektvoll und verlangt dem Interpreten eine solide Fingertechnik ab.

Die Bagatellen mit ihrer Dauer von ca. 11 Minuten eignen sich sowohl für fortgeschrittene Schüler, z. B. als Wettbewerbsstücke, wie auch als unterhaltsame Auflockerung im Konzert.

Jean-François Michel, 3 Bagatelles, for clarinet and piano, CL 36, Fr. 15.00, Edition Bim, Vuarmarens 2012

Rhythmische Vielfalt

Eine Bereicherung des Harfenrepertoires im empfindsamen Stil.

Johann Wilhelm Hertel, anonyme Zeichnung, wikimedia commons

Es ist der Harfenistin Johanna Seitz sehr zu danken, dass sie ein zweites Harfenkonzert von Johann Wilhelm Hertel herausgegeben hat. In einem äusserst informativen Vorwort vernehmen wir, dass sich der Cembalist Hertel gut mit den technischen Möglichkeiten der Harfe auseinandergesetzt und seine drei Konzerte ( F-Dur, D-Dur und G-Dur) womöglich für die Tochter des berühmten Harfenspielers Franz Petrini geschrieben hat.

Das vorliegende Konzert D-Dur stammt aus der Zeit des empfindsamen Stils (Frühklassik) und verlangt nach einem Orchester bestehend aus zwei Hörnern, Violinen, Viola und Violoncello. Während das Orchester ein stark rhythmisches Eröffnungsmotiv auf einem insistierenden Ton spielt, wird dieses Motiv von der Harfe sehr leicht und spielerisch umwoben. Der zweite Satz ist elegant gehalten, wobei auch hier der solistische Harfenpart verzierte Kapriolen schlägt. Mit einem Vivace endet das Konzert beschwingt.

Es fällt auf, dass Hertel eine Vorliebe für rhythmische Vielfalt hatte: Als ob er seine Soli improvisieren würde, erscheinen da innerhalb einer Phrase Achtel, Sechzehntel, Triolen und dazu noch Verzierungen. Oft spielt er mit Synkopen. Die Musik wirkt dadurch lebendig, heiter und leicht und niemals langweilig, obwohl das Konzert in harmonischer Hinsicht recht einfach ist. Vermutlich wurde es für die Barockharfe, eventuell für die Einfachpedalharfe geschrieben. Alle drei Sätze bleiben in D-Dur.

Dank kurzweiliger Motive und grosser Transparenz ist die Harfenstimme sehr gut spielbar. Das Konzert wird zu einer sehr willkommenen Bereicherung unseres Repertoires.

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Johann Wilhelm Hertel, Konzert D-Dur für Harfe (oder Cembalo), 2 Hörner, 2 Violinen, Viola und Violoncello, Erstausgabe, Partitur, EW 533, € 22.50, Edition Walhall, Magdeburg 2011

Glasklare Wasserwelt

Originalwerke und Bearbeitungen für Flöte und Klavier lassen Wasserwesen, Nixen und Meerfeen auftauchen.

Illustration von Henry Holiday zur «Kleinen Meerjungfrau» (1867). Simon Speed, wikimedia commons,Joseph Haydn,Carl Reinecke,Georges Bizet

Undine heisst die CD, und Eva Oertle ist auf dem Cover in «Nixenpose» abgebildet. Der Titel ist zumindest teilweise Programm, denn im Mittelpunkt der Einspielung, welche die Schweizer Flötistin und Radioredaktorin zusammen mit ihrem Duopartner Vesselin Stanev am Klavier präsentiert, steht eindeutig die Undine-Sonate e-Moll op. 167 von Carl Reinecke. Aber die CD entpuppt sich keineswegs als krampfhafte Suche nach musikalisch verewigten Wasserwesen.
Undine – wir kennen die geheimnisvolle Nixe, die Mensch werden möchte und daran scheitert, aus de la Motte Fouqués gleichnamiger Erzählung. Diese bildete auch die Vorlage zu Reineckes Werk, der einzigen Flötensonate der Romantik und damit bei Virtuosen des Faches entsprechend beliebt. Oertle gruppiert darum herum ein Programm, welches das Thema entweder direkt weiterspinnt oder ihm durch den Charakter der Stücke Rechnung trägt.
Die Abfolge ist gut strukturiert, sodass die vielen Bearbeitungen nicht stören: etwa die e-Moll-Sonate für Violine und Klavier KV 304 von Mozart und die f-Moll-Sonate (nicht F-Dur wie im Booklet verzeichnet) op. 4 von Mendelssohn. Damit werden grössere Einheiten geschaffen, zwischen die Liedbearbeitungen von Schubert oder Bizet geschoben sind.
Eva Oertle kann sich so, einfühlsam begleitet von Vesselin Stanev, in ihrer Flötenkunst auf vielfältige Art und Weise entfalten. Schon der Beginn mit Haydns Mermaid’s Song wird in seiner schlichten Kantilene schön «ausgesungen». Bei der Mendelssohn-Sonate kommt der eigentümlich-poetische Charakter ebenso zum Ausdruck, wie in Reineckes Finale die Virtuosität.
Bei den hochromantischen Stücken, zu denen neben Reinecke etwa auch Schumanns Meerfee op. 125 zu zählen ist, hätte man sich agogisch und dynamisch etwas mehr Lockerheit und Gefühlsüberschwang gewünscht. Der deutlich an der historischen Aufführungspraxis geschulte, vibratoarme Klangansatz Oertles trägt aber schlicht und klar durch Undines wogende Wasserwelt.

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The Mermaid’s Song
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Undine-Sonate, Finale
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La sirène
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Undine – Works for Flute & Piano. Eva Oertle & Vesselin Stanev. Sony music 88883735152

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