Trumps drakonischer Einreise-Bann gegenüber Bürgern mehrerer islamischer Staaten stellt auch zahlreiche Musikerreisen auf den Kopf. So sind dem Beijing Chinese Orchestra die Visas kurzfristig verweigert worden, und der syrische Klarinettist Kinan Azmeh, der zur Zeit im Libanon konzertiert, fürchtet, nicht mehr in die USA zurückkehren zu können.
Musikzeitung-Redaktion
- 31. Jan. 2017
Das Beijing Chinese Orchestra hätte diesen Monat in Seattler konzertieren sollen. 22 Mitgliedern des Orchesters wurden jedoch die Visa verweigert. Laut einem Kongressabgeordneten des Bundesstaates Washington hätten sich die Einreisebehörden auf den Standpunkt gestellt, ihre Visaanträge hätten dem Zweck ihrer Reise nicht entsprochen. Der in den USA niedergelassene syrische Klarinettist Kinan Azmeh konzertiert zur Zeit mit dem Cellisten Yo-Yo Ma im Libanon. Er befürchtete, nicht mehr in die USA einreisen zu können.
Die armenisch-österreichische Pianistin Nareh Arghamanyan, Gewinnerin des Wettbewerb von Montreal, hat laut eigenen Angaben aufgrund von Visaproblemen eine Tour durch die USA und Kanada abgesagt. Auch die in London residierende kasachische Nachwuchs-Geigerin Aisha Orazbayeva hat Konzerte in den USA abgesagt. Sie würde sich schlecht fühlen bei dem Bewusstsein, dass sie in die USA einreisen dürfe, syrische Bürger aber nicht. Sie sehe keinen Unterschied, schreibt sie in einem Statement. Sie sorge aber bloss für Unterhaltung, die Ausgeschlossen bräuchten hingegen Hilfe.
Neue Dozenten an der Luzerner Musikhochschule
Die Hochschule Luzern – Musik vermeldet fünf Neuzugänge unter den Dozierenden. Es handelt sich um die Jazzgitarristen Kalle Kalima und Jesse Van Ruller, die Sängerin Judith Schmid, den Tubisten Roland Szentpali und den Fagottisten Michael von Schönermark.
PM/Codex flores
- 30. Jan. 2017
Das Institut für Jazz und Volksmusik der Hochschule Luzern – Musik verliert aufgrund der Pensionierung von Christy Doran einen langjährigen, charismatischen Jazzgitarre-Dozenten. Mit Kalle Kalima und Jesse Van Ruller konnten zwei würdige Nachfolger gefunden werden. Als Hauptfach-Dozent wird ab Herbstsemester 2017/18 Kalle Kalima an der Hochschule Luzern Jazzgitarre unterrichten. Der 1973 geborene Finne, dessen Musik Elemente von Jazz und Rock vereint, ist einer der interessantesten Vertreter der europäischen Jazz-Szene.
Ebenfalls im Herbst 2017 wird Jesse Van Ruller (geb. 1972) als Lehrbeauftragter für Jazzgitarre an der Hochschule Luzern starten. Der niederländische Jazz-Gitarrist und Komponist absolvierte sein Studium am Konservatorium in Hilversum und gewann als erster Europäer den Thelonious-Monk-Wettbewerb in Washington, D.C.
Im Institut für Klassik und Kirchenmusik der Hochschule Luzern – Musik können folgende neue Dozierende begrüsst werden: Die Mezzosopranistin Judith Schmid ist langjähriges Ensemblemitglied des Opernhauses Zürich, der Ungar Roland Szentpali ist einer der gefragtesten Tuba-Solisten weltweit. Szentpali ist Gewinner von sieben internationalen Tuba- und Brass-Wettbewerben und Preisträger in weiteren Wettbewerben.
Michael von Schönermark wurde bereits mit 22 Jahren Solofagottist des Konzerthausorchesters Berlin. Er wurde beim Internationalen Musikwettbewerbs der ARD München mit dem Sonderpreis der Theodor Rogler Stiftung ausgezeichnet und ist Gewinner des Förderpreises des Schleswig-Holstein-Musikfestivals.
Musik gegen Burnout
Musiker sind vielen Burnout-Risiken ausgesetzt – doch Musik ist auch wirksam gegen Burnout.
Wolfgang Böhler
- 30. Jan. 2017
Felicitas Sigrist — Leistungsdruck, Lampenfieber, Konkurrenz, Arbeitsplatzunsicherheit: Im Musikeralltag kumulieren Arbeitsumstände, die als Risikofaktoren für Burnout-Entwicklung wohlbekannt sind. Die Arbeitszeit ist mit Blick auf solche Faktoren weniger relevant als unerfüllte Erwartungen, ausbleibende Anerkennung und zwischenmenschliche Unstimmigkeiten. Oft löst eine Kumulation von beruflichen und privaten Belastungen die Dekompensation aus.
Als Momentaufnahme zeigt sich Burnout als Erschöpfung mit unspezifischen Symptomen auf emotionaler, geistig-mentaler, körperlicher und sozialer Ebene – zum Beispiel Lustlosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Infektanfälligkeit, sozialer Rückzug oder Reizbarkeit. Dieser Zustand mündet oft in psychische oder körperliche Folgekrankheiten, meist in eine Depression. Voran geht ein Prozess von Wechselwirkungen zwischen arbeitsbezogenen und personenbezogenen Faktoren. Die äussere Anforderung wird mit der Selbstaufforderung «ich schaff’ das» übernommen – oft unreflektiert. Zwischenmenschliche Konflikte werden vermieden.
Ist eine Herausforderung erfolgreich bewältigt, wird man mit der nächsten, vielleicht grösseren Aufgabe betraut. Werden dazu erholsame Tätigkeiten reduziert, führt dieser Zyklus unweigerlich zur Überforderung. Als Selbstschutz vor Kränkung wird dies nicht anerkannt – hier werden innerseelische Konflikte vermieden. Stattdessen wird die Leistungsminderung mit Einsatzsteigerung beantwortet – also mehr desselben. Bei schwindenden Energien wächst die Aufgabe in der subjektiven Wahrnehmung. Da bei erhöhtem Stress neue Strategien immer unwahrscheinlicher werden, lässt sich diese Burnout-Spirale kaum mehr aufhalten.
Besonders gefährdet sind selbstunsichere, emotional labile Menschen, welche die Aussenwelt als wenig beeinflussbar erleben und bei zunehmendem Stress unflexibel reagieren. Da diese persönlichen Risikofaktoren oft mit früheren Beziehungserfahrungen zusammenhängen, kann Burnout als Resonanzstörung erklärt werden. Einzelpersonen haben wenig direkten Einfluss auf Rahmenbedingungen. Umso wichtiger ist es, souveränen Umgang mit diesen zu pflegen.
Musik ist in mannigfaltiger Weise wirksam gegen Burnout. Gesundheitsfördernde Aspekte der Musik sind wissenschaftlich gut belegt. Für Musiker ist doppelt bedeutsam: zur Selbstfürsorge und bei der Musikvermittlung. Musik beeinflusst Stimmungslage und vegetatives Nervensystem unmittelbar. Sie kann spezifisch sowohl entspannend als auch aktivierend genutzt werden – allerdings nur bei Berücksichtigung der individuellen Musikbiographie. Mit bewusstem Musikhören kann das Erregungsniveau gezielt beeinflussen werden – zur Entspannung, Konzentrationsförderung oder Aktivierung – und somit der Emotionsregulation dienen. Wird Musik jedoch missbraucht, etwa als Aufputschmittel, so kann sie auch in die Burnout-Spirale hineintreiben. Musik als Medizin wird therapeutisch meist als Entspannungsverfahren eingesetzt, um Ruheinseln zu schaffen. Entspannung und eine achtsame Haltung sind Voraussetzungen für neurologische Lernprozesse – auch in psychotherapeutischen Behandlungen.
Aktives Musizieren eignet sich als Ausgleich – sofern es nicht leistungsorientiert ist, sondern erlebnisorientiert bleibt. Neben multiplen biologischen Effekten des Musizierens sind zur Vorbeugung von Burnout besonders die sozialen Aspekte wichtig. Zusammenspiel ermöglicht Begegnungen ausserhalb des Arbeitsumfeldes, unabhängig von der beruflichen Rolle beziehungsweise Identität. Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Zugehörigkeit sowie die Verbesserung sozialer Kompetenzen stärken die Persönlichkeit. Musikvermittlung, insbesondere im Amateurbereich, hat ihre Berechtigung daher nicht nur der Kunst wegen, sondern auch als wirkungsvolle Prophylaxe.
Schliesslich wird Musik als Medium in der Musiktherapie eingesetzt, die als psychotherapeutisches Verfahren in der Burnout-Behandlung bewährt ist. Kernpunkt ist dabei ein konstruktiver Umgang mit den zwischenmenschlichen und innerseelischen Konflikten, musikalisch gesprochen mit Dissonanzen.
Dr. med. Felicitas Sigrist
… ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Musik-Psychotherapeutin MAS/SFMT, leitende Ärztin Privatklinik Hohenegg, Meilen bei Zürich, Schwerpunkt Burnout und Belastungskrise.
Literaturhinweis
Sigrist F. (2016) Burnout und Musiktherapie. Grundlagen, Forschungsstand und Praxeologie. Reichert-Verlag, Wiesbaden 2016.
Swissjazzorama auf dem Weg zur Stiftung
Der Verein Swissjazzorama will ein gut dotiertes Stiftungskapital zusammentragen, um sein Archiv der Schweizer Jazzgeschichte in eine Stiftung zu überführen. Damit sollen auch beim Bund Gelder locker gemacht werden.
Musikzeitung-Redaktion
- 27. Jan. 2017
Im Frühjahr dieses Jahres sollen die Archivalien des Swissjazzorama samt Urheber- und Internetrechten vom bisherigen Verein auf eine Stiftung übertragen werden. Dieser Wechsel dränge sich auf, «weil der Bund bei der Vergabe seiner Mittel nur überregional oder landesweit aktive Bewerber mit gefestigter Organisationsstruktur berücksichtigen will». Um diese Voraussetzung zu erfüllen, habe sich der Verein Swissjazzorama – der als Förderverein weiterbestehen wird – das Ziel gesetzt, ein gut dotiertes Stiftungskapital zusammenzutragen.
Im Frühsommer 2016 konnte das Swissjazzorama die bisher auf sieben Lokalitäten verteilten Bestände an der Ackerstrasse 45 in Uster konzentrieren. Seit September 2016 führt Hans Peter Künzle, der langjährige Leiter der Abteilung Jazz und Pop an der Zürcher Hochschule der Künste, die Geschäfte des Archivs. Um das Interesse der jungen Generation und insbesondere von Studierenden zu wecken, soll die Digitalisierung der Bestände verstärkt vorangetrieben werden.
Das Jazzarchiv entstand 1989 in Rheinfelden aus einer privaten Sammlung und wurde neun Jahre später nach Uster überführt. Es sammelt, katalogisiert und archiviert Ton- und Bildträger, Fachliteratur und weitere Zeugnisse aus der Welt des Jazz. Der Materialienfundus setzt sich mittlerweile aus über 60‘000 Tonträgern, gegen 1000 Bild-Ton-Medien, 70‘000 Musikerdaten, 4900 Musiknoten, knapp 3000 Plakaten und gegen 3000 Büchern zusammen, und er wird ständig durch private Zuwendungen weiter alimentiert.
institutionalisieren
Inwiefern haben sich Jazz und Volksmusik in der Romandie bzw. der Deutschschweiz institutionalisiert? — Wie funktioniert nun eigentlich das Programm Jugend und Musik? — Und wie werden an der Pädagogischen Hochschule Bern-Jura-Neuenburg angehende Lehrpersonen für den Musikunterricht an Primarschulen ausgebildet?
SMZ
- 26. Jan. 2017
Inwiefern haben sich Jazz und Volksmusik in der Romandie bzw. der Deutschschweiz institutionalisiert? — Wie funktioniert nun eigentlich das Programm Jugend und Musik? — Und wie werden an der Pädagogischen Hochschule Bern-Jura-Neuenburg angehende Lehrpersonen für den Musikunterricht an Primarschulen ausgebildet?
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Focus
L’institutionnalisation rapide du jazz Dès 1975, les écoles de jazz poussent comme des champignons en Suisse romande
Bella Canto wird J+M-Leiterin Eine Art Leitfaden durch den Amtsdschungel für Lehrpersonen an Musikschulen
Former à l’enseignement musical scolaire Le cas de la HEP-BEJUNE
Seit Januar 2017 setzt sich Michael Kube für uns immer am 9. des Monats in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb.
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Zwei Jazzerinnen unterschiedlicher Prägung warten mit neuen Alben auf: Während Nicole Johänntgen auf «Henry» entschlackten Grooves aus New Orleans huldigt, zieht es das Sarah Chaksad Orchestra mit «Windmond» zu satten Sounds und zum Ausloten von Kontrasten hin.
Musikzeitung-Redaktion
- 26. Jan. 2017
Nicole Johänntgen, aufgewachsen im saarländischen Fischbach, entstammt einem stark musikalischen Umfeld: Ihr Vater, ein Allroundmusiker und mitunter im Dixieland-Jazz unterwegs, liebte es, die Familie per Posaune zu wecken. Als Kind versuchte sich Nicole Johänntgen zunächst am Klavier, doch des vielen Übens überdrüssig, wandte sie sich Dreizehnjährig dem Saxofon zu. Es war Liebe auf den ersten Versuch. Angetan war der Teenager insbesondere von den freien und Groove-betonten Spielmöglichkeiten. Sie begann Funk-Saxofonisten wie Maceo Parker und Candy Dulfer nachzueifern, studierte später an der Staatlichen Hochschule für Musik in Mannheim und zog 2005 nach Zürich. Bereits sechs Jahre zuvor zeichnete sie – gemeinsam mit ihrem Bruder Stefan – unter dem Bandnamen Nicole Jo ein erstes Album auf. Seither hat Johänntgen zahlreiche weitere Platten folgen lassen, darunter auch eine Zusammenarbeit mit Jazzerinnen wie Ellen Pettersson oder Izabella Effenberg; dies unter dem Titel Sisters in Jazz.
Für ihr neustes Projekt ist Johänntgen nach New Orleans gereist, wo sie im Studio sieben Stücke einspielte, die sie während einem sechsmonatigen Aufenthalt in New York komponiert hatte. Ihre Mitmusiker, allesamt aus New Orleans, hat sie über gemeinsame Bekannte aufgespürt. Der Kollaboration entsprungen ist nun Henry, eine Hommage an die Familie der 35-Jährigen. Tuba, Posaune, Schlagzeug und Saxofon nehmen dabei die Traditionen der Musikstadt am Mississippi auf, beharren jedoch nicht auf diesen und zeigen grosse Lust auf Improvisatorisches. Innert nur fünf Stunden sollen die Aufnahmen im Kasten gewesen sein. Und Zufall oder nicht: Die Tracks klingen spontan, ungeschönt und haben einen feinen Groove. Nola – so bezeichnen die Einwohner von New Orleans ihre Stadt – wartet mit einer lockeren Konversation zwischen Posaune und Saxofon auf, die mal neckisch, mal erhitzt anmutet. Das anschliessende Slowly hingegen entpuppt sich zunächst als besinnlich und betont langsam dahinschreitend, nur um alsbald den Aufbruch zu suchen – und die Erfüllung in einer intensiven Expressivität zu finden. Ein Werk, das mit seiner Musikalität und seinem Mix aus flirrenden, rumpelnden und gar gurgelnden Momenten nicht bloss zu überzeugen, sondern gar zu bezirzen weiss.
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Die Oper als Institution
In seinem mehr als 400-seitigen Wälzer gibt Michael Walter Einblicke in den Opernbetrieb vom 17. Jahrhundert bis heute. Er folgt dabei der Spur des Geldes.
Musikzeitung-Redaktion
- 26. Jan. 2017
Das Wort Institution ist nicht nur schwer auszusprechen, auch die Definition ist nicht einfach. Michael Walter interpretiert Institution nicht als blosse Stätte, wo Opern zu erleben sind. Er untersucht auch das, was gewöhnlich nicht so im Fokus steht: zum Beispiel die Lage der Sängerinnen und Sänger vom 17. bis zum 21. Jahrhundert, die historische und gegenwärtige Zusammensetzung des Publikums, das Impresario- oder Subventionssystem oder auch jene Rolle, die die Oper im Konkurrenzkampf der Städte spielt.
Ein solch weiter Blick ist Segen und Fluch zugleich. Schön bodenständig und nüchtern sieht Walter die Dinge. Besonders spannend, teils lustig zu lesen sind die Einblicke in Probenbedingungen des 18. Jahrhunderts. «Zeit ist Geld» hiess schon damals die Devise. Erforderte eine anspruchsvollere Oper zu viel Vorbereitung, konnte es schnell passieren, dass anstelle einer Opera seria eine komische Oper erklang. Deren Vorteile: Verschlankung des Probenplans und obendrein länger ein volleres Haus. Geld ist laut Walter oft eine schlüssige Erklärung für institutionelle Fragen. Operndiven und Heldentenöre trieben schon im 18. und 19. Jahrhundert Eintrittspreise in die Höhe. Akribisch hat Walter Gagen recherchiert und kann konkrete Zahlen nennen. An grossen Häusern wie der Wiener oder Berliner Hofoper, dem Teatro San Giovanni Grisostomo in Venedig oder der Londoner Royal Academy of Music verdienten Kastraten und Spitzensängerinnen schon mal 2000–7000 Reichstaler – eine für damalige Verhältnisse formidable Summe. Heute sind sowohl Opernhäuser wie Sänger aus Furcht vor (berechtigter) öffentlicher Kritik an Transparenz wenig interessiert. Dennoch zitiert Walter den Startenor Roberto Alagna, der einmal von einer Summe von 13 000 Euro pro Auftritt sprach. Wenig ist das gewiss nicht. Doch bei weitem nicht so viel wie jene 500 000 Euro, die Luciano Pavarotti für heldentenörige Auftritte in Fussballstadien verlangte und bekam. (Erfreulicherweise räumt Walter in diesem Zusammenhang mit dem Vorurteil auf, das der besten Leistung das höchste Gehalt entspeche.)
Der Fluch des weiten Blicks: Oper – Geschichte einer Institution ist kein Leseschmaus. Im offenbaren Bemühen um chronologische und lokale Vollständigkeit springt der Autor sehr kleinteilig von einem Aspekt zum nächsten. Walter stellt seinen Kapiteln die Überschriften «Sänger», «Rechtsfragen», oder «Opernpublikum» voran. Somit ist er zu häufigen Themenwechseln schon im Ansatz gezwungen, wobei fraglich bleibt, ob sich amerikanische Opern-Verhältnisse mit russischen oder europäischen überhaupt vergleichen lassen. Ganz zu schweigen von den Gegebenheiten an einem kleinen deutschen Stadttheater und jenen eines grossen spezialisierten Hauses wie etwa der New Yorker Metropolitan Opera.
Michael Walter: Oper – Geschichte einer Institution, 26 Abb., 470 S., € 49.95, Bärenreiter/Metzler, Kassel/Stuttgart 2016, ISBN 978-3-476-02563-0
Mahler-Uraufführung in Tübingen
Der an der Uni Tübingen tätige Jörg Rothkamm ist auf eine bislang unveröffentlichte Version des «Erntelieds» gestossen. Die Mahler-Komposition wird am Dienstag, dem 31. Januar, an der Universität Tübingen uraufgeführt.
Musikzeitung-Redaktion
- 26. Jan. 2017
Mahler und seine Ehefrau Alma arbeiteten gemeinsam an Kompositionen. Dabei entstanden oft mehrere Fassungen eines Stückes. Das auf einem Gedicht von Gustav Falke basierende Stück hatte Rothkamm in Gustav Mahlers Handschrift in der «Médiathèque Musicale Mahler» in Paris aufgespürt, verifiziert und entziffert. Dabei konnte er zeigen, dass der Anteil Gustav Mahlers an der gemeinsamen Komposition grösser war, als bislang erwartet.
Die Version weicht von der bekannten und publizierten Version in zahlreichen Punkten ab, sowohl in Text und Melodie, vor allem aber in Klavierbegleitung und Harmonien.. Auch der Schluss ist in diesem Autograph Gustav Mahlers, also der eigenhändigen Niederschrift, formal völlig neu entwickelt.
Zur Uraufführung des «Erntelieds» wird Jörg Rothkamm in einem einführenden Vortrag die Genese mit zahlreichen Noten- und Klangbeispielen erklären. Die Entstehung fällt genau in jene Zeit, in der Mahler seine letzte, unvollendet gebliebene 10. Symphonie entwarf ‒ und tatsächlich lassen sich musikalische Bezüge zwischen den Werken ausmachen.
Infos: 31. Januar 2017, 18.15 Uhr, Universität Tübingen, Musikwissenschaftliches Institut.
Walter Furrer und Antony Morf
Der Klarinettist Antony Morf (1944-2016) und der Komponist Walter Furrer (1902-1978) dürften sich anlässlich der Jahresversammlung des Schweizerischen Tonkünstlervereins 1974 kennengelernt haben.
Beatrice Wolf-Furrer
- 25. Jan. 2017
Auf das Deckblatt des Manuskripts Nahtegal, guot vogellin – es handelt sich um eine kleine Komposition für Kammerchor sowie vier Instrumente (Viola, Gitarre, Blockflöte, Tamburin) nach einem mittelhochdeutschen Text des Berner Minnesängers Heinrich von Stretelingen, die am 24. Mai 1975 von Studio Radio Bern ausgestrahlt wurde – hat Walter Furrer die handschriftliche Widmung «Für Herrn Morf» gesetzt.
Darauf aufmerksam gemacht hat mich die Lautenistin Irina Döring. Sie war Teilnehmerin des vom Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Bern im Wintersemester 2016 veranstalteten Seminars Den Schweizer Komponisten Walter Furrer vor dem Vergessenwerden bewahren (Leitung: Frau Prof. Dr. Cristina Urchueguía; Schwerpunkte: Musik nach 1600 / Editionsphilologie) und befasste sich mit dem genannten Werk.
Allein schon wegen der Seltenheit des Namens war es nicht allzu schwer, herauszufinden, wer sich dahinter verbarg. Nach einer Anfrage bei dem Berner Musikerehepaar Adrian und Helene Wepfer stand fest, dass es sich um Antony Morf handeln musste, der einige Jahre Erster Klarinettist des Berner Symphonieorchesters war. Da er in dieser Funktion später u. a. auch in Basel wirkte, setzte ich die Recherche beim Sinfonieorchester Basel fort und gelangte über einige Umwege schliesslich zu Herrn Cardinaux, einem Schüler Antony Morfs, und über diesen schliesslich zu Frau Dorothee Morf, der Witwe des Künstlers.
Während eines Gesprächs, das ich am 1. Dezember 2016 in Basel mit ihr führte, erhielt ich Einblick in die Biografie von Antony Morf und erfuhr auch, dass er und Walter Furrer einander begegnet sind. Allerdings muss ich schon jetzt einschränkend festhalten, dass diese Informationen ziemlich summarisch sind und somit keine charakteristischen Einzelheiten aufweisen. Das hängt damit zusammen, dass Antony Morf, obwohl ein gefragter, weit herum bekannter Orchester- und Solomusiker, von einer prononcierten Bescheidenheit war und daher bewusst nichts für die «Nachwelt» aufbewahrte. Hinzu kommt, dass auch im Nachlass Walter Furrers, von der erwähnten Widmung abgesehen, bisher keine schriftlichen Vermerke zu Antony Morf aufgetaucht sind.
Antony Morf wurde am 16. Juni 1944 in Genf geboren, besuchte dort das Gymnasium und hatte schon früh Klarinettenunterricht: So war er von 1958 bis 1963 am Genfer Konservatorium Schüler des holländischen Klarinettisten Léon Hoogstoël. Dort erwarb er das Lehrdiplom und gewann den Ersten Virtuosenpreis, anschliessend war er eine Zeitlang Privatschüler von Ferenc Hernad (Lugano). In der Folge erspielte er sich bei internationalen Musikwettbewerben mehrere Preise, so 1967 den Dritten Preis in Genf und 1970 den Ersten Preis in Budapest.
Von 1965 bis 1970 war er Mitglied des Quintette à vent romand. Er wirkte als Erster Klarinettist in mehreren Schweizer Sinfonieorchestern mit, von 1968 bis 1972 in Bern, anschliessend in Zürich sowie in Genf. 1978 wechselte er zum Sinfonieorchester Basel, wo er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2006 tätig war. In der Saison 1972/73 wurde er als Solist der Abonnementskonzerte in Bern und Lausanne gefeiert. Dazwischen führten ihn viele Konzertreisen – als Solist sowie als Orchestermusiker – nach Paris, Monaco, Salzburg (Festspiele), Prag und Budapest. Er arbeitete mit den führenden Dirigenten seiner Zeit – Armin Jordan, Charles Dutoit u. a. – zusammen und wurde auch durch zahlreiche Plattenaufnahmen – so zum Beispiel bei der Firma Erato – bekannt; die Platteneinspielung von Igor Strawinskys Histoire du soldat wurde mit dem Grand Prix du disque ausgezeichnet. Antony Morf starb am 26. Mai 2016 in Basel.
Das Zusammentreffen mit Walter Furrer sei, so Frau Morf, am 18. Mai 1974 anlässlich der Jahresversammlung des Schweizerischen Tonkünstlervereins, dem Walter Furrer seit 1952 angehörte, zustande gekommen. Antony Morf gewann damals den mit 5000 Franken dotierten Ersten Preis. Irgendwie müssen die beiden einander spontan sympathisch gewesen sein. Wie mir Frau Morf sagte, verfügte ihr Mann, ebenso wie Walter Furrer, über eine fundierte literarische Bildung sowie – und darin liegt eine ausgesprochene Wesensverwandtschaft – über einen angeborenen Sinn für skurrile Komik; Honoré Daumier zählte zu seinen Lieblingskünstlern.
Somit dürften sich die beiden Musiker ungeachtet des Altersunterschiedes von vornherein gut verstanden haben. Ich füge aus eigener Kenntnis hinzu, dass Walter Furrer wegen seiner zweiten Heirat mit seinem eigenen Sohn, der die neue Frau nicht akzeptierte, zerstritten war. Er litt sehr unter dieser Entfremdung, und es wäre durchaus denkbar, dass er den jungen Klarinettisten als eine Art «Wahlsohn» erlebte. So gesehen, könnte man die eingangs genannte Widmung als eine spontane Sympathiekundgebung einstufen.
Ich danke Frau Morf herzlich für das Gespräch und die dabei vermittelten wertvollen Informationen. Mein Dank geht auch an den Schweizerischen Tonkünstlerverein in Lausanne, wo ich mir am 22. Dezember 2016 mit Hilfe des Geschäftsführers Johannes Knapp zusätzliche Notizen zu Antony Morf machen konnte
Stemann folgt an der ZHdK auf Müller
Im Februar 2017 übernimmt der deutsche Theater- und Opernregisseur Nicolas Stemann die Leitung des Profils Regie im Master Theater an der Zürcher Hochschule der Künste. Aktuell ist er Hausregisseur an den Münchner Kammerspielen. Er tritt die Nachfolge von Stephan Müller an, der in Pension geht.
PM/Codex flores
- 25. Jan. 2017
Nicolas Stemann studierte Philosophie und Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg sowie Regie am Max Reinhardt Seminar Wien und der Theaterakademie Hamburg. Nach ersten Arbeiten in der freien Szene (Kampnagel Hamburg) folgten Aufträge an den grossen Staatstheatern in Deutschland, Österreich und der Schweiz, später auch im französischsprachigen Raum.
Die bekanntesten Arbeiten von Nicolas Stemann umfassen formal und inhaltlich innovative Klassiker-Bearbeitungen, Uraufführungen der Stücke der österreichischen Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek sowie eigene musikalisch-performative Projekte. Seit 2010 ist er auch als Opernregisseur tätig (unter anderem an der Opéra Comique Paris).
Nicolas Stemann folgt regelmässig Einladungen zu Festivals wie dem Berliner Theatertreffen, den Salzburger Festspielen, dem Holland Festival oder dem Festival d’Avignon. Er ist seit 2013 Mitglied der Akademie der Künste Berlin und nimmt zudem seit 2003 Lehrtätigkeiten an der Hamburger Theaterakademie und der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin wahr.
Beziehungsreiche Charakterstücke
Die elf Stücke für Cello und Klavier, «Les extrèmes se touchent», von Martin Schlumpf durchreisen 200 Jahre Musikgeschichte und geben zum Teil auch Rätsel auf.
Musikzeitung-Redaktion
- 25. Jan. 2017
Der Schweizer Komponist Martin Schlumpf (geb. 1947) studierte von 1968 bis 1972 am Konservatorium Zürich Klarinette, Klavier, Dirigieren sowie Theorie und Komposition. Nach seinem Abschluss bei Rudolf Kelterborn folgten 1974 weitere Studien bei Boris Blacher in Berlin. Von 1977 bis 2011 unterrichtete er Theorie an der Zürcher Hochschule der Künste (früher Konservatorium Zürich). Bis 1980 war Martin Schlumpf vor allem als Komponist im E-Musik-Bereich tätig. Seither beschäftigt er sich auch mit improvisierter Musik und übt seit Ende der Achtzigerjahre vielfältige Tätigkeiten im Berührungsfeld zwischen Improvisation und Komposition aus.
Die Edition Kunzelmann hat Schlumpfs Duo Les Extrèmes se touchent für Cello und (leicht) präpariertes Klavier erstmals veröffentlicht. Die 1975 entstandene Urfassung wurde 2015 vollständig umgearbeitet. 11 Charakterstücke bilden mit webernscher Knappheit ein vielschichtiges Ganzes. Die ca. 19-minütige Partitur nimmt Bezug auf 200 Jahre Musikgeschichte und stellt direkte Verbindungen her zu Beethoven, Chopin, Alexander Skrjabin, Bernd Alois Zimmermann oder Jonny Rollins. Doch es stellen sich auch musikalische Rätsel: In der Nr. III (Aria) singt das Cello in höchster Lage – eine Reminiszenz an den V. Satz aus Messiaens Quatuor pour la fin du temps? Es sei der Fantasie der Ausführenden und Hörer überlassen, weitere Bezüge und Verwandtschaften zu entdecken.
Die Edition enthält genaue Angaben zur Präparation des Flügels und der Verwendung des zweistimmigen Click-Tracks im IX. Satz.
Die musikalischen und technischen Anforderungen des Werkes sind hoch und verlangen von den Ausführenden ein entsprechendes Mass an technischem Können.
Die Uraufführung mit den Widmungsträgern Thomas Grossenbacher und Petya Mineva kann auf dem Youtube-Portal abgerufen werden.
Martin Schlumpf: Les Extrèmes se touchent, 11 Charakterstücke für Violoncello und Klavier, GM-1919, Fr. 57.00, Edition Kunzelmann, Adliswil 2016
Bahnfahren im Duett
Sieben Duette von gemütlich bis waghalsig für zwei Spielerinnen oder Spieler, die keine Anfänger mehr sind, aber bildhafte Sücke mögen.
Musikzeitung-Redaktion
- 25. Jan. 2017
Mit Treno di Tarantella startet Bernhard Gortheils Klarinetten-Express beschwingt in Italien, bald schon geht die Reise aber auf Zügen um die ganze Welt und bewegt sich auf klarinettistische Kniffligkeiten und gefährliche Kurven zu. Gortheil hat für diesen Band sieben Duette komponiert für Klarinettistinnen und Klarinettisten, welche das Anfängerniveau bereits hinter sich gelassen haben und Spass daran haben, bildliche Musik(titel) zu interpretieren. Im Orient Express werden beide Spieler zu ausdrucksvollem Musizieren mit «rubato molto vibrato», mit Verzierungen und Glissandi aufgefordert. Das Stück Bimmelbahnträume ist eine gefühlvolle Ballade, Woodwind Nighttrain ein klassischer Blues und in Ticket for Two ist die Fahrt mit einer alten Dampflokomotive angesagt.
In allen Stücken baut der Komponist rhythmische, technische und musikalische Herausforderungen ein, welche durchaus lustvoll zu bewältigen sind. Die sprechenden Titel schaffen es zusammen mit der Musik schöne Bilder zu kreieren.
Bernhard Gortheil, Klarinetten-Express. Eine musikalische Reise für zwei Klarinetten, D 35 315, mit mp3-Files zum Download, Doblinger, Wien 2016
Ohrwurm mit neuen Schattierungen
Auch über so bekannte Stücke wie Mozarts A-Dur-Sonate gibt es ab und zu Neues zu erfahren.
Musikzeitung-Redaktion
- 25. Jan. 2017
Von den insgesamt 18 Klaviersonaten Mozarts ist jene in A-Dur KV 331 wohl seine populärste. Das Variationenthema des ersten Satzes, das Max Reger zu seinen eigenen Mozart-Variationen für Orchester anregte, ist ebenso eingängig wie natürlich das abschliessende Rondo Alla Turca, welches gerade in jüngster Zeit in Fazil Says Version Furore macht. Keine dieser Bearbeitungen kann allerdings mit dem Zauber des Originals mithalten.
A propos Original: Im September 2014 wurde in der ungarischen Nationalbibliothek in Budapest ein Notenblatt von Mozarts eigener Hand entdeckt, das wesentliche Teile der Sonate enthält. Der G. Henle-Verlag nahm diesen Fund zum Anlass, seine bisherige Urtextausgabe «grundlegend» zu revidieren. Und in dieser Version wurde das Werk vom Pianisten William Youn auch schon auf CD eingespielt.
Nun, so «grundlegend» anders und «sensationell» sind die Änderungen doch wieder nicht. Sie betreffen vor allem den 2. Satz, wo einzelne Töne des Themas und die Harmonik eines kleinen Abschnitts vom Gewohnten abweichen. Immerhin hat man jetzt die Möglichkeit, im umfangreichen Kritischen Apparat die Quellenlage genauestens zu studieren und seine eigenen Schlüsse daraus zu ziehen.
Aufschlussreich ist hingegen die neue Datierung des Werkes: Nach jüngsten Untersuchungen entstand es nicht 1778 in Paris, sondern erst 1783, als man das Jubiläum «Hundert Jahre Befreiung Wiens von der Türkenbelagerung» feierte. Steckt im Alla Turca vielleicht doch eine grosse Prise Ironie?
Im Konzert ist die A-Dur-Sonate (die keinen einzigen Sonatensatz enthält!) übrigens gar nicht so oft zu hören. Das Werk ist vor allem im Unterricht populär. Ob sich das mit der neuen Henle-Ausgabe vielleicht ändert?
Wolfgang Amadeus Mozart, Klaviersonate A-Dur KV 331 (Alla Turca), hg. von Wolf-Dieter Seiffert, HN 1300, € 7.00, G. Henle, München 2015
Musik mitteilen: offene Kompositionen von Max E. Keller
Einige frühe Stücke von Max E. Keller eignen sich als Beispiele für offene Kompositionen für mitschaffende Musikerinnen und Musiker. Der dänische Musikwissenschaftler Carl Bergstrøm-Nielsen zeigt ihre Strukturen, Notationsweisen und Zusammensetzungen auf und weist Bezüge zu späteren Werken nach.
Carl Bergstrøm-Nielsen
- 24. Jan. 2017
Neue Musik nach dem zweiten Weltkrieg war anfänglich detailliert auskomponiert, wenigstens bei uns in Europa. Es dauerte jedoch nicht lange, bis verschiedene Formen von Offenheit in der Aufführung kamen. Die Entwicklung bei Stockhausen ist ein anschauliches Beispiel dafür und bietet einen ganzen Katalog von Verfahrensweisen: Zeitmasse von 1956 operiert mit «Unschärfegraden» im Tempo. Klavierstück XI von 1958 besteht aus vielen kleinen Abschnitten, die in nicht zuvor festgelegter Folge gespielt werden müssen, und ihre Inhalte sind auch variabel gemäss dem zuletzt gespielten Abschnitt.
In den späten Sechzigerjahren wurde die Offenheit radikal: Prozession von 1967 und eine Reihe weiterer Werke bedienten sich einer einfachen Notation, aus Plus- und Minuszeichen bestehend. Sie stand für bis vier frei gewählte, jedoch konsequent durchzuführende, gleichzeitig stattfindende Parameteränderungen. Schliesslich bestanden die beiden Sammlungen Aus den Sieben Tagen und Für kommende Zeiten (1968 und 1976 publiziert) hauptsächlich aus Texten. Verbale Mittel können Material be- oder umschreiben, traditionelle Formsequenzen oder auch individuelle, zyklische Formeln festlegen und vieles mehr.
Wer vorbringen will, dass es damals zwar eine Fülle von solchen Experimenten gegeben habe, sie seien aber eine Kuriosität der Geschichte geblieben ohne grosse praktische Bedeutung, der irrt sich. Zwar können die Sechziger- und Siebzigerjahre als «goldenes Zeitalter» dafür erscheinen, doch weitergehende Konsequenzen zeigten sich erst allmählich, jenseits von Sensation und Mode. (1 Anmerkungen siehe unten) Einige Komponisten machten daraus eine Spezialität. John Zorn etwa wurde in den Achtzigerjahren zur Kultfigur mit seinen Game Pieces, Cobra insbesondere. Sie waren vor dem Hintergrund von Christian Wolffs Kompositionen entstanden, die u. a. auf Interaktion zwischen den Spielern bauten. (2) Das Gesamtbild der Strömungen wurde komplexer. (3)
Obwohl improvisatorische Aufführungspraxis in Neuer Musik nicht überall üblich ist, sind doch Ensembles wie das Berliner Splitter Orchester (4), Zeitkratzer oder das Ensemble Modern bekannt. Die Literaturhinweise zu diesem Artikel deuten schon an, dass seitdem auch etwas geschehen ist, kompositorisch wie in der Forschung. Die Notenbeispiele von insgesamt 165 Autoren im Buch Notations 21 wurden sogar meistens im neuen Jahrtausend geschaffen. (5) Neuere Besprechungen sind Nonnenmann (2010) über Mathias Spahlingers Doppel Bejaht, und Neuner (2013).
Improvisation hat sich als eine experimentelle Praxis neben der Komposition ausgebreitet. Das gilt einerseits im Konzertleben: Eine gar stürmische Debatte trug sich zu in der Schweiz im Jahre 2010. (6) Andererseits wird Improvisation jetzt auch in den Musikhochschulen implementiert. (7) So kommt denn auch dem ganzen Zwischenbereich von Übungen, Absprachen, Konzepten ein erneuertes Interesse zu. Oder sagen wir einfacher: der offenen Komposition. Es geht ja um die Verwendung kompositorischer Verfahren in einem neuen Kontext von Aufführungspraxis. (8) Das Neue an der historischen Situation, jetzt, 60 Jahre nach Stockhausens Zeitmasse, könnte sein, dass die Integration von Improvisation und Komposition üblicher geworden ist. Der Komponist ist nicht mehr das einsame Genie. Teamwork, ein gewisses kollektives Räsonnieren und Handeln, ist selbstverständlicher geworden, wie ja auch in der Gesellschaft überall.
Neulich wurde in MusikTexte ein Artikel über die Kompositionen von Max Eugen Keller publiziert. (9) Die frühen Kompositionen für Improvisatoren wurden da indessen nicht behandelt. Den vorliegenden Artikel kann man daher als eine Ergänzung lesen oder einfach als eine Präsentation von Beispielen offener Kompositionen vornehmlich aus der Zeit um 1970. Es findet sich bei Keller eine Fülle von Strukturen, Notationsweisen und Zusammensetzungen, wie ich im Folgenden auszuführen versuche. Es werden im folgenden nur die Spielpläne wiedergegeben und einiges mehr referiert – die vollständigen Versionen mit sämtlichen Erklärungen kann man bei IIMA im Internet lesen: http://intuitivemusic.dk/iima/mk.htm
Psychogramm
Der Ausführende soll während dem Spielen frei zwischen den 22 beschriebenen Verhaltensweisen wechseln. Die 4 grossgeschriebenen Wörter geben Ausgangspunkte an, die z. B. nützlich für den Anfang sein können. Grossformal haben wir es hier also mit einem aleatorischen, kaleidoskopischen Verlauf zu tun. (10) Es gibt eine endliche Zahl von Elementen, die von allen benutzt werden, unabhängig voneinander und in unvorhersehbarer Reihenfolge. Doch ist eine oft vorkommende Wiederkehr von Elementen wahrscheinlich.
Viele Instruktionen beschreiben musikalisches Verhalten, geben dabei nichts konkret Klingendes an, sondern beschreiben Relationen. Sie sind oft anderen Musikern entgegengesetzt, viele beschreiben aber auch das Unterordnen. Einige wenige befinden sich in einem quasi neutralen Mittelbereich, so besonders «Vermittle zwischen Kontrasten».
Der ästhetische Fokus richtet sich auf Konflikte und Kontraste, deren Formen in der Musik systematisch zugelassen und erforscht werden. Das Element «Pendle zwischen Kontrasten, ohne zu vermitteln» kann emblematisch dafür stehen. Die herkömmliche Praxis von Melodie und Begleitung wird nicht abgeschafft, aber sie bekommt die Möglichkeit des Kontrastierens zur Seite gestellt. Das kann man als eine Wiederentdeckung von Polyfonie bezeichnen. Sie wurde ja historisch vom harmonischen Denken in Akkorden, Melodie und Bass verdrängt. Ein Begriff wie «Imitation» deutet doch auf Formen menschlicher Kommunikation hin. Emotionalität kommt hier auch unvermeidlich ins Spiel, vergleiche auch den Titel des Stückes. Aber nicht um das einsame, expressionistische Individuum geht es hier: Affekt wird umgedeutet ins Soziale.
Die 22 Elemente lassen sich in ein Kontinuum oder, vielmehr, in mehrere einordnen, je nach Interpretation. Das könnte ein Kontinuum sein zwischen Selbstbehauptung und Unterordnung, zwischen –Gegensatz und Angleichung oder auch anderem. Das Denken in Kontinua war historisch eine Entdeckung der Serialisten. Wie Melodien Skalentöne umstellten, so konnte man dieses Prinzip auch in anderen Dimensionen verwenden. Das gilt zum Beispiel in Gesang der Jünglinge von Stockhausen für den Klang, der sich auf einer vorgestellten Linie, einem Kontinuum, zwischen elektronischen Klängen und Knabenstimmen scheinbar ganz zwanglos und «frei» bewegt. Die Methode dient so der Differenzierung und Integration des Materials.
Eine weitere Instruktion in den Erklärungen zu Psychogramm, die auch zur Differenzierung beiträgt, schreibt vor, dass die Spieler kontinuierliche Übergänge oder auch Sprünge zwischen den Elementen machen dürfen.
Stück für Improvisatoren
Die Grossform hier ist nicht aleatorisch, sondern sequenziell und bogenartig. Nach dem freien Spiel werden zuerst weitere Sektionen mit unterschiedlichem Material definiert, insgesamt 13. Dabei erreicht der Prozess ein Maximum an detaillierter Bindung in K und endet danach in N wieder im «freien» Spiel.
Der Prozess beruht auf Heterofonie: Das heisst hier, dass alle denselben Ablauf spielen, jedoch jeder in seiner eigenen Ausformung und in seinem eigenen Tempo, so dass die Übergänge fliessend werden. Strategisch ist es, dass die Sektionen klar unterschiedlich sind. Nur durch hörbares Feedback unter den Musikern wird die Koordination möglich.
cum processio tum missa non est…
Die Grossform entwickelt sich fort aus einer anfänglich als relativ einheitlich erkennbaren Mischung, «thematische Struktur» genannt (die innerste Zone mit a), b) und c)). Die Entwicklung unterliegt zuerst Regeln, die eine Einheit im Übergang von der einen zur jeweils nächsten Zone gewährleisten, daher werden in Zone 2 und 3 neue Regeln eingeführt. Nur das letzte Stadium, Zone 4, ist ganz ad libitum. Der Prozess wird zunehmend differenziert oder auch labyrinthisch. Eine bogenartige oder zyklisch-formelhafte Rückkehr zu früher gespieltem Material ist auch möglich, gewissen Regeln und den Pfeilen folgend.
Heterofonie ist hier wieder ein strukturell tragendes Prinzip (= alle bewegen sich in ähnlicher Weise mit Variationen). Sie wird aber auch überlagert vom Labyrinthischen, das aus dem Gebrauch unterschiedlicher, aleatorischer Elemente resultiert (= alle können einander in den späteren Stadien kontrastieren). Immerhin sind die aleatorischen Elemente innerhalb ihrer drei Kategorien in den zwei ersten Zonen einander deutlich ähnlich, so dass vorab eher eine Variation des schon Dagewesenen als völliger Kontrast erzeugt wird.
Minima
Wie in Psychogramm wechseln die Spieler hier individuell zwischen Elementen, die in diesem Stück aber frei grafisch notiert sind. Doch zeigen die Nummern über den Elementen die Dauer an: 1 = möglichst kurz, 5 = möglichst lang. Der Kontinuums-Gedanke ist auch hier am Werk und verhindert, dass die Elemente eine standardisierte Länge bekommen. Für eine ähnliche Variation der Pausenlängen ist auch gesorgt: Nach jedem Element macht der Spieler eine Pause, deren Länge dem Kreis entnommen wird. Die Nummern darin werden auf der gleichen Weise wie zuvor gedeutet. «A» und «E» zielt auf Zusammenfälle mit Anfang oder Ende von Elementen anderer Spieler, sofern «einigermassen zwanglos» möglich. Ausserdem gilt generell: «Das klangliche Ergebnis soll eine sehr dünne, durchsichtige Musik sein».
Minima ist relativ einheitlich im Klang und kontrastiert dadurch die anderen Stücke. Aber Variation in der polyfonen Dichte ist strategisch sehr wichtig. Der Komponist sichert sich durch die systematisch variierte Festlegung der Längen von Elementen und Pausen, dass nicht alle zur gleichen Zeit spielen und dass Pausen so oft und so variiert vorkommen, dass die Zahl der aktiv Spielenden ständig variiert. Dabei kann man auch damit rechnen, dass selbst bei derselben Dichte verschiedene Konstellationen von Spielern auftreten, was auch zur Variation beiträgt.
Zusammenfassende und perspektivierende Bemerkungen
Kompositorische Analyse und Ausarbeitung
Diese kleine Auswahl von vier Stücken umfasst Extreme von klanglich vehementen Interaktionen in Psychogramm bis hin zu den dünnen, durchsichtigen Klängen aus dem Reduktionismus von Minima. Dagegen sind Stück für Improvisatoren sowie cum processio … eher eklektisch im Material. Menschliche Interaktionsformen, Wechsel von Stadien, die von allen Spielern «karawanenartig» durchwandert werden, labyrinthischer Prozess und sensitive Variation in der polyfonen Dichte sind ausgewählte kompositorische Aspekte. Die Stücke sind nicht auskomponiert im Sinne von Detailliertheit auf der Mikroebene – wohl aber in dem Sinne, dass sie auf Ideen beruhen, die kompositorisch ausgewertet und dann systematisch ausgearbeitet wurden. Die 22 Interaktions-Elemente in Psychogramm und die 27 grafische Elemente in Minima sind immerhin Beispiele einer Detailliertheit, die weitgehend genügt, um eine Fülle von Möglichkeiten deutlich zu suggerieren.
Notation und wie sie die Form mitdefiniert
Text spielt eine grosse Rolle in der Notation dieser Auswahl. Mit verbalen Mitteln kann man bestimmte Klänge bezeichnen, auch solche, die jenseits der zwölf Töne liegen, z. B.: «Zw. zwei Farben kontinuierlich abwechseln.» Man kann aber auch Relationen beschreiben zwischen Klängen oder zwischen Musikern, wie dies so prominent der Fall in Psychogramm war. Anders als mit Wörtern hätte man sie doch kaum definieren können. Und mit Noten wären zwar Nachahmungen von Affekten und Reaktionen möglich – aber um den Preis der Lebendigkeit.
Freie Grafik ist auch in zwei Stücken von Bedeutung (Minima und cum processio). Freie Grafik verstehe ich hier im Unterschied zu formalisierten Zeichensystemen. Man denke etwa an die Plus-Minus-Notation von Stockhausen, was das Formalisierte betrifft. (11) Doch ist es hier auch relevant zu bemerken, dass schon das Layout ein wichtiges Mittel zur Formalisierung ist. Die einfache, lineare Sequenz in Stück für … wird den gleichberechtigten, aleatorischen Elementen in Psychogramm und Minima und zugleich der konzentrischen Struktur in cum processio gegenübergestellt.
Detaillierte oder konzise Vorlage
Weil diese vier Stücke eine weitere Entfaltung durch improvisatorische Mitwirkung seitens der Musiker voraussetzen, sind sie kurz und konzis, leicht zu lesen und zu überblicken – egal, ob sie nun «Konzepte» oder «offene Kompositionen» heissen sollen. (12) Wenn eine in allen Details ausgearbeitete Version nicht mehr gefordert wird, dann kann das Werk, wie der französische Komponist Jean-Yves Bosseur formuliert, zu «einem starken Organismus, mit seinen vollen Potenzialen» werden. (13) Eine in allen Details ausgearbeitete Version würde nach diesem Gedankengang «weniger» bieten, weniger Diversität der möglichen Versionen. (14) Der österreichische Komponist Christoph Herndler (2011) ist hiermit ganz auf einer Linie: Wenn es um die schriftliche Form geht, ist es sein Ziel, «die Musik nicht nur festzuhalten, sondern auch mitzuteilen».
Materialbegriff und Aufführungspraxis historisch
Die Aufführungspraxis wandelt sich historisch auch in unserer Zeit. (15) Aus der Perspektive der grossen Linien gesehen, kann das nicht losgelöst vom Materialbegriff in der Neuen Musik betrachtet werden. Mit einer Bezeichnung, die von Levaillant (1996) stammt, gehen wir grundlegend vom «rohen Klangmaterial» aus (Le fait sonore brût), sowohl im frühen Serialismus als auch in freier Improvisation. Nicht nur die klanglichen Begrenzungen der Notenschrift, auch das Wünschenswerte darin, die Entitäten, womit man komponiert, in allen Hinsichten frei definieren zu dürfen, fordern dazu auf, nach Lösungen jenseits der Kompromisse des traditionellen Notenschreibens zu suchen. Und schon gar nicht zu sprechen von gewissen interessanten menschlichen Erfahrungen. (16)
Allmählich verblasst die Autorität alter Theoretiker wie Dahlhaus und Adorno, für die ein Delegieren seitens des Komponisten nichts anderes als ein Mangel an Verantwortung bedeutete. Kopp (2010) berührt die historische Dimension, indem er noch gegen die beiden genannten Autoren argumentiert. Jahn (2006) ist hingegen für die traditionelle Schrift. Er führt eine eigenständige These aus, indem er gegen zu grosse «Freiräume» in Kompositionen auf psychologischer Grundlage argumentiert. Dabei illustriert er seine Ansicht mittels der Metapher einer Leitplanke an der Autobahn – die Leitplanke repräsentiert, was notiert ist, die Musik selber ist alles, was nicht notiert ist. Wieso nun das sehr geregelte Fahren auf der Autobahn ein so hohes Ideal für das ästhetische Streben werden kann, habe ich nie ganz verstanden, doch jedem das Seine!
Die Bedeutung von Interaktion und die Folgen für die Formbegriffe Psychogramm zeigt eine originelle Verwendung von Interaktion als kompositorisches Material. Das Stück ist ein frühes Beispiel für eine systematische Ausarbeitung differenzierter interaktiver Rollen – interessanterweise noch vor der Publikation des Artikels von Vinko Globokar über Das Reagieren(17), der ganz ähnliche Rollen beschreibt. Siehe hierzu auch noch den Artikel von Keller selbst (1973) über die Bedeutung sozialer Prozesse und Erlebnisse von Gemeinschaft, auch seitens der Hörer.
Generell ist, wie oben bei der Besprechung dieses Stücks angedeutet wurde, Polyfonie, und zwar eine direktere, wiederentdeckte, bei improvisatorischer Aufführungspraxis von Relevanz. Es leuchtet ein, dass das strikt Homofone abhängig von einer äusseren Koordinierung ist. Heterofonische Techniken liegen auf der Hand – in Stück für Improvisatoren erzeugt dieses Prinzip wegen der karawanenartigen Anlage sowohl vertikale wie horizontale Diversität bei den Übergängen zu neuen Sektionen und ebenso Stellen, die von Konsens geprägt sind. Der Komponist kann lineare Verläufe in gröberem oder feinerem Umriss festlegen, doch weil der interaktive Prozess leicht zu unvorhergesehenen Entwicklungen tendiert, kann Aleatorik einen neuen Stellenwert bekommen, und zwar für die Form. Sie sorgt in Psychogramm und Minima dafür, dass der Musiker ständig freie Wahlmöglichkeiten hat. Hier sind wir weit entfernt von den feingeschnittenen, herumwirbelnden Strukturen bei Penderecki und anderen polnischen Komponisten, die sich ja auf einer Detailebene abspielen. Es gibt noch viel zu erforschen, wie Musiker durch ihre Wahl im Spiel den Formverlauf beeinflussen oder bestimmen können.
Schlussfolgerung
Die vier Stücke von Keller machen Gebrauch von einer beträchtlichen Reihe kompositorischer Methoden und Griffe: eingehende Analysen des Materials, Aleatorik auf Form bezogen, Polyfonie, Heterofonie, sequenzielle Form, Labyrinthform, Relationen als musikalisches Material, nichtetablierte Notationsformen. Sie tragen dazu bei, herkömmliche Komposition mit einer noch relativ neuen Form von Aufführungspraxis zu verbinden. Interaktion beeinflusst die Form der Zusammenarbeit. Es werden konzise Notationen verwendet, welche die Idee des Komponisten unmittelbar mitteilen und somit ein Minimum an analytischer Entzifferung braucht – sowohl für Musiker als für interessierte Hörer.
Appendix: Spätere offene Werke Kellers
Musik wird innerhalb verschiedener Traditionen unterschiedlich hervorgebracht. Die weitaus am meisten gespielte klassische Musik wird heutzutage aufgeführt, ohne dass improvisatorische Fähigkeiten dazu nötig wären. Doch sie verlangt weitgetriebene technische Fertigkeit und eine effektive Produktionsweise. Blattlesen ist dabei wichtig, so dass die Probezeit auf ein Minimum gekürzt werden kann. Viele Komponisten ziehen die Konsequenz, auch für Neue Musik eine hauptsächlich traditionelle Schrift zu verwenden, um sich den Zugang zum Publikum nicht zu versperren. Für Keller waren darüber hinaus auch Texte und Botschaften mit politischen Inhalten wichtig. (18)
In der Pädagogik geht es weniger um effektive Kulturproduktion als darum, sich in Inhalte zu vertiefen und sie kennenzulernen. Das können wir eine andere Methode nennen und sie als «workshopähnlich» bezeichnen. Die Musiker entdecken oder entwickeln gar allmählich das Feld und bestimmen das Resultat mit. In 5 Improvisationsmodelle für Jugendliche (1995) (19) und im gleichnamigen 5 Improvisationsmodelle für Jugendliche (2008) treten Strukturen auf, die den frühen Kompositionen ähnlich, jedoch einfacher sind. Es gibt auch herkömmliche, lineare und einfache Partituren. Es folgt nun indessen ein Beispiel, Zündschnur aus der späteren Sammlung, das heterofone und formelhafte Strukturen exemplifiziert. Diesmal ist die Notation ausschliesslich verbal:
Die workshopähnliche Methode ist unter Ensembles verbreitet, welche die Freiheit haben, sich ihre eigene Arbeit selbst zurechtzulegen. Die oben analysierten frühen Stücken entstanden denn auch im Umfeld der von Keller gegründeten Gruppe für Musik. Damals arbeitete er auch improvisatorisch mit Gerhard Stäbler und Wah Schulz.
Von 2003 stammen einige Improvisationskonzepte, geschrieben für eine Gruppe mit Stefan Wyler (trp), Alfred Zimmerlin (vcl) und Dani Schaffner (perc). Keller selbst spielte auf Klavier und Synthesizer. Elektronische Klangumwandlung konnte bei allen eingesetzt werden. Die Kompositionen gehören in eine «Grauzone». Sie sind nur für die betreffenden Musiker formuliert und haben die vollständigen Erklärungen nicht, die für die oben analysierten Stücke charakteristisch waren. Sie können aber Beispiele dafür sein, wie man unter sich Kompositionen schnell realisieren kann, mit Stichwörtern und wenig Aufwand. Ausser Spielanweisungen sind in diesen Konzepten eine Menge technische Angaben zur Einstellung der Apparatur. Diese zu verallgemeinern wäre sicher eine besondere Aufgabe gewesen, eine andere, velleicht etwas weniger schwierige wäre es, von den spezifischen Instrumenten zu abstrahieren. Könnte z. B. «Cello» durch einen anderen Streicher ersetzt werden oder durch irgendein anderes Instrument? In ihrem spezifischen Kontext müssen solche Fragen indessen gar nicht beantwortet werden.
Aus Im Metall hier eine Spielregel, die auf der Interaktion der Musiker beruht und Erfahrungen der Neunzigerjahre mit «dirigierter Improvisation» integriert:
Aus Ohn End ein Partiturausschnitt – für Aussenseiter würden die Stichwörter wohl ziemlich abstrakt erscheinen. Denkbar auch, dass «free» ein gewisses Einverständnis unter den Musikern einschliesst, besonders wenn die Stücke zuvor erprobt waren. Zumindest ist zu vermuten, dass sie mit den Spielweisen der anderen etwas vertraut waren.
Improvisation und experimentelle Aufführungspraxis tauchen auf in einem Werk mit politisch orientierten Texten aus letzer Zeit, nämlich Mobile für 1–5 Instrumente ad libitum von 2013.
Die Elemente in den Kästen können frei kombiniert werden. Doch das «Floskel-Feld» soll zum Beginn stehen und mindestens zweimal im Laufe des Stückes aufgegriffen werden. Texte können verschiedenartig vorgeführt werden gemäss Anweisungen. Zusammen mit den instrumentalen Elementen haben wir also hier wahrhaftig eine Collage: Sätze können sich chaotisch übereinander lagern. In ihnen geht es um ernste Probleme, die keineswegs zueinander in Beziehung stehen, sondern schroff einander gegenüberstellt werden. Ebenso schroff steht das hochdifferenzierte Spielen den prominenten «Floskeln» gegenüber. Das Stück kommt aber dem Blattlesen entgegen dadurch, dass Tonhöhen und Rhythmen detailliert auskomponiert sind. Dabei bedeutet [G], dass der Ton geräuschhaft sein kann. Wiederum diplomatisch für die klassisch ausgebildeten Musiker kann dies aber ausgelassen werden.
Kellers offene Kompositionen seit 1970/71 bauen auf Entdeckungen, die eingehend in frühen Stücken untersucht wurden: erweitertes Material, anschauliche Notation, Interaktion als wesentliche Dimension, schaffende Zusammenarbeit. Sichtbar werden aber auch originelle pädagogische Arbeiten sowie eine informelle kompositorische Arbeitsweise. Und ein Beispiel für einen Brückenschlag zwischen den sonst getrennten Arbeitsmethoden von Blattlesen oder Workshop.
Carl Bergstrøm-Nielsen ist ein dänischer Komponist, Improvisator und Musikforscher.
1
Zu Konsequenzen ausserhalb des Konzertlebens sei hier nur kurz angedeutet, dass die Musikpädagogik neu gestaltet wurde und dass die neuere Musiktherapie als Fachdisziplin ins Leben gerufen wurde.
2
Siehe Bergstrøm-Nielsen (2002ff), Sonderkategorien über Wolff und Zorn G2.5 und G2.3 (sowohl alte als neue Abteilung), auch Gronemeyer et al (1998). Vitkova (2005) attestiert, dass Wolff nicht nur in den Sechzigerjahren so komponierte, sondern auch später, z. B.in For John (2007).
3
Polaschegg (2007) und (2013) enthalten ausführliche Signalemente davon.
4
Reimann (2013)
5
Sauer (2009)
6
Zündsatz dieser Explosion schien der Artikel Meyer (2010) zu sein. Die Diskussion setzte sich fort in Dissonance (2010) und Kunkel (2010) mit mehr als 35 Teilnehmern. Nachher wurde Nanz (2011) veröffentlicht. – Schon Meyer (2007) berichtete vorher von regen Diskussionen über Improvisationsfragen.
7
In Luzern kann man einen Bachelor of Arts in Music mit Schwerpunkt Improvisation erwerben. Mäder et al (2013) enthält eine Dokumentation und didaktisch-inhaltliche Reflexionen. Jeremy Cox, Leiter der Association Européenne des Conservatoires schätzte ein, dass 90% der zirka 200 Mitglieder Improvisationsunterricht eingeführt haben. Siehe Cox (2012). Andere wichtige Orte, wo freie Improvisation gelehrt wird, sind beispielsweise Gent, Belgien; Den Haag, Holland; Oslo, Norwegen.
8
Siehe die Diskussion bei Mäder et al (2013) p.38f.
9
Amzoll (2015)
10 Aleatorisch, nach latein alea=Würfel, bedeutet zufallsbezogen, doch innerhalb eines definierten Rahmens.
11
Siehe Müller (1997)
12
Eine Diskussion dieser Begriffe findet sich am Ende des Artikels Bergstrøm-Nielsen (2002).
13
Bosseur (1997), Übersetzung des Verfassers
14 Als Komponist kann ich darüber hinaus persönlich bestätigen, dass es ein grosses Vergnügen sein kann, ganz unterschiedliche Versionen desselben Werkes zu hören zu bekommen. Die Interpretationsweisen können sich sogar über die Jahrzehnte wandeln.
15
Müller (1994) vertritt die These, dass für die Analyse indeterminierter Musik (das umfasst nach seiner Auffassung auch Stockhausens Prozession) die alleinige Betrachtung von Methode seitens des Komponisten und von Rezeption nicht ausreicht. Wenn der Komponist die gestalterische Arbeit mit einem Interpreten teilt, dann muss die Aufführungspraxis als solche untersucht werden. Kopp (2010) führt einen ähnlichen Gedankengang aus.
16
Ochs (2000) deutet auf die Vorteile der kreativen Zusammenarbeit hin: «… the decision to use (structured) improvisation … to create the possibility of even more … than the composer imagined possible … Or, at the very least, to allow for the possibility of different or fresh realizations … with each performance» (p.326).
17
Globokar (1970)
18
Siehe Amzoll (2015) für eine allgemeinere Orientierung über Kellers Schaffen
19
Eine Auswahl davon ist im Nimczik/Rüdiger (1997) publiziert.
Literaturhinweise
Amzoll, Stefan (2015):
Farbenfahrten. Der Schweizer Komponist und Improvisator Max E. Keller. MusikTexte 147, November.
Bergstrøm-Nielsen (2002): Offene Komposition und andere Künste. ringgespräch über gruppenimprovisation, Juni. Online: www.intuitivemusic.dk/iima/ – siehe Bergstroem-Nielsen.
Bergstrøm-Nielsen, Carl (2002ff):
Experimental improvisation practise and notation.
An annotated bibliography. With addenda. Online: www.intuitivemusic.dk/iima/ – siehe Bergstroem-Nielsen.
Bosseur, Jean-Yves (1997): Le Temps de le Prendre. Paris (Editions Kimé).
Cox, Jeremy (2012):
Mündliche Kommunikation anlässlich des Vortrags QUO IMUS?: a «premeditated improvisation» on ideas stimulated by the Symposium and their implications for European music academies. Symposium Quo vadis, Teufelsgeiger?, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, 28.Januar 2012.
Globokar, Vinko (1970):
«Réagir», musique en jeu 1, 1970. Deutsche Version in Melos 1971,2 (ohne Musikbeispiele). Online: http://intuitivemusic.dk/iima/ – siehe Globokar.
Gronemeyer, Gisela; Oehlschlägel, Reinhard (1998): Christian Wolff. Cues. Writings and Conversations / Hinweise. Schriften und Gespräche, in: Edition MusikTexte 005.
Herndler, Christoph (2011):
Wegmarken beim notieren unvorhersehbarer Ereignisse, in: «31» – Das Magazin des Instituts für Theorie, Nr. 16/17, S. 126 ff. ISSN 1660-2609 (Schweiz).
Jahn, Hans-Peter (2006): Zur Qualität des Gedächtnisverlusts. Fesseln der Notation, MusikTexte 109, Mai.
Keller, Max E (1973):
Improvisation und Engagement, Melos 4.
Kopp, Jan (2010):
Vom Handlungssinn der Schrift. Die Erfahrung des Musikers als Gegenstand von Komposition. MusikTexte 125, Mai, S. 32-43.
Kunkel, Michael (ed.) et al (2010):
Diskussion…. Dissonance, Schweizer Musikzeitschrift für Forschung und Kreation 111, Dezember, S. 64-77. Online: http://www.dissonance.ch/de/hauptartikel/82
Levaillant, Denis (1996): L’Improvisation Musicale. (Biarritz, Editions Jean-Claude Lattès 1981). Teil einer Serie: Musiques et Musiciens. New edition: Arles 1996
Mäder, Urban; Baumann, Christoph; Meyer, Thomas (2013): Freie Improvisation – Möglichkeiten und Grenzen der Vermittlung. Serie: Forschungsbericht der Hochschule Luzern – Musik 5. Elektronisches Dokument. Online: https://zenodo.org/record/31339/files/2013_5_Maeder-Baumann-Meyer.pdf
Müller, Hermann-Christoph (1994): Zur Theorie und Praxis indeterminierter Musik. Aufführungspraxis zwischen Experiment und Improvisation. Regensburg (Gustav Bosse Verlag). Kölner Beiträge zur Musikforschung (Niemöller, Klaus Wolfgang ed.) Band 179.
Müller, Hermann-Christoph (1997):
plus minus gleich. Karlheinz Stockhausens «Prozession», MusikTexte 67/68, Januar.
Nanz, Dieter A. (Hrsg.) (2011):
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Nanz, Dieter A. (2007): Improvisieren und Forschen. Gedanken am Rande der Basler Improvisationsmatineen. MusikTexte 114, August, S.83-84.
Neuner, Florian (2013): Auf der Spitze des Eisbergs. Die Berliner Komponistin und Verlegerin Juliane Klein. MusikTexte 139, p.5-13, November.
Nimczik, Ortwin/Rüdiger, Wolfgang (1997): Einstimmige vielstimmigkeit. Drei Improvisationsmodelle von Max E. Keller (1995), Musik und Bildung 1, Januar/Februar.
Nonnenmann, Rainer /(2010):
Wider den Utopieverlust. Mathias Spahlingers «doppelt bejaht» beschreitet neue Bahnen. MusikTexte 124, Februar.
Vitková, Lucie (2015): Learning to Change with the Music of Christian Wolff, in: Rothenberg, David (ed.): vs. Interpretation. An Anthology on Improvisation, Vol.1. Prague (Agosto Foundation), p.51-62.
Ochs, Larry (2000):
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Polaschegg, Nina (2007):
Verflechtungen. Zur Neubestimmung des Verhältnisses von Komposition und Improvisation, MusikTexte 114, August.
Polaschegg, Nina (2013):
Gegenseitiges Befruchten und Durchdringen. Zum Spannungsfeld von Komposition und Improvisation. MusikTexte 139, November 2013.
Reimann, Christoph (2013): Kollektives Individuum. Das Berliner Splitter Orchester. MusikTexte, August, 29-35.
Elf Schweizer Orchester haben innerhalb der letzten drei Jahre insgesamt 33 Werke von Schweizer Komponistinnen und Komponisten zur Uraufführung gebracht. Das Projekt ist mit einer Jarrell-Uraufführung zum Abschluss gekommen.
Musikzeitung-Redaktion
- 23. Jan. 2017
Mit der Uraufführung von Michael Jarrells «Des nuages et des brouillards» durch das Orchestre de Chambre de Lausanne ist das dreijährige Projekt «Œuvres Suisses» abgeschlossen worden. Elf Schweizer Orchester haben je drei neue Werke bei Schweizer Komponistinnen und Komponisten in Auftrag gegeben und zur Uraufführung gebracht.
Lanciert wurde «Œuvres Suisses» als Gemeinschaftsinitiative der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und des Verbands Schweizerischer Berufsorchester orchester.ch. Dank einer Partnerschaft mit der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG SSR) sind alle Uraufführungen aufgezeichnet worden. Über die Webseite www.oeuvressuisses.ch können sämtliche Werke in voller Länge angehört werden.
Die Finanzierung der Aufträge und Uraufführungen war Sache der beteiligten Orchester. Im Gegenzug erhielten sie von Pro Helvetia Beiträge an ihre internationale Tourneetätigkeit sowie an Vermittlungsprojekte. Während der Projektdauer wurden 41 Tourneen in Europa, Asien sowie in Süd- und Nordamerika realisiert.