Zwischen Restaurierung und Neuinterpretation

Wie werden historische Aufnahmen aktualisiert? Ein kurzer Abriss über die Vielfalt der Formate, konservatorische Aspekte sowie aktuelle Verfahren. Und die Grundfrage: Versucht man, den ursprünglichen Klang möglichst objektiv wiederzugeben oder passt man ihn heutigen Hörgewohnheiten an?

Historische Tonaufnahmen liegen je nach Entstehungszeit in vielen Formaten vor. Mechanische Systeme der Aufzeichnung wie Wachszylinder und Schellackplatten wurden bereits Ende des 19. Jahrhunderts verwendet, später Acetat- und wieder später Vinylplatten. Bei den mechanischen Tonträgern zeichnete man bis in die Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts im akustischen Verfahren auf, danach setzten sich elektrische Aufnahmesysteme durch. Die magnetische Tonaufzeichnung wurde zwar schon 1898 eingeführt und Aufnahmeverfahren auf Draht fanden in verschiedenen Bereichen Verwendung. Erst die Entdeckung des Prinzips der Vormagnetisierung verhalf jedoch dem Tonband zum Durchbruch. All diese Formate stellen spezifische Anforderungen an Lagerung, konservatorische Massnahmen, Reinigung etc. Sie weisen ausserdem unterschiedliche klangliche Eigenschaften auf, die beim Prozess der Digitalisierung und später bei den Entscheiden zur tontechnischen Aufbereitung berücksichtigt werden müssen.

Da sich die Lebensdauer verschiedener Tonträger dem Ende zuneigt und jeder mechanische Abspielvorgang den analogen Medien weiter zusetzt, ist klar, dass es beim Digitalisierungsprozess immer auch um die dauerhafte Konservierung der Klangquellen gehen sollte. Die Überführung alter Tonträger in digitale Formate wird noch dringlicher, weil viele Wiedergabegeräte nur noch schwer oder gar nicht mehr verfügbar sind und sich oftmals nicht in optimalem Zustand befinden. Selbst bei «jüngeren» Formaten wie bestimmten Tonbandtypen kann es schwierig sein, passende Tonbandmaschinen und eventuell notwendige Zusatzgeräte zu finden und sie fachkundig instand zu setzen. Zudem müssen teilweise bereits erfolgte Digitalisierungen wiederholt werden, weil die dazumal verwendeten Tonträger sich als nicht geeignet für die dauerhafte Archivierung erweisen oder weil eine verbesserte Klangqualität des Digitalisats gewünscht wird. Auf Archivierung spezialisierte Institutionen (z.B. die Schweizerische Nationalphonothek) sind hier besonders gefordert, geeignete Modelle zu entwickeln und zu implementieren. Die Problematik betrifft aber auch kommerzielle Plattenlabels, die mit Archivbeständen von Matrizen, Erstpressungen, Masterbändern usw. arbeiten.
 

Vom Studioequipment zur PC-Software

Die Restaurierung historischer Audioaufnahmen wird spätestens seit Ende der Achtzigerjahre mittels digitaler Signalverarbeitung (DSP) vorgenommen. Aber sie war natürlich schon lange vor der Digitalisierung der Audiotechnik in den Tonstudios gängige Praxis, und viele analog realisierte Restaurierungsprojekte erzielten auch hervorragende Ergebnisse. Allerdings konnten mit den digitalen Algorithmen Störsignale gezielter und präziser identifiziert und reduziert werden, sie erlaubten es auch, ganze Arbeitsschritte automatisiert durchzuführen und damit grosse Mengen an Klangmaterial zu verarbeiten.

Dank der stetigen Weiterentwicklung dieser Technologien und der Verfügbarkeit immer leistungsfähigerer (und erschwinglicher) Prozessoren können heute praktisch alle Arbeitsschritte am Computer im Heimstudio vorgenommen werden, während noch in den Neunzigerjahren oft verschiedene Arbeitsschritte an unterschiedliche, fest installierte Maschinen gebunden waren und Audiomaterial extern von spezialisierten Studios verarbeitet werden musste. Heutige Softwarelösungen laufen auf leistungsfähigen Computern entweder als Stand-alone-Programme oder als Plug-ins zu ganzen softwarebasierten Audio-Produktionsumgebungen. Aktuelle Programme umfassen beispielsweise Assistenten zur Minderung von Störsignalen wie Rauschen, Klicks, Knacksern, Oberflächengeräuschen von Schallplatten, Brummtönen, Verzerrungen, Gleichlaufschwankungen usw. Für viele dieser Geräusche können jeweils spezifische Profile erstellt werden, um die Störsignale präzis zu erfassen. Viele Prozesse lassen sich auch automatisiert ausführen, indem das System Korrekturen vorschlägt. Letztlich ist aber bei jeder Korrektur das Ohr des Bearbeiters gefragt, denn allzu drastische Eingriffe verändern das Klangbild oft in unerwünschter Weise; eine zu stark angesetzte Rauschminderung etwa wird sich durch störende Rauschfahnen bemerkbar machen usw. Es gibt auch keine objektiv richtige Aufbereitung, vielmehr müssen je nach der Zielsetzung Entscheidungen getroffen werden.
 

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Mit verschiedenen Programmen kann man alte Aufnahmen restaurieren mit Hilfe spektraler Visualisierung (oben).

Zahlreiche Programme enthalten auch Tools zur spektralen Visualisierung und Bearbeitung des Klanges. Entgegen der vertrauten Visualisierung des Klanges als Wellenform erlaubt es die spektrale Darstellung, einzelne Tonereignisse im Frequenzspektrum zu erkennen. Mittels eines grafischen Bearbeitungswerkzeuges, ähnlich jenen, die man aus Bildbearbeitungsprogrammen kennt, können dann beispielsweise unerwünschte Störgeräusche wie Huster, klingelnde Mobiltelefone, Seitenblättern etc. aus dem Spektrum entfernt oder zumindest vermindert werden.

Die rasante Entwicklung von erschwinglicher Software hat nicht nur die Arbeit vieler kleiner, auf Neuauflagen historischer Aufnahmen spezialisierter Labels beflügelt, sondern auch Produktionsprozesse in der ganzen Audio- und Filmindustrie erheblich verändert. Durch die vielfältigen Korrekturmöglichkeiten werden die tontechnischen Anforderungen an Studioumgebungen und Aufnahmesituationen zumindest relativiert, indem Probleme behoben werden können, die die Aufnahme früher unbrauchbar gemacht hätten.
 

Zahllose Neuauflagen in unterschiedlichster Qualität

Bei den Wiederveröffentlichungen kommerzieller Aufnahmen der grossen Traditionslabels handelt es sich oft um Aufbereitungen von Masterbändern oder Matrizen eigener Produktionen oder um unveröffentlichtes Archivmaterial. Die Neuauflagen, die bei kleineren Labels in grosser Zahl erscheinen, basieren dagegen eher auf kommerziellen Tonträgern, die sich im Umlauf befinden und nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfristen frei verfügbar werden. Diese Praxis ist denn auch – neben der verbesserten und günstigeren Technologie zur Aufbereitung – ein Grund für die enorme Zunahme solcher Veröffentlichungen seit etwa den Neunzigerjahren. Die Qualität dieser Produktionen kann sich von Label zu Label extrem unterscheiden. Zum einen in Hinblick auf die Programmierung: Minutiös dokumentierte Anthologien, teilweise um unveröffentlichtes Material ergänzt, Neuauflagen von bedeutenden Raritäten und vieles mehr stehen beliebig zusammengewürfelten Kompilationen gegenüber, die teilweise den ursprünglichen Produktionszusammenhang völlig verunklaren. Ebenso gibt es grosse Qualitätsunterschiede bezüglich der klangtechnischen Umsetzung und nicht zuletzt der Informationen, die zum Aufbereitungsprozess überhaupt geboten werden. Viele Labels nennen die verwendeten Quellen und Prozesse nicht. Ausserdem muss immer wieder festgestellt werden, dass einige Labels die Ausgangsdigitalisate nicht selbst herstellen, sondern überarbeitete Versionen anderer Labels kopieren und diese nochmals diversen Prozeduren unterziehen (z.B. durch die Zugabe von Hall und Stereoeffekten), mutmasslich, um die Herkunft des Materials zu kaschieren.

Purismus oder Aktualisierung

Es gibt keinen Standard für die Restaurierung historischer Klangdokumente. Weit mehr als bei Archivierungsprojekten, wo in erster Linie die möglichst klangtreue Konservierung eines historischen Dokuments angestrebt wird, gehen bei kommerziellen Bearbeitungen die Ansätze auseinander. Sie bewegen sich, vereinfacht gesagt, zwischen einer möglichst objektiven Übertragung mit wenig Eingriffen auf der einen und einer auf Aktualisierung und Angleichung des historischen Klangs an heutige Hörgewohnheiten zielenden Bearbeitung auf der anderen Seite. Legendär und wegen ihres kompromisslosen Purismus nicht unumstritten waren etwa die Veröffentlichungen des britischen Labels Pearl. Sie präsentierten in den frühen Neunzigerjahren unter anderem Übertragungen von Schellackplatten praktisch ohne nennenswerte Filterung der Störsignale und offenbarten dennoch einen erstaunlichen klanglichen Detailreichtum. Einen puristischen Ansatz wählte auch RCA mit den Wiederveröffentlichungen der Living Stereo-Serie aus den 1950er- und 1960er-Jahren auf CD und SACD. Einen insgesamt eher aktualisierenden Ansatz verfolgt seit einigen Jahren dagegen etwa das Label Pristine Classical. Zusätzlich zu den üblichen Verfahren wie Störsignalverminderung, Entfernen von Klicks, Brummen usw. werden hier unter anderem bei historischen Livemitschnitten Hustengeräusche entfernt. Zusätzlich kommt eine spezielle Software zur Anwendung, die es erlaubt, das Frequenzspektrum der alten Aufnahmen an jenes moderner anzugleichen. Schliesslich wird aufgrund bestimmter Raumprofile das Monosignal in ein Stereoklangbild überführt, das ebenso stärker heutigen Hörgewohnheiten, gerade beim Hören über Kopfhörer, entspricht. Es sind massive Eingriffe, die hier am historischen Material vorgenommen werden, doch haben einige dieser «Aktualisierungen» in der Fachpresse und beim Publikum teils grossen Anklang gefunden, so etwa die aufbereitete Einspielung der Klaviersonaten Ludwig van Beethovens durch Artur Schnabel.

Die fortlaufende Weiterentwicklung der digitalen Restaurationsverfahren und das anhaltende Interesse an historischen Aufnahmen lassen vermuten, dass Musiklabels auch in Zukunft immer wieder neue Auflagen historischer Aufnahmen produzieren werden. Die Bandbreite der (seriösen) Ansätze bei der Audiorestaurierung ist faszinierend, «aktualisierende» Ansätze dürften ausserdem in Zukunft noch überzeugender zu realisieren sein. Umso wichtiger wird es dann aber auch, die angewendeten Verfahren offenzulegen und zur Diskussion zu stellen. Ob solche Bearbeitungen dann Schule machen werden, oder ob die Nähe zum Originalklang, zum historischen Objekt, die Hörer stärker faszinieren wird?