34 Anlässe, wieder Klavier zu spielen

Fantasievolle Miniaturen, inspiriert durch Sagen, Märchen, die Geschichte oder die Bibel, für Erwachsene, die es ans Instrument zurück zieht.

Albrecht Dürer: Melencolia I (Ausschnitt, oben rechts das magische Quadrat). Quelle: wikimedia

Am 15. März 2016 ist der Komponist Wilfried Hiller 75 Jahre alt geworden. Im Rahmen der Feierlichkeiten wurden genau an jenem Tag in München seine 34 Klavierminiaturen Kosmos uraufgeführt. Die Komposition der Stücke hatte die Tänzerin, Malerin und Bildhauerin Antje Tesche-Mentzen angeregt. Sie hatte Hiller im Jahr 2014 erzählt, dass sie nach längerem Unterbruch gerne wieder mit dem Klavierspielen beginnen möchte. Hiller versprach ihr daraufhin einen Zyklus zum Neuanfang.

Entstanden sind 34 feinnervig gearbeitete, sehr ausdrucksvolle poetische Miniaturen. Wie viele seiner Bühnenwerke ist auch diese Sammlung inspiriert durch Sagen, Märchen, geschichtliche und alttestamentliche Themen. So führt uns die Zahl 34 zu Albrecht Dürers Kupferstich Melancholie, in welchem das «magische Quadrat» eingearbeitet ist. Im Nachwort gibt der Komponist willkommene Hinweise zu Inhalt und Entstehung der einzelnen Stücke. Gerne schliesse ich mich der im Heft abgedruckten Empfehlung von Antje Tesche-Mentzen an: «Fantasien für junge und ältere klavierbegeisterte Menschen. Der Zyklus ist eine Aufforderung, sich anregen zu lassen durch Bilder, Texte und musikalische Gedanken, um sie weiterzuspinnen im eigenen Spiel.»

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Wilfried Hiller: Kosmos. 34 Klavierminiaturen,
ED 22483, € 29.00, Schott, Mainz 2015

Farbenreiche Charakterstücke

Ein neuer, nicht einfach zu spielender Orgelzyklus von Altmeister Jean Guillou. Der Titel «Enfantines» verweist auf das Schwesterwerk «Scènes d’enfants», ist aber inhaltlich nur schwer festzumachen.

Jean Guillou 2014. Foto: G. Garitan/wikimedia commons

«Kindlich» sind sie nicht, die sechs kurzen Stücke, die der Pariser Altmeister Jean Guillou (*1930) hier unter dem Titel Enfantines vorlegt, «kindgerecht» – was immer das heissen mag – auch nicht, und ob sie auf die Zuhörenden «naiv» und als Werke von «unbefangener Reinheit» wirken, wie im Vorwort suggeriert, ist wohl auch nicht garantiert. Wie im bedeutend virtuoseren und ausladenderen Schwesterwerk aus Guillous Feder, den Scènes d’enfants op. 28, handelt es sich um Charakterstudien; wo Guillou damals eine Kindheit porträtieren wollte, die gleichermassen «angélique et diabolique» sein kann, versteht er diese hier «natürlich und unbefangen».

Guillous Klangsprache, in der sich expressiv-rezitativische Momente, rhapsodisch zuckende Floskeln und Staccato-martellato-Akkordik in assoziativ wirkender Reihung abwechseln, entfaltet sich in den sechs Miniaturen in gewohnter Art, allerdings in grosser Konzentration und überschaubaren Dimensionen. Technisch sind die Stücke dadurch aber nicht einfacher, der Manualpart mutet sehr pianistisch an, und vor allem die Pedalpartie mit ihren riesigen Intervallsprüngen, Glissandi und Doppeltrillern stellt hohe Ansprüche an die Ausführung und ruft nach Spitze-Absatz-Technik dupréschen Zuschnitts. Der Satz verlangt zudem relativ oft einen Pedalumfang bis g1 und einen Manualumfang bis c4, was sich auch durch Umlagerung der entsprechenden Stellen nicht immer lösen lässt, es sei denn mit komplexen Registrier-Manövern. Das Klangbild der Komposition ruft nach guillouschem Instrumentarium, das von 32’ im Pedal über diverse Aliquoten bis zur charakteristischen Zungen-Farbe der Ranquette 16’ reicht; analog zu Guillous eigener Praxis dürfte hier aber flexible Anpassungen an kleinere Instrumente nicht weiter problematisch sein, solange die «Grund-Farben» respektiert werden.

Fazit: Wer Guillous Stil mag und über die nötigen technischen Voraussetzungen verfügt, wird sich über diesen neuen Zyklus freuen, der das Repertoire des Pariser Maîtres um kurze und daher vielseitig einsetzbare Konzertstücke erweitert.

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Jean Guillou: Enfantines op. 81 pour Orgue,
ED 22063, € 16.50, Schott Music, Mainz 2015

Spätbarocke Entdeckung

Die erste der sechs Sonaten für Violoncello und Continuo von Johann Sebald Triemer ist erhältlich.

Stillleben mit Cello, Ölgemälde von Pieter Claesz, 1623. Quelle: Musée du Louvre, wikimedia

Johann Sebald Triemer (1704–1756) wurde in Weimar geboren. Wir haben nur spärliche Informationen über sein Leben, es ist aber bekannt, dass er 1725 als Cellist Mitglied des Theaterorchesters in Hamburg war und von 1727 bis 1729 in Paris bei Joseph Bodin de Boismortier Komposition studierte. Danach lebte er in Holland, wo er 1756 in Amsterdam verstarb.

Um das Jahr 1741 wurden Triemers sechs Sonaten für Violoncello und Continuo veröffentlicht – etwa zeitgleich mit den Sonaten von Vivaldi und Marcello –, gerieten aber schon bald in Vergessenheit. Die Ponticello Edition hat nun die fünfsätzige erste Sonate op.1/1 in C-Dur neu herausgegeben.

Da die Solopartie die 4. Lage nicht übersteigt, eignet sich das Werk gut für pädagogischen Gebrauch und erzielt mit der effektvollen Mischung von empfindsamem Stil und Tanzcharakteren (Largo – Allegro – Cantabile (Siciliano-Rhythmus) – Tempo di Gavotta – Giga Allegro) auch im konzertanten oder kirchlichen Umfeld eine festliche Wirkung.

Die Continuo-Aussetzung besorgte Petra Marianowski. Über die Quellenlage zu Triemers Biographie und zur Überlieferungsgeschichte der Sonate gibt das umfangreiche Vorwort des Herausgebers Holger Best kompetent Auskunft.

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Johann Sebald Triemer: Sonata C-Dur op. 1/1 für Violoncello und Basso continuo, hg. von Holger Best,
PON 1021, € 14.95, Ponticello Edition, Mainz 2015

 

Weitere Ausgaben sind vorgesehen oder liegen bereits vor.

Rare Claviersonaten

Franz Xaver Dušek verbindet in seinen Sonaten den quirligen galanten Stil Wagenseils und Galuppis mit der affektbetonten Sprache Carl Philipp Emanuel Bachs. Ein noch wenig bekanntes Repertoire für alle Tasteninstrumente.

Die Prager Altstadt. Foto: www.kostenlose-fotos.eu

Nicht der berühmte Jan Ladislaus Dussek ist hier gemeint, sondern der dreissig Jahre ältere Franz Xaver Dušek (1731–1799), der 28 Sonaten «per il clavicembalo» hinterlassen hat. Er hatte in Prag und Wien (beim kaiserlichen Klaviermeister Wagenseil) studiert und wirkte vor allem als Klavierpädagoge in Prag. Seit 1776 war er mit der Familie Mozart befreundet und gehörte 1787 und 1791 zusammen mit seiner Frau Josepha zu Wolfgang Amadeus Mozarts Prager Gastgebern.

Mehr noch als der fast gleichaltrige Joseph Haydn verschmolz Dušek in seinen Sonaten den quirligen galanten Stil Wagenseils und Galuppis mit der affektbetonten Sprache Carl Philipp Emanuel Bachs. Somit sind seine Werke für Spielerinnen und Spieler aller Tasteninstrumente vor allem auch des Klaviers eine wertvolle Ergänzung zum virtuosen Sonatenrepertoire zwischen Bach und Beethoven.

Der erste Band der zweibändigen Ausgabe von Dušeks sämtlichen Sonaten enthält die sorgfältige Edition der zu Lebzeiten gedruckten Klaviersonaten, der zweite die Erstausgabe der ausschliesslich handschriftlich überlieferten Sonaten, welche spieltechnisch einfacher und deswegen auch für den Unterricht zu empfehlen sind.

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Franz Xaver Dušek: Sämtliche Sonaten für Clavier, Urtext hg. von Vojtěch Spurný, BA 11513/11514, je € 21.95, Bärenreiter, Kassel u. a 2016

So entspannt wie elegant

Der Wissensdurst von Reto Della Torre war derart gross, dass er nach dem Diplom an der Musikhochschule Luzern in den USA weiterstudierte. Jetzt legt der ausgebildete Jazz-Gitarrist seine zweite Platte vor, die spürbar vom Lebensgefühl Kaliforniens beeinflusst ist.

dellatorre. Foto: zVg,dellatorre,dellatorre,dellatorre

Als Teenager im luzernischen Littau lässt sich Reto Della Torre nicht von Hitparadenmusik bezirzen, sondern von Künstlern wie Stevie Ray Vaughan, Ray Charles oder dem im vergangenen Jahr verstorbenen Prince. Weil die Leidenschaft für Blues, R’n’B und Funk immer weiter wächst, intensiviert Della Torre auch sein Spiel auf sechs Saiten: Im Jahre 2000 nimmt der Jazz-Gitarrist an der Musikhochschule Luzern das Diplom entgegen, doch es dürstet ihn nach weiterem Wissen. In der Folge führt ihn sein Weg ans angesehene Musicians Institute in Los Angeles, wo man die Studenten auf eine Karriere in der Musikbranche trimmt.

Die kalifornische Metropole wird schnell zur zweiten Heimat Della Torres. Hier nimmt er denn auch sein Debüt Realize It auf – als dellatorre. Obschon Bassist Jimmy Haslip, Mitbegründer der renommierten Fusion-Band Yellowjackets, und Keyboarder Michel Forman, ein Vertreter des Modern Jazz, auf der Platte gastieren, zielt diese weit über die genannten Genres hinaus: Die sechs Songs des Schweizers mit italienischen Wurzeln verstehen es, eklektische Jazzfarben mit Blues und Rock anzureichern. Eine Mischung, die ebenso agil wie geschmeidig ist und insbesondere von Della Torres kraftvoller Gitarrenarbeit lebt.

Im vergangenen Oktober liess der Musiker auf seiner Facebook-Seite wissen, dass er im Studio von Robbie Krieger, einst Gitarrist der legendären Doors, seinen Zweitling eingespielt habe: «Acht Lieder in drei Tagen – live.» Mit So What! justiert Della Torre seinen Stil: Nicht nur ist er vom reinen Instrumentalsound abgewichen, er hat die neuen Tracks auch schnittiger gestaltet. Während sich das Titelstück dank Gastvokalistin Nio Renee dem Soul und Funk annähert, vermengt Here We Are Elemente sowohl aus dem Jazz als auch dem Soft-Rock der späten 1970er-Jahre. Das ist elegante Musik, die entspannt. Wie gemacht für lauschige Abende, an denen die Aufregung klein- und das Wärmegefühl grossgeschrieben werden. Mit So What! gelingt Reto Della Torre eine Platte, die schlechte Gedanken vertreibt. Und zwar im Nu.

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So What!
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Soul To Soul
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Can You See Me Now
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dellatorre: So What! (Eigenvertrieb)
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Dani Häusler erhält Goldenen Violinschlüssel

Der Klarinettist Dani Häusler wird mit dem Goldenen Violinschlüssel 2017 ausgezeichnet. Das Vergabekomitee hat ihn «trotz seines jungen Alters» einstimmig zum diesjährigen Preisträger gewählt.

Dani Häusler (Bild: Videostill/SRF)

Dani Häusler arbeitet als Dozent an der Hochschule Luzern, im Fach Musik mit Schwerpunkt Volksmusik, als Kursleiter und er unterrichtet Klarinette an der Musikschule Schwyz. Seit einigen Jahren hat er auch ein Teilpensum am Schweizer Radio.

Dem breiten Publiukm ist Dani Häusler vor allem als Bandleader der SRF-Husmusig bei «SRF-bi-de-Lüt-live» bekannt. Daneben ist er unter anderem unterwegs mit den Formationen Gupfbuebä, Hannelimusig, Dani-Häusler-Komplott, Bergmusik und den Hujässler.

Insbesondere mit den Hujässler habe er die traditionelle Schweizer Volksmusik verändert, modernisiert und geöffnet, heisst es in der Mitteiluing. Ohne die Hujässler wäre die aktuelle Volksmusik nicht dieselbe. Der Klarinettist Dani Häusler, der Schwyzerörgeler Markus Flückiger, der Pianist Reto Kamer und der Bassist Sepp Huber spielen als Hujässler vorwiegend Eigenkompositionen mit Ländlerwurzeln.

Die offizielle Verleihungsfeier «Goldener Violinschlüssel 2017» für Dani Häusler findet am 28. Oktober 2017 in Schwyz statt.

Hypnotische Lösungen für Musiker

Eignet sich Hypnose für Musiker? Anhand zweier Problemfelder – Lampenfieber und motorische Komplikationen – werden erfolgreich erprobte hypnotische und hypnopädagogische Lösungswege vor dem Hintergrund des aktuellen Wissensstandes skizziert.

Eignet sich Hypnose für Musiker? Anhand zweier Problemfelder – Lampenfieber und motorische Komplikationen – werden erfolgreich erprobte hypnotische und hypnopädagogische Lösungswege vor dem Hintergrund des aktuellen Wissensstandes skizziert.

Hypnoseerfahrene Psychologen (1Red.: Anmerkungen jeweils am Ende des Textabschnitts) und Ärzte wundern sich nicht über einen Befund, der während der letzten Jahre an den weltweit grössten Fachkongressen zur Hypnose – etwa in Bremen oder Paris – immer wieder herausgestellt wurde: Trancefördernde (2) Umstände erleichtern die Nutzung hypnotischer Verfahren und Effekte. Das gilt selbst für unangenehme Formen von Trance, sogenannte «Problemtrancen»: So schildern viele Zahnärzte, die zur Angstreduktion oder Anästhesie mit Hypnose arbeiten, wie sehr die ängstlich-erwartungsvolle Aufmerksamkeit des Patienten vor dem zahnärztlichen Eingriff das Überleiten in eine gewünschte Hypnose erleichtert. Auch eignen sich solche Situationen, in denen also von selbst tranceartige Zustände auftreten, als Rahmen und Auslöser posthypnotischer (3) Reaktionen. Wie bedeutend und zielführend die Effekte dabei sind, hängt nicht nur von der Hypnosefähigkeit des Klienten, sondern auch von der kompetenten, hoch flexiblen Durchführung der Hypnose ab, unter Berücksichtigung der persönlichen und situativen Gegebenheiten. Das neuerdings inflationäre Angebot scheinbarer Hypnoseanwendungen, die oft im blossen Hersagen oder gar Vorlesen von Standardtexten bestehen, verschleiert dabei die eindrücklichen Möglichkeiten fachkundig durchgeführter Hypnose.

Dass gerade Musiker sowohl mit unangenehmen, wie auch mit beflügelnden Trancezuständen vertraut sind, liegt auf der Hand – nicht nur aufgrund des Absorbiertseins durch die Auftrittssituation und den Abruf ausgedehnter Erinnerungssequenzen, die eine Art «hypnomorphes Geschehen» darstellen, sondern auch durch die Versenkung in die Musik. Betrachten wir einmal den letzten Fall in einer Art Stimmungsbild: Wir sitzen im Konzertsaal. Die Klavierklänge von der Bühne hatten uns, die Zuhörer, schon gleich am Anfang auf berückende Weise gefesselt und unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Wir werden zauberhafte Wege eines grossen Werks entlanggeführt. Die Pfade scheinen sich allmählich in entlegene Gefilde zu verlieren, bis wir inne werden, dass selbst die Seiten- und Umwege uns mehr und mehr entführen, zu entrückten Höhen hinauf. Man spürt es jetzt auch, wie der Musiker dort gleichsam Atem schöpft und sich weit über das Land erhebt, um die Flügel freier ausbreiten zu können zum unbeirrbaren Flug, den Abendstern wie ein fernes Leuchtfeuer im Blick. Und irgendwie versteht das versunkene Publikum den Künstler auf der Bühne – versteht auch dieses Zwiefache: Selber das zu gestalten, was ihn trägt. Kraft in die Musik zu geben, die doch von der Musik herkommt. Das Publikum nimmt wahr, wie dort am Flügel das Tun und das Geschehenlassen kaum mehr zu unterscheiden sind, während zugleich, so wie jetzt auch im Saal, alles Äussere zurücktritt.

Nun würde man zwar weder beim Pianisten noch bei seinem Publikum von einem eigentlichen hypnotischen Vorgang oder Zustand sprechen wollen. Das wäre auch nicht zutreffend und überdies vermessen – schon deshalb, weil die Musik mit tiefster, allem Denken und Reden ewig unerreichbarer Wahrheit zu tun hat und sich jeder Reduktion auf irgendein Anderes entzieht. Aber dennoch zeigen die Besonderheiten des Geschehens und Erlebens in Hypnose manche damit verwandten Züge. Das lässt uns dann auch verstehen, dass ein grosser Musiker wie Rachmaninow, in schwerer Krise, so sehr von der Hypnose profitieren konnte, dass er sein nach der Behandlung geschriebenes 2. Klavierkonzert seinem Hypnosearzt, Nikolai Dahl, gewidmet hat. Welche verwandten Züge also sind gemeint? Etwa diese: Tief in einer Betrachtung oder Wahrnehmung versunken zu sein, von dieser fasziniert, bewegt zu veränderter Aufmerksamkeit, die sich letztlich mehr nach innen richtet, wobei anderes zurücktritt, bei veränderter Zeit- und Körperwahrnehmung, wandelnd in einem Grenzbezirk zwischen Tun und Geschehenlassen: Das wäre eine durchaus typische Beschreibung der Erfahrung in Hypnose. In der Hypnose freilich ist dann oft – nicht immer – die Wachheit reduziert: Im Verlauf einer mitteltiefen, also normalen klinischen Hypnose, treten häufig längere Phasen auf, während derer man sich wie kurz vor dem Einschlafen fühlt, in einer Art von träumerischem oder tagträumerischem Zustand, wo man eher in Bildern denkt, oft auch nicht mehr genau zuhört und doch wahrnimmt, dass z. B. angekündigte körperliche Reaktionen wie automatisch auftreten. Man beobachtet dann, dass bei einem selber etwas abläuft, was auf bewusst kontrollierendes Mitwirken nicht angewiesen ist.

Was ist der Nutzen solcher hypnotischer Erfahrungen? Nun, man kann damit besonders wirksam Erlebens- und Verhaltensweisen sowie vegetative und muskuläre Reaktionen verändern. In Hypnose gelingt es leichter als im hellen Wachzustand, eingeschliffene, immer gleiche Muster des Denkens, des Fühlens, der Wahrnehmung oder des Verhaltens zumindest versuchsweise liegenzulassen, um sich Neuem zuzuwenden. Dabei ist die Suggestibilität (besonders im Rahmen erwünschter und natürlicher Reaktionen) erhöht, und der Zugang zu Gefühlen – und über diese auch zum episodischen Gedächtnis – erleichtert. Der «stille Beobachter» im Hintergrund bleibt dabei immer präsent und stets in der Lage, den Zustand zu beenden. Das ist eine wichtige und durch verschiedene empirische Untersuchungen belegte Tatsache: Man kann also niemanden in Hypnose zu Handlungen bewegen, die er nicht auch im Wachzustand akzeptieren könnte. Bringt ein Showhypnotiseur jemanden dazu, wie ein Hund auf allen Vieren zu gehen oder den grauhaarigen Herren in der ersten Reihe am Schlips zu ziehen usw., dann hat der Proband – nachweislich – sehr wohl realisiert, was er tut und hätte es auch unterlassen können. In diesem Fall ist es aber so, dass er ja ein sozial – nämlich vom Hypnotiseur wie auch vom Publikum – erwünschtes Verhalten zeigt, welches zudem «durch den hypnotischen Zustand» als entschuldigt gilt und für das er hinterher Applaus erntet. Man darf also derlei Befürchtungen ohne weiteres beiseitelegen, wenn man sich anschickt, Hypnose als ein Instrument zur Bewältigung berechtigter Anliegen zu nutzen.
Wir wollen uns nun im Folgenden zwei Themenkreisen zuwenden, die für Musiker von besonderer Bedeutung sind: Lampenfieber und motorische Komplikationen.

Anmerkungen 1 bis 3

1 Es wird hier die kürzere, männliche Form verwendet, obgleich natürlich von Frauen und Männern gleichermassen die Rede ist. Damit – wie auch mittels dieser Anmerkungen – soll zur sprachlichen Glättung des Textes beigetragen werden.

2 Mit «Trance» sind Zustände veränderten Bewusstseins gemeint, z. B. eingeengte oder erweiterte Aufmerksamkeit, Veränderung der Körper- und Zeitwahrnehmung, grössere Nähe zu Gefühlen usw.

3 Das sind erwünschte Reaktionen, die in der Hypnose vorbereitet bzw. angelegt werden, damit sie im beabsichtigten Zusammenhang dann von selber auftreten.

Lampenfieber

Erinnern wir uns zunächst der eingangs geäusserten Feststellung, dass trancefördernde Bedingungen die Nutzung der Hypnose erleichtern. Wir hatten am Beispiel einer befeuernden und erhebenden «Trance» – im grossartigen Konzert – einige mit hypnotischer Trance verwandte Züge herausgearbeitet, um diesen Sachverhalt vor Augen zu führen. Wenden wir uns nun aber einer ganz anderen, eher der erwähnten zahnärztlichen Problemtrance verwandten, musikertypischen Situation zu: dem Auftritt. Auch da finden wir – selbst im häufigen Fall eher leichter, anspornender, befeuernder Formen von Lampenfieber – die Absorption der Aufmerksamkeit durch die Situation, das Zurücktreten von anderen Wahrnehmungen, das veränderte Körper- und Zeitgefühl und ein Erleben, dass Dinge ablaufen, die wir nicht kontrollieren. Gerade Letzteres fällt dann bei stärker ausgeprägtem Lampenfieber oder gar eigentlicher Auftrittsangst (vgl. zu dieser etwas künstlichen Unterscheidung: Spahn et al., 2011, S. 150) besonders auf: Herzklopfen bis zum Hals, kalte und nasse Hände, weiche Knie, eingeschränktes Gesichtsfeld, trockener Mund, flache Atmung, Anspannung – also die verschiedenen körperlichen Korrelate der Angst, wobei zudem die Fähigkeit zur willentlichen Konzentration, oft auch das Selbstvertrauen herabgesetzt ist und der Gedächtniszugriff gestört sein kann. Wir wollen hier vorerst nur dieses festhalten: Die Symptomatik, die sich zumindest in dieser schweren Form sehr leistungsmindernd auswirken kann, illustriert geradezu beispielhaft, was wir weiter oben als Problemtrance bezeichnet hatten. Und gerade diese – zunächst störende – Gegebenheit kann nun der Nutzung hypnotischer Effekte dienlich sein, wie alsbald deutlich werden soll.

Voraussetzung für erfolgreiche Auftritte jeder Art (nicht nur musikalische) ist natürlich stets die Beherrschung des vorzutragenden Programms. Aber bereits während dessen Erarbeitung können Massnahmen getroffen werden, welche einerseits die bevorstehende Auftrittssituation entschärfen und andererseits das, was nicht entschärft werden kann, zielführend «umnutzen». Den hypnosegestützten Interventionen muss in einem ersten Gespräch – bei einem mit Hypnose arbeitenden Arzt oder Psychologen – eine eingehende Erörterung vorausgehen: der individuellen Probleme, der bisherigen Auftrittserfahrungen, der Ressourcen, der Übepraxis sowie biografischer Gegebenheiten. Erst dann kann sich das Vorgehen z. B. den folgenden Möglichkeiten zuwenden, die zwar nicht immer alle zur Anwendung kommen müssen, aber doch als Facetten eines sehr wirksamen Gesamtkonzepts gelten dürfen:

A)
In der Hypnose lässt sich zunächst ein dem (unangenehmen) Stresserleben auf der Bühne entgegengesetzter, angenehmer Zustand herstellen, der gleichwohl in Richtung der erforderlichen Agilität, Präsenz und Flexibilität modelliert werden kann. Zu diesem angst- und stressfreien, aber dennoch agilen Zustand soll nun in einem weiteren Schritt die Vorstellung der Bühne und des Publikums hinzugenommen werden, bei stets wiederholter Überprüfung und Wiederherstellung des – körperlich und geistig – gewünschten Erlebens. Dadurch wird eine assoziative Neuorientierung erreicht: An Stelle der bisherigen Verbindung Bühnensituation–Lampenfieber, wird die Verbindung mit dem gewünschten, gelösten Erleben etabliert. Der Zielzustand wird hier also nicht durch Habituation (Gewöhnung) erreicht, sondern in der Als-ob-Realität der Trance in die Stresssituation hineingetragen, die dadurch neutralisiert bzw. «umerlebt» wird. Obgleich nun dieses Vorgehen durch gelegentliche Wiederholung zuhause – mittels einfacher Selbsthypnoseverfahren – vertieft und gefestigt werden kann, so ist dennoch einem wichtigen Umstand Rechnung zu tragen: der Tatsache nämlich, dass ein zumindest ansatzweises Auftreten nervöser Symptome zu Beginn des tatsächlichen Auftritts meist nicht verhindert werden kann (ausser bei Klienten, die besonders stark auf Hypnose und direkte Suggestionen reagieren). Leichtfertiges – und damit eben: falsch verstandenes – «positives Denken» ist hier fast immer kontraproduktiv. Man muss sich auf die nervösen Symptome einstellen und keinesfalls diese jeweils unmittelbare Manifestation des Lampenfiebers schon an der Wurzel verbieten wollen. Andernfalls begibt man sich bereits wieder in jenen berüchtigten Angstkreis hinein, der schon bisher für die Symptomatik verantwortlich war: Nervöse Körpersymptome –––> aha, es hat also doch nichts genützt ––> ängstliche Erwartung weiterer dysfunktionaler Reaktionen -––> Verstärkung der Symptome ––>Zunahme der Fehler und Gedächtnisausfälle -––> usw. usf. Es muss also darauf abgezielt werden, die Ernstfallsituation auch dann erfolgreich zu bewältigen, wenn Zeichen des Lampenfiebers schon da sind! Wie dies geschehen soll, beschreiben die Punkte B) und C).

B)
Nur mit gebührender Umsicht und vorbereitend auf den anschliessenden Punkt C: Angst bzw. Stress sollen vor imaginiertem Publikum in der Als-ob-Realität der Trance erlebt werden, bei gelingendem Spiel – also Gelingen im Stresszustand. Dieses Vorgehen zielt somit darauf ab, unter Stress und Angst gut handlungsfähig zu bleiben.

C)
Hypnotische Prozeduren zur Gefühlstransformation: Verwandlung von belastenden, lähmenden in beflügelnde, belebende, souverän-gelöste Gefühle – sozusagen vom Lampenfieber hin zum olympischen Feuer. Ist dies in Hypnose hinreichend etabliert, so dienen die beim Auftritt gespürten Zeichen des Lampenfiebers, also der beginnenden «Problemtrance», als Anker und Einstieg in die hypnotisch eingeübte Gefühlstransformation. Anders ausgedrückt: Bleibt die Problemtrance auf der Bühne aus, so brauchen wir auch nichts zu transformieren. Tritt aber eine Problemtrance (hier in Form des Lampenfiebers) auf, so wird damit der in Hypnose an diesen Problemzustand geknüpfte gelöste Zielzustand aktiviert. Das ist im Übrigen durchaus nichts Unnatürliches: Es ist ja im Grunde derselbe Vorgang, den viele erfolgreiche Musiker seit Jahrhunderten auf der Bühne erlebt haben. Solche Umnutzung und Umformung des Problemerlebens erleichtert dann auch die erforderliche Rückorientierung der Aufmerksamkeit auf die Musik.
Besonders bei A) und C) werden auch eigentliche Entspannungssuggestionen eine Rolle spielen. Sie sollten aber mit der nötigen Umsicht gestaltet werden, da der Auftritt ja einen leistungsorientierten Rahmen darstellt: Da hat man sich nicht in tiefste, entspannte Ruhe hineinzubegeben, sondern den Entspannungsaspekt hauptsächlich auf muskuläre Gelöstheit und freie Präsenz zu beziehen, die dann auch in der an und für sich hochwachen und konzentrierten Situation zur Verfügung stehen kann.

D)
Ressourcenorientierte (und somit wahrheitsgemässe) Korrektur von Selbstabwertung und überstarken Selbstzweifeln. Geeignete persönliche Ressourcenerfahrungen können in Hypnose meist wesentlich leichter gefunden und aktiviert werden (Bongartz & Bongartz, 2000, S. 232). Diesbezüglich ist es zudem auch wichtig, sich auf die Identität als Musiker zu besinnen, der über alle mögliche Unzulänglichkeit hinweg jederzeit mit dem hehren, zutiefst sinnhaften Geschehen der Musik zu tun hat, die – als ein innerliches Anliegen – ein Teil seiner Persönlichkeit ist. Hilfreich ist dabei durchaus, sich zu erinnern an Ereignisse, wo berühmte Musiker sogar noch aus dem Abgrund falscher Töne umso ergreifender die Grösse der Musik erstehen liessen. Klavierspieler mögen hier etwa an Cortot denken.

E)
Immer werden auch direkte Suggestionen in Hypnose – dass alles Gelernte zur Verfügung steht, dass man ruhig, klar, konzentriert ist usf. – gegeben, wobei wiederum die Symptome der Problemtrance als Anker genutzt werden können, diese Sicherheit pünktlich auf der Bühne herzustellen. Dies z. B. so, dass der Beginn oder Anstieg der Symptome beim Betreten der Bühne als Anker dient. Der Betreffende merkt dann, wie das in Hypnose angelegte Zielempfinden beim Überqueren der Bühne auftritt.

F)
Nutzung von Selbsthypnose zur weiteren Etablierung des bisher Geschilderten, aber auch zur habituellen muskulären Lockerung und Verbesserung der Körperbewusstheit – selbst während des Spielens (sowohl zu Hause, als auch beim Auftritt).

Lampenfieber: Facetten hypnotischer Intervention
Nach Klärung der individuellen Gegebenheiten (Vorgespräch):

  • Assoziative Neuorientierung betr. Bühnensituation
  • Handlungsfähigkeit unter Stress erhöhen
  • Gefühlstransformation (mit Ankerung betr. Auftritt)
  • Ressourcenorientierte Korrektur von Selbstzweifeln
  • Direkte Suggestionen in Hypnose
  • Selbsthypnoseverfahren zur selbständigen Weiterarbeit

Mit welchem Zeitaufwand ist insgesamt zu rechnen? Wenn wir von Blitzerfolgen bei besonders geeigneten Probanden absehen, die erst Tage vor dem Auftritt in der Praxis erscheinen, und nach einer einzigen klassischen Hypnosesitzung – mit direkten Suggestionen – plötzlich problemfrei die Bühne betreten (der Autor hat einschlägige Erfahrung damit), dann lässt sich etwa folgendes sagen: Oft wird man mit 4 bis 6 Sitzungen im Abstand von z. B. je einer Woche auskommen, sofern nicht ausgiebigere Arbeit mit der Vergangenheit, etwa aufgrund unbewusster Konflikte, angezeigt ist. In jedem Fall sollte zudem eine Nachbesprechung nach dem Auftritt erfolgen – auch, um die geeigneten Trainingselemente für die selbständige Weiterarbeit mittels Selbsthypnose zu vereinbaren.

Motorische Komplikationen

Die Betrachtung des Extremen, Entgleisten und Problematischen erleichtert die Erkenntnis grundlegender Mechanismen, geeigneter Modellvorstellungen und Lösungswege: Das ist eine Tatsache, die sich nicht nur dem Autor während jahrelanger klinischer und Lehrtätigkeit als Psychologe in der Psychiatrie immer wieder aufgedrängt hat – das lehrt auch die Geschichte aller natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Vergleichbares erweist sich uns auch im folgenden Problembereich.
Musiker kennen verschiedenste Beeinträchtigungen auf dem motorischen Feld, die immer wieder instrumentalpädagogische, manchmal gar ärztliche (4) Aufmerksamkeit beanspruchen. Viele dieser Beeinträchtigungen haben mit Verspannungen, manche dann auch mit offenkundigen Problemen der Bewegungssteuerung zu tun. Ein eindrückliches und zunehmend präsentes Thema ist dabei die «Musikerdystonie», die eine tätigkeitsabhängige fokale Dystonie darstellt – also eine Störung, die sich in unerwünschten, gewissermassen fehlgeleiteten Muskelkontraktionen äussert.
Es soll hier nun keineswegs versucht werden, einen flächendeckenden Abriss der Thematik oder eine systematische Übersicht aktueller empirischer Studien zu geben. Vielmehr sollen aufgrund entsprechender Erfahrungen zusätzliche und aussichtsreiche Wege der Intervention aufgezeigt werden, einhergehend mit einigen, auch kritischen, Anmerkungen zur Interpretation der bis anhin bekannten Befunde. Dies scheint umso eher gerechtfertigt, als die Forschung von einem hinreichenden klinischen und theoretischen Verständnis noch immer weit entfernt ist, was sich auch in den bisher ausgesprochen begrenzten Behandlungserfolgen niederschlägt.

Etwa 1% aller Berufsmusiker leiden im Laufe ihres Lebens irgendwann unter Musikerdystonie, zumindest in Deutschland (Spahn et al., 2011, S. 206). Grundsätzlich sind Musiker aller Instrumentengattungen betroffen. Dennoch wird sich die Darstellung hier auf die besonders häufige Handdystonie bei Pianisten beschränken. Zumindest die grundlegenden Gesichtspunkte sind indessen analog auf andere Instrumente sowie die Stimme anwendbar. Die auch von aussen gut sichtbare Symptomatik besteht bei Pianisten hauptsächlich in Fehlbewegungen – meistens der Finger der rechten Hand – am Instrument, welche den beabsichtigten Bewegungsablauf empfindlich stören. Dabei geht es um Bewegungsabläufe, die zuvor in hohem Tempo und fliessend beherrscht wurden, etwa das Skalenspiel. Bemerkenswert ist, dass diese Fehlbewegungen tätigkeits- und kontextabhängig sind, weshalb auch von «focal task-specific dystonia» (Frucht, 2015) gesprochen wird: So sind sehr oft in der Luft, auf der Tischplatte oder (seltener) gar auf einem einfachen Keyboard (ohne regelrechte Klaviermechanik) die korrekten Bewegungen ohne Weiteres möglich.

Betrachten wir ein Beispiel: Da haben wir also einen Klavierstudenten in einem höheren Semester vor uns, der bisher durchaus überzeugende pianistische Fähigkeiten erkennen liess – sowohl in musikalischer wie auch in technischer Hinsicht. Eines Tages klagt er über Schwierigkeiten beim Skalenspiel: Der Zeigefinger der rechten Hand würde sich beim Daumenuntersatz unwillkürlich einrollen, oder manchmal trete eine plötzliche Streckung des Mittelfingers auf. Es wird dem vorerst noch etwas sorglosen Lehrer bald klar, dass die Symptome nicht zu leugnen sind, sich zudem nicht bessern oder nur ganz vorübergehend. Dann wird es schlimmer, und Lehrer wie Kommilitonen schreiben das zum Teil äusseren Stressfaktoren zu, was der Student aber zumindest im Grundsätzlichen bezweifelt – und zwar zu Recht, wie die neueste Forschung zeigt (Ioannou et al., 2016). Es werden technische Übungen empfohlen, und Ansätze eines Vermeidungsverhaltens stellen sich ein: Es wird auf eher akkordische, jedenfalls skalenarme Stücke ausgewichen, die trotz zunehmender Tendenz zu unfreiem, verkrampftem Spiel besser gemeistert werden. Die Schwierigkeiten breiten sich indessen auf andere technische Figuren aus. Dann wird ärztliche Hilfe in Anspruch genommen, wobei übrigens die neurologische Untersuchung keinen pathologischen Befund ergibt. Nach erfolglosen Versuchen mit Physiotherapie, Alexandertechnik und weiteren alternativmedizinischen Verfahren erfolgt dann ein Wechsel zu einem anderen, hervorragenden Lehrer und bühnengewohnten Pianisten sowie eine längerdauernde psychoanalytische Intervention. Trotzdem wird allmählich – zum Erstaunen des ganzen Umfelds am Konservatorium – die Fortsetzung des Studiums fraglich. Zuletzt wird es dann abgebrochen.

Anmerkung 4

An dieser Stelle ist eine Warnung angebracht vor dem Versuch einer Suspension des Instrumentalpädagogischen durch das im engeren Sinne Therapeutische: Gerade die hier diskutierten Auffälligkeiten und Hemmnisse lassen sich – wie sich noch zeigen wird – als höhergradige Ausprägungen bzw. Fortsetzungen von Phänomenen verstehen, die zunächst durchaus den Lehrer etwas angehen (siehe auch die im Text dargestellte Kontinuumsthese). Der Instrumentallehrer begegnet ja als erster den Auffälligkeiten und wird feststellen, ob diese noch auf dem Feld der zu bearbeitenden spieltechnischen Probleme angesiedelt sind oder ob sich hier etwas verselbständigt hat, mithin krankheitswertig sein könnte, und dann ärztliche Aufmerksamkeit erfordert. Ob nun präventiv oder therapeutisch argumentiert wird: Nicht jedes spieltechnische Problem ist ein Fall für den Arzt. Aber jedes derartige Problem bleibt immer auch eine instrumentalpädagogische Aufgabe.

 

 

Erläuterungen zur fokalen Dystonie: Flexion des Zeigefingers beim Daumenuntersatz. Foto: zVg

 

… und kompensatorische Streckung des Mittelfingers. Foto: zVg

Ähnliche Erscheinungen sind, wie gesagt, auch bei Spielern anderer Instrumente zu beobachten. Die Befunde der nun schon jahrzehntelangen Forschung sind uneinheitlich und unklar und die angeordneten Therapien zeigen schwankende, im Ganzen unbefriedigende Ergebnisse. Was hat die Forschung – in Kürze – zur Thematik zu sagen?
Untersuchungen haben gezeigt, dass Spieler mit besonders hohem Übepensum häufiger dystone Symptome entwickeln (Rozanski et al., 2015), lassen aber eine einleuchtende Erklärung für diesen Umstand vermissen. Neurowissenschaftliche Studien haben einiges zu den neuronalen Korrelaten der Problematik zu berichten. Man spricht unter anderem von einem Inhibitionsdefizit (Pandey, 2015): Die muskulären Gegenspieler (Antagonisten) des aktuell zu bewegenden Fingers werden zu wenig gehemmt, so dass der Finger gleichzeitig gebeugt und gestreckt wird, was zu Versteifung führt. Mittels bildgebender Verfahren findet man eine Überlappung bzw. Verschmelzung der motorischen Areale z. B. der benachbarten Finger (Spahn et al., 2011, S. 208; Paulig et al., 2014). Das Areal in der motorischen Hirnrinde, welches den Zeigefinger steuert, bedient jetzt z. T. auch den Mittelfinger und so weiter. In therapeutischer Hinsicht hat man festgestellt, dass durch Anziehen dünner Latexhandschuhe das Problem – aber meist nur vorübergehend – gelindert werden kann: Das ist der sogenannte «sensory trick» (Paulig et al., 2014). Auch die sehr präzise, gezielt in manche Muskeln vorgenommene Injektion von Botox erbringt solche temporären Verbesserungen und ist heute die Hauptstütze (Pandey, 2015) der Standardtherapie, die sich zudem verschiedener pädagogischer Retrainingverfahren bedient. Aber selbst bei jahrelangem Retraining ist die Prognose ausgesprochen schlecht (Spahn et al., 2011, S. 214). Spielpausen oder auch Akupunktur, Physio- und Elektrotherapie, Massagen oder Psychotherapie haben sich auf lange Sicht als wirkungslos erwiesen (S. 213).

Betrachten wir nun das Ganze einmal aus klavierpädagogischer Perspektive. Der legendäre Pianist und Klavierpädagoge Josef Hofmann (1876–1957), langjähriger Direktor des Elite-Konservatoriums Curtis-Institute of Music und Lehrer Shura Cherkasskys, befand sich in ebenso erlauchter wie zahlreicher Gesellschaft, wenn er predigte: «Langsames Üben ist der einzige Weg zu geläufigem Spiel.» Derselbe Hofmann nun beschreibt in seinem vorzüglichen Buch Piano Playing (Hofmann, 1920) eindrücklich, zu welch schwerwiegenden Symptomen zu schnelles Üben führen kann: lähmungsartige Erscheinungen, Blockierungen von Fingern,oder motorische Reaktionen von Fingern, die sich aktuell gar nicht bewegen sollen usw. Er erklärt das Zustandekommen, natürlich damals noch ohne neurowissenschaftlichen Jargon, etwa folgendermassen: Bei raschen Wiederholungen komplizierter Figuren würden kleine Fehler, Ausrutscher und Unsauberkeiten unserer Aufmerksamkeit entgehen, das tonale Bild in unserer Vorstellung verwischen und bei fortgesetzter Praxis dieses schnellen Repetierens zu «unbestimmten Nervenkontakten» (S. 38 f.) führen, wodurch zunehmend unklar werde, welcher Finger sich bewegen solle. Und das Problem sei durchaus nicht in den Fingern, sondern ausschliesslich im Geist lokalisiert – in einer «Verwirrung des mentalen Konzepts» (S. 39). Wenn wir aus heutiger Sicht nun fragen wollten, wie sich diese Verunklärung der Fingerzuordnung im Gehirn abbilden könnte, so dürfte sich auch dem neurowissenschaftlichen Laien die Erinnerung an die oben erwähnte Überlappung der motorischen Areale im Gehirn aufdrängen. Diese Verschmelzung oder Überlappung der motorischen Areale wäre dann als ein Sediment der angehäuften Unsauberkeiten beim Üben verstehbar – ein Ergebnis also von ungünstigen Lernprozessen. Jemandem, der eingehende Erfahrungen mit fokalen Dystonien der Hand hat, könnte es einfallen, mit Blick auf eine elektroakustische Entsprechung, von einer «Verminderung des Fremdspannungsabstands», in klavierpädagogischer Hinsicht aber von einer «(wieder-) erworbenen Abhängigkeit der Finger» zu sprechen. Das altberühmte spieltechnische Anliegen einer möglichst weitgehenden Unabhängigkeit der Finger nämlich meint ja nichts anderes, als dies: dass beabsichtigte Fingerbewegungen möglichst wenig muskuläre Auswirkungen auf andere Finger haben sollen. Man könnte – wiederum elektroakustisch formuliert – sagen, dass ein grösstmöglicher Unterschied zwischen Nutzsignal und Störsignal (Rauschen sowie impulsartige Einstreuungen) (5) angestrebt wird. Und eben dieser Unterschied wird durch die erwähnte ungünstige Übepraxis verkleinert: «Rauschen» (ungerichtete Bewegungen, Verspannungen) und zunehmende «impulsartige Einstreuungen» (Fehlbewegungen) in den Signalweg werden beim allzu häufigen schnellen Spielen in Kauf genommen, bis daraus eine gewohnheitsmässige sensomotorische (6) Fehlhaltung oder «Fehlneigung» – also eine schädliche Wahrnehmungs- und Verhaltensdisposition – geworden ist, welche nun alle weiteren Aktionen am Instrument infiltriert und dadurch auch weiterhin geradezu eingeübt wird. Zwar können dann Massnahmen, die eine Veränderung der propriozeptiven Wahrnehmung beim Spielen bewirken – z. B. sensory trick und Botox-Injektionen (letztere zusätzlich mit Entlastung der Endstrecke durch Entspannung: eine Art «Rauschunterdrückung») – eine temporäre Verbesserung bringen: Man erinnere sich an die Kontextabhängigkeit (7) der Symptome. Aber zugleich wird so das eigentliche Problem (das ja im Kopf, nicht in den Fingern lokalisiert ist) der sensomotorischen Fehlneigung maskiert und dadurch der sorglosen Fortsetzung der ungünstigen Gewohnheit Vorschub geleistet: Es wird nämlich vorübergehend die Toleranz des Spielapparats gegenüber der sensomotorischen Fehlneigung erhöht. Er verträgt also jetzt etwas mehr Unachtsamkeit und Nachlässigkeit, bis man das an hör- und sichtbaren Symptomen merkt. Der Spieler glaubt dann, er sei auf dem Wege der Besserung, und wird weiterhin zu schnell und kinästhetisch unachtsam weiterpraktizieren, bis dann auch diese trickreiche Reserve ausgeschöpft ist. Dieses Verhalten ist nur allzu verständlich: Der Verzweifelte spürt Erleichterung, denkt «aha, endlich geht’s wieder» – und spielt drauflos wie ehedem. (8)

Wenn wir nun fragen, welche Möglichkeiten uns die Anwendung von Hypnose zur Bewältigung fokal-dystoner Probleme eröffnet, so sollten wir vorerst noch einmal vor Augen bringen, was denn korrigiert werden soll. Korrigiert werden soll die (kontextabhängige, task-spezifische) Verminderung des «Fremdspannungsabstands», die eben einer erworbenen Abhängigkeit der Finger entspricht. Dies bedeutet zugleich eine Korrektur der ungünstigen Wahrnehmungs- und Verhaltensdisposition, also der sensomotorischen Fehlneigung. Daraus folgt auch, dass grundlegende instrumentalpädagogische und -didaktische Gesichtspunkte zur Optimierung und Entwicklung der Spieltechnik – in Richtung einer zunehmenden Unabhängigkeit der Finger nämlich – auf demselben Kontinuum angeordnet sind, wie die Behebung dystoner Symptome. Wenn wir nun also den Signal-Rausch-Abstand vergrössern und somit die Unabhängigkeit der Finger fördern wollen, müssen wir zunächst die Hindernisse betrachten, die dem im Wege stehen. Im Wege steht all dies, was Wahrnehmung und Korrektur der Fehlspannungen und -bewegungen erschwert: Tempo, und kinästhetische Unachtsamkeit. Nun eröffnet aber die Hypnose Möglichkeiten veränderter, z. B. gesteigerter, Körperbewusstheit, die auch posthypnotisch genutzt werden können, wobei wiederum das Setzen von Ankern und die Anwendung selbsthypnotischer Verfahren nützlich sind. Dadurch können feinere Spannungen und Bewegungen rechtzeitig – im Entstehen – wahrgenommen, und dann unterlassen bzw. korrigiert werden. Das gelingt nur im langsamen Spiel – besonders im langsamen, fortlaufend achtsam korrigierenden Wiederholen dystonieträchtiger Figuren. Die Möglichkeit besonders lebhafter Vorstellung in allen Sinnesbereichen in Hypnose kann genutzt werden zum störungsfreien, korrekten Durchexerzieren in der Als-ob-Realität der Trance, wodurch die nachfolgende Arbeit am Instrument vorbereitet und erleichtert wird. Beim Spiel empfiehlt es sich, auf grösstmögliche Flexibilität („Gummifinger“, variable Kraft etc.) und besonnenes Anschlagen zu achten, bei weitestmöglichem Loslassen/Entspannen der übrigen Muskeln. Solches Vorgehen fördert einerseits die Kontrolle des anschlagenden Fingers (Nutzsignal), und reduziert gleichzeitig das Störsignal. Dabei können auch, bei wiederholt angeschlagener Taste, andere Finger auf Freiheit der Bewegung (mittels Leerbewegungen) getestet, und so in ihrer Gelöstheit gefördert werden, wobei gleichzeitig – also während des Spielens – die Spannung der übrigen Muskeln durch Anwendung einer selbsthypnotischen Rapidentspannungstechnik reduziert werden kann. Günstig ist es bei all diesen Übungen, die Dynamik etwa um mf anzuordnen – sich also meist zwischen p und f zu bewegen: Zu grosse Kraft verhindert die Wahrnehmung feiner Störsignale; bei sehr geringer Kraft hingegen ist der Unterschied, also der Abstand zur „Fremdspannung“, zwangsläufig sehr klein. Dennoch soll man auch diese Extremwerte gelegentlich mit einbeziehen. Entscheidend ist dabei immer das langsame Spiel und die wachsame Berücksichtigung der sensorischen Rückmeldung – mechanisches Durchspielen oder Wiederholen ohne solche kinästhetisch-achtsame, fortlaufende Korrektur ist kontraproduktiv! Bezüglich der erforderlichen Langsamkeit soll man keine panische, aber eine konsequente Haltung einnehmen. Es sind nicht allein abstrakte Fingerübungen, sondern gerade auch umgrenzte Passagen herauszugreifen, die bisher besonders von dystonen Symptomen betroffen waren, um diese dann geduldig und möglichst gründlich von allen dystonen Beimengungen zu reinigen – das dürfen auch technisch schwierige Stellen sein. Beharrlichkeit ist unumgänglich. Anders, als bei der Auftrittsangst, ist insgesamt mit Dutzenden von Sitzungen zu rechnen. Man wird zuhause grosse Selbstbeherrschung brauchen, um geduldig an der Vergrösserung des Signal-Rausch-Abstands zu arbeiten, und nicht in den Kardinalfehler zu verfallen, jeweils „auszuprobieren, ob’s wieder geht“ – die Versuchung ist immens. Solange das gestörte Gleichgewicht der Dystonie (denn das ist durchaus, leider, eine Form von Gleichgewicht!) noch dominiert, muss jede unnötige Aktivierung entsprechender Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster unterbleiben – das entscheidet über Erfolg und Misserfolg. Das bedeutet unter anderem auch, dass man einige Monate lang nicht auftreten darf.

Bedenken übrigens, man würde sich auf den oben skizzierten Lösungswegen im Vielen verlieren, und sozusagen dauernd das Bewusstsein aufrechterhalten müssen, wie man die Schnürsenkel bindet, sind unangebracht. So, wie die einmal etablierten dystonen Reaktionen nur deshalb immer wieder auftreten, weil die ursprünglich vielen einzelnen Fehlsteuerungen sich durch Gewohnheit zu einer sensomotorischen Fehlhaltung vereinigt haben, die dann dazu neigt, sich selbst in der Spielpraxis aufrechtzuerhalten: Gerade so kann die kinästhetisch achtsame Korrektur an vielen Einzelbeispielen und -übungen sich durch Gewohnheit wieder zur – ökonomischeren, also naturnäheren, und dadurch eigentlich veränderungsresistenteren – gesunden Disposition vereinigen. Diese ökonomische, gesunde Haltung, ist eine wesentliche Basis jedes hervorragenden Instrumentalspiels. So kann es also ohne weiteres sein, dass man durch die geschilderten Massnahmen letztlich mehr erreicht, als nur den Rückbau des Problems: einen Zugang nämlich zu einer optimierten Spieltechnik und einem sich selbst erhaltenden, neuen Gleichgewicht, das sich durchaus auch wieder gegenüber gelegentlichem Forcieren und Vorausgaben (etwa beim Auftritt) als robust erweist. Man merkt es dann wieder, dass die Natur ja sehr wohl zur heilsamen Selbstorganisation neigt: Es fällt ihr im Grunde schwerer, in das gestörte Gleichgewicht der fokalen Dystonie zu verfallen, als sich im wiedererlangten gesunden Gleichgewicht zu erhalten.

Anmerkungen 5 bis 8 

5 Es erscheint durchaus naheliegend, allgemeine Verspannungen und ungerichtete Muskelaktivitäten als eine Art „Rauschen“, die auffallenden dystonen Fingerbewegungen als „impulsartige Einstreuungen“ zu verstehen. Beides zusammen entspräche dann – auf dem Feld der Elektroakustik – etwa dem „Störsignal“ bzw. der „Fremdspannung“.

6 Motorische Aktionen – etwa jene am Instrument – werden kontrolliert, beeinflusst, verändert durch die blitzschnelle Berücksichtigung pausenloser Rückmeldungen sensorischer Art: visueller, akustischer, taktiler und insbesondere propriozeptiver. Letztere sind solche, welche die Wahrnehmung der Lage, der Kraft bzw. der Muskelspannung, sowie die kinästhetische Wahrnehmung im engeren Sinne (also jene der Bewegung) betreffen. Aufgrund dieses engen Zusammenwirkens spricht man folgerichtig von sensomotorischen Vorgängen.

7 Die Kontextabhängigkeit von motorischen Aktionen können wir uns in ganz alltäglichem Zusammenhang verdeutlichen: Wer kennt nicht die merkwürdige, plötzliche Hemmung des Gehapparates beim Betreten einer stillstehenden Rolltreppe? Die Umgebungsreize versetzen uns hier offenbar in einen anderen Rahmen, mit anderen Erwartungen und anderen Reaktionsmustern. Bewegt sich hingegen die Rolltreppe ganz normal, oder betreten wir eine normale Treppe, so tritt diese seltsame Hemmung nicht auf.

8 Der schon erwähnte Zusammenhang übrigens zwischen dem Übpensum und dem Auftreten fokaler Dystonien (Rozanski et al., 2015) bedarf m. E. einer dringenden Erläuterung: Ob und wie sehr ein grösseres Übpensum dystonieförderlich ist, hängt vom Grad der sensomotorischen Fehlneigung (als einer sogenannten Moderatorvariablen) beim Üben ab! Der von der Forschung gefundene Zusammenhang ist kein direkter, sondern ein indirekter: Es ist unbezweifelbar, dass langdauerndes – und vor allem: zu schnelles! – Üben die kinästhetische Unachtsamkeit, und somit das Übersehen von Verspannungen und kleinen motorischen Fehlhandlungen, fördert. Dadurch wird eine ungünstige Neigung etabliert, und zudem eine grundsätzliche Verspannung gefördert, wobei letztere ihrerseits die bewusste Wahrnehmung feiner sensorischer (v. a. kinästhetischer) Störsignale erschwert. Es ist ja nicht so, dass bei zu schnellem Spielen lediglich eine Sedimentation der unvermeidlichen Unsauberkeiten oder Fehlbewegungen stattfindet: Das würde einfach dazu führen, dass immer mehr unnötige Anschlagsbewegungen gemacht werden. Nein: Es ist ja ein sowohl auditives, wie auch ein visuelles und taktiles, halbbewusstes Wahrnehmen der Fehler da, begleitet von fortlaufenden Korrekturversuchen und Korrekturen irrtümlicher Korrekturen – ein fälschlich gestoppter Finger muss (gegen seinen noch aktiven Gegenspieler) verstärkt betätigt, ein anderer dagegen zurückgerufen werden etc. Durch die Überlagerung von Aktionen und Gegenkräften ist einerseits eine Erhöhung der Verkrampfungsbereitschaft – wohl auch überhaupt des durchschnittlichen Tonus der Muskulatur – zu erwarten, als eine Art Sediment derartiger Praxis. Andererseits wird das zahllos wiederholte agonistisch-antagonistische Zusammenwirken (beugen-strecken) gleichsam eingeübt – also habituell, und folglich im entsprechenden Zusammenhang automatisch ausgelöst, was zu immer häufigeren Fehlaktionen der Finger führt. Sobald eine solche ungünstige Neigung einmal etabliert ist, dann wird natürlich die exzessive Anwendung derselben – also ein hohes Übpensum – die motorischen Störungen verstärken.

 

Hans Ph. Pletscher

… ist lic. phil. Psychologe, als solcher seit 9 Jahren an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (derzeit mit Lehrauftrag) sowie in eigener Praxis tätig, hat nach dem Klavier- und Gesangsstudium (Lehrdiplom) als dipl. Musiklehrer SMPV über viele Jahre beide Fächer unterrichtet, ist zertifiziertes Mitglied ärztlich-psychologischer Hypnosegesellschaften (DGH, ISH) mit langjähriger Hypnoseerfahrung, Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Musik-Medizin (SMM) und Kolumnist bei den Schaffhauser Nachrichten.

 

Bibliographische Angaben

Frucht, S. J. (2015). Evaluating the musician with dystonia of the upper limb: a practical approach with video demonstration. Journal of Clinical Movement Disorders [Online]. Available: https://clinicalmovementdisorders.biomedcentral.com/articles/10.1186/s40734-015-0026-3

Hofmann, Josef (1976). Piano Playing. New York: Dover. (Original erschienen 1920)

Ionnau, C. I., Furuya, S. & Altenmüller, E. (2016). The impact of stress on motor performance in skilled musicians suffering from focal dystonia: Physiological and psychological characteristics. Neuropsychologia, 85, 226-236.

Jäncke, L. (2004). Hand und Hirn bei Pianisten und Streichern. In Schweizerische Gesellschaft für Musik-Medizin (Hrsg.), SMM Symposium 23.10.2004: Die Hände des Musikers (S. 33-40). Farnern: SMM.

Pandey, S. (2015). A practical approach to management of focal hand dystonia. Annals of Indian Academy of Neurology, 18(2), 146-153.

Paulig, J., Jabusch, H.-C., Grossbach, M., Boullet, L. & Altenmüller, E. (2014). Sensory trick phenomenon improves motor control in pianists with dystonia: prognostic value of glove-effect. Frontiers in Psychology [Online]. Available: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4172087/

Rozanski, V. E., Rehfuess, E., Bötzel, K. & Nowak, D. (2015). Task-specific dystonia in professional musicians. Deutsches Ärzteblatt International, 112, 871-877.

Spahn, C., Richter, B. und Altenmüller, E. (2011). Musikermedizin: Diagnostik, Therapie und Prävention von musikerspezifischen Erkrankungen. Stuttgart: Schattauer.

 

Der Generalbass von 1600 bis 1800

Siegbert Rampe unterteilt den fraglichen Zeitraum in drei Abschnitte und löst in seinem Lehrbuch viele praktische Fragen anhand von Beispielen.

Strittiger Punkt: Orgel-Pedalspiel. Foto: Notre-Dame du Taur, Toulouse. Bastien Milanese/flickr.com

Lange haben Musiker, Theoretiker und Studierende, vor allem Ensemble-Leiter auf eine umfassende, historisch fundierte Darstellung ihrer kniffligen praktischen Fragen warten müssen. Siegbert Rampe hat sich mit detaillierter Kenntnis der Quellen und Sekundärliteratur dieser Aufgabe unterzogen, nicht ohne auf das für Tastenspieler beste Lehrbuch nach zeitgenössischen Quellen für das 18. Jahrhundert von Jesper Bøje Christensen (Kassel usw. 1992, 62012) zu verweisen. Rampe unterteilt sein Buch in drei Zeitabschnitte, 1600–1650, 1650–1750 und 1750–1800, die sich grundlegend voneinander unterscheiden, wobei die Grenzen natürlich fliessend sind. Typisch für die Frühzeit sind drei Punkte: 1) Generalbässe ohne oder mit rudimentärer Bezifferung herrschten vor. 2) Die Stimmenzahl konnte ohne die spätere Norm der Vierstimmigkeit innerhalb desselben Satzes extrem schwanken, wobei diese Stimmen gleichmässig auf beide Hände zu verteilen und vollgriffiges Spiel auf dem Cembalo beliebt war. 3) Das Instrumentarium war noch sehr bunt, u. a. mit Zupfinstrumenten sowie tiefen Streichinstrumenten (in 8- und 16-Fuss-Lage) aller Gattungen, Posaune, Organi di legno und Regal. Die Verteilung auf beide Hände hat Rampe wiederholt mit der irreführenden Bezeichnung «weiter Satz» versehen. Reiche Notenbeispiele früher Musteraussetzungen in modernisierter Notation helfen den Benutzern, richtige Konsequenzen daraus zu ziehen. Bei italienischen Orgeln wäre darauf zu verweisen, dass die meisten über kein Pedal oder nur wenige, festangekoppelte Fusstritte verfügten und dass die untere Begrenzung der Manuale zwischen kleinen und grossen Instrumenten nicht genormt war und bei f, c, F, C, F1, C1 oder (selten) noch tiefer liegen konnte.

Rampe räumt im zweiten Teil auf mit festgefahrenen Besetzungsmeinungen: Die gewöhnliche Bezeichnung Sonate a violino e violone o cimbalo (Corelli op. 5), Generalbass für Streichinstrument (Gambe/Violoncello) oder Tasteninstrument (S. 79) ist wörtlich zu verstehen (was ein und nicht ausschliesst), gilt auch ausserhalb Italiens und im 18. Jahrhundert, wobei Akkordspiel des Streichbasses möglich ist, z. B. in Rezitativen (Notenbeispiel S. 167). Reichere Bassbesetzung je nach Ensemblegrösse bleibt als Möglichkeit. Üblich bei Kirchenmusik war die Begleitung der grossen Orgel, aber nicht wie heute eines Positivs. Der Anteil an Orgel-Pedalspiel ist unter Fachleuten umstritten, wobei Rampe für viel Pedal eintritt und das auf vielen grossen Orgeln vorhandene Register «Musiziergedackt» im Kammerton (2 oder 3 Halbtöne unter dem Chorton) verschweigt. – Bei Secco-Rezitativen war die Verkürzung langer Bassnoten auf kurze Akkorde (inklusive Bass) beherrschende Praxis, auch bei Johann Sebastian Bach. Diese Streitfrage in der Sekundärliteratur wird von Rampe ausführlich dargestellt und gelöst, wobei das Accompagnato-Rezitativ von ihm erst auf Seite 193 behandelt wird, wahrscheinlich weil nicht strittig. – Viele Notenbeispiele für «manierlichen Generalbass» geben den Praktikern reiche Anregungen.

Im dritten Teil wird die angeschwollene Anzahl Lehrbücher mit dem wachsenden Anteil gut betuchter Musikliebhaber erklärt. Nicht thematisiert wird deren Bedeutung auch rückwärts für die Barockepoche. So ist Carl Philipp Emanuel Bachs Generalbassschule von 1762 auch für die Zeit vor 1750 erhellend, denn die Kantaten seines Vaters wurden ihm nicht nur zur ausgebeuteten Leitlinie des eigenen Kantaten- und Passionen-Schaffens, er machte sie auch zum gängigen Repertoire, als er 1768 Musikdirektor der fünf Hauptkirchen in Hamburg wurde. – Rampe hat die mangelnde Qualität von Kirnbergers Aussetzung der Triosonate im Musikalischen Opfer nicht erkannt oder nicht benannt (S. 188). Er bleibt auch (S. 197) bei seiner wohl nicht zutreffenden Datierung von Bachs Tripelkonzert in a-Moll. In meinem Bach-Buch habe ich dies ausführlich und begründet dargestellt. Im Ganzen bleibt jedoch seine Leistung um die vielfältigen Einzelfragen eines für die Praxis wichtigen Themas positiv und lesenswert.

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Siegbert Rampe: Generalbasspraxis 1600–1800,
(= Grundlagen der Musik 5), 262 S., € 29.80,
Laaber-Verlag, Laaber 2015, ISBN 978–3–89007–829–8

Spritzig und liebevoll

Das Trio Fontane und das Sinfonie-Orchester Biel Solothurn präsentieren Musik von Robert Radecke. Sowohl die Kammer- wie die grosse Formation interpretieren mit grossem Können und Musizierfreude.

Trio Fontane. Foto: zVg,Robert Radecke,Robert Radecke,Robert Radecke,Robert Radecke,Robert Radecke,Robert Radecke

Robert Radecke (1830-1911) ist kein Unbekannter, aber doch ein Name, der Fragen aufwirft. Ist er ein Musiker, ein Dirigent oder doch ein Komponist? Nun, Radecke tat sich hervor als Dirigent im Berlin der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ab 1853 wirkte er als zweiter Geiger mit im bekannten Quartett von Ferdinand Laub, gleichzeitig machte das Multitalent Furore als virtuoser Pianist mit Beethovens späten Klaviersonaten. Mehr Zeit zum Komponieren hätte der umtriebige Radecke gern gehabt – da ging es ihm wenig anders als seinen viel beschäftigten Kollegen Gustav Mahler oder Richard Strauss.

Wenigstens ein schmales Œuvre kam zustande. Das 2002 gegründete Schweizer Trio Fontane stellt drei Klaviertrios des Komponisten Radecke vor. Gute Musik ist es, von Leerlauf keine Spur, handwerklich auf hohem Niveau. Stilistisch bewegt sich Radecke zwischen Robert Schumann und einer klassizistischen Romantik. Damit bekennt er sich nicht zur fortschrittlich gesinnten neudeutschen Schule im Gefolge Richard Wagners oder Franz Liszts.

Trotz des unverkennbaren Traditionalismus zeichnet das Trio Fontane ein spritziges Bild von Radeckes Musik. Einen eleganten, erwachsenen Ton pflegen Noëlle Grüebler an der Violine und Jonas Kreienbühl am Cello. Andrea Wiesli begleitet am Flügel unaufgeregt, dabei sehr einfühlsam, ohne zu sehr einer – stellenweise durchaus nahe liegenden – romantischen Süffigkeit zu verfallen. Die Tontechniker fanden eine gute dynamische Balance. Sie tragen dazu bei, dass die im Hause cpo erschienene Produktion Hörspass mit sich bringt.

Sicher in Ton und Tempi präsentiert sich auch das Sinfonie-Orchester Biel Solothurn (SOBS), das auf einer weiteren Radecke-CD vier Orchesterstücke erstmals einspielte. In der Sinfonie in F-Dur für Orchester op. 50 von 1877 ist der Schumann Einfluss wiederum unüberhörbar; das helle Klangbild und die liedhafte Thematik erinnern stark an dessen Sinfonik, insbesondere an die Rheinische. Liebevoll und mit dem nötigen Detailsinn studierte das SOBS unter der Leitung des 1970 in Riggisberg geborenen Kaspar Zehnder nicht nur die Sinfonie ein, sondern auch Radeckes ungleich düsterere Ouvertüre Shakespeares König Johann op. 25 sowie ein Nachtstück op. 55 und Zwei Scherzi op. 52. Solch herausragende Interpretationsqualität, ausgezeichnet mit fünf Diapasons, sollte ein Argument zum Erhalt des Orchesters sein. Nach jetzigem Stand hängt das Damoklesschwert weiter über dem Klangkörper. Die Stadt Biel müsse sparen, heisst es. Mehr als ein Viertel der Bieler unterschrieben 2015 eine Petition gegen die Schliessung. Möge es nützen!

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Trio in As-Dur für Klavier, Violine und Violoncello op. 30
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Fantasiestücke für Violoncello und Klavier op. 7
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Bruno Spoerri mit Swiss Jazz Award geehrt

Die Fachjury des Swiss Jazz Award hat sich entschieden, bei der elften Vergabe auf eine Publikumswahl zu verzichten und Bruno Spoerri den Preis für sein Lebenswerk zuzusprechen.

Bruno Spörri (Bild: JazzAscona)

Der 81-jährige Bruno Spoerri ist aus der Schweizer Jazzszene nicht wegzudenken. Als Jazzmusiker, insbesondere als Saxofonist, zählt er zu den grossen Persönlichkeiten dieses Genres. Im Bereich Elektronischer Musik wirkte Spoerri als Pionier, der seiner Zeit stets voraus war.

Er spielte in seiner über 60-jährigen Musikerkarriere mit zahlreichen wichtigen Musikern in verschiedenen Formationen zusammen und war neben Europa auf Tourneen in Asien und Afrika. Spoerri machte sich zudem als Filmmusikkomponist einen Namen.

Der Swiss Jazz Award wurde 2007 von Radio Swiss Jazz zusammen mit JazzAscona als Publikumspreis zur Förderung der Schweizer Jazzszene ins Leben gerufen. Er wird unterstützt vom Migros-Kulturprozent. Die Übergabe an Bruno Spoerri soll am 25. Juni 2017 im Rahmen des Festivals JazzAscona erfolgen.

Die Jury bestand aus: Beat Blaser (Musikredaktor Radio SRF 2 Kultur/Jazz), Andrea Engi (Präsident Jazz Club Chur und Swissjazzorama), Nicolas Gilliet (Leiter JazzAscona), Markus Hauser (Hotel Hauser, Festival da Jazz, St. Moritz), Pepe Lienhard (Bandleader, Saxofonist und Arrangeur) Sai Nobel (Musikredaktorin Radio Swiss Jazz), Mirko Vaiz (Projektleiter Musik des Migros-Kulturprozent, Migros-Genossenschafts-Bund)

Verlorene Stimmen aus dem Mittelalter

Der Sänger und Harfenist Benjamin Bagby ist seit 1977 Leiter des Ensembles Sequentia und gilt als Pionier in der Rekonstruktion mittelalterlicher Lieder. Nun wurde er in Basel mit dem REMA Early Music Artist Award ausgezeichnet.

v.r.: Benjamin Bagby, Hanna Marti, Norbert Rodenkirchen (Foto: Joachim Ritter)

Benjamin Bagby ist ein Puzzler. Seine Bauteile sind frühmittelalterliche Handschriften, die in Klosterarchiven und Bibliotheken liegen, gut versteckt und längst vergessen. Er stöbert sie auf und versucht sie in enger Zusammenarbeit mit Musikwissenschaftlern und Philologen zusammenzusetzen – immer mit der Frage im Hinterkopf, wie es damals geklungen haben könnte. Musikforschung ist so für einmal ganz unmittelbar zu erleben. Dabei beschäftigt sich Bagby in seinem Projekt Lost Songs nicht mit der bekannten Gregorianik, sondern mit der Tradition des singenden Erzählers ausserhalb der christlichen Liturgie. Schon seit 30 Jahren ist er in dieser Mission unterwegs. Begonnen hat das Projekt mit der Rekonstruktion des Beowulf-Epos. Dieses Heldengedicht geht vermutlich zurück auf das 6. Jahrhundert und ist in einer anonymen Handschrift aus der Zeit zwischen 975 und 1025 überliefert. Es ist wohl das älteste Zeugnis altenglischer Literatur. Grosse Popularität hat es durch die Herr der Ringe-Trilogie von J.R.R. Tolkien erlangt. Bagby setzt die Geschichte mit deutlich reduzierten Mitteln um. Nur mit Gesang und einer kleinen Mittelalter-Harfe auf den Knien nimmt er die Rolle des bardischen Geschichtenerzählers und Rezitators ein. Das Kernproblem seiner Rekonstruktionsversuche beschreibt er selbst auf der Website des Lost Songs-Projekts: «Eine schriftliche Quelle kann immer nur eine Version (und wahrscheinlich nicht unbedingt die beste Version) eines Textes abbilden, der einer mündlichen Tradition entspringt, die permanent im Fluss ist.» Bagbys Puzzles sind also stets hypothetisch, und diese experimentelle Annäherung an eine verlorene Kunst schafft einen faszinierenden Dialog mit der Vergangenheit, der gleichzeitig die Fantasie anregt.

Erstmals seit 1000 Jahren zu hören

Auch in Bagbys neuestem Programm der Lost Songs-Reihe ist das der Fall. Unter dem Titel Monks Singing Pagans (zu deutsch: Mönche singen Heiden) sind Texte aus sehr verschiedenen Quellen versammelt: von Zaubersprüchen aus dem 9. Jahrhundert bis hin zu der Liedersammlung Carmina Burana aus dem 13. Jahrhundert. Eine weniger bekannte, mystische Facette des Mittelalters wird dabei erlebbar, jenseits des Gaukler-Kitschs. Davon konnte sich das Basler Publikum am 17. März im Rahmen der Konzertreihe Freunde alter Musik Basel in der vollbesetzten Predigerkirche überzeugen. Hanna Marti (Gesang und Harfe) und Norbert Rodenkirchen (Knochenflöten und Holzflöten) schufen gemeinsam mit Benjamin Bagby eine innige Klangatmosphäre. Dabei war jederzeit zu spüren, dass die Musik hier vor allem Mittel ist, um die Texte und Geschichten emotional und lebhaft rüberzubringen. Die Übersetzungen der zum Teil sehr kuriosen Texte liessen sich dank Untertitelung mitlesen. Ein sächsisches Taufgelöbnis für konvertierte Heiden mahnte dazu, dem Teufel abzuschwören. Ein angelsächsischer Zauberspruch gegen Geschwüre lehrte Zysten, Beulen und kleinen Furunkeln das Fürchten und ein Neunkräutersegen beschwor Kerbel und Fenchel als Allheilmittel.

Ebenfalls auf dem Programm stand die Aufführung mehrerer Lieder, deren Melodien aus einem Cambridger Manuskript des frühen 11. Jahrhunderts rekonstruiert wurden. Eine Sensation! Denn die Lieder, die auf der Textsammlung Consolatio philosophiae (Trost der Philosophie) des Philosophen Boethius beruhen, waren nach 1000 Jahren erstmals wieder zu hören. Zu verdanken ist das dem Musikwissenschaftler Sam Barrett, der sich an der Cambridge Universität schon seit 20 Jahren mit der Entzifferung der Manuskripte beschäftigt. Gemeinsam mit Sequentia hat er die Aufführung der Lieder erarbeitet, die 2016 erstmals dargeboten wurde. Die praktische Erfahrung der Musiker war für Barrett essenziell, um verschiedene Versionen auszuprobieren, wie er in einem Interview erklärt.

Über eine Million verkaufter Platten

Jetzt wurde Bagby für sein bisheriges Schaffen mit dem REMA Early Music Artist Award geehrt. In seiner Dankesrede lobte er besonders den hohen Stellenwert der Schola Cantorum Basiliensis, an der auch er studiert hat und wo er die Sängerin Barbara Thornton kennenlernte.

1977 gründeten sie ebenda gemeinsam das Ensemble Sequentia. Bis zu Thorntons verfrühtem Tod im Jahr 1998 leiteten die beiden Sänger, die auch privat ein Paar waren, das Ensemble gemeinsam. Einen fixen Musikerkern gibt es bis heute nicht. Stattdessen variiert die Besetzung von 2 bis zu 16 Musikern, je nach Projekt. Das erfolgreichste Projekt des Ensembles war die Einspielung mehrerer CDs mit Musik von Hildegard von Bingen Anfang der Neunzigerjahre. Eine davon, mit dem Titel Canticles of Ecstasy, wurde mit internationalen Preisen ausgezeichnet (unter anderem Disque d’Or- und Grammy-Nominierung) und verzeichnet weltweit über eine Million verkaufter Exemplare. So erreichen die von Benjamin Bagby zum Leben erweckten Stimmen aus der Vergangenheit nicht nur Experten für Alte Musik, sondern auch ein breites Publikum.
 

St. Galler Kantonsrat behandelt Musikunterricht

Eine Kommission des St. Galler Kantonsrates hat die Verankerung des freiwilligen Instrumental- und Vokalunterrichts im Volksschulgesetz und im Mittelschulgesetz beraten. Sie will ihn als Angebotspflicht in den Gesetzen verankern und stellt fest, dass die Tarifunterschiede zwischen den Musikschulen im Kanton zu gross sind.

St. Gallen (Foto: zaubervogel / pixelio.de)

Mit der Motion «Gesetz über die musikalische Bildung im Kanton St.Gallen» vom November 2015 beauftragte der Kantonsrat die Regierung, ihm eine Vorlage zur Umsetzung des neuen Bundesverfassungsartikels zur Stärkung der musikalischen Bildung im Kanton St.Gallen zu unterbreiten.

Die Kommission stellt fest, dass der musikalischen Bildung im Schulunterricht im Kanton St.Gallen «bereits heute ein angemessener Stellenwert eingeräumt wird». Sie teilt die Auffassung der Regierung, dass in diesem Bereich der Verfassungsauftrag erfüllt ist und ergänzende Regelungen im kantonalen Recht nicht erforderlich sind. Hingegen erachtet es die vorberatende Kommission mit der Regierung als notwendig, den Instrumental- und Vokalunterricht im Gesetz zu verankern. Entsprechend soll im Volksschulgesetz und im Mittelschulgesetz eine Angebotspflicht für freiwilligen Instrumental- und Vokalunterricht vorgesehen werden. Dieser Unterricht soll auch den Berufsfachschülerinnen und -schülern mit Wohnsitz im Kanton St.Gallen offenstehen.

Das eidgenössische Kulturförderungsgesetz verlangt von Musikschulen reduzierte Schulgeldtarife für Jugendliche. Dieser Vorschrift leben die Musikschulen im Kanton St.Gallen bereits nach. Die Kommission hält jedoch fest, dass die Tarifunterschiede zwischen den Schulen zu gross sind. Sie akzeptiert aber hier die Gemeindeautonomie. Da die 32 Musikschulen im Übrigen das Kantonsgebiet praktisch lückenlos abdecken und auch Jugendliche in einer Berufslehre mit einem reduzierten Schulgeld zum Vokal- und Instrumentalunterricht zulassen, sei auch das Angebotsobligatorium bereits erfüllt.
 

Lukas Huber erhält Basler Kulturförderpreis

Der Kanton Basel-Stadt ehrt den 27-jährigen Komponisten und Medienkünstler Lukas Huber mit dem mit 10’000 Franken dotierten Basler Kulturförderpreises 2017.

Lukas Huber (Bild: zvg)

Lukas Huber wurde 1990 in Breitenbach (SO) geboren und ist seit 2012 wohnhaft in Basel. Er studierte Musik und Medienkunst und absolvierte von 2012 bis 2015 einen Masterstudiengang in Contemporary Arts Practice an der Hochschule der Künste Bern. Seine Konzeptband UFO legte unlängst beim Basler Label A Tree in a Field Records ihr Album «III» vor. Huber schrieb für das Theater Basel Musiken sowie als Auftragswerk der Basel Sinfonietta 2016 das Orchesterwerk «Tzaudanne».

Sein neuestes Projekt ist das zusammen mit dem Choreografen Daniel Hellmann produzierte Stück «Requiem for a Piece of Meat», das am 23. März im Theaterhaus Gessnerallee in Zürich uraufgeführt und vom 5. bis 7. April 2017 in der Gare du Nord in Basel gezeigt wird. Derzeit in Vorbereitung ist ein Musiktheaterwerk, das im Frühjahr 2018 in Hamburg Premiere hat.

Die Jury hebt in ihrer Begründung insbesondere «Hubers beständiges Hinterfragen der Rolle des Komponisten und dessen Autorität hervor, zudem seine Vernetzung und gemeinsame Arbeit mit anderen Kulturschaffenden». Sie unterstreicht seinen «gleichermassen virtuosen wie reflektierten Umgang mit unterschiedlichsten Sprachen und Medien ebenso wie sein beständiges Experimentieren mit Methoden und Konzepten».

Der Basler Kulturförderpreis zeichnet «zukunftsweisende, impulsgebende Künstlerpersönlichkeiten und Initiativen» aus. Damit versteht er sich als Ergänzung zum Basler Kulturpreis. Die bisherigen Kulturförderpreise gingen an Simon Krebs (2016), Firma für Zwischenbereiche (2015), Gregor Brändli (2013) und Depot Basel (2012).

St. Galler Regierung will Theater renovieren

Die St.Galler Regierung hat die Botschaft zur Erneuerung und zum Umbau des Theaters St.Gallen verabschiedet. Das in den 1960er-Jahren erbaute Theater befindet sich heute in einem schlechten Zustand. Die Regierung beantragt dem Kantonsrat einen Kredit von 47.6 Millionen Franken für dessen Instandsetzung.

Theater St. Gallen (Foto: Andreas Praefcke)

Nicht nur die Verglasung im Foyer zum Stadtpark hin, auch alle Eingangstüren des Haupteingangs müssen ersetzt und ein Teil der Fassade erneuert werden. Auch die Flachdächer werden instandgesetzt und die Lifte an heutige Normen angepasst. Ein Grossteil der Haustechnik – von den Elektroinstallationen über die Heizungs-, Lüftungs- und Klimaanlagen bis zu den Sanitäranlagen – müssen erneuert werden. Die Anlagen der Bühnentechnik werden komplett ersetzt. Die Winden werden instandgesetzt und die verbliebenen Handzüge durch elektrische Winden ersetzt. Die Theaterbestuhlung wird erneuert und der Sitzkomfort verbessert.
Der zusätzliche Raumbedarf verlangt eine Erweiterung des Theatergebäudes um 750 Quadratmeter. Mit dem zusätzlichen Platz können die aktuellen Arbeitsplatzvorschriften erfüllt und angemessene Künstlergarderoben und Maskenräume zur Verfügung gestellt werden. Die Arbeitsräume im Untergeschoss werden mit Tageslicht versorgt. Die Decke im Bühnenbildlager wird erhöht, damit Bühnenbilder Platz finden. Dasselbe gilt für den Ballettsaal, wo ein zeitgemässer Probebetrieb möglich wird. Aus baulichen und betrieblichen Gründen kann der Anbau nur an der nordwestlichen Gebäudeecke entstehen.

Über den Zeitraum zweier Spielsaisons wird der Theaterbetrieb in ein Provisorium verlegt, das zwischen dem Kunstmuseum und dem Historischen und Völkerkundemuseum erstellt wird. Der temporäre Bau besteht aus einem Publikums-, einem Bühnen- und Backstage-Bereich. Für die Planung des Provisoriums wurde die Anzahl der Sitzplätze von 700 auf 500 reduziert. Die Kostenschätzung für das Provisorium beträgt 4.5 Millionen Franken. Stimmt der Kantonsrat dem Vorhaben zu, starten die Instandsetzungsarbeiten im Sommer 2019. Die Arbeiten am Gebäude dauern zwei Jahre.
 

Mittsommerfestival an den Simmenfällen

Die Schweizer Open-Air-Festival-Landschaft ist um einen Anlass reicher: Vom 23. Bis 25. Juni wird im Berner Oberland an den Simmenfällen zuhinterst an der Lenk erstmals das Mittsommerfestival stattfinden.

Festivalgelände des Mittsommerfestivals (Bild: zvg)

Die Idee zum Festival stammt von Reto Zürcher, Mitbesitzer des Hotel Restaurants Simmenfälle. Zusammen mit den Berner Musikern Nik Rechsteiner und Urs Widmer realisiert er den Musikevent vom 23. bis 25. Juni zum ersten Mal.

Am Freitag eröffnet der Lokalmatador Rumble Jim mit Rockabilly und Musik aus den 1950er-Jahren auf einer Aussenbühne das Festival. Headliner des Abends ist der Berner Multiinstrumentalist Mich Gerber, der musikalische Brücken zwischen Orient und Okzident, zwischen Urban, Klassik und Jazz, zwischen alter und neuer Musik schlägt.

Am Samstag werden unter anderem die Thuner Rockband The Souls, die Berner Rap-Truppe Churchhill und Troubas Kater auftreten. Internationales wird im Saal des Restaurants Simmenfälle zu hören sein, mit dem Isländer Mani Orrason und der Britin Fenne Lily.

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