Britisch-schweizerische Sinfonikerin

Ruth Gipps war eine unglaublich vielseitige Musikerin, die hierzulande kaum bekannt ist. Auf der vorliegenden CD kann man sie als Komponistin von opulenten, emotional ergreifenden Orchesterwerken erleben: Sinfonien Nr. 2 und 4, Song for Orchestra, Knight in Armour

Ruth Gipps. Foto: Courtesy of the Ruth Gipps Collection

Fast trotzig hielt man in Grossbritannien im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an der traditionellen tonalen, meist viersätzigen Sinfonie fest. Von der grossen Zahl an britischen Werken dieser Gattung konnten sich auf dem Kontinent allerdings fast nur diejenigen von Ralph Vaughan Williams und William Walton einigermassen etablieren. Die Sinfonien so hervorragender Komponisten wie Arnold Bax, York Bowen oder Michael Tippett werden hierzulande kaum zur Kenntnis genommen, geschweige denn aufgeführt. Dass auch eine Komponistin – Ruth Gipps – in diesem Bereich Bemerkenswertes geleistet hat, dürfte sogar den meisten Kennern der britischen Musik entgangen sein. Chandos hat jetzt eine CD mit ihrer 2. und 4. Sinfonie und zwei kurzen Orchesterwerken veröffentlicht, was sehr verdienstvoll ist, weil hier eine wirkliche Repertoirelücke geschlossen wird.

Ruth Gipps (1921–1999), deren Musik in Form, Harmonik und Klang ganz in der englischen Tradition steht, ist eine halbe Schweizerin. Ihre Mutter Hélène Johner studierte als angehende Pianistin in Frankfurt, wo sie ihren zukünftigen Mann Bryan Gipps kennenlernte. Sie stammte aus Basel und ihre Mutter war eine Caroline von Weissenfluh aus Meiringen. Ruth zeigte als Kind aussergewöhnliches Talent für die Musik: Ihr erstes verlegtes Klavierstück, The Fairy Shoemaker, komponierte sie mit acht Jahren. Als junge Frau studierte sie Komposition bei Ralph Vaughan Williams und Gordon Jacob, ausserdem Oboe bei Léon Goossens. Sie war so vielseitig begabt, dass sie 1945 bei der Uraufführung ihrer ersten Sinfonie durch das City of Birmingham Orchestra, dessen Mitglied sie damals als Oboistin und Englischhornistin war, nicht nur im Orchester spielte, sondern auch als Solistin das erste Klavierkonzert von Alexander Glasunow interpretierte. Später gründete sie das London Repertoire Orchestra, das sie während Jahrzehnten dirigierte, ein Ensemble, das jungen Berufsmusikerinnen und -musikern die Chance geben sollte, das sinfonische Repertoire kennenzulernen. Ausserdem war sie an drei Musikhochschulen eine geschätzte Kompositionslehrerin.

Alle Werke auf der CD sind hörenswert und werden vom BBC National Orchestra of Wales unter der Leitung von Rumon Gamba virtuos, farbenreich und kraftvoll interpretiert. Gipps’ Musik ist zwar traditionell, aber überhaupt nicht verstaubt: Emotionaler Tiefgang verbindet sich mit Freude an opulentem Orchesterklang, ausserdem mit einer hervorragenden Kenntnis aller Orchesterinstrumente, wobei besonders dem Konzertmeister, der Oboe, dem Englischhorn und dem Horn expressive Soli anvertraut werden. Der Widmungsträger der 4. Sinfonie von 1972, Sir Arthur Bliss, schrieb der Komponistin: «I have been studying the symphony, and the more I do the more I like it.» Dem kann man nur beipflichten.

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Knight in Armour op. 8 (1940)
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Sinfonie Nr. 2 op. 30 Moderato (1945)
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Aus der Verschollenheit aufgetaucht

Das Concertino für Bassposaune und Orchester von Christian Gottlieb Müller bietet eine hochwertige Alternative zu Ernst Sachses Concertino.

Foto: Rich Smith on Unsplash

Der Komponist Christian Gottlieb Müller (1800–1863) ist wohl vielen Musikern ziemlich unbekannt. Vielleicht mag die Tatsache, dass er Richard Wagners Lehrer war, ihm ein bisschen mehr Glanz verleihen. Und dies bestimmt nicht zu Unrecht: Die Partitur des 15-minütigen Bassposaunenkonzerts aus dem Jahre 1832 (schon damals gedruckt bei Breitkopf & Härtel) zeugt von gutem Handwerk, das sich Müller durch das intensive Studium der Werke Beethovens angeeignet hatte. Die Orchesterbesetzung (2-faches Holz, 2 Hrn, 2 Trp, Timp, Streicher), die Tonart (Es-Dur), der kadenzartige Beginn des Soloinstrumentes, die Virtuosität im 3. Satz und viele weitere Merkmale (z. B. Melodieführung in Oktaven zwischen Flöte und Klarinette im 2. Satz) erinnern an das rund 20 Jahre früher entstandene 5. Klavierkonzert seines Idols Ludwig van Beethoven.

Das Concertino galt lange Zeit als verschollen, insbesondere die Orchesterfassung. Nur ein ziemlich fehlerhafter, handschriftlicher Klavierauszug aus den 1950er-Jahren hielt die Erinnerung an das Werk wach. Erst im Jahre 2004 tauchte überraschend ein vollständiger Orchesterstimmensatz auf, welcher die Grundlage für die vorliegende Partitur bildet. Die Einzelstimmen sind als Mietmaterial erhältlich, die Partitur und ein ordentlicher Klavierauszug sind käuflich. Eine wahrlich erfreuliche Alternative zu Ernst Sachses Bassposaunen-Concertino – nicht zuletzt auch für Orchesterprobespiele.
 

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Christian Gottlieb Müller: Concertino für Bassposaune und Orchester Es-Dur, hg. von Nick Pfefferkorn, Partitur PB 33001, € 36.00, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2012/2018

 

 

Bislang unbekanntes Sonatenfragment

Die Komposition seiner Sonate für Violoncello und Klavier fiel Camille Saint-Saëns schwer. Und die Überlieferung hat es auch nicht gut mit ihr gemeint.

Jean-Joseph Benjamin-Constant: Porträt des Camille Saint-Saëns 1898 (Nachweis s. unten)

Die Cello-Literatur enthält mehrere unvollständige Werke bedeutender Komponisten: Mozarts einziges Werk für Violoncello und Klavier, das Andantino cantabile KV 374 g (Anh. 46), blieb Fragment und existiert in mehreren fremden Ergänzungen, von Antonín Dvořáks frühem Cellokonzert in A-Dur sind lediglich die Solostimme und der Klavierauszug überliefert und Othmar Schoeck hinterliess den letzten Satz seiner Cello-Sonate unvollendet.

Diese (unvollständige) Liste kann nun um eine bedeutende Entdeckung erweitert werden: Als Teil der Bärenreiter-Gesamtausgabe von Camille Saint-Saëns’ Werken ist eine bisher unbekannte Cellosonate erstmals veröffentlicht worden. Ein Brief des Komponisten aus dem Jahre 1919 belegt, dass das Werk zu Lebzeiten des Komponisten vollständig aufgeführt worden ist. Trotzdem sind von den angeblich vier komponierten Sätzen lediglich die ersten zwei erhalten, wobei das überlieferte Manuskript des 2. Satzes nach 82 Takten abbricht.

Die Konzeption der Sonate reicht ins Jahr 1913 zurück und Saint-Saëns scheint sich mit der definitiven Niederschrift schwergetan zu haben, wie er 1914 in einem Brief an seinen Verleger Durand schrieb: «Ich arbeite an meinem Duo, das nur mühsam vorangeht. Welch schwer zu behandelndes Genre!»

Wie in den beiden Sonaten op. 32 und op. 123 spielt Saint-Saëns gekonnt mit rhythmisch prägnanten und lyrischen Passagen. Kühne harmonische Wechsel erinnern zudem an die Tonsprache des 1919 entstanden Prière op. 158 für Violoncello und Orgel.

Saint-Saëns’ Cello-Œuvre erfährt durch diese Erstausgabe eine erfreuliche Erweiterung.
 

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Camille Saint-Saëns: Sonate für Violoncello und Klavier D-Dur (unvollständig), Erstausgabe, hg. von Denis Herlin, BA 10910, € 17.95, Bärenreiter, Kassel 

Bildquelle: Musée de la Musique, Paris, Inventarnummer E.995.6.27 / wikimedia commons

Spielpraxis und Schulmusikwissen

Der «Leitfaden Bläserklasse» aus dem Helbling-Verlag verbindet das Erlernen eines Instruments mit schulischen Inhalten. Es geht von wöchentlich drei Lektionen aus.

Foto: Bruno Pego / Unsplash (s. unten)

Das Lehrerhandbuch zum neuen Lehrmittel aus dem Verlag Helbling Leitfaden Bläserklasse kommt mit dem gewichtigen Umfang von mehr als 450 dicht bedruckten Seiten daher. Das Lehrwerk beeindruckt mit einer Fülle äusserst vielfältig und anregend aufbereiteten Materials. Zum Umfang gehören nebst dem Lehrerband Schülerhefte für alle Instrumente des Blasorchesters, Play-alongs und Online-Übehilfen, welche durch einen Code abgerufen werden können, sowie eine CD-ROM mit reichem Zusatzmaterial.

Der Leitfaden Bläserklasse wurde von fünf Autoren gemeinsam entwickelt, die alle Musik auf Gymnasialstufe unterrichten und sowohl über Erfahrung in der Arbeit mit Bläserklassen als auch in der Schulmusik verfügen. Ziel des neuen Lehrmittels ist die Verbindung der in der Bläserklasse heute dominierenden Spielpraxis mit den Inhalten des schulischen Musikunterrichts (Musiktheorie, Gehörbildung, Musik gestalten und erfinden). Das Lehrmittel richtet sich nicht an eine bestimmte Altersgruppe. Es eignet sich wohl für den Einsatz ab der Mittelstufe. Im Lehrerband werden ausführlich das Konzept, die zugrunde liegenden Vorstellungen und Ziele sowie die Methoden in der Arbeit mit den Klassen erläutert.

Der Unterrichtsteil beginnt mit einem Vorkurs, welcher noch ohne Instrumente stattfindet und sich über 3 Einheiten, d. h. ca. 6 Lektionen erstreckt. Anschliessend folgen Basics mit instrumentalmethodischen Grundlagen und dann die Lektionen mit dem Instrument, welche auf zwei Bände mit 23 bzw. 18 Lektionen (1./2. Band) aufgeteilt sind. Jede Lektion bietet Material und vollständig vorbereitete Stundenbilder für 2 Schulstunden.

Das vorliegende Konzept geht von wöchentlich 3 Lektionen erweitertem Musikunterricht, aufgeteilt in 2 Lektionen regulären Musikunterricht mit der ganzen Klasse und 1 Lektion Instrumentalunterricht in Kleingruppen, aus. Wenn weniger Unterrichtszeit zur Verfügung steht, dürfte es schwierig sein, die beiden Bände innerhalb von 2 Schuljahren zu erarbeiten.

Inhaltlich legt das Lehrmittel sehr viel Gewicht auf die Vermittlung von Musiktheorie. Die Grundlagen werden gründlich, aber auch äusserst vielfältig und spielerisch, mit vielen Anregungen für Partner- oder Gruppenarbeiten eingeführt. Gleichzeitig werden die Theorie-Inhalte mit dem praktischen Spiel auf dem Instrument verknüpft und für Kreativaufgaben genutzt. Stets werden die Schülerinnen und Schüler zum praktischen Tun aufgefordert. Pro Lektion (Kapitel) gibt es im Schnitt ein bis zwei in der Regel kurze Musikstücke, was doch eher wenig ist. Meist werden zu den Stücken zusätzliche Anregungen zu Interpretation, Präsentation oder Reflexion sowie Verknüpfungen zur Theorie geboten. Zu vielen Stücken sind auf der beiliegenden CD-ROM zusätzliche vierstimmige Klassen-Arrangements mit einer 2. Stimme, einer Bassstimme und einer Oberstimme «für Geübte» vorhanden, was eine Individualisierung der Anforderungen durch Binnendifferenzierung ermöglicht.

Anhand von speziell gekennzeichneten Werkzeugkästen werden den Schülern spezifische Methoden als Handwerk vermittelt, wie sie selbstständig Musik erarbeiten, Stücke üben oder sich musikalisches Material aneignen können. Die Schülerhefte sind mit Farben und Symbolen ansprechend gestaltet und enthalten unterstützende und anregende Bilder und Grafiken. Allerdings wirken die Seiten insgesamt eher überladen und sehr textlastig, was die Zugänglichkeit etwas erschwert.

Leitfaden Bläserklasse setzt in Sachen thematischer Breite, der Vermittlung von Theorie und allgemeinem Musikverständnis sowie in deren methodisch-didaktischer Aufbereitung neue Massstäbe.
 

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Sommer/Ernst/Holzinger/Jandl/Scheider: Leitfaden Bläserklasse. Ein Konzept für das erfolgreiche Unterrichten mit Blasinstrumenten, Lehrerband 1 und 2 incl. CD-ROM und Schüler-Lösungshefte, S7770, Fr. 84.50, Helbling, Belp u.a. 2018

 

 

Foto oben: Bruno Pego / Unsplash

Musikeralltag im Barock

Unter welchen sozialen Bedingungen arbeiteten Musiker in jener Zeit? – Ein längst fälliges, überaus informatives, wenn auch etwas vorsichtiges Buch gibt Antwort.

Radierung von Abraham Bosse um 1638: Die fünf Sinne – das Gehör

Gedruckte Musiknoten waren einst teuer. Nicht jeder konnte sie sich leisten. Deshalb hätte sich ein Musiker auf dem Lande zum Beispiel statt der Druckausgabe des Musicalischen Opfers eine Kopie gekauft und dafür statt einem Reichstaler nur acht Groschen hingelegt. (Und wieviel bekam davon in einer Zeit ohne Suisa und Pro Litteris der Komponist?) Noch billiger (etwa fünf Groschen) wäre es gewesen, die Noten selber abzuschreiben. Das lohnte sich, wenn man bedenkt, dass ein angestellter Musiker rund acht Taler monatlich für sich und seine Familie zur Verfügung hatte.

Erhellende Details wie diese aus dem Musikeralltag finden sich allemal in dieser Sozialgeschichte der Barockmusik. Auf ungemein spannende Weise führt sie uns in die Niederungen der Praxis. Mehrere Autorinnen und Autoren sind daran beteiligt, den Hauptharst aber haben die beiden Herausgeber Peter Hersche und Siegbert Rampe beigetragen: zur wirtschaftlichen Lage und gesellschaftlichen Ordnung jener Zeit, was sich für eine so heterogene, sich weiterentwickelnde Epoche gar nicht leicht zusammenfassen und noch weniger verallgemeinern lässt. Die Dinge waren im Fluss. Wo also fand Musik statt und wer führte sie auf? Welchen Status hatten die Musiker und welchen ihre Instrumente? Wer baute sie? Wer bildete darauf aus? Was konnte sich ein Musiker tatsächlich von seinem Salär leisten: ein Gärtchen, eine Bibliothek, eine Magd für die Gattin? Der Fragen sind viele.

Und weil es so gar nicht emphatisch um Kunst geht, sondern eher um die Umstände, unter denen sie entsteht, und dabei gerade auch ums Geld, wird das Thema nüchtern und klar ausgebreitet. Der Blick richtet sich vor allem auf die Verhältnisse im deutschsprachigen Raum, und wird daher nach aussen hin etwas unschärfer. Dabei wird auch nicht verschwiegen, dass wir eigentlich viel zu wenig wissen. Die Musikwissenschaft hat sich lange kaum um diese Sozialgeschichte gekümmert. Bemitleidet wurde Bach, wenn er um Gehaltsverbesserung bat, aber dass das fast den ganzen Musikerstand betraf, ging dabei unter. Vielleicht ist dies auch der Grund, dass sich die Autoren mit ihren Erkenntnissen nicht weiter vorwagen, in die Anekdote, gar in die Spekulation hinein. Insgesamt ist das Buch ungemein informativ und auch mit vielen Beispielen illustriert, aber nicht so recht mit dem prallen Leben gefüllt. Das ist vielleicht sogar ein Vorteil, weil es nichts verschleiert. Es führt uns den nackten Alltag vor Augen.
 

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Sozialgeschichte der Musik des Barock, hg. von Peter Hersche und Siegbert Rampe, (Handbuch der Musik des Barock 6), 400 S., ill., geb., € 108.00, Laaber-Verlag, Laaber 2017, ISBN 978-3-89007-875-5

Erinnerung an eine legendäre Konzertreise

Nur Wochen nach Kriegsende reisten Yehudi Menuhin und Benjamin Britten durch Norddeutschland und spielten vor und zugunsten Überlebender.

Yehudi Menuhin und Benjamin Britten. Ausschnitt aus dem Buchcover

Zeichen setzen ist ein wichtiges Buch, publiziert in einer Zeit, da Antisemitismus sich wieder breitzumachen droht. Werner Schmitt, Initiant und Mitautor des Buches, dokumentiert darin das Konzert, das er 2016 in der Holocaust-Gedenkstätte Bergen-Belsen organisierte. Es galt der Erinnerung an die legendäre Konzertreise vom Juli 1945, die Yehudi Menuhin zusammen mit dem Komponisten Benjamin Britten durch norddeutsche Städte und Dörfer unternahm. Dabei traten sie auch in einem Kinosaal der Kaserne des Konzentrationslagers Bergen-Belsen auf. Dieses war am 15. April gleichen Jahres von alliierten Truppen befreit worden.

Das damalige Konzert fand im Beisein von Überlebenden des Lagers statt. Menuhin spielte zusammen mit Britten ein Programm, welches u. a. Werke von Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven und Claude Debussy enthielt, aber sich aufgrund der Quellen nicht ganz rekonstruieren lässt In Anlehnung daran wurden am Gedenkkonzert mit dem Duo Aleksey Semenenko (Violine) und Inna Firsova (Klavier) die Chaconne von J. S. Bach, der 1. Satz der Kreutzer-Sonate, die Sonate von Edvard Grieg, Werke von Chausson, Debussy und Tschaikowsky bis hin zum Kaddisch von Maurice Ravel als Zugabe gespielt.

Die Aufnahme auf zwei CDs liegt dem Buch bei, das in Wort und Bild Eindrücke der historischen Konzertreise zusammenfasst, als die beiden grossen Musiker zugunsten überlebender Opfer spielten. Die Autoren, Werner Schmitt, Cellist und langjähriger Direktor des Berner Konservatoriums, und Hendrick Feindt, Literaturhistoriker und Medienwissenschaftler, haben mit diesem Buch mehr als nur eine Dokumentation geschaffen: Sie haben ein Zeichen gesetzt, das heute mehr denn je wahrgenommen werden muss.
 

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Zeichen setzen/ Taking a Stand. Yehudi Menuhin / Benjamin Britten / Bergen-Belsen 1945, hg. von Werner Schmitt, 100 S., 2 CDs, Fr. 57.00, Müller & Schade, Bern 2018, ISBN 978-3-905760-19-4

Tierisch leichte Stücke

Erstes Zusammenspiel im Streichorchester oder Streichensemlbe wird mit diesen Heften zum Vergnügen.

Ausschnitt aus dem Titelblatt von «Don’t Feed the Animals»

Die zwölf spassigen Ein-Minuten-Stücke von Don’t Feed the Animals, Ouverüre, zehn Tierbilder und Epilog für Kinderorchester, sind geeignet als Zwischenspiele für eine aufgeführte Geschichte. Der huschende Igel, der bei Fermaten scheu verharrt, das Schnarren des Frosches in sich reibenden kleinen Sekunden, emsige Achtel für die Ameisen, Triller und Tremolo-Glissandi für die fleissigen Bienen, der in wechselndem Dreiviertel- und Viervierteltakt einherschwebende Schwan, die vier in Pizzicatosprüngen und Sechzehntel-Tonleitern huschenden Eichhörnchen … Das ist alles raffiniert ausgedacht, gut auf die Stimmen verteilt und – mit einem gewissen Probeaufwand – leicht spielbar.

Die 14 Kanons und 6 Streichtrios, die Egon Sassmannshaus für den Frühen Anfang im Steicherensemble zusammengestellt hat, sorgen von einem b bis zwei Kreuzen für tonartliche Abwechslung. Sogar ein Menuett in a-Moll gesellt sich zu den kleinen Barocktänzen.

Im Weihnachtsheft derselben Reihe umrahmen 10barocke festliche Tänze in einfachen Tonarten – Dur und Moll – 17 der bekanntesten deutschen Weihnachtslieder in bewusst einfachem vierstimmigem Satz für jüngste Streichergruppen.
 

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George A. Speckert: Don’t Feed the Animals. 12 Stücke für Streichorchester, Partitur und Stimmensatz (1., 2. 3. Violine, letztere auch für Viola, Cello), BA 10648, € 13.95, Bärenreiter, Kassel 

Egon Sassmannshaus: Früher Anfang im Streicherensemble, Spielpartitur für Violine, Viola (oder 2. Violine) und Cello, BA 10688, € 12.95, Bärenreiter, Kassel 

id., Weihnachten, Spielpartitur für zwei Violinen (ein Stück drei Violinen), Viola (ein Stück zwei Violen) und Cello, BA 10689, € 12.95

Einmal ausladend, einmal knapper

Diese Ausgabe bietet die berühmte Klaviersonate Nr. 2 von Sergej Rachmaninow in beiden vom Komponisten erstellten Ausgaben.

Rachmaninow-Denkmal in Tambow (Nachweis s. unten)

Rachmaninows 2. Klaviersonate op. 36 gehört heute zu den am häufigsten gespielten Werken des russischen Komponisten. Gerade die junge Generation und vor allem auch jene aus Fernost studiert das anspruchsvolle, hochvirtuose Stück mit Leidenschaft und Hingabe.

Das war nicht immer so. Vor allem im deutschsprachigen Kulturraum hatte diese Sonate in der Vergangenheit gegen einen schlechten Leumund zu kämpfen. In seinem Handbuch der Klavierliteratur stellte Klaus Wolters seinerzeit lapidar fest, dass Opus 36 allgemein fast nur negative Kritiken erhalten habe. Und in einer späteren Auflage (1977) erwähnt er sie schon gar nicht mehr. Walter Georgii stört sich an den «einförmigen Motivwiederholungen». Das umfangreiche Werk sei deshalb «im Ganzen wenig erfreulich» (Klaviermusik, Atlantis Verlag).

Rachmaninow selber war mit der ursprünglichen Konzeption seiner 2. Sonate von 1913 offenbar auch nicht zufrieden und unterzog sie 18 Jahre später einer gründlichen Revision. Er gestaltete den Klaviersatz etwas transparenter und strich insgesamt rund 120 Takte. Das sind immerhin mehr als 10 Seiten Musik!

Ob er dadurch das Werk zu seinem Vorteil verändert hat, wird immer wieder diskutiert. Vladimir Horowitz löste das Problem auf seine Weise und erstellte mit Rachmaninows Einwilligung eine eigene Mischfassung aus beiden Versionen.

Dominik Rahmer hat nun im Henle-Verlag beide Fassungen des Komponisten in einem Band veröffentlicht, und man kann somit bequem Takt für Takt die Unterschiede studieren. Das Notenbild ist – wie üblich bei Henle – selbst in der überladenen Erstfassung übersichtlich und gut lesbar. Die Fingersätze verraten den gewieften Praktiker und stammen von Marc-André Hamelin, der ja nicht nur dieses Repertoire bestens kennt.

Man mag zu Rachmaninows Opus 36 stehen, wie man will. Ähnlich wie im genialen 3. Klavierkonzert kann man auch hier die konsequente motivische Arbeit des Komponisten bewundern. Alle Formteile sind aus ganz wenigen musikalischen Bausteinen entwickelt und kunstvoll-logisch miteinander verknüpft. Einmal in einem etwas enger geschnittenen Kleid (Version von 1931), ein andermal in einer etwas ausufernden, aber vielleicht sinnlicheren Fassung (1913).

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Sergej Rachmaninow: Klaviersonate Nr. 2 b-Moll op. 36, Fassungen 1913 und 1931, hg. von Dominik Rahmer, HN 1256, € 19.50, G. Henle, München 2018

 

 

Foto: Stadtverwaltung Tambow/Russland, wikimedia commons

Im Anfang verkannter Meilenstein

Das zyklisch angelegte, leitmotivisch durchdrungene Klavierquintett von César Franck hatte einen schwierigen Start.

César Franck (1822-1890) fotografiert von Pierre Petit (1832–1909). Quelle: s. unten

César Franck komponierte sein monumentales Klavierquintett f-Moll von Herbst 1878 bis Sommer 1879. Zuvor hatte er während 25 Jahren keine Kammermusik mehr geschrieben. Die Konzerte der 1871 gegründeten Société nationale de musique, an welchen unter anderem Kammermusikwerke von Gabriel Fauré, Édouard Lalo und Camille Saint-Saëns zur Uraufführung gelangten, hatten Franck wahrscheinlich dazu bewegt, sich diesem Genre wieder zuzuwenden. Das Klavierquintett steht zeitlich vor der Violinsonate A-Dur (1886) und der Sinfonie d-Moll (1887/88). Bei der Uraufführung am 17. Januar 1880 sass Camille Saint-Saëns am Klavier, dem das Stück auch gewidmet ist. Nach der kühlen Aufnahme des Werks wurde es zu Lebzeiten des Komponisten nur noch wenige Male gespielt. Erst im 20. Jahrhundert erkannten Publikum und Kritik César Francks Klavierquintett in seiner wahren Bedeutung.

Die drei Sätze mit einer Aufführungsdauer von gegen 40 Minuten sind leitmotivisch miteinander verknüpft. Als Zeitzeuge steht dieses Klavierquintett für die französische romantische Musik in ihrer Auseinandersetzung zwischen klassischer Form, dem Einfluss Richard Wagners und dem Aufbruch zu neuen Klangwelten. Aber auch als absolute Musik gehört Francks Klavierquintett zu den Meilensteinen des kammermusikalischen Repertoires. In seiner zyklischen Anlage und dem reichen Klangspektrum hat es den Charakter einer Sinfonie.

Diese von Ernst-Günter Heinemann betreute Urtext-Ausgabe verzichtet in den Streicherstimmen auf Zusätze technischer Art. Die Klavierstimme wurde von Klaus Schilde mit Fingersätzen versehen. Wendestellen sind in allen Stimmen optimal platziert, das Violoncello kann die pausenlosen letzten drei Seiten nebeneinander aufs Pult stellen und durchspielen. Der Kritische Bericht zu dieser Ausgabe kann auf henle.de eingesehen werden.
 

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César Franck: Klavierquintett f-Moll für Klavier, zwei Violinen, Viola und Violoncello, hg. von Ernst-Günter Heinemann, HN 1142, € 45.00, G. Henle, München 

 

 

Auf der Basis des Autografs

Eine Ausgabe von Dvořáks Streicherserenade mit Passagen, die im Autograf zu finden sind, in bisherigen Ausgaben aber fehlten.

Foto: Dayne Topkin / Unsplash (s. unten)

Wenn ein Werk des Repertoires in einer neuen, zumal als «Urtext» bezeichneten Ausgabe erscheint, gibt es in (nur gefühlten) 95 Prozent aller Fälle zwei Möglichkeiten: Entweder müssen die editorischen Entscheidungen gegenüber vorhergehenden Ausgaben mit der Lupe gesucht werden (dann stehen meist markttechnische Überlegungen hinter der Ausgabe – und ja: es gibt ein Musik.biz, und das ist fraglos auch gut so), oder es gibt tatsächlich etwas Neues, mitunter auch Spektakuläres zu entdecken. Das mag nur eine Note oder ein Vorzeichen betreffen (von Beethoven bis Berg), manchmal sind es aber doch auch ganze Passagen, die einst in der Eile der Herstellung oder im Strudel der Überlieferung verloren gingen.

Insofern macht auch die vorliegende Neuausgabe von Dvořáks Streicherserenade neugierig: Neben den üblichen kleinen Korrekturen und Ergänzungen wartet sie nämlich mit neuen Takten auf: Im Scherzo sind es 34, im Finale gar 79. Sie finden sich im Autograf, wurden aber 1879 in der gedruckten Partitur bei Bote & Bock nicht berücksichtigt. Freilich, sie fanden bereits 1955 im Band der Gesamtausgabe Eingang (allerdings im Anhang, und somit gingen sie abermals bei IMSLP verloren, ein sich wiederholender gravis defectus). Robin Tait hat aus dieser Not eine Tugend gemacht und für die Neuausgabe das Autograf als Hauptquelle erkoren, somit auch die beim Druck unter den Tisch gefallenen Passagen in den Haupttext integriert (und sie doch als Konzession an die heutige Praxis mit einem Vide-Vermerk versehen). So darf nun frei erkundet werden, obwohl Dvořák selbst als anerkannter Meister später nie eine neue Auflage verlangte. Ich habe mich der Einspielung mit dem Orchestre d’Auvergne unter Roberto Forés Veses bedient – und ja, das damalige Lektorat hat vielleicht (?!) eine gute Entscheidung getroffen. Doch die Diskussion ist eröffnet.
 

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Antonín Dvořák: Serenade E-Dur op. 22 für Streichorchester, hg. von Robin Tait, Partitur, BA 10423, € 22.95, Bärenreiter, Prag 

 

 

Es ist ein Zeit-Ding!

Michael Egger, der Sänger der Band Jeans for Jesus, ertappt sich beim Warten ständig am Handy. Seine Texte und Melodien brauchten aber Zeit, sagt er, und manchmal Druck. Auf Tour und in ihrer Arbeitsweise ist Warten Alltag für die Band.

Michael Egger, Sänger der Band Jeans for Jesus. Foto: Éric Bolliger
Es ist ein Zeit-Ding!

Michael Egger, der Sänger der Band Jeans for Jesus, ertappt sich beim Warten ständig am Handy. Seine Texte und Melodien brauchten aber Zeit, sagt er, und manchmal Druck. Auf Tour und in ihrer Arbeitsweise ist Warten Alltag für die Band.

Die Berner Band Jeans for Jesus publizierte 2014 ihr erstes Album, nachdem sie mit Estavayeah – auch für sie selbst unerwartet – den Schweizer Sommerhit des Jahres 2013 gelandet hatte. Sie macht zeitgenössisch digitale, sphärisch elektronische Musik mit berndeutschen Texten. Die Mitglieder, Michael Egger (Mike), Philippe Gertsch (Phil), Demian Jakob (Demi) und Marcel Kägi (KG), kennen sich seit der Schulzeit; Jeans for Jesus entstand aus einer Schülerband. Auch das zweite Album «P R O» von 2017, das sie zusammen mit einem Parfum herausbrachten, war ein Erfolg. Im Moment warten die Fans auf das dritte, das Ende dieses Jahres herauskommen soll.

Bereits auf eurem ersten Album singt ihr: «Au di huärä Apps heimer ds Wartä vrlehrt.» Könnt ihr, kannst du noch warten? Ohne Smartphone?
Apps werden ja so programmiert, dass wir möglichst viel Zeit damit verbringen. So kommen die Hersteller an möglichst viele Daten heran und können Werbung schalten. Dagegen kann ich mich natürlich auch nicht wehren und ertappe mich häufig dabei. Nein: Warten kann ich kaum noch ohne Smartphone.

Aber das ist nicht, weil du Jeans for Jesus in den sozialen Medien repräsentieren musst?
Nein, wir sind als Band nicht so aktiv auf diesen Kanälen. Ich lese oft Zeitungen, schaue manchmal Videos. Aber es ist trotzdem viel stumpfsinniges Zeug dabei.

Denkst du, dass mit dem Warten etwas verloren geht?
Ich beschwöre ungern die guten alten Zeiten herauf, deshalb: eher nicht. Nur die Aufmerksamkeit ist ein Problem. Lehrer, die ich kenne, meinen, es sei für die Schüler schwieriger geworden, einen Text zu lesen, sich eine Viertelstunde zu konzentrieren. Man kann diese Entwicklung natürlich nicht abschliessend beurteilen, und ich selbst war schon früher leicht abzulenken, wenn mich etwas nur bedingt interessierte. Ich finde einzig, die Langeweile sollte nicht verloren gehen.

Warten und Langeweile sind also etwas Wichtiges?
Genau, um sich in Geduld zu üben – oder, vor allem bei mir, der eher ungeduldig ist, um Einfälle zu haben. Und es ist auch etwas Schönes.

Nicht nur das Warten haben die Smartphones verändert. Streaming hat auch die Musikwelt auf den Kopf gestellt: Musik kann nahezu gratis abgespielt werden. Auf euren beiden Alben setzt ihr euch kritisch mit Konsum auseinander. Wie stehst du zu diesem neuen Musikkonsum?
Wir haben nie zu einer Zeit Musik gemacht, als man damit noch Geld verdienen konnte in der Schweiz. Deshalb hat der Wandel andere härter getroffen. Wir kennen Musikerinnen und Musiker, die noch Alben mit sechsstelligem Budget produzierten. Damals hat man mit zehntausend verkauften CDs hunderttausend Franken eingenommen. Wir sind nicht weit weg von diesem Bereich, aber verdienen quasi nichts. Doch man kann das nicht aufhalten, schon gar nicht als Einzelner. Ausserdem ist die Produktion grundsätzlich billiger geworden. Musikmachen ist damit viel breiteren Schichten zugänglich und ein Stück weit demokratisiert worden. Man braucht eigentlich nur noch einen PC und im Idealfall etwas Talent. Zudem ist Streaming eine Riesenchance, um anderes zu entdecken – und bekannter zu werden.

Was mich an der Schweizer Situation eher betrübt bezüglich Konsum ist, dass man unbedingt ein, zwei Songs schreiben muss, die vom Radio gespielt werden. Wenn man das nicht macht, ist man als Popband schnell unter dem Radar. Das führt zu vielen Kompromissen, die man auch bei uns hört. Estavayeah oder auch Wosch no chli blibä haben viel weniger Ecken und Kanten als andere Songs. Und bei Spotify wird dieser Effekt verstärkt. Mich erstaunt, wie viele Musiker mittlerweile sehr unauffällige Musik kreieren, die im Hintergrund gespielt werden kann.

Eine Veränderung in Richtung Quantität. Hat das Einfluss auf die Qualität?
Ich glaube, bei uns kaum; wir haben versucht, uns nicht gross darauf einzulassen. Aber natürlich ist der Einfluss spürbar. Hier kommt auch ein Stadt-Land-Graben ins Spiel: Viele Musiker, wie wir als Popband, die zeitgenössische, international geprägte Musik machen wollen, haben fast nur Erfolg in den Städten. Um in der ganzen Schweiz bekannt zu sein, gehen andere sehr viele Kompromisse ein und biedern sich an. Man hört, dass die Musik für eine breite Masse gemacht worden ist.

Auf internationaler Ebene passiert das Gleiche: Im Hinblick auf Streaming-Konsumenten haben Stars wie Drake oder Migos in den letzten Jahren ellenlange Alben mit durchschnittlich 25 Songs publiziert.
Genau, das passiert bei sehr vielen Musikern, die wir auch gerne hören. Und kurze Songs sind auch immer stärker verbreitet.

Auf eurem letzten Album «P R O» sind aber ebenfalls satte 18 Tracks zu hören.
Ja, das stimmt, aber das war kein Kalkül. Dieses Denken funktioniert bei unserer Grösse sowieso nicht, weil Streaming da finanziell unbedeutend ist. Wir wollten einfach keinen mehr streichen. Dafür hatten wir zu wenig Zeit vor dem Release. Eigentlich sollte man einen Monat Zeit haben, um etwas Abstand zu bekommen und danach noch drei, vier Songs zu streichen. Beim neuen Album wird es dafür aber auch nicht reichen.

Die Zeit drängt. Trotzdem habt ihr euch drei Jahre Zeit gelassen zwischen dem ersten und dem zweiten Album. War es ein bewusstes Warten?
Die Faustregel besagt eigentlich: zwei Jahre. Es gibt Bands, die bringen alle zwei Jahre ein Album heraus, weil sie davon leben wollen. Das wäre der ideale Zyklus mit Konzerten usw. Bei uns entsprechen die drei Jahre einem fast natürlichen Prozess. Wir sind alle voll berufstätig und unsere Art Musik braucht auch Zeit …

Was meinst du damit?
Unsere Musik ist insofern zeitgenössisch, als dass wir Instrumente und Stimmen am Computer extrem bearbeiten, Analoges und Digitales verschmelzen, bis wir mit der Klangästhetik zufrieden sind. Das dauert. Und die Sounds so auf die Bühne zu bringen, ist technisch relativ anspruchsvoll. Für unser letztes Live-Set haben wir z. B. das Licht über ein Computerprogramm mit der Musik gekoppelt, was komplizierte und zeitaufwendige Programmierprozesse nötig machte.

Und nun kommt euer drittes Album nach ebenfalls drei Jahren?
Ja! Wenn alles klappt, können wir im Herbst mit den Konzerten anfangen. In dieser Phase sind wir dann an den Weekends ein, zwei Abende weg, vielleicht noch eine Probe, dann ist die Zeit, die wir für Musik zur Verfügung haben, schon wieder weg. Das heisst: Erst nach einem Jahr Touren fängt man langsam wieder an, neue Musik zu machen.

Ihr habt also nicht gewartet, sondern braucht einfach diese Zeit.
Genau, es ist ein Zeit-Ding! Nur wenn die Musik dein Beruf ist, kannst du während der Tour bereits ein neues Album einspielen. Oder du gibst die ganze Freizeit weg.

Von der Musik leben, könnt ihr aber nicht?
Das können nur extrem wenige in der Schweiz und von denen, die es könnten, haben viele einen Job. Bei uns steht es nicht einmal zur Debatte. Ich verdiene vielleicht 10 000 Franken im Jahr, optimistisch gerechnet.

Es ist also mehr ein Hobby als ein Job?
Es ist keins von beiden. Es ist eine Leidenschaft. Wenn wir uns untereinander fragen, «Ist es für dich eigentlich nur ein Hobby?», ist das eher als Witz gemeint.

Wann seid ihr als Band sonst am Warten?
Auf Touren wartet man extrem viel. Meistens muss man bereits am Nachmittag im Club sein, man baut auf, dann wartet man und wartet und isst und wartet wieder.

Wir warten aber auch wegen unserer Arbeitsteilung viel aufeinander. Du machst etwas an der Musik oder am Text, schickst es an die anderen und wartest auf ein Feedback oder dass ein anderer daran weiterarbeitet.

Ist es das, was ihr als Dropbox-Band bezeichnet?
Genau, wir haben einfach etwa fünf Chats, in denen konstant Ideen und Musik hin- und hergeschickt werden. Da drehen Leute, die viel mit uns zu tun haben, fast durch. Alles andere wäre für uns aber nicht sinnvoll. Eine Rockband geht ins Studio und jammt. Bei uns hingegen macht in der Regel Phil eine Skizze, dann kommt der Song meist zu Demi und mir, wir schreiben Melodien mit einem Fantasietext, produzieren weiter. Dann geht der Song zurück,, hin und her. Meist werden zahlreiche Versionen und Skizzen erstellt, zum Teil sind weitere Musikerinnen und Musiker involviert. Die anderen arbeiten von überall an der Musik, Demi und ich von überall an den Texten. Wenn jemand etwas Neues gemacht hat, kann man das unterwegs hören und Feedback geben. Das ist sehr praktisch. Wir haben es immer sehr lustig im Chat. Bis KG alles zu einem Song giessen muss, was weniger lustig ist für ihn.

Dann seht ihr euch als Band gar nicht so oft?
Zu viert? Nein, nur etwa alle zwei, drei Wochen. Demi und ich sehen uns aber im Moment sehr oft, da wir zusammen die Texte schreiben. Und KG und Phil sehen sich wohl auch öfter.

Aber ihr habt schon ein Bandgefühl?
Ja, sehr. Wir gehen immer wieder zusammen weg. «P R O» entstand grösstenteils in Atlanta und Ende Juni sind wir ein paar Tage in Italien. Das sind die besten Momente.

Das klingt extrem locker. Verläuft auch eure Karriere so?
Nur beim ersten Album, denn es gab keinen Druck damals. Damit haben wir vielleicht 2010 oder 2011 angefangen, über Monate passierte manchmal nichts. Aber als «Estavayeah» ein solcher Hype wurde, mussten wir möglichst schnell das Album fertig machen – das war eine Hauruckübung – und auftreten. Wir waren überhaupt nicht darauf eingestellt, eine Band zu sein. Jeder war um die 25 Jahre alt und hatte viel privates Zeug los. Ich hatte damals gerade in der Wissenschaft Fuss gefasst. Erst im Verlauf der Tour haben wir richtig mitbekommen, was passiert war. Und für das zweite Album standen wir dann extrem unter Druck – gefühlt zumindest.

Auch Druck vom Label? Ihr seid ja bei Universal, keinem kleinen Label.
Nein, gar nicht, das sind nur Vorstellungen, die herumgeistern. Der Druck kommt eher von der positiven Presse, vom Feedback, den Erwartungen. Wenn du so gehyped wirst, musst du etwas Gutes machen, etwas Besseres. Wir finden, das zweite Album sei besser als das erste, aber es war viel schwieriger.

Je besser eure Musik wird, desto weniger könnt ihr abwarten und schauen, wie sich die Sache weiterentwickelt?
Das kommende Album wird recht viel entscheiden, zeigen, wie es weitergehen könnte. Es kann sein, dass wir ein, zwei Sachen im Ausland oder in der Westschweiz machen können, das wäre natürlich cool. Auf «P R O» sind ja bereits zwei Songs auf Französisch und wir haben Lust, mit der Sprache zu spielen. Wenn es aber im Rahmen der letzten Tour bleibt, nehmen wir uns vielleicht mehr Zeit und verlassen den bisherigen Zyklus, um etwas Anspruchsvolleres, Merkwürdigeres zu produzieren, wer weiss …

Zeit haben ist also trotz allem wichtig für die Qualität?
Extrem! Gleichzeitig schafft man manchmal nur unter Druck gutes Zeug. «Wosch no chli blibä» haben wir in drei Tagen gemacht. Kurz vor der Veröffentlichung von «P R O» hatten wir Krisensitzung. «Es ist kein einziger Song drauf, der am Radio laufen wird», sagte ich. «Dann müssen wir halt jetzt noch einen machen», meinte KG. Phil ging nach Hause und hat in einem Tag einen Beat produziert, Demi und ich in einem Tag einen Text … Zuviel Zeit ist auch nicht immer gut.

Schnell seid ihr auch im Aufgreifen technischer Entwicklungen.
Ja, wir finden das spannend. Etwa die Perspektive, dass Songs zusammen mit künstlicher Intelligenz (KI) geschrieben werden könnten. Es gibt aber auch eine grosse Retro-Bewegung, gerade im Feuilleton, die finden alte Geräte, Gitarren, 80er-Synthesizer gut. Einige Journalisten haben uns sogar angekreidet: soviel Digital-Bearbeitung …

Ihr wurdet aber auch sehr gelobt, mit Frank Ocean oder Kanye West verglichen.
Beides, ja. In der Musik sieht man wirklich, dass die Leute Angst haben oder sagen wir: ein Unbehagen der Technik gegenüber. Wir haben einmal am Geburtstag meiner Mutter gespielt. Die Leute dieser Generation mögen Rockbands. Es war mir nicht möglich, ihnen zu erklären, dass es im Grunde dasselbe ist wie Klavierspielen, wenn ich auf ein Pad schlage und dadurch vorprogrammierte Sounds auslöse. Es ist wohl ein Wahrnehmungsproblem. Die Unterscheidung von analogem und digitalem Klang ist schwierig. Vom Moment an, wo man auf eine Taste drückt, gibt es eigentlich keinen «natürlichen» Klang mehr.

Mit KI kommt aber trotzdem die Frage auf, ob es in Zukunft überhaupt noch einen Künstler oder eine Band wie euch braucht?
Es ist doch die Frage, wie man sie künstlerisch wertvoll einsetzt. Wir sind sehr fortschrittsoptimistisch und technikaffin, aber man muss natürlich beobachten, was die Programme leisten. Kanye West arbeitet schon heute vergleichbar: Seit Jahren lässt er von jedem Lied zig Versionen machen, von den Produzenten, die gerade am angesagtesten sind. Aber schliesslich muss jemand entscheiden: Das ist gut und das nicht. Bis KI das kann, wird es in meinen Augen noch recht lange gehen.

Vielleicht wird man das auch dann lieber selber tun, weil es Spass macht?
Ja, das wird superinteressant. Aber was auch sein kann, das sagt Demi immer, dass die Musik an Stellenwert verlieren wird. Die Kids hören heutzutage viel breiter Musik; offenbar geht die Identität nun eher über Videos und Games. Für uns gilt doch: Was man hört, das ist man. Als ich 15 war, bestand ein grosser Graben: Die einen hörten Rap, die anderen Rock. Das ist heute anders – finde ich eigentlich auch besser so.

 

Autoren
Éric und Yann Bolliger studieren an der ETH Lausanne Mikrotechnik resp. Informatik und sind grosse Fans der Band.

 

Website von Jeans for Jesus

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warten

Nicht von Pausen und Fermaten in der Musik, sondern vom Warten darum herum oder Musik zum Warten: von Vorgruppen über Muzak bis zur beruflichen Vorsorge.

Titelbild: www.neidhart-grafik.ch
warten

Nicht von Pausen und Fermaten in der Musik, sondern vom Warten darum herum oder Musik zum Warten: von Vorgruppen über Muzak bis zur beruflichen Vorsorge.

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Focus

Es ist ein Zeit-Ding!
Für Michael Egger, Sänger der Band Jeans for Jesus, und seine Kollegen ist Warten auf Tour und in ihrer Arbeitsweise Alltag. Interview

Sur scène pour faire attendre
L’expérience (parfois douloureuse) de jouer en première partie
Deutsche Übersetzung: Auftreten, um warten zu lassen
Über die (manchmal schmerzhafte) Erfahrung, als Vorgruppe aufzutreten

Abwarten ist ein schlechter Ratgeber
Bei der Pensionierung erhalten viele Musikschaffende nur kleine Renten

La musique qu’on entend mais qu’on n’écoute pas
La «musique de salle d’attente», créée pour nous faire passer le temps

Wie ein Sack Flöhe
Wie mit Kindern und Jugendlichen auf ihren Konzertauftritt warten?

… und ausserdem

RESONANCE


Lockere Souveränitä
t — 51. Wittener Tage für Neue Kammermusik

Musik aus dem Bernbiet — Urs Peter Schneider, Heinz Marti, Hans Eugen Frischknecht, und Heinz Holliger

Taghi Akhbari : « de coeur à coeur»

Max plays Miles — Max Jendly fonde un grand orchestre permanent

Wenn Frau will, steht alles still — Schweizer Frauenstreik am 14. Juni

Reise durch ein Meer von Möglichkeiten — Abschluss des Projekts «Looping Journey» an der Gare du Nord

Carte blanche per Zeno Gabaglio
dt. Übersetzung

 

CAMPUS

L’esprit du quatuor à cordes — la Swiss Chamber Academy

 

FINALE


Rätsel
— Dirk Wieschollek sucht


Reihe 9

Seit Januar 2017 setzt sich Michael Kube für uns immer am 9. des Monats in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb.

Link zur Reihe 9


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Auftreten, um warten zu lassen

Die Beatles, Jimi Hendrix, Led Zeppelin, Pink Floyd, Bob Dylan: Alle mussten da durch. Lehr- und Wanderjahre, Sprungbrett oder Fegefeuer – als Vorgruppe das Publikum auf den Star warten lassen, ist eine Erfahrung, die viele Musikerinnen und Musiker kennen.

Foto: Pixnio
Auftreten, um warten zu lassen

Die Beatles, Jimi Hendrix, Led Zeppelin, Pink Floyd, Bob Dylan: Alle mussten da durch. Lehr- und Wanderjahre, Sprungbrett oder Fegefeuer – als Vorgruppe das Publikum auf den Star warten lassen, ist eine Erfahrung, die viele Musikerinnen und Musiker kennen.

Die Idee, eine Vorstellung mit verschiedenen Auftritten zu bestreiten, gibt es in der Geschichte der Unterhaltung seit eh und je und in allen Künsten. Das «Hauptgericht» wird garniert, um dem Publikum mehr für sein Geld zu bieten, um Übergänge zu «möblieren». Den Künstlern gibt das die Gelegenheit zu experimentieren und mit Kurzformen umzugehen. Denken wir nur an die Intermezzi, eingestreut in Opernaufführungen, aus denen schliesslich die Opera buffa hervorging, die Potpourri-Konzerte des 19. Jahrhunderts, die Curtain raisers des viktorianischen Theaters oder in jüngerer Zeit Varieté-Abende. Bei Auto- und Pferderennen spricht man von Undercards, beim Boxen von Vorkämpfen.

All das dient dazu, das Publikum gleichzeitig warten zu lassen und in Stimmung zu bringen, es «vorzuwärmen« für die Hauptattraktion. Es hält die Kosten der Veranstalter in Grenzen, die Anfängern eine vielbeachtete Plattform bieten, im Gegenzug aber sehr wenig oder gar nichts für deren Auftritt zahlen. Wenn nicht sogar die Auftretenden zur Kasse gebeten werden …

Wir haben einige Aussagen zum Thema zusammengetragen: «Du spielst sehr häufig gratis und musst all dein Material mitnehmen, weil der Hauptkünstler dir seins nicht leiht, dir aber nur fünf Zentimeter der Bühne überlässt», sagt Pilli, Sänger und Gitarrist der Gruppe Labradors, eine Band, die in Italien gerade aus der alternativen Szene herauswächst. «Manchmal ist es erniedrigend: Die Stars behandeln dich von oben herab, du spielst vor einem leeren Saal und das Ganze hilft dir in der Zukunft in keiner Weise weiter. Wenn du darüber hinaus für den Auftritt bezahlt hast, ist es abscheulich. Zum Glück haben wir weder Manager noch Agentur, so können wir selbst bestimmen, für wen wir spielen und zu welchen Bedingungen. Es ist immer besser, wenn du als Vorgruppe einer Band auftrittst, die du magst und die sich im persönlichen Umgang als freundlich herausstellt.»
 

Nicht immer eine negative Erfahrung

«Wir haben Sen Dog, den Rapper von Cypress Hill, eingeladen, als Gaststar bei einem unserer Titel mitzumachen», erzählt Ignacio Millapani, Bassist von CardiaC, einer bekannten Genfer Hardcore-Metal-Band. «Sen Dog hat daraufhin versprochen, ein Wort bei der Produktionsfirma einzulegen, um uns als Vorgruppe von Cypress Hill bei einigen ihrer Konzerte in Europa unterzubringen. Und er hat Wort gehalten. Er hat seinen Einfluss beim Veranstalter spielen lassen. Dieses Vorgehen ist aber eher ungewöhnlich, denn normalerweise platziert das Label dort Gruppen, die es unter Vertrag hat. Sen Dog hat seine Stellung genutzt, um Druck zu machen. Da wir aber als unabhängige Band auftraten, mussten wir uns auch allein um die Logistik unseres Materials kümmern, grosse Schwankungen bei der Gage in Kauf nehmen – und dem guten Stern, der uns diese Möglichkeit gegeben hatte, immer schön dankbar bleiben. Trotzdem war es eine sehr interessante und nützliche Erfahrung: Wenn du vor 3000 Leuten spielst, achtest du auf jedes kleinste Detail, was einen Qualitätssprung zur Folge hat. Und du lernst mit der technischen Einrichtung grosser Bühnen umzugehen. Die Tonmeister dort spielen in einer ganz anderen Liga, du kannst dich also über einen genialen Sound freuen. Und schliesslich ist es eine ganz gute Schule, vor einem Publikum zu spielen, das keine Lust hat, dich zu hören, das du aber doch aufwärmen musst. Es bringt dich dazu, wirklich alles zu geben.»

«Bei meinen Erfahrungen mit Eröffnungsauftritten habe ich Glück gehabt: Bandleader und Dirigenten wie Eddie Gomez oder Giovanni Sollima haben mir als Auftakt ihrer Konzerte ihre Ensembles überlassen, um meine Kompositionen auszuprobieren», berichtet Maurizio Berti, Schlagzeuger, Pianist und Komponist. «Ich habe für sehr herablassende Stars des italienischen Pop eröffnet, die sich mit dem Helikopter einfliegen liessen. Viele Leute in diesem Zirkus machen dir das Leben schwer, einige sind wirklich widerlich; wir kennen das alle in diesem Beruf. Wichtig ist, was du am Ende davon hast: der rein musikalische Gewinn, der Kontakt, den du zu den Künstlern aufbauen kannst und was du von ihnen lernst.

In diesem Zusammenhang möchte ich erzählen, was ich als Eröffnungsnummer für Jason Rebello erlebt habe. Ich schätze ihn sehr, und vor ihm aufzutreten, schüchterte mich ein. Er ist mit Sting, Jeff Beck und allen Grossen auf der Bühne gestanden. Ich wollte das Konzert am Klavier beginnen, mit einem Trio und fast ausschliesslich eigene Kompositionen spielen. Wir waren dann vor der Vorstellung am Essen und mir war gar nicht wohl bei der Sache. Ich war nicht sicher, ob ich mich richtig vorbereitet hatte. Ich floh aus dem Restaurant und begann im Theater mit Übungen, die man so macht, um sich aufzuwärmen vor einem Auftritt – wie ein Schüler, der am Morgen vor dem Unterricht noch schnell die Aufgaben von jemandem abschreibt. Plötzlich kommen Leute. Ich höre auf und tue, als würde ich meine Noten vorbereiten. Jason Rebello kommt zu mir, nimmt mich zur Seite. Er hatte begriffen, was in mir vorging. Er sagt mir: ‹Warum hast du aufgehört? Mit hat das gefallen. Du solltest dich nicht genieren, deine eigene Musik zu spielen. Und du solltest keine Angst davor haben, etwas falsch zu machen. Wir haben diesen Beruf gewählt, weil wir ihn lieben und weil er uns weiterbringt. Warum sonst? Ich habe mir früher auch Sorgen gemacht, ob ich gut genug vorbereitet sei, bis ich bemerkt habe, dass das nicht so wichtig ist, dass mich diese Sorge sogar ablenkt. Du hast nicht genug geübt? Morgen wird es besser gehen und in ein paar Wochen erst recht. Aber jetzt musst du auftreten. Wenn du Fehler machst, spielt das keine Rolle. Kaum jemand wird es merken. Und manchmal öffnen die Fehler ja auch Türen zu etwas Neuem, Interessantem. Darum: Spiel einfach, geniess es und freu dich!›»
 

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Kaum zu glauben: Die Beatles haben als Vorgruppe von Sylvie Vartan gespielt, 1964 im Pariser Olympia.

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Kontinuität in der Schweizer Kulturpolitik

An seiner heutigen Sitzung hat der Bundesrat die Vernehmlassung zur Botschaft über die Förderung der Kultur für die Periode 2021-2024 eröffnet. Bis am 20. September kann man zur neuen Kulturbotschaft Stellung nehmen.

Der Bundesrat fasst in seiner heutigen Medienmitteilung die wichtigsten Punkte aus der neuen Kulturbotschaft zusammen: Die drei «Handlungsachsen – kulturelle Teilhabe, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Kreation und Innovation – werden für die Periode 2021-2024 beibehalten.» Für die Umsetzung des zur Vernehmlassung vorgelegten Entwurfs seien 942,8 Millionen Franken vorgesehen, was einer Mittelaufstockung von 35.4 Millionen Franken entspreche.

Im Bereich «kulturelle Teilhabe» solle das Programm «Jugend und Musik» konsolidiert werden. In Zusammenarbeit mit den Kantonen und mit Musikorganisationen werde der Bundesrat eine musikalische Begabtenförderung einführen. Im Bereich «gesellschaftlicher Zusammenhalt» würden die schulischen Austauschaktivitäten zwischen den Sprachgemeinschaften verstärkt und ein Austauschprogramm für Lehrpersonen eingerichtet. Im Bereich «Kreation und Innovation» solle schliesslich die Kooperation zwischen Kultur und Wirtschaft fortgesetzt werden.

Zudem setze der Bundesrat neben der Kontinuität einen besonderen Schwerpunkt auf die Digitalisierung. Der digitale Wandel beeinflusse sämtliche Bereiche und Institutionen der Kultur in Bezug auf Produktion, Vermittlung und Erhaltung.

In der Förderperiode 2021-2024 solle die Zusammenarbeit mit den Kantonen, Städten und Gemeinden im Rahmen des Nationalen Kulturdialogs fortgeführt werden. Der Bund wolle sich zudem für die Gleichstellung von Frauen und Männern im Kulturbereich und für eine angemessene Entlöhnung der Kulturschaffenden einsetzen.

Die Vernehmlassung dauert bis am 20. September 2019. Der Entwurf der Kulturbotschaft wird am Treffen der Parlamentarischen Gruppe Musik vom 5. Juni in Bern vorgestellt.
 

Link zur Kulturbotschaft 2021-2024

Die Botschaft kann von dieser Seite heruntergeladen werden:

https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-75271.html

 

Warten auf die Zukunft

Im musikalischen Denken ist das Warten eines der fruchtbarsten Konzepte sowohl für die spekulative Vorstellungskraft wie die technische Argumentation. Der grundlegende Begriff der Unterbrechung – ohne sie würden die Instrumente einer Partitur ständig alle spielen und eine undefinierbare Kakofonie hervorbringen – führt ohne Umwege zum Warten; genauso wie die Idee des Stillstands – wenn also keine Entwicklung stattfindet – zum eigentlichen Wesen des Wartens zurückführt. Schliesslich enthält auch die Notwendigkeit innezuhalten – unabdingbar für die physische und agogische Atmung – im Kern das Warten. Wir können es nicht ändern: Das Bedürfnis zu warten, ist der Musik im Innersten eingeschrieben.

Über diese – wichtigsten und häufigsten – Betrachtungen zum Thema warten in der Musik hinaus können wir uns auch eine andere Art des Wartens vorstellen. Was wir eben angesprochen haben, ist technischer, formaler und synchroner Art (also bezogen auf Inhalte, die sich im Laufe der Zeit nicht verändern). Das Warten hat aber auch etwas Diachronisches, das Kräfte der Menschheitsentwicklung spiegelt und die Zeitalter menschlicher Kultur betrifft. In diesem Sinne ist Warten auch Erwartung, Hoffnung, Perspektive. Es kann sich als Angst oder Ungewissheit äussern, aber auch als Vertrauen. Es geht ganz grundsätzlich um Künftiges: Warten heisst auch, unsere Beziehung zu einer möglichen Zukunft ermessen.

«Wenn Lärm stets Gewalt ist, ist Musik stets Prophetie: Hörend können wir die Zukunft der Gesellschaft vorwegnehmen.» Das schrieb vor einigen Jahren der französische Ökonom, Essayist und Bankier Jacques Attali in Bruits. Essai sur l’économie politique de la musique. Und wenn dieser Gedanke auch wenig konkret erscheint, so ist er es doch, der der Musik jene im weiteren Sinn kulturelle Verantwortung zurückgibt, der sie nie ausweichen sollte: Wie kann die Musik Ausdruck überzeitlicher Gegebenheiten sein? Wie geht die heutige Musik über ihre Zeitgebundenheit hinaus, um eine Entwicklungsrichtung auszumachen?

Die Antwort ist leider enttäuschend, vor allem wenn wir die führenden Institutionen zur Erhaltung der musikalischen Kultur betrachten: Die Musikhochschulen geben ihre Absichten – zumindest im Lateinischen – bereits im Namen an: «Konservatorium» nicht «Innovatorium». Und die Programme der wichtigsten Konzertveranstalter spiegeln ein Ausdrucksbedürfnis, wie es vor (mindestens) hundert Jahren bestanden haben muss. Die Zukunft flösst in diesen Fällen ehrfürchtigen Schrecken ein, sie zu erwarten, bedeutet Beklemmung und Angst.

Die Zukunft kommt aber auf jeden Fall. Wenn sie uns nicht erschlagen soll, müssen wir begreifen, dass die musikalische Kultur nicht durch das monumentale Konservieren von Werten, Inhalten, Formen und Haltungen der Vergangenheit gerettet wird, sondern dadurch, dass die Möglichkeit der Musik, Kultur zu werden, etwas Natürliches bleibt, wie in vergangenen Zeiten, wo sie so viele köstliche Früchte hervorgebracht hat. Das – gesunde, nicht schreckensstarre – Warten muss sich dynamisch und lebendig dem wunderbaren Unbekannten zuwenden, das uns das Leben bereithält. Auch in der Musik.

 

Zeno Gabaglio
 

… ist Musiker und Philosoph, Präsident der Tessiner Subkommission Musik, Jurymitglied des Schweizer Musikpreises und Mitglied des SUISA-Vorstands.
 

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