Vier Schlägel, frei wählbare Unterlage

In Áskell Mássons «Fo(u)r Mallets» kann der Bühnenboden oder das Dirigentenpodest bespielt werden. Notiert ist die Komposition aber sehr genau.

Ausschnitt aus dem Titelblatt

2015 feierte Evelyn Glennie ihren fünfzigsten Geburtstag, zu dem der isländische Filmkomponist Áskell Másson ihr dieses Geschenk schrieb, welches aus genau fünfzig Takten besteht.

Wie es der Titel Fo(u)r Mallets schon ankündigt, wird das Werk mit vier Schlägeln gespielt. Die Rhythmik und das Vortragstempo sind sehr genau notiert, so wie auch die Performance zu Beginn und zwischendurch zentimetergenau beschrieben ist: «… die Hände auf halbe Höhe des Gesichtes bringen und die zwei Schläger ungefähr einen Zentimeter hinter den Köpfen gegeneinander schlagen …» Über Vierteltriolen bis zu 32stel-Figurationen und 2:3-Kombinationen wird dem Spieler technisch alles abverlangt.

Den grössten Freiraum lässt der Komponist beim Instrument. Die Oberfläche, auf der gespielt wird, soll frei ausgewählt werden, z.B. kann es der Boden der Bühne oder das Podest des Dirigenten sein. Der Spieler kann nach Belieben stehen oder sitzen. «Spielen Sie dieses Stück nicht auf vier verschiedenen Flächen und absolut nicht auf z. B. Holz- oder Tempelblöcken …» Die vier Schlägel sollen alle eine unterschiedliche Härte haben, die sich von links nach rechts steigert.

Das Stück hat dynamisch viele Wechsel, wirkt rhythmisch recht impulsiv und klingt durch die immer wieder eingeflochtenen einfachen bis dreifachen Vorschläge komplex: ein etwas ungewohntes, aber sehr interessantes Feuerwerk! Durch das frei wählbare «Instrument» wird es bei jedem Künstler als ein einzigartiger Klang erstrahlen.

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Áskell Másson: Fo(u)r Mallets, für 4 Solo-Mallets, Perc 42, Fr. 12.00, Editions Bim, Vuarmarens

Schmelzendes Wälzerlein

«Souvenir» von Franz Drdla, ursprünglich für Violine und Klavier, hier in der Bratschenversion.

Foto: Thomas Max Müller/pixelio.de (s. unten)

Der weitgereiste tschechische Violinist František Drdla (1868–1944), Theorieschüler von Anton Bruckner am Wiener Konservatiorium, hat über 200 Werke mit leichter Musik geschrieben: nebst zwei Operetten und einem Violinkonzert viele Genrestücke für Violine und Klavier. Eines der bekanntesten, dieses schmelzende, harmonisch reizvoll begleitete Wälzerlein, ist jetzt auch für Viola dankbar bearbeitet. Es liegt auf der Bratsche in derselben Tonart so gut wie auf der Geige.

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Franz Drdla: Souvenir, für Viola und Klavier bearb. von Heinz Bethmann, Partitur und Violastimme, BU 8194, € 11.00, Musikverlag Bruno Uetz, Halberstadt 2019

 

 

 

Bild oben: Thomas Max Müller / pixelio.de

Mitreissende Exotik

Florian Bramböck hat traditionelle Nummern des Afro-Latin-Jazz neu gedeutet und eigene dazugesetzt: Ein musikalisches Vergnügen mit Drive für zwei Klarinetten.

Foto: Pablo García Saldaña on Unsplash (s. unten)

Ein karibischer Palmenstrand mit Fischerboot ziert den Umschlag dieses Duetthefts des österreichischen Komponisten und Saxofonisten Florian Bramböck und zeigt damit, wohin hier die musikalische Reise geht. Die 16 Titel – teils Eigenkompositionen, teils Bearbeitungen bekannter Melodien – erzählen von oder stammen aus Afrika, Südamerika, der Karibik und New Orleans und machen beim Spielen wie beim Zuhören gleichermassen Spass. In Bezug auf den Tonumfang und die verwendeten Tonarten bewegen sich die Stücke auf einem einfachen bis mittleren Schwierigkeitsgrad. Allerdings halten sie einige rhythmische Herausforderungen bereit, die es für in diesen Stilen nicht so geübte Klarinettisten zu meistern gilt.

Bramböck versteht es bestens, auch bekannte Titel spannend und für die Klarinette sehr gut klingend zu setzen. An Hits sind in dieser Ausgabe beispielsweise das vom Buena Vista Social Club bekannte Chan Chan oder Miriam Makebas Pata Pata zu finden. Aber auch dem als Volks- und Kinderlied wohlbekannten La Cucaracha vermag Florian Bramböck, indem er es in den ¾-Takt setzt, ganz neue und überraschende Seiten abzugewinnen. Und so kommt es im Heft sogar zwei Mal vor: einmal als Ouverture und schliesslich als effektvolles Walzer-Finale «dramatico» – was für ein Spass! Mit Titeln wie Meerenge, mehr Weite (ein Merengue!) oder dem cool cruisenden Cha-Cha-Cha Three Days Off in My Cadillac zeigt Bramböck seinen musikalischen Humor. Einige der Titel gibt es von ihm auch schon in einer Ausgabe für drei Klarinetten, die ebenfalls sehr zu empfehlen ist (UE 35568).

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Florian Bramböck: Afro-Latin Clarinet Duets, 16 Stücke für zwei Klarinetten, UE 34535, € 14.95, Universal Edition, Wien 2019

 

 

 

Delyana Lazarova gewinnt Hallé-Preis

Die bulgarische Dirigentin Delyana Lazarova ist Gewinnerin der ersten Siemens Hallé International Conductors Competition. Das Preisgeld beträgt 19’000 Franken (15’000 Pfund).

Delayana Lazarova. Foto: Hallé

Mit der Auszeichnung sind zudem ein zweijähriges Engagement als Assistant Conductor in Hallé und das Amt der musikalischen Leitung des Hallé Youth Orchestra verbunden.

Lazarova hat 2019 den ersten Dirigentenwettbewerb des Nationalen Rundfunks Albaniens sowie den James Conlon Conducting Prize des Aspen Music Festivals gewonnen. Zur Zeit erwirbt sie sich bei Johannes Schläfli an der ZHdK (Zürcher Hochschule der Künste) einen Master in Dirigieren. An der Indiana University (USA) hat sie bereits ein Masterstudium in Violine absolviert, das sie mit Auszeichnung abschloss.

Ihre aktuellen Engagements umfassen Dirigate beim Hungarian National Radio Symphony Orchestra, dem Albanian Radio Television Symphony Orchestra und den italienischen Solisti Aquilani. Mit dem ZHdK-Studium verbunden ist überdies ein Debüt mit Carmen beim Staatstheater von Meiningen in Deutschland.

Ausdrucksvolle Sanglichkeit

Die beiden Interpretinnen, Ursula Büttiker und Minako Matsuura, stützen sich bei ihrer Auswahl an Stücken für Flöte und Klavier ganz auf die französische Tradition.

Foto: Venla Kevic,Hector Berlioz,Pierre Camus,Theobald Boehm,Wilhelm Bernhard Molique

Schon mit ihren ersten CD-Veröffentlichungen liess die Schweizer Flötistin Ursula Büttiker aufhorchen. Als letzte Schülerin von André Jaunet ausgebildet, nahm sie auch Gesangsunterricht. Kein Wunder also, dass ihr Flötenspiel in erster Linie auf expressive Kantabilität abzielt.

Die Musikerin setzt sich mit der Leidenschaft einer um Gegenpositionen bemühten Entdeckerin für kaum bekannte Werke ein. Machte die CD Musical Postcards mit Raritäten von Pál Járdányi oder Bryan Kelly bekannt, so fiel die Nachfolgeproduktion, lauter Werke für Flöte solo, mit solchen von Jindřich Feld und Saverio Mercadante auf.

Ganz in der französischen, vom Flötenbauer und Komponisten Theobald Boehm geprägten Tradition steht die zum 150. Todestag von Hector Berlioz produzierte CD Élégie – Rêverie – Caprice mit der hellhörig mitgestaltenden Pianistin Minako Matsuura. Im Zentrum steht mit Jules Mouquet ein von der griechischen Mythologie inspirierter Rom-Preisträger. In seiner La Flûte de Pan betitelten Sonate aus dem Jahr 1906 wechseln impressionistisch angehauchte Stimmungen mit Brillanz und Virtuosität in klassizistischer Manier ebenso häufig ab wie die dynamischen Gegensätze. Obschon sie mit einem Minimum an Vibrato auskommt, entwickelt Ursula Büttiker selbst in sehr tiefen Lagen beeindruckende Expressivität. Ihre bravouröse Atemtechnik kommt stark durchchromatisierten Läufen zugute; der delikate Anschlag der Pianistin erhöht den Klangzauber der vielen zarten Echoeffekte.

Typisch französische Eleganz erfüllt sowohl die Cinq Pièces brèves von Mouquet, Chanson et Badinerie von Pierre Camus als auch die Élégie op. 47 von Theobald Boehm und die von einer Tarantella gekrönten Drei musikalischen Skizzen von Wilhelm Bernhard Molique, der mit Berlioz das Todesjahr teilt. In Rêverie et Caprice op. 8, dem einzigen konzertanten Werk von Berlioz, ist dank der subtilen Einrichtung für Flöte und Klavier von Hans-Wolfgang Riedel nicht herauszuhören, dass es ursprünglich für Violine und Orchester gesetzt wurde und auf Skizzen zur Kavatina der Teresa aus der Oper Benvenuto Cellini basiert.
 

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Rêverie et Caprice
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Badinerie
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Gebert unterrichtet in Zürich

Die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) hat Anna Gebert als neue Hauptfachdozentin für das Fach Violine verpflichtet.

Anna Gebert (Bild: ZHdK)

Ab Studienjahr 2020/21 tritt Gebert dem Zürcher Violinen-Kollegium mit Ilya Gringolts, Andreas Janke, Rudolf Koelman, Sergey Malov und Alexander Sitkovetski bei. Die polnisch-finnische Violinistin absolvierte ihre Studien an Musikhochschulen in Europa und in den USA. International ist sie ebenso gefragt als Dozentin wie als Musikerin in namhaften Orchestern und an zahlreichen Festivals. Ihre fundierten Kenntnisse in historischer Aufführungspraxis sowie in zeitgenössischer Musik bereichern die bestehende Expertise der ZHdK.

Sinfonie Nr. 9

Jeden Freitag gibts Beethoven: Zu seinem 250. Geburtstag blicken wir wöchentlich auf eines seiner Werke. Heute auf seine Sinfonie Nr. 9 in d-Moll.

Ausschnitt aus dem Beethoven-Porträt von Joseph Karl Stieler, ca. 1820

Es gibt wohl kaum mehr als ein Dutzend Kompositionen der klassischen Musik, die im Bewusstsein der Allgemeinheit einen festen Platz gefunden haben. Die Gründe dafür sind höchst unterschiedlich; sie reichen von der vielfachen Verwendung bei offiziellen Anlässen, in Funk, Film und Fernsehen bis hin zu mitunter gar nicht so lokalen Traditionen. Denn Hand aufs Herz: Wer hat zu Silvester oder Neujahr nicht schon eine mehr oder weniger festliche Aufführung von Beethovens Neunter gehört, an deren Ende dann der Gesang alles Sinfonische in den Schatten zu stellen scheint? Wenigstens in diesem erhabenen Moment ist es dann so, als wären – vielen alltäglichen Erfahrungen zum Trotz – alle Menschen wirklich Brüder. Zudem ist diese «Ode to Joy» nie ein schlechter Ersatz gewesen, wenn einmal keine Nationalhymne verfügbar war oder passen wollte (so in Rhodesien, im Kosovo oder auch beim einstigen Einzug gesamtdeutscher Mannschaften bei Olympischen Spielen). In all diesen Fällen wurden Friedrich Schillers visionäre Verse allerdings nicht gesungen, vielleicht noch nicht einmal mehr mitgedacht. Gleiches gilt wohl (leider) auch für die offizielle Verwendung als Europahymne (seit 1985) – wortfrei arrangiert durch Herbert von Karajan in den Versionen für Klavier, Blasorchester oder Orchester.

An Arrangements fehlte es schon im 19. Jahrhundert nicht. Die Gretchenfrage lautete bereits damals, wie man es denn mit dem Text und den Gesangsstimmen hält. Bei Franz Liszt etwa wurde die virtuose Transkription für Klavier zu zwei Händen (1853) im Finale zum Klavierauszug. Gegen eine solche Darstellung hatte schon Jahre zuvor Carl Czerny anlässlich einer von ihm selbst anzufertigenden Bearbeitung für Klavier zu vier Händen Vorbehalte: Wo hätte man auch die Singstimmen einfügen sollen, da (wie noch heute üblich) den beiden Spielern die jeweils linke bzw. rechte Seite der aufgeschlagenen Ausgabe zugewiesen wird? Und so erschien beim Leipziger Verleger Probst schliesslich ein Klavierband im Querformat, die Singstimmen wurden separat im Hochformat beigelegt. Czerny hatte sich in einem Brief vom 3. September 1828 freilich noch pragmatischer (und wie wir heute wissen: mit geradezu hellseherischen Fähigkeiten) geäussert: «Die Zukunft wird die Größe der Musikalischen Composition schon so zu schätzen wissen, daß sie die Worte darüber vergißt.»


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Lüthi und Grimes ausgezeichnet

Der mit 50’000 Franken dotierte Kulturpreis der Bürgi-Willert-Stiftung geht dieses Jahr zu gleichen Teilen an die beiden Berner Musikerinnen Shirley Grimes und Meret Lüthi.

Meret Lüthi (Foto: Guillaume Perret)

Die aus Irland stammende Sängerin und Songwriterin Shirley Grimes trägt seit Jahrzehnten zum kulturellen Leben in der Region Bern bei. Ihre musikalische Vielseitigkeit hat sie in verschiedenen Bands eingebracht, gleichzeitig hat sie aber auch viele eigene Projekte realisiert.

Die Berner Geigerin Meret Lüthi hat in den letzten zwölf Jahren das Berner Orchester für Alte Musik «Les Passions de l’Ame» aufgebaut und in der internationalen Musikszene positioniert. Dazu hat sie zahlreiche barocke Werke entdeckt und öffentlich aufgeführt oder aufgenommen.

Seit 1992 richtet die Bürgi-Willert-Stiftung alle zwei Jahre einen Kulturpreis aus. Dieser geht an Personen, die das Berner Kulturleben seit Jahren bereichern.

Kopatchinskaja ist Wiener Ehrenmitglied

Die in Bern lebende Geigerin Patricia Kopatchinskaja und der Bariton Christian Gerhaher sind zu Ehrenmitgliedern der Wiener Konzerthausgesellschaft ernannt worden.

Patricia Kopatchinskaja. Foto: zVg

Bereits die Statuen von 1913 des im selben Jahr gegründeten Vereins Wiener Konzerthausgesellschaft sahen die Möglichkeit Ehrenmitglieder zu ernennen vor. 1937 wurde erstmals davon Gebrauch gemacht, als Felix Stransky, Finanzreferent und Direktionsmitglied der Wiener Konzerthausgesellschaft, zum ersten Ehrenmitglied ernannt wurde, das Zweite war Richard Strauss im Jahr 1938.

Die moldawischstämmige Geigerin Patricia Kopatchinskaja studierte zunächst Geige bei Michaela Schlögl, einer Schülerin von David Oistrach. 1989 emigrierte die Familie nach Wien, wo sie ihre Studien an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien weiterführte. Im Alter von 21 Jahren wechselte sie als Stipendiatin an das Konservatorium in Bern. Dort diplomierte sie im Jahr 2000 mit Auszeichnung.

Nachdem sie 2014 bis 2018 als Artistic Partner des Saint Paul Chamber Orchestra in den USA amtierte, hat sie Ende 2018 die künstlerische Leitung der Camerata Bern übernommen, mit der sie inzwischen die Projekte «Krieg und Chips», sowie «Zeit und Ewigkeit» inszeniert hat.

Bern, Dresden und Salzburg kooperieren

Ab Herbst bietet die Hochschule der Künste Bern (HKB) gemeinsam mit den Musikhochschulen in Dresden und Salzburg den Master Specialized Music Performance in der Vertiefung «Neue Musik / Création musicale» als internationalen Kooperationsmaster an.

Foto: Mimi Thian / Unsplash (s. unten)

Wer sich in Bern in der zeitgenössischen Musik vertiefen will, profitiert von Transdisziplinarität: Studio, Live-Elektronik, Komposition und creative practice, Ensembles, Sound Arts, Theater, bildende Kunst, Literatur, Performance, Festivals – alle Verbindungen sind möglich und werden unterstützt mit einem international besetzten Dozierendenteam und einem individuell belegbaren Studienplan.

Neu ist der HKB-Studiengang Master Specialized Music Performance in der Vertiefung «Neue Musik / Création musicale» ab 2020 in einem europaweit exklusiven institutionellen Netzwerk eingebunden: dem internationalen Kooperationsmaster Neue Musik Bern-Dresden-Salzburg. Studierende der HKB besuchen auch eine der beiden anderen Hochschulen ihrer Wahl, entwickeln und realisieren Projekte und gehen damit auf Tournee.

Orchester sagen Asientourneen ab

Die Festivals Strings Lucerne und das ORF Radio-Symphonieorchester Wien haben wegen des Coronavirus Asien-Tourneen abgesagt.

Festival Strings Luzern. Foto: Dennis Yulov

Von 10. bis 21. März hätte das ORF Radio-Symphonieorchester Wien auf Tournee durch Südkorea und China sein sollen, nun wurde die Gastspielreise unter dem finnischen Dirigenten John Storgards vollständig abgesagt. Grund dafür ist die Verbreitung des Coronavirus in China, die inzwischen auch zu einer Beeinträchtigung des Kulturlebens in Südkorea führt.

Zunächst waren Anfang Februar die beiden in China geplanten Konzerte seitens des Veranstalters abgesagt worden, eine Woche später zog sich dann auch einer der Veranstalter aus Korea zurück. Die verbleibenden Konzerte in Korea können nun seitens des Orchesters nicht mehr durchgeführt werden.

Wegen der Infektionswelle muss auch eine lange geplante Konzerttournee der Festival Strings Lucerne mit Midori, die im März durch mehrere ostasiatischen Länder hätte führen sollen, abgesagt werden. Auch eine verkürzte Tournee ohne die in Festlandchina geplanten Konzerte sei aufgrund verschärfter Reisebestimmungen und dem Erliegen des öffentlichen Lebens an geplanten Tourneeorten wie Hongkong zuletzt nicht mehr in Frage gekommen. Die abgesagten Konzerte sollen baldmöglichst nachgeholt werden.

Geplant waren Konzerte in Singapur und Seoul sowie in den chinesischen Städten Shanghai, Changsha und Zhuhai sowie ein Auftritt beim Hong Kong Arts Festival, bei dem die Festival Strings Lucerne seit 1978 gastieren. Das Hong Kong Arts Festival, eines der renommiertesten Festivals Asiens, wurde mit über 120 Veranstaltungen in diesem Jahr am Ende sogar komplett abgesagt. Ein einmaliger Vorgang in der bald 50-jährigen Geschichte des Festivals.

Der geheimnisvolle Graf und sein Festival

Um Giacinto Scelsis Leben und Wirken ranken sich Mythen und Legenden wie kaum bei einem anderen Komponisten. Ein kleines Festival in Basel kümmert sich seit ein paar Jahren um seinen Nachlass.

Die Pianistin Marianne Schroeder kannte Scelsi persönlich. Foto: Niklaus Rüegg

1905 in einer adeligen Familie geboren und aufgewachsen auf Schloss Valva in der Nähe von Neapel, trägt er den Titel Conte d’Ayala Valva. «Schon als Dreijähriger pflegte er stundenlang mit Füssen, Armen und Ellbogen auf dem Klavier zu improvisieren und wollte dabei unter keinen Umständen gestört werden», erzählt die Pianistin Marianne Schroeder, die Scelsi persönlich gekannt und mit ihm gearbeitet hatte.

Als Pianist war er weitgehend Autodidakt. Später studierte er bei drei Lehrern Komposition, beim Debussy-Spezialisten Giacinto Sallustio in Rom, bei Egon Köhler, einem Skrjabin-Anhänger, in Genf und Zwölftontechnik beim Schönbergschüler Walter Klein in Wien. Diese Studien vollzogen sich ausserhalb des akademischen Betriebs, von dem er sich geflissentlich fernhielt und daher mitunter verachtet oder belächelt wurde. Marianne Schroeder berichtet voller Begeisterung von einem Konzert 1979 im Hans-Huber-Saal in Basel, in dem Jürg Wittenbach Werke von Scelsi aufführte. Mit dabei war die japanische Sopranistin und Scelsi-Spezialistin Michiko Hirayama. 2014 lud Schroeder die inzwischen 90-jährige Sängerin an ihr erstes Scelsi-Festival im Gare du Nord ein. «Es war unglaublich: Sie sang ein anderthalbstündiges Programm mit den Canti del Capricorno, die ihr gewidmet waren.»

Während des Zweiten Weltkriegs hatte Scelsi mit nervlichen Problemen zu kämpfen und beschäftigte sich verstärkt mit Spiritualismus, wandte sich fernöstlichen Lehren zu und betrieb intensiv Yoga. Er glaubte, dass er seine Musik als Botschaften aus dem Jenseits, etwa von hinduistischen Gottheiten, empfange: «Ich bin nur ein Medium im Dienst von etwas viel Grösserem als ich», sagt er im Filmporträt Die erste Bewegung des Unbewegten aus dem Jahr 2018.

Er war auf der Suche nach Mikrotonalitäten, suchte immer Reibungen, kleine Sekunden und Septimen. 1965 hörte er auf, auf dem Klavier zu improvisieren, und begann sich mit der Ondiola zu beschäftigen, dem ersten elektronischen Instrument, auf dem man Tonhöhen einstellen konnte.

«Jetzt muss ich Scelsi spielen»

Marianne Schroeder, zu Beginn ihrer Laufbahn Klavierlehrerin an der Musikschule Basel, stellt fest: «Ich fühlte mich erst glücklich, als ich anfing, moderne Musik zu spielen. Damit hatte ich immer Erfolg». Sie setzte sich mit Bartók, Stockhausen, Feldman und Cage auseinander. «Scelsi war eine logische Folge davon», ist sie überzeugt. Nach dem Initialerlebnis des Scelsi-Konzerts in Basel dauerte es noch 5 Jahre, bis sie den Mut fasste, den Meister anzurufen: «1984, ich war gerade in Darmstadt, kam es wie ein Blitz: Jetzt muss ich Scelsi spielen.» Im Jahr darauf traf sie den Meister in Rom. Er stellte drei Fragen: «Wie alt sind Sie? Was für Musik spielen Sie? Machen Sie Yoga?» Yoga machte sie nicht, fing aber bald nach Scelsis Tod (1988) damit an und betreibt es bis heute intensiv: «Scelsi war äusserst liebenswürdig und ruhig, jemand, der nur das Gute für einen möchte.» Da er immer nachts arbeitete, konnte man ihn erst ab 16 Uhr treffen. Scelsi fragte oft: «Hast du heute improvisiert?» Es war ihm äusserst wichtig, dass ein Musiker die Musik aus sich heraus entstehen lassen müsse.

Man könne seine Musik nicht länger als zehn Minuten am Stück anhören, sagte Scelsi, sie sei zu eruptiv. Heute sind wir da weiter, meint Schroeder: «Bei Scelsi gibt es etwas, das emotional stimmt. Es ist etwas Natürliches, Fundamentales und Ungekünsteltes dabei.»
 

«Jetzt mach ich ein Festival»

Nach einem Konzert in Rom hatte Schroeder ihre zweite wichtige Eingebung: «Jetzt mach ich ein Festival.» In Anja Wernicke fand sie eine Projektleiterin, und im Januar 2014 ging die erste, dreitägige Ausgabe erfolgreich über die Bühne. Mit Ausnahme von 2015 war das Festival immer Gast beim Gare du Nord. Der erste Tag findet aber traditionellerweise im Fachwerk Allschwil statt, so geschehen auch dieses Jahr am 2. Februar. Zunächst stand ein Gesangs-Workshop mit Amit Sharma auf dem Programm, gefolgt von einer Lesung aus dem autobiografischen Werk Scelsis, Il sogno 101. Die Musik war ganz dem Klavier gewidmet. Zur Aufführung gelangten Cinque incantesimi (1953), vorgetragen von Marija Skender. Diese Stücke gehören zu den bekanntesten Klavierwerken des Komponisten. Sie entstanden über mehrere Jahre in nächtlichen Improvisationen, die auf Tonband aufgenommen wurden. Action Music 1-4 (1955), interpretiert von Giusy Caruso, stammt aus der Zeit, als sich Scelsi in New York durch das Action-Painting unter anderem von Jackson Pollock inspirieren liess. Den Schlusspunkt setzte Marianne Schroeder mit I Capricci di TY, Suite Nr. 6 (1938-39), die die Capricen seiner Frau Dorothy beschreiben sollen.

Vom 7. bis 9. Mai sind in Allschwil (der Gare du Nord steht diesmal aus organisatorischen Gründen nicht zur Verfügung) drei weitere Festivaltage geplant. Fest steht eine Masterclass unter dem Titel «The Art of Scelsi Singing» mit der Sopranistin und Schülerin von Michiko Hirayama, Maki Ota. Marianne Schroeder sprudelt vor Begeisterung und Programmideen, bedauert aber auch, dass sie aus Überlastung im Moment nur kurzfristig planen könne: «Ein Traum wäre Scelsis monumentales Frühwerk La nascita del verbo mit Orchester und Chor, aber das braucht mindestens zwei Jahre Vorbereitung.»
 

Zürcher Kulturpreis geht an Dodo Hug

Der diesjährige, mit 50’000 Franken dotierte Kulturpreis des Kantons Zürich geht an die Sängerin und Kabarettistin Dodo Hug, die beiden Förderpreise an das Netzwerk Bla*Sh und das Musikerinnen-Duo Eclecta.

Dodo Hug (Foto: Volker Dübener)

Dodo Hug stand anfangs unter anderem mit Christoph Marthaler & Pepe Solbach auf der Bühne, später gründete sie ihr Ensemble Mad Dodo. Seit 1994 arbeitet sie gemeinsam mit dem Sardischen Musiker und Cantautore Efisio Contini, der auch ihr Lebenspartner ist. Seit 2004 ist sie schweizerisch/italienische Doppelbürgerin.

Die beiden Förderpreise von je 30’000 Franken gehen in diesem Jahr an das Netzwerk Bla*sh und das Musikerinnen Duo Eclecta. Bla*sh – kurz für Black She – ist ein Netzwerk Schwarzer Kulturvermittlerinnen und Künstlerinnen in der Deutschschweiz, das 2013 in Zürich gegründet wurde. Das Netzwerk setzt sich ein für die Ermächtigung von schwarzen Frauen in einer Gesellschaft, in der Weisssein und Männlichkeit weiterhin als Norm gelten.

Eclecta steht für ein ausgesprochen eklektisch elektrisierendes Musikfeuerwerk. Verantwortlich dafür sind die Musikerinnen Andrina Bollinger (*1991) und Marena Whitcher (*1990). Sie singen, rasseln, schreien und flüstern sich in die Musik hinein. Selbst kaputte Glockenspiele, defekte Klaviere, Ballone oder gestanzte Papiere finden Eingang in die Songs. Die Musikerinnen haben ein Jazz-Studium in Zürich absolviert und begannen früh, in eigenen Formationen musikalische Scheuklappen abzulegen.

 

Zusammen denken und hineinwirken

«Musik wirkt auf drei Ebenen: regional, sozial und individuell.» Diese Feststellung im Trailer zum Symposium in Feldkirch war der Stoff, an dem sich die zweitägige Veranstaltung orientierte.

Das Vorarlberger Landeskonservatorium lud am 4. und 5. Februar zu einem Symposium für Kultur- und Musikschaffende ein. Das Thema «Musik und Gesellschaft» brachte rund 170 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem Vierländereck im Montforthaus Feldkirch zusammen. Neben Vorträgen und Inputs wurde in Gesprächsrunden angeregt debattiert und das erstmals aufgelegte Format gern zum Austausch genutzt.

Kultur für alle, die wollen

Martin Tröndle (Zeppelin-Universität Friedrichshafen) legte mit seinem Bericht zur «Nicht-Besucher-Forschung» einen Grundstein für die anschliessenden Debatten: Kultureinrichtungen (im engeren Sinn Theater, Opernhaus und klassisches Konzerthaus) sind zwar bekannt als Orte, an denen sich nur ein kleiner Teil der Gesellschaft findet. Es ist aber noch recht unklar, an wem und vor allem aus welchen Gründen die vielen Angebote des klassischen Sektors vorbeigehen. Einige Erkenntnisse aus einer Studie (2019 in Berlin mit rund 1300 jungen Akademikerinnen und Akademikern durchgeführt) seien hier kurz erwähnt: Das klassische Feuilleton als Ort der Information und Vorbereitung wird kaum noch genutzt, hingegen sind Offline-Informationen und der Freundeskreis nach dem Internet die zweitwichtigste Quelle.

Gern werden Zeit- und Geldknappheit genannt als Gründe, klassische Veranstaltungen nicht zu besuchen; sie sind jedoch nicht ausschlaggebend für das Besucherverhalten. Tröndle spricht von 11 % sogenannter «Nie-Besuchern», um welche sich zu bemühen aussichtslos sei; lohnenswerter weil erfolgversprechender sei es, die rund 20 % der «Noch-Nicht»- und «Vielleicht-Besucher» kennenzulernen. Institutionen können sich fragen, wie sie auf allen möglichen Ebenen «Nähe» anbieten und ihr Haus und ihre Angebote für alle, welche Kultur wollen, einladend gestalten.

Musik und Regionalentwicklung

Das überregional bekannt gewordene Lokalprojekt Konzerthaus Blaibach im Bayerischen Wald wurde massgeblich über Städtebauprogramme finanziert. Das leidig bekannte Problem der Betriebskosten für die Programmarbeit gibt es auch hier, wie das viele andere Veranstalter auch kennen. Auf Mittel der öffentlichen Hand wird hier unterdessen ganz verzichtet, da diese zu geringfügig sind, im Vergleich zum Aufwand, diese zu erhalten. Intendant Thomas E. Bauer vertritt leidenschaftlich den Standpunkt, dass es Anspruch auf prominente Kultur ebenso gibt wie auf Bildung und Infrastruktur – auch auf dem Land.

Die Konzertreihe «Montforter Zwischentöne» sucht regionale Relevanz, indem sie die lokalen Communities einbindet, Stadträume bespielt und über Feldkirch hinaus ins Rheintal mit rund 250 000 Einwohnern wirkt. In Eigenproduktionen werden Themen der Region aufgegriffen und künstlerisch in neuen Konzertformaten verarbeitet; Partizipation meint hier, die «User-Kompetenz» ebenso ernst zu nehmen wie Expertentum.

Qualifizierung für Soziomusik-Projekte

Ein Beispiel praktischer Talentförderung brachte Christine Rhomberg (Hilti Foundation) mit dem Bericht zum Engagement «Musik für sozialen Wandel» und führte in das zweite grosse Thema des Treffens ein: Wie können Musikerinnen und Musiker bereits in der Ausbildung befähigt werden, sich in sozialen Kontexten einzubringen? Um den etablierten Musikbetrieb und soziomusikalische Initiativen wie JeKi oder Superar nachhaltig und gewinnbringend zu verbinden, sind kreative Menschen und kluge Kooperationen gefragt.

Musikstudium und Pädagogikausbildung verstärkt zusammen zu denken, um die verheerenden Lücken in der musischen Grundbildung von Kindern wieder zu schliessen, ist eine drängende Aufgabe. Dies machte auch der Beitrag von Peter Heiler, Musikschule Bregenz, deutlich: Für eine «Musikschule in der Schule» braucht es Musiklehrkräfte, welche das gesamte Spektrum «ausbilden – lernen – spielen» im Blick haben, da es immer weniger Unterstützung vonseiten der Eltern gibt.

Viele musikalische Programmpunkte bereicherten das Symposium, es musizierten diverse Ensembles des Vorarlberger Landeskonservatoriums wie auch der vielköpfige Superar-Chor (Leitung Magdalena Fingerlos). Die Finalrunde des Hugo-Wettbewerbs – eines internationalen Studierendenwettbewerbs der Montforter Zwischentöne für neue Konzertformate – präsentierte vier Teams deutschsprachiger Musikhochschulen mit Ideen zum Thema «Umwege nehmen». Das Kollektiv XYlit aus Leipzig überzeugte mit dem Beitrag «Traumlandschaft» Jury und Publikum; die Hugo-Sieger erhalten 1000 Euro Preisgeld und können ihr Projekt nun mit einem professionellen Produktionsbudget für das Sommerfestival der Montforter Zwischentöne ausarbeiten.

Das Symposium war ein gelungener Auftakt für weitergehenden Austausch zwischen Musik und Gesellschaft und klug platziert: Das Landeskonservatorium hat soeben die Akkreditierung als Musikuniversität beantragt. Für den künstlerischen Leiter, Jörg Maria Ortwein, stehen sein Haus und das Symposium gleichermassen als «Impulsgeber für innovative Ansätze. Ziel ist es, die entstehende Musikprivatuniversität als eine ideale Plattform zur Entwicklung von künstlerischen Persönlichkeiten zu etablieren, die vielschichtig in die Gesellschaft hineinwirkt.»

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Für Jörg Maria Ortwein, künstlerischer Leiter des Landeskonservatoriums, sind Vernetzung und innovative Vermittlungsansätze wichtig.

Die Tochter der fernen Geliebten

Jüri Reinvere bringt in Regensburg mit der Oper «Minona» ein geheimnisumwittertes Kapitel in Beethovens Biografie auf die Bühne.

Nein, Beethoven als Person kommt in dieser Oper nicht vor. Auch seine Musik wird nur einmal erkennbar zitiert, wenn gegen Schluss, wie ein Kommentar aus dem Off, das Vokalquartett Mir ist so wunderbar aus Fidelio erklingt. Im Mittelpunkt steht aber Beethovens Tochter, und sie heisst Minona. Wie bitte, denkt sich da jeder musikhistorisch auch nur halbwegs Informierte, von einer Vaterschaft Beethovens ist doch in der Wissenschaft nirgendwo die Rede.

Doch möglich wäre es durchaus. Das ist jedenfalls die These von Jüri Reinvere, Autor der Oper Minona, die jetzt zum Auftakt des sogenannten Beethovenjahres im bayerischen Regensburg zur Uraufführung kam. Der 1971 in Estland geborene und seit einigen Jahren in Frankfurt am Main lebende Komponist hat vor dem Abfassen des Librettos akribische Recherchen angestellt, um seine Annahme und damit den Plot seiner Oper zu untermauern. Unter anderem fand er in seiner Heimatstadt Tallinn Dokumente, die einen tiefen Einblick in Minonas Familiengeschichte ermöglichen.

Die ominöse «ferne Geliebte»

Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist jene geheimnisvolle Person, der Beethoven in seinem Liederzyklus An die ferne Geliebte von 1816 ein Denkmal setzte und die vermutlich mit der «unsterblichen Geliebten» identisch ist, an die er 1812 nach einem Kurzaufenthalt in Prag einen Brief adressierte, aber nie abschickte.

Hinter dieser Gestalt, deren Anonymität Beethoven sorgsam hütete, vermutet Reinvere – er stützt sich dabei vor allem auf die Untersuchungen des 1986 in der DDR verstorbenen Basler Beethovenforschers Harry Goldschmidt – die ungarische Gräfin Josephine von Brunsvik, verheiratete von Stackelberg; sie war Beethovens Klavierschülerin, und er fühlte sich nachweislich stark zu ihr hingezogen. In jenen Julitagen 1812, als Beethoven in Prag war, soll er sich heimlich mit ihr getroffen haben, lautet Reinveres These, und da soll es passiert sein. Doch es gibt nur Indizien, keine Beweise, dass Josephine zu diesem Zeitpunkt in Prag weilte. Wohl aber eine andere Frau, die Beethoven ebenfalls sehr nahestand: Antonie Brentano. Der biografische Nebel wird sich wohl nie ganz lichten.

Historische und künstlerische Wahrheit

Die historischen Recherchen sind das eine, die künstlerische Freiheit das andere. Reinvere, der gekonnt zwischen Realität und Fiktion balanciert, hat sich an die Variante Brunsvik gehalten und daraus ein ausgesprochen operntaugliches Libretto gemacht: Das mögliche Treffen zwischen Beethoven und Josephine in Prag hat Folgen, und die hören auf den Namen Minona.

Tatsächlich – und da kommt wieder Realität zum Zug – wurde das Mädchen genau neun Monate nach dem ominösen Prager Datum geboren und auf den Namen Minona von Stackelberg getauft. Josephine und ihr Ehemann Baron von Stackelberg befanden sich aber im Juli 1812 bereits in Scheidung und lebten getrennt – honi soit qui mal y pense. Die Gräfin von Goltz, der die verzweifelte Josephine von ihrem nicht standesgemässen Fehltritt erzählt, empfiehlt in der Oper das altbekannte Rezept: Auf, nach Wien, ins erkaltete Ehebett! Ein Kind von diesem verliebten Eigenbrötler Beethoven wäre der gesellschaftliche Ruin.

Zwei Väter und keine Identität

Diese Vorgeschichte wird in den ersten beiden Bildern der Oper erzählt. Der weitere Fortgang des Zweiakters beschreibt den Lebensweg der realen Minona. Sie wird nun zur Hauptfigur der Oper. Man sieht sie als junges Mädchen und als alte Frau, teilweise beides in Simultanszenen. Sie ist ein sogenannt schwieriger Charakter; wie ein weiblicher Kaspar Hauser ist sie lebenslang auf der Suche nach ihrer Identität, eine tragische Gestalt zwischen zwei Vätern. Der eine, der Kämpfer für hohe Ideale, zu dem sie sich unerklärlicherweise instinktiv hingezogen fühlt, ist nur in ihren Genen und ihrem Unterbewusstsein anwesend. Der andere, ein protestantischer Glaubensfanatiker und tyrannischer Erzieher, dominiert ihr reales Dasein mit physischer und psychischer Gewalt. Zwischen diesen beiden Polen geht sie zugrunde.

Gegen Schluss werden ihr als Erbin die Liebesbriefe Beethovens an ihre Mutter Josephine ausgehändigt. Nun fühlt sie ihre Ahnungen bestätigt und weiss, wer sie ist. Da erscheint die Figur der Leonore, eine Allegorie der idealen Liebe, und es entspinnt sich ein philosophisch grundierter Dialog über das wahre Wesen der Liebe. Minona erkennt, dass ihre Gefühle unter dem Druck der frömmlerischen Erziehung verkümmert sind und sie ihr Leben nie gelebt hat: «Mich hat es nie gegeben … Ich weiss nicht, woher ich komme, weiss nicht, wer mich gewollt hat.» Minona, rückwärts gelesen, heisst «anonym». Was bleibt, sind Hoffnungslosigkeit und Leere. Leicht benommen schleicht man sich aus dem Theater.

Leuchtender Orchesterklang

Der zwischen Stationendrama und geistreichem Konversationsstück angesiedelte Zweiakter verschränkt Zeiten und Schauplätze kunstvoll ineinander. Die ausgiebigen Dialogpartien sind mit grosser Sorgfalt ausgearbeitet; ein arioser Tonfall, der die Wortverständlichkeit nicht beeinträchtigt, herrscht vor. Getragen wird der Gesang durch den kraftvoll strömenden Orchesterklang. Er leuchtet in satten Farben, wirkt nie schwerfällig und lässt erstaunlicherweise die Singstimmen nie untergehen, sondern trägt sie. Mit einigen Orchesterkommentaren werden ausdrucksstarke Höhepunkte gesetzt, derjenige zu Beginn des letzten Bildes fügt dem zunehmend sich verdüsternden Geschehen eine apokalyptische Dimension hinzu. Der Schlussteil zieht sich in die Länge, doch insgesamt sorgt die musikalische Gestaltung sowohl in architektonischer Hinsicht als auch im Detail für Binnenspannung.

Auftritt der Reichsklaviergrossmutter

Die Inszenierung war nicht frei von Schwächen. An der Bühne von Marc Weeger lag es nicht. Mit einem geschickt den Raum strukturierenden Metallgerüst und der Drehbühnenmechanik schuf er die Voraussetzung für schnelle Szenenwechsel und aussagekräftige Dekors. Der Regisseur Hendrik Müller glaubte jedoch, das Stück mit allerlei an den Haaren herbeigezogenen Zutaten aufmöbeln zu müssen. Zu Beginn geistert die Reichsklaviergrossmutter Elly Ney mit weihevollen Gebärden durch die Szene, womit Beethovens Musik gleich unter Naziverdacht gestellt wird – heute ein beliebtes Mittel sich fortschrittlich gebärdender Kulturkritik.

Im Stackelberg-Bild wird dem bigotten Protestantenmilieu mit einem kleinen Exorzismus nachgeholfen, und Beethovens Figur der Leonore erscheint am Schluss als bösartige Ärztin im weissen Kittel, die der Minona Tabletten zum Suizid verabreicht und im Vorbeigehen noch rasch die diebischen Dienstboten erschiesst. Natürlich mit Schalldämpferpistolen, wie bei den Mafiosi. Kreative Selbstverwirklichung in Ehren, aber bitte auf der Experimentierbühne und nicht bei der Uraufführung einer abendfüllenden Oper, wo es darauf ankäme, erst einmal das Werk in seinen Umrissen deutlich zu machen und nicht gleich zu dekonstruieren.

Weitere Aufführungen im Theater Regensburg bis am 30. Mai 2020

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