Paulines Birthday Party

Zum 200. Geburtstag von Pauline Viardot organisiert Aurea Marston ein halbszenisches «Concert in Action». Das Konzert findet, wenn die Finanzierung zustande kommt, im Mai 2021 statt.

Die Protagonistinnen der Party zu Ehren Viardots, die am 18. Juli 1821 zur Welt kam. Foto: zVg,SMPV

Die französische Opernsängerin und Komponistin Pauline Viardot (1821–1910) war eine der vielseitigsten Künstlerinnen des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit war es für Frauen kaum möglich, ihre Talente zu entfalten. Gleichwohl hat sie sich als Sängerin, Komponistin und Frau von Welt einen Namen gemacht. Als Sängerin war sie vergleichbar mit Stars wie Adele oder Netrebko, nur dass sie offenbar über einen weitaus grösseren Stimmumfang als diese verfügte. Die Treffen in ihrem Salon mit namhaften Zeitgenossen wie Franz Liszt oder Clara und Robert Schumann müssen legendär gewesen sein und zeugen nur ansatzweise davon, was für eine interessante Persönlichkeit sie gewesen sein muss. Als Frau von heute sucht man immer wieder vergebens nach weiblichen Vorbildern in der Vergangenheit. Anhand von Pauline Viardot wird man belohnt und in diesem Projekt soll ihr Vermächtnis als Komponistin voll zur Geltung und vor allem zu Gehör kommen!

Aurea Marston, Cornelia Lenzin, Simona Mango und Nicolaia Marston möchten im Mai 2021 Viardots 200. Geburtstag mit einem halbszenischen Konzert feiern. Dabei spielen ihre Lieder, Duette und Liedbearbeitungen die Hauptrolle. Ergänzt werden sie durch weitere Lieder und Duette von Komponisten aus ihrem Freundeskreis (z. B. Johannes Brahms, Franz Liszt oder Clara und Robert Schumann). Neben der Musik wollen die Interpretinnen auch Leben und Zeit der Komponistin mit viel Humor an die Frau und den Mann bringen. Das Programm erhält durch eine leichtfüssige Inszenierung einen erzählerischen roten Faden und eine humorvolle Note. Dadurch soll diese wunderbare Musik der Romantik einem breiten Publikum nahegebracht werden.

In Zeiten von Corona hat das klassische Fundraising die Interpretinnen auf dem Trockenen sitzen lassen, weswegen sie neue Wege zur Finanzierung des Projektes gesucht und ein Crowdfunding gestartet haben:
www.lokalhelden.ch/concerts
 

Plädoyer für Offenheit

Werner Grünzweig hat sechs Komponisten und eine Komponistin über ihre Studienzeit befragt. Eine Spurensuche über verschiedene Wege zur Musik

Man könnte es trocken «Beiträge zur Biografie-Forschung» nennen. Doch Werner Grünzweigs «Gespräche mit sechs Komponisten und einer Komponistin über ihre Studienzeit» bietet weit mehr als subjektive Rückblicke mittlerweile erfolgreicher Komponisten. Wer aufmerksam die Interviews liest mit Peter Ablinger, Orm Finnendahl, Georg Friedrich Haas, Hanspeter Kyburz, Bernhard Lang, Isabel Mundry und Enno Poppe, der erhält tiefe, zugleich lebendige und facettenreiche Einblicke, die einiges sagen über ästhetische Erziehung, über Psychologie und nicht zuletzt auch über ein bestimmtes Milieu namens Neue Musik.

Ein steter Bezugspunkt ist der österreichische Komponist und Kompositionsprofessor Gösta Neuwirth. Er war von etwa 1980 bis 1990 Lehrer aller sieben Porträtierten, teils in Graz, später in Berlin. Neuwirth war ein liberaler Förderer, dem Kompositionstechnik viel, aber nicht alles bedeutete. Mit seinen Studenten sprach er über Filme, über Literatur und Malerei. Den in der Schweiz aufgewachsenen Hanspeter Kyburz inspirierte seine Grazer Studienzeit gerade wegen der Vielfalt: «Göstas Unterricht war sehr anregend, sehr offen, fremde Welten. Aber was macht man dann mit diesen Aliens, die man gesehen hat?»

In der Tat eine zentrale Frage. Wer sich die Entwicklung der sieben so unterschiedlichen Komponisten vergegenwärtigt, kommt erst mal zum Schluss, dass jeder seine eigene ästhetische Welt baute. Kyburz ging in eine fast naturwissenschaftlich-objektive Richtung, Peter Ablinger verfolgte eine konzeptuell-grenzüberschreitende Ästhetik, während sich Georg Friedrich Haas erfolgreich der mikrotonalen Klangerkundung zuwandte. Dass er keine Schule im Sinne Arnold Schönbergs ausbildete, spricht eindeutig für Neuwirth. Es gibt ungleich rigidere Kompositionsprofessoren mit ungleich engerem Musikbegriff.

Neuwirth ist zwar das verbindende Glied, doch Grünzweig geht es nicht primär um den Kompositionsunterricht. In den – bereits in den Jahren 2007 und 2008 geführten – Interviews stellt er seine Fragen offen, vom Gesprächsfluss geleitet, jeweils zugeschnitten auf den jeweiligen Komponisten. Diese Methodik führt zu einer mitreissenden Themenvielfalt, auch zu einem sehr persönlichen Ton. Selbst Fachleute für den ein oder anderen Komponisten werden Neuigkeiten erfahren, auch zwischen den Zeilen einiges herauslesen können (gerade dort, wo Namen nicht genannt werden). Fast melancholisch wird man bei diesen Rückblicken in die 1980er-Jahre. Damals gab es offenbar noch weit mehr Freiheiten als heutzutage, wo auch das Kompositionsstudium sukzessive verschult wird. Im Grunde ist das Buch ein Plädoyer für liberale Offenheit – eine Offenheit, die selbstbestimmte und selbstbewusste Wege erst ermöglicht.

Image

Werner Grünzweig: Wie entsteht dabei Musik? Gespräche mit sechs Komponisten und einer Komponistin über ihre Studienzeit, 200 S., € 19.80, von Bockel-Verlag, Neumünster 2019, ISBN 978-3-95675-026-7

Schweizer Rokoko-Konzerte

Der Geburtstag von Franz Joseph Leonti Meyer von Schauensee jährt sich zum 300. Mal. Aus diesem Anlass sind seine vier Concerti für Cembalo oder Orgel und Orchester neu herausgegeben worden.

Schloss Schauensee in Kriens. Foto: Tilman-AB/wikimedia commons

In der Bibliothek des Klosters Engelberg liegt ein Stimmendruck aus dem Jahr 1764. Geschrieben hat die vier Concerti für Cembalo oder Orgel und Orchester der Luzerner Franz Joseph Leonti Meyer von Schauensee (1720–1789). Sein Leben, das im Jahr der Französischen Revolution endete, wurde geprägt durch seine patrizische Abstammung. Seine Eltern erbten das Schloss Schauensee ob Kriens und nannten sich fortan Meyer von Schauensee. (Auf den Umschlagbildern der Partituren prangt dieses Schloss, gemalt von Mara Meier.)

Die musikalische Familie liess Joseph ab dem Alter von fünf Jahren Gesangs- und Orgelunterricht geben, so dass der Frühreife schon bald seinen Lehrer an den Orgeln der Hofkirche St. Leodegar in Luzern vertreten konnte. In Klosterschulen in St. Gallen lernte er Violine und Cello spielen. Zurück in Luzern eignete er sich autodidaktisch die Grundlagen der Komposition an und schuf bereits 1738 Musik für das Schultheater der Jesuiten. 1740–41 befand sich der junge Mann in Mailand. Beeindruckt vom glanzvollen Musikleben und den Werken der neapolitanischen Schule (Feo, Leo, Pergolesi) erwarb er weitere Virtuosität auf der Violine und dem Cembalo, was ihn zu beliebten Cammer-Sonaten für das Clavecin veranlasste, die leider verschollen sind.

Nach seiner Rückkehr organisierte ihm sein Vater eine Offiziersstelle beim König von Sardinien-Piemont. Doch trotz der militärischen Pflichten fand er Zeit zum Komponieren. Das nasskalte Wetter in den Bergen und die Stürme auf dem Mittelmeer inspirierten ihn für künftige Werke. Seine späteren Luzerner Ämter als Grossrat und Aufseher der Reis-Waage liessen ihm genug Zeit für die Musik; er dirigierte und spielte Orgel in Engelberg, Muri, St. Gallen, Beromünster und wurde als Orgelexperte in Rheinau beigezogen. Ab dem Alter von 32 Jahren zog er sich von den weltlichen Ämtern zurück und konzentrierte sich auf geistliche und musikalische Aufgaben im Stift St. Leodegar. Er gründete 1760 das erste öffentliche Collegium musicum, rief 1775 mit der Helvetischen Concorde-Gesellschaft eine Vereinigung ins Leben, die die nationale Einheit der Alten Eidgenossenschaft propagierte. Seine Musik wurde zu seinen Lebzeiten sehr geschätzt – sogar Vater und Sohn Mozart haben seine Kirchenmusik aufgeführt – und seine Virtuosität und Fantasie wurden gerühmt. Mit den politischen und kulturellen Umwälzungen nach Meyers Tod versank seine Musik allerdings in der Vergessenheit.

Nun hat der Solothurner Organist Hans-Rudolf Binz die erwähnten vier Concerti zum 300. Geburtsjahr des Komponisten umsichtig neu herausgegeben. Jedes der dreisätzigen Werke hat einen besonderen Charakter. Das erste schliesst virtuos mit einem prestissimo ed alla breve, im zweiten wird martellato und sospirando verlangt, das dritte ist ein Weihnachtskonzert mit piverone-(Dudelsack)-Pedaltönen und Allegretto ed amoroso-Wiegenmusik, im vierten Il Molino ahmen rasche Apeggien das Klappern einer Mühle nach. Die Concerti II und III fordern nebst den Streichern zwei Hörner ad lib. Für die im I. und IV. vom Komponisten verlangten Kadenzen hat der Herausgeber gedruckte Lösungen beigefügt.

Einleitung und Revisionsbericht in Deutsch, Französisch und Englisch geben ausführlich Auskunft über Person und Zeitgeschichte (die hier angeführten biografischen Angaben fussen darauf), Aufführungs- und Editionspraxis. Die Werke wurden schon 1949 im Radio Bern durch Eugen Huber aufgenommen, der dafür auch fehlende Teile sorgfältig ergänzte (schade, dass diese Ergänzungen in der Neuedition fehlen!), und 1975 mit Philippe Laubscher und François Pantillon auf Schallplatte. Das schöne neue Material regt zu Wiederaufführungen an!
 

Image

Franz Joseph Leonti Meyer von Schauensee: Quattro Concerti armonici d‘Organo o di Cembalo op. 8, parte 1ma.
Concerto I in C-Dur, M&S 2367
Concderto II in D-Dur, M&S 2368

Concerto III in G-Dur, M&S 2369
Concerto IV in A-Dur «il molino», M&S 2370
Partitur I, II, IV/III: Fr. 38.00/22.00, Klavierauszug Fr. 28.00/18.00, Stimmen je Fr. 8.00/5.00;
Müller & Schade, Bern

 

 

 

Kurzer, aber reicher musikalischer Parcours

Die Klaviersonatine von Albert Moeschinger, komponiert 1944 in Saas Fee, bietet grosse Abwechslung bei knappem Umfang.

Albert Moeschinger als 16-Jähriger. Foto: Albert-Moeschinger-Stiftung

Der Name Albert Moeschinger taucht auch in der Schweiz nur mehr vereinzelt in den Konzertprogrammen auf, und der jungen Musikergeneration scheint er fast unbekannt zu sein. Geboren wurde er 1897 in Basel, wo er auch zur Schule ging und anschliessend – ganz nach dem Willen seines Vaters – eine Banklehre begann. Bald aber brach er diese ab und widmete sich Musikstudien in Bern, Leipzig und München. Seinen Lebensunterhalt bestritt er zunächst als Kaffeehausmusiker, später dann als Lehrer am Konservatorium Bern.

Als Komponist setzte sich Moeschinger mit den vielfältigsten Stilrichtungen auseinander und schuf ein Werk von über 100 Opuszahlen in fast allen Gattungen. Prominente Solisten wie Walter Gieseking spielten seine Klavierkonzerte, während Hermann Scherchen, Paul Sacher und andere Dirigenten sich für seine Orchesterwerke stark machten.

Aus gesundheitlichen Gründen gab Moeschinger sein Lehramt in Bern schon 1943 auf und lebte danach als freischaffender Künstler in Saas Fee, Ascona und Thun, wo er 1985 starb.

Weshalb wird seine Musik heutzutage so wenig aufgeführt? An ihrer Qualität kann es nicht liegen. Insbesondere seine Klavierkonzerte und Werke für Klavier solo verraten einen überaus gekonnten Umgang mit den Möglichkeiten des Instruments. Und so kann man nur dankbar sein, dass der Verlag Müller & Schade die Sonatine op. 66 neu herausgebracht hat. Ein abwechslungsreiches dreisätziges Werk auf insgesamt 13 Seiten, das nicht nur wegen des knappen Umfangs an Ravels Sonatine pour piano erinnert. Auch bei Ravel meint der Titel ja nicht ein Schülerstück, sondern eben ein bewusstes, ökonomisches Reduzieren der zeitlichen Dimension.

Die pianistischen Ansprüche sind nicht übermässig gross, und der Klaviersatz liegt im Grossen und Ganzen sehr gut. Einige Passagen verlangen ein geschicktes Kreuzen der Hände (was ja auch bei Ravels Werk manchmal etwas unangenehm ist …). Trotz der bewussten Reduzierung der kompositorischen Mittel sind die drei Sätze ganz unterschiedlich in Charakter und Klang, sodass einem der Eindruck eines reichen musikalischen Parcours in Erinnerung bleibt.

Hoffentlich wird der Verlag Müller &Schade in Zukunft noch weitere solche Trouvaillen von Moeschinger veröffentlichen. (Bislang sind für Klavier greifbar: Kleine Klavierstücke M&S 1999, Danses américaines M&S 2095, Fête de capricorne, M&S 2107.) Und dann vielleicht auch mit etwas Begleittext und weiteren Informationen zu diesem spannenden Musiker.
 

Image

Albert Moeschinger: Sonatine für Klavier op. 66, M&S 2144, Fr. 12.00, Müller & Schade, Bern

Entspannungs-Pausen vorgeschrieben

Acht äusserst unterschiedliche Stücke, die den beiden Beteiligten Freiheiten geben, aber auch viel Können voraussetzen.

Die acht Miniaturen für zwei Violinen von Rudolf Kelterborn haben eine gesamten Aufführungsdauer von sieben Minuten – dazu kommen die vom Komponisten empfohlenen «deutlichen Entspannungs-Pausen». Die Acht Einfälle, wie er sie nennt, können in beliebiger Reihenfolge aufgeführt werden, weshalb die Partituren auf Einzelblätter gedruckt sind. Die anspruchsvollen komplementär-rhythmischen Bildungen verlangen grosse Geistesgegenwart. Die technischen Anforderungen sind vielfältig und sehr anregend. Wenn Einfälle ausgesprochen werden, gibt es Denkpausen; entsprechend sind oft Fermaten auf Pausen oder Geräuschen (z. T. sogar die Dauer in Sekunden!) vorgeschrieben. Aufregung, gesangliche Geruhsamkeit, exakte Geschäftigkeit und homofoner Tanz wechseln sich ab.

Der 1931 geborene Rudolf Kelterborn – «Komponist, Musikdenker, Vermittler», wie ihn Andreas Briner im Titel seines 1993 erschienenen Buches nennt – hat diese Duos Bettina Boller und Malwina Sosnowski gewidmet.

Image

Rudolf Kelterborn: Acht Einfälle für zwei Violinen (2018), BA 11408, € 28.50, Bärenreiter, Kassel

So traditionsgebunden wie individuell

In seinen Streichquartetten Nr. 1 und 2 korrigiert und konterkariert Camille Saint-Saëns die Nähe zu klassischen Vorbildern immer sogleich durch Unerwartetes.

Camille Saint-Saëns, vermutlich bei der Ankunft für seine USA-Tournee 1915. Nachweis: s. unten

Ausserhalb des französischen Kulturkreises führen die beiden Streichquartette op. 112 (1899) und op. 153 (1918) von Camille Saint-Saëns ein randständiges Dasein. Zu dominant sind die Werke anderer Franzosen, allen voran die epochalen Meilensteine der Gattung von Claude Debussy (op. 10, 1893) und Maurice Ravel (F-Dur, 1904). Aber auch die Beiträge von Darius Milhaud, Gabriel Fauré und César Franck sind nicht ganz vergessen gegangen.

Saint-Saëns ist ein Phänomen der Musikgeschichte. Ähnlich wie Max Bruch verliess er nie den Weg der Tonalität, klingt manches Werk aus der Zeit gefallen. Während aber beispielsweise Bruchs Quintett a-Moll und Oktett B-Dur von 1918/19 auch 60 Jahre früher hätten geschrieben werden können, weisen die beiden Streichquartette e-Moll (1899) und G-Dur (1918) des Franzosen deutlich Züge ihrer Entstehungszeit auf. Saint-Saëns stand Gustav Mahler und anderen an die Spätromantik anknüpfenden Modernisten durchaus aufgeschlossen gegenüber, während er diejenigen, die die bekannten Gesetze und Formen über den Haufen warfen, wie Igor Strawinsky, Debussy und die Gruppe Les Six, als «Irre» bezeichnete.

Seine Musik ist rein technisch immer makellos, von grosser Raffinesse und Einfallsreichtum sowie einnehmender Melodik geprägt. Dabei ist sie der Tradition immer eng verbunden und in den über Jahrhunderte gewachsenen formalen Prinzipien verankert. Gleichzeitig ist sie aber voller Überraschungen, brillanter Einfälle und Effekte, die so anderswo nicht zu finden sind. Sie zeichnet also den Individualisten Saint-Säens aus, der sich vielfach zu Unrecht als rückständig hat beschimpfen lassen müssen, nur weil er die Umbrüche des 20. Jahrhunderts nicht hat nachvollziehen wollen. Denn in seiner eigenen, ihm einzig zur Verfügung stehenden Stilistik bewegte er sich ständig mutierend fort, selbst wenn er zuweilen den Weg zurück wählte. Auch in einer angestammten Sprache, die ihre Wurzeln kenntlich macht, kann man innovativ sein. Es darf nicht vergessen werden, dass der Komponist bis zuletzt ein feuriger Pianist und Musikant war.

Die beiden Quartette sind sehr unterschiedlich. Schon durch seine Länge von 30 Minuten überragt das 1. Streichquartett sein fast eine Generation später entstandenes Pendant von haydnscher Kürze. Im Ankündigungstext des Bärenreiter-Verlages heisst es, Form und Stil der Quartette bezögen sich (u. a.) auf die Ästhetik dieses grossen Vaters der Gattung. Das ist im 2. Quartett durchaus manchmal geradezu schockierend zutreffend, greift aber als Verkaufsargument oder Stigma – je nachdem, wie man darauf blickt – viel zu kurz. Denn der Komponist korrigiert und konterkariert diese Nähe immer sogleich durch Unerwartetes, beispielsweise grandios komplexe Fugentechnik. Im traditionelleren Spätwerk ist der tief empfundene, langsame Satz besonders einnehmend, der durchaus als Anklang an die Verwüstung und Trauer der Zeit verstanden werden kann. Das 1. Quartett, von den grossen Stars der Streicherszene im französischsprachigen Raum sofort nach Erscheinen viel gespielt (z. B. von Eugène Ysaÿe und Pablo Sarasate), ist nichts weniger als ein Meisterwerk ohne Einschränkung. Mit reicher Harmonik, Kontrapunktik, Effektpassagen, rhythmisch packend wie das Scherzo, streicherisch dankbar und voll leidenschaftlicher Melodik verdient es einen vollgültigen Platz neben den Werken der bekannten Spätromantiker.

Image

Camille Saint-Saëns: Streichquartett Nr. 1 e-Moll op. 112, Stimmen, BA 10927, € 32.95; Streichquartett Nr. 2 G-Dur op. 153, Stimmen, BA 10928, € 34.95; Nr. 1 + 2, Studienpartitur, TP 779, € 29.95; Bärenreiter, Kassel

 

 

Hommage an John W. Duarte

Neben einer Auswahl an Stücken, die der Doyen der britischen Gitarrenszene herausgegeben hat, bietet dieser Erinnerungsband auch drei Eigenkompositionen.

Symbolbild. Foto: Clément Falize/Unsplash (s. unten)

John W. Duarte war Engländer durch und durch, und so ärgerte er sich jeweils ein bisschen darüber, dass sein Name von nicht-englischsprachigenenglisch – Du-árte statt Djú-ǝtsen – ausgesprochen wurde. Wobei dies ja für einen international tätigen Gitarristen und Komponisten, der Freundschaften mit Leuten wie Andrés Segovia oder Antonio Lauro pflegte, nahezu unvermeidlich war. Er war Organisator, Herausgeber, Rezensent, eine bekannte Figur des Londoner Musiklebens und Doyen der britischen Gitarrenszene, scharfzüngig, aber freundlich. Sein Veston und seine Pfeife erinnerten an Sherlock Holmes. Nach jedem Gitarrenkonzert, das in der berühmten Wigmore Hall stattfand, scharten sich im Pub seine Jüngerinnen und Jünger um ihn zur geselligen Nachbesprechung.

Das Album, das nun zu Ehren des 2004 im Alter von 85 Jahren Verstorbenen zusammengestellt wurde, umfasst 20 Stücke für Sologitarre, die alle von Duarte in den Siebziger- und Achtzigerjahren herausgegeben wurden, darunter drei Eigenkompositionen. Diese sind munter, farbenfroh, mit ihrer durch scharfe Sekunden und quere Akkorde gebrochenen Tonalität manchmal ein wenig schrullig. Überraschend ist, wie adäquat Duarte schon damals Tabulaturen von Gaspar Sanz oder Alonso Mudarra auf die Gitarre übertragen hat. Seine klaren Interpretationsvorstellungen lassen sich aus der Balkensetzung, den Haltebögen und dem lückenlosen Fingersatz leicht nachvollziehen.

Die Notenbilder wurden eins zu eins von den früheren Ausgaben übernommen, inklusive Druckfehler. Bei manchen Stücken fehlen die Scordatura-Angaben. Neben viel Alter Musik, nicht zuletzt auch von John Dowland, sind Transkriptionen von Domenico Scarlatti gut vertreten, und einige leichtere, klangschöne Nummern, etwa von Rodrigo Riera, laden zum Träumen ein. Am modernsten klingt eine kleine Studie von Reginald Smith Brindle. Insgesamt ist der Band John W. Duarte – A Celebration of His Music for Guitar eine schöne Hommage an eine markante Persönlichkeit wie auch ein abwechslungsreiches Gitarrenalbum, das zum musikalischen Schmökern einlädt.

Image

John W. Duarte : A Celebration of His Music for Guitar, selected by Paul Coles, UE 29201, € 14.95, Universal Edition, Wien

 

 

Vielschichtige Synthese

Flötenwerke von Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bach sind der Ausgangspunkt für die Interpretationen, Klangsuchen und Improvisationen des Flötisten Stefan Keller und des Perkussionisten Beda Ehrensperger.

Stefan Keller und Beda Ehrensperger. Foto: zVg,Sarabande,Polonaise,Sorbet funky,Poco Adagio

Verarbeitungen der Musik von Johann Sebastian Bach haben Tradition. So arrangierte bereits Jacques Loussier viele Werke wie zum Beispiel die Goldberg-Variationen als Jazzinterpretationen für sein Trio. Der international tätige Schweizer Flötist Stefan Keller und der in Ghana lebende Schweizer Schlagzeuger Beda Ehrensperger verwenden als Grundlage für ihre CD bekannte Flötenwerke wie die Partita a-Moll und die h-Moll-Suite von Johann Sebastian Bach sowie die Solosonate a-Moll von Carl Philipp Emanuel Bach. Die Stücke erklingen auf verschiedenen Instrumenten, von der Subkontrabass- bis zu höheren Flöten, wodurch eine reichhaltige klangliche Farbpalette entsteht, und auch Beda Ehrensperger setzt die verschiedenen Schlaginstrumente abwechslungsreich ein.

Stefan Keller hat bei Bach today nach Möglichkeiten gesucht, wie er die ursprünglichen Kompositionen mit seinen bevorzugten, darüber hinausgehenden Klängen und Gestaltungsmöglichkeiten wie tiefe Flöten, Liveelektronik, Livelooping und Improvisation verbinden könnte. Das Spektrum der angewandten Methoden ist dabei vielfältig. Teilweise interpretiert der Flötist die Stücke in der Originalversion auf tiefen Flöten, nach und nach kommt das Schlagzeug dazu und die Flötenparts werden in einzelnen noch erkennbaren Elementen weiterentwickelt. Auch gibt es Stücke, die vor allem von der freien Improvisation geprägt sind, wo, wie in der Badinerie der h-Moll-Suite, das musikalische Material vor allem am Anfang getupft erklingt, Klangfarbentriller entstehen oder Stimme und Flöte gemeinsam eingesetzt werden, bis dann längere Zitate aus dem Original erklingen. Bei der Solosonate a-Moll von Carl Philipp Emanuel Bach bringt die Altquerflöte eine warme Farbe ein und die Improvisationen muten teilweise beinahe wie barocke Verzierungen an.

Auf der CD finden sich auch drei freie Improvisationen aus Konzerten der beiden Musiker, Sorbets genannt, die als Zwischenstücke zu Bach und Bach angeordnet sind. Darin kommen auch die wirklich tiefe Kontra- und Subkontrabassflöte sowie die Liveelektronik zum Zug. Alle Nummern wurden am Stück aufgenommen, und daraus trafen die Interpreten dann eine Auswahl. So ist eine vielschichtige Synthese aus barocker Musik und Improvisation entstanden, die aufhorchen lässt. 

About JW Player 6.0.2813…

    00:00           

00:00

 00:00 

 

         

 

Fullscreen

 

 

Johann Sebastian Bach
About JW Player 6.0.2813…

    00:00           

00:00

 00:00 

 

         

 

Fullscreen

 

 

Johann Sebastian Bach
About JW Player 6.0.2813…

    00:00           

00:00

 00:00 

 

         

 

Fullscreen

 

 

S.B. Kehr
About JW Player 6.0

Forschung: Ein- und Ausblicke

Im folgenden Beitrag berichten die Musikhoch-schulen von Zürich, Genf und Bern über aktuelle Trends ihrer Forschungsbereiche, welche glücklicherweise weniger von den Auswirkun-gen der COVID-19-Krise betroffen sind.

Martin Neukom — Das Institute for Computer Music and Sound Technology ICST ist eines der beiden Forschungsinstitute des Musikdepartements der ZHdK. Es arbeiten 15 Personen, meist in Teilzeitanstellungen, an unterschiedlichsten Forschungsprojekten. Im Toni-Areal stehen dem Institut Forschungsräume, Studios und Büros zur Verfügung. Aus den unterschiedlichen Schwerpunkten der Mitarbeiter, wie Ingenieurwissenschaften, Wahrnehmung, Informatik, Mathematik, Tontechnik, Generative Kunst, Medienkunst, Musikwissenschaft, Musiktheorie, Performance und Komposition entstehen Projekte, in denen das Verhältnis zwischen Technologie und musikalischer Praxis in Auseinandersetzung mit der Tradition zeitgenössischer und elektroakustischer Musik mit Methoden der Wissenschaft und der künstlerischen Forschung untersucht werden. Aktuelle Forschungsbereiche des ICST sind Interfaces & Augmented Instruments, Network-Based Composition and Performance Systems, Interactive Movement and Music, Musical Notation and Representation, Sonification/Acoustic Ecology und Immersive and Virtual Environments.

So unterschiedlich die Projekte, so unterschiedlich sind die benötigten Mittel und die eingesetzten Methoden. Entsprechend konnten im vergangenen Semester problemlos Anwendungen programmiert und Texte verfasst werden, jedoch die Möglichkeiten, Infrastruktur zu nutzen, zu proben, Experimente durchzuführen oder externe Wissenschaftler und Komponisten einzuladen, waren sehr eingeschränkt. Deutlich wurde dabei, dass nicht nur der (digitale) Austausch unter Forschenden wichtig ist, sondern auch das Aufbereiten und Archivieren von Forschungsergebnissen. Die folgenden Beispiele zeigen, wie einzelne Forschungsgruppen auf die besonderen Herausforderungen reagiert haben.

«The Art of Diagram», die Nachfolgerin des SNF-Projekts «Sound Colour Space – A Virtual Museum» (https://www.zhdk.ch/forschungsprojekt/sound-colour-space-426348), hat grosse Fortschritte erzielt. Das internationale Team von Daniel Muzzulini befasst sich mit historischen Diagrammen aus der Antike über das Mittelalter bis in die Neuzeit, die das Begriffsfeld Klang, Ton, Tonhöhe, Klangfarbe erforschen und veranschaulichen. Eine grosse Sammlung von Diagrammen und wissenschaftlichen Begleittexten wurde 2017 in einem virtuellen Museum veröffentlicht und für die weitere Forschung zugänglich gemacht. Im letzten Semester hatte das ICST entschieden, die Ergebnisse unter dem Titel «The Art of Diagram» im Format Gold Open Access ePub (Online und Print) zu publizieren. Gleichzeitig werden die Inhalte des virtuellen Museums aktualisiert und neue Präsentationsformen erarbeitet. Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler aus verschiedenen europäischen Staaten und den USA sind sehr daran interessiert, an diesem Publikationsvorhaben mitzuwirken. ZOOM-Meetings, die von Susan F. Weiss (Baltimore) gehostet und dokumentiert werden, dienen dem Austausch von Forschungsergebnissen. Um diese Zusammenarbeit zu institutionalisieren haben Daniel Muzzulini und Susan F. Weiss die Aufnahme der Forschungsgruppe als Study Group Musical Diagrams der International Musicological Society IMS beantragt.

Beim SNF-Forschungsprojekt «Performing Live Electronic Music» (2018-2022, Leitung Germán Toro Pérez) gab es keine wesentlichen Einschränkungen, weil dieses Halbjahr als Dokumentationsphase gedacht war, in welcher das Team ausführliche Berichte zu den 12 bisher realisierten Kompositionen verfasst und die Audio- und Videodokumentation vervollständigt. Dies wurde hauptsächlich aus dem Homeoffice gemacht, was gut funktioniert hat. Verschoben werden mussten einige geplante Aufnahmetermine für die nächste SACD. Die 12 Artikel werden bis Ende August in der «Performance Practice Database» publiziert.

Lucas Bennett und Tobias Gerber haben mit dem Medien- und Informationszentrum MIZ ein Konzept für die Erfassung und Archivierung der Materialien aus den ICST-Residenzen erarbeitet und sind daran, die Datensätze im Medienarchiv MADEK zu erfassen. Das SNF-Projekt «Haptic Technology and Evaluation for Digital Musical Interfaces» (HAPTEEV) fokussiert auf die Entwicklung und Evaluation von digitalen Musikinterfaces mit haptischem Feedback. Aktuelle Forschungsthemen sind Design, Vibrationscharakterisierung und experimentelle Evaluation sowohl von neuen wie von entsprechend erweiterten kommerziellen Interfaces. Die technische Arbeit und Messungen konnten durchgeführt werden, als die Werkstatt des ICST wieder benutzt werden konnte. Ein geplantes Experiment mit ZHdK-Studierenden als Teilnehmende musste jedoch verschoben werden. Schon seit der Gründung des ICST beschäftigen sich Programmierer und Komponisten mit der Entwicklung von Tools für die Produktion und Wiedergabe von 3D-Sound. Im letzten Jahr haben Johannes Schütt und Christian Schweizer die ICST Ambisonics Plugins version 2.0 entwickelt (https://ambisonics.postach.io/page/icst-ambisonics-plugins). Programmierung und Test konnten durchgeführt werden. Sehr wichtig für die Beurteilung der Brauchbarkeit dieser Plugins und der dokumentierten Arbeitsabläufe sind Praxistest mit Kompositionsstudenten und Gastkomponisten, die ihre eigenen Vorgehensweisen und Klangvorstellungen haben. Diese Tests mussten leider verschoben werden.

Martin Neukom

… ist Dozent am DMU der ZHdK und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institute for Computer Music and Sound Technology.

Actualités et perspectives de recherche à la HEM de Genève

Rémy Campos — Depuis plusieurs années, la Haute école de musique de Genève soutient des projets de recherche dans l’ensemble des secteurs artistiques couverts par ses enseignements. Nous n’en évoquerons ici que trois parmi les plus récents.

Le premier est un projet international consistant à imaginer un outil informatique d’aide à l’orchestration. Intitulé ACTOR (Analysis, Creation and Teaching of Orchestration), il a été initié par Stephen Mac Adams (McGill University) et associe des universités, des centres de recherche et des écoles d’art en Amérique du Nord et en Europe. A Genève, Éric Daubresse a animé une équipe composée d’enseignants et d’étudiants en composition (à la suite de la disparition prématurée de notre collègue en octobre 2018, c’est Gilbert Nouno qui a repris la responsabilité du projet). L’originalité du logiciel est de permettre de tester des combinaisons de timbres en utilisant l’ordinateur comme un orchestre virtuel.

Dans un tout autre domaine, William Dongois s’est efforcé de percer les énigmes d’un traité de musique écrit par Silvestro Ganassi et édité à Venise en 1535 : la Fontegara. Premier ouvrage consacré uniquement à l’art de la diminution, il expose l’art d’orner les mélodies qui s’est perdu au cours des siècles. Avec le concours de nombreux partenaires et en mêlant artistes et chercheurs confirmés avec des musiciens en formation, le projet a varié les approches depuis la conception d’un logiciel d’analyse des formules de diminution jusqu’au dialogue avec des traditions musicales éloignées de l’Italie de la Renaissance (Inde, Balkans, etc.).

Enfin, le projet réalisé par Jérôme Albert Schumacher se penche sur l’utilisation des outils numériques en contexte pédagogique. L’étude a pour objectif de définir la place et le rôle que les professeurs d’instrument et de chant donnent aux nouveaux instruments d’apprentissage. Le préalable est un recensement des différents usages dans les hautes écoles de musique des ressources et outils disponibles avec un accent particulier mis sur les technologies numériques quotidiennes (applications pour smartphone et/ou tablettes).

On peut se demander jusqu’à quel point la crise sanitaire récente peut entraver les chantiers engagés. Les projets ambitieux ne reposent-ils pas sur une circulation intense des idées et des personnes ? Les outils de travail à distance dont nous avons tous fait l’expérience dans les derniers mois montrent déjà que le ralentissement des mobilités ne devrait pas mettre un terme aux grandes entreprises collaboratives. Par ailleurs, la recherche artistique suppose – comme la pratique musicale qu’elle prend pour objet – des rencontres régulières avec un public. Dans ce domaine aussi, les limites ne cessent d’être repoussées.

Il y a donc fort à parier que, dans les années qui viennent, la recherche artistique dont l’innovation est le terrain privilégié sorte plutôt renforcée d’une période où les formes du métier de musicien devront se réinventer.

Rémy Campos

… est coordinateur de la recherche à l’HEM.

Aktuelles aus dem Institut Interpretation der Hochschule der Künste Bern

Martin Skamletz — Die Berner Fachhochschule BFH hat 2019 ein Repositorium für die vermehrt im Open Access zugänglichen Publikationen aus der Forschung eingerichtet und die bisherigen Forschungsschwerpunkte der Hochschule der Künste Bern HKB in Institute umbenannt. Das so entstandene Institut Interpretation legt den Schwerpunkt seiner Aktivität weiterhin auf Drittmittelprojekte und setzt alles daran, ihre Ergebnisse innerhalb der Hochschule und in Zusammenarbeit mit externen Partnern langfristig fruchtbar zu machen. So ist die «Geisterhand»-Projektserie zu Interpretationsaufzeichnungen auf Welte- und anderen Papierrollen als „Magic Piano“ in die Phase breit angelegter Vermittlungsaktivitäten im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds SNF finanzierten Agora-Projekts eingetreten – unter Federführung von Thomas Gartmann, der sich ausserdem für Projekte zum Archiv des Schweizerischen Tonkünstlervereins STV und zu einer von der HKB übernommenen Sammlung von Bootleg-Aufnahmen der 1970er- bis 2000er-Jahre aus New Yorker Opernhäusern einsetzt. Hierzu gibt es Anfang September eine online durchgeführte Tagung, während ein internationaler Welte-Vernetzungsanlass in Zusammenarbeit mit der Stanford University – schon für vergangenen Juni geplant, aber aus naheliegenden Gründen verschoben – hoffentlich 2021 in Bern und im Museum für Musikautomaten Seewen stattfinden kann.

Ein weiteres Agora-Projekt auf Basis einer bis in die Anfänge der HKB-Forschung zurückreichenden Projektserie zu historischen Blasinstrumenten wird demnächst abgeschlossen. Es hat die Sonderausstellung «Fresh Wind» im Klingenden Museum Bern erarbeitet, das in Personalunion mit dem HKB-Forschungsfeld „Musikinstrumente“ durch Adrian v. Steiger geleitet wird. Die schon länger erfolgreichen Initiativen, den Studierenden der HKB die Möglichkeit zum Spielen auf historischen Instrumenten aus dem Museum zu bieten, werden aktuell durch eine Stiftungsförderung auf eine langfristige Basis gestellt.

Im Transfer von Forschungsergebnissen in die Lehre sind auch die Dozierenden Musiktheorie sehr aktiv, die im gleichnamigen Forschungsfeld gemeinsam mit dem Musikwissenschaftler Claudio Bacciagaluppi an Projekten zur institutionellen Entwicklung des Theorieunterrichts im 19. Jahrhundert teilnehmen.

Das Forschungsfeld «Aufführung und Interpretation» wird von Annette Kappeler koordiniert, die selbst im Rahmen eines SNF-Projekts die Erforschung eines bislang wenig bekannten norditalienischen Theaters des frühen 19. Jahrhunderts vorantreibt. Das Beethovenjahr begehen wir in Zusammenarbeit mit dem Conservatorio della Svizzera italiana in Form eines von Leonardo Miucci initiierten Symposiums «Beethoven and the Piano» Anfang November in Lugano.

Die letzten Jahre haben eine Zunahme der Aktivitäten rund um «Schnittstellen der zeitgenössischen Musik» mit sich gebracht. Sie werden von Leo Dick entwickelt, der in seinem SNF-Ambizione-Projekt «Avanciertes Musiktheater und kollektive Identitätsbildung in der Schweiz seit 1945» untersucht. In den Kontext dieses Forschungsfeldes gehören auch Roman Brotbecks Mikroton-Projekt in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik Basel und Chris Waltons Auseinandersetzung mit der Schweizer Kulturpolitik in Südafrika während der Apartheid. Die Weiterentwicklung der in den letzten Jahren von Immanuel Brockhaus aufgebauten Popularmusikforschung hat diesen Sommer Andreas Schoenrock übernommen, der als Leiter des MAS Pop & Rock auch die Zusammenarbeit mit der HKB-Weiterbildung sicherstellen wird. Das Doktoratsprogramm «Studies in the Arts» in Zusammenarbeit mit der Universität Bern läuft erfolgreich; mit dem Studienjahr 2021/22 beginnt zudem die Teilnahme der HKB am künstlerisch-wissenschaftlichen Doktoratsprogramm der Anton Bruckner Privatuniversität Linz, und weitere Kooperationen sind in Planung.

Martin Skamletz

… ist Leiter des Instituts Interpretation an der HKB.

Einstehen für gesundes Musizieren

Das 18. Symposium der SMM bietet in schwierigen Zeiten Orientierung im Therapiendschungel und Gelegenheit zum Austausch zwischen Musizierenden und Gesundheitsfachleuten.

Wolfgang Böhler* — Die Schweizerische Gesellschaft für Musik-Medizin (SMM) vereint unter einem Dach Fachleute aus Medizin und unterschiedlichsten Therapieansätzen, aber auch Wissenschaftler und Berufmusikerinnen. Ein zentrales Anliegen der SMM ist es, den konstruktiven Dialog zwischen diesen Gruppen anzuregen. Sie will aber auch Musikerinnen und Musikern helfen, die mit spezifischen gesundheitlichen Einschränkungen kämpfen oder einfach interessiert sind, ihr Musizieren auf nachhaltig gesunde Basis zu stellen.

Wir sind stolz darauf, dass sich in unserem Kreis Ärzte und Ärztinnen finden, die auf höchstem Niveau medizinische Lösungen für Musikerkrankungen anbieten können. Im Alltag sind Hilfesuchenden aus der Musikwelt Vertrauenspersonen mit niederschwelligen Therapieangeboten in der Regel allerdings näher als die medizinischen Spezialisten, die in der Regel mit der Hektik in Kliniken oder Praxen zurecht kommen müssen. Die Vielfalt an Methoden, Schulen und Techniken des Therapiedschungels kann verwirren. Der Entscheid für eine Technik bleibt dann nicht selten Zufall – meist aufgrund persönlicher Begegnungen oder Empfehlungen.

Mit dem 18. Symposium möchte die SMM Hilfesuchenden Gelegenheit bieten, einige der wichtigsten körperorientierten Ansätze in der Musik an einem Ort kennenzulernen und zugleich die Möglichkeit wahrzunehmen, mit ihren Vertretern unverbindlich ins Gespräch zu kommen. Auch die Therapeuten und Therapeutinnen sollen an diesem Tag aufeinander zugehen können. Dabei soll ein Motto gelten, dass der amerikanische Erkenntnistheoretiker Nelson Goodman ein-mal für die Philosophie geprägt hatte: Anbietende von Therapien sollen heute nicht mehr danach beurteilt werden, welche Schulen und Welt-anschauungen sie repräsentieren, sondern für welche Probleme sie Lösungen erarbeiten.

Eine Uraufführung zum Auftakt

Mit grosser Freude können wir mitteilen, dass wir das Symposium mit einer ungewöhnlichen Uraufführung eröffnen dürfen. Es handelt sich um ein hoch interessantes Werk des Klarinettisten und Saxophonisten Fabio da Silva, der sich zur Zeit an der HKB weiterbildet. Rugueux 2, ein Spiel zwischen Live Performance und vorproduzierten Klängen für Baritonsaxophon und Bassklarinette ist eine von einem vorproduziertem Tonband begleitete Tieftonperformance. Die Instrumente, die sich vor allem in der Tiefe sehr gut mischen, nähern sich mikrotonal spezifischen Frequenzen. Mehrklänge werden gefiltert, es entstehen stärkere und schwächere Reibungen.

*Der Musikpsychologe und Musikproduzent Wolfgang Böhler ist seit Januar dieses Jahres Präsident der SMM.

In Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Interpretenstiftung SIS, der Hochschule der Künste Bern HKB, dem Schweizerischen Musikpädagogischen Verband SMPV und dem Verband Musikschulen Schweiz VMS.

Auf der Bühne und an Tischen werden verschiedene anerkannte und bewährte Formen körperorientierter Ansätze in der Musik vorgestellt. Keynotesprecher sind Klaus Scherer (Musikpschologe und Gründer des Genfer Centre Interfacul-taire en Sciences Affectives) und Günther Bernatzky (Gründer des Salzburger Schmerzinstituts und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Musik und Medizin).

Samstag, 24. Oktober 2020, 9.50 – 17.00 Uhr, Hochschule der Künste Bern, Papiermühlestrasse 13a, 3014 Bern. Kosten: Mitglieder SMM, Studierende und Mitarbeitende der HKB: 30 Franken; Nichtmitglieder 90 Franken; Studierende im Erststudium freier Eintritt.

Das Schutzkonzept des Symposiums wird zeitnah der aktuellen Pandemiesituation und den entsprechenden kantonalen und nationalen Bestimmungen und Empfehlungen angepasst. Es kann deshalb zu kurzfristigen Umstellungen im Programm kommen.

Informationen und Anmel-dung: Telefon 032 636 17 71 oder www.musik-medizin.ch, Anmeldeschluss: 10. Oktober 2020.

Mehr Infos:

> www.musik-medizin.ch/aktuelles-symposium

Ein «neues» Concertino von Bach

Aus zwei instrumentalen Kantaten-Einleitungen hat Klaus Hofmann ein überzeugendes Stück für Altblockflöte, Oboe, Viola da braccio, Viola da gamba und B.c.,geschaffen.

Unter Verwendung des Bach-Porträts von Elias Gottlob Haussmann. Quelle: wikimedia commons

Johann Sebastian Bach hat einigen seiner Kantaten statt eines Eingangschors eine Sinfonia als instrumentale Einleitung vorangestellt. Immer sind dies kammermusikalische Preziosen mit oft aussergewöhnlicher Besetzung.

Das vorliegende Concertino a 5 vereint nun die Sinfonien der Kantaten BWV 18 und 152 (Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und Tritt auf die Glaubensbahn) zu einem dreisätzigen Instrumentalwerk. Um die Kombination der Stücke zu ermöglichen, mussten die Besetzungen aufeinander abgestimmt werden. Diejenige der Kantateneinleitung von BWV 152 mit Altblockflöte, Oboe, Viola (im Original Viola d’amore), Viola da gamba und Basso continuo wurde unverändert übernommen. Die ursprüngliche Besetzung der Sinfonia von BWV 18 war im Original mit vier Bratschen und Continuo recht ungewöhnlich; bei der Wiederaufnahme wurde sie gar um zwei partiell colla parte oktavierende Blockflöten verstärkt. An diesem Stück wurden nun grössere Eingriffe vorgenommen: die beiden ursprünglichen Bratschenoberstimmen an Blockflöte und Oboe mit teils veränderten Oktavlagen oder vertauschten Stimmen übertragen und Bratsche und Gambe am Motivgeschehen beteiligt. Kleinere satztechnische Retuschen bei beiden Streichinstrumenten ergänzen die Aufbereitung für diese neue und reizvolle Besetzung.

Die umgestaltete Sinfonia bildet nun den ersten Satz des vorliegenden Concertinos, in welchem im Charakter einer Chaconne fallender Regen und Schnee musikalisch dargestellt werden. Das nur viertaktige, mit fein ziselierten Oberstimmen versehene Adagio aus BWV 152 im Mittelsatz führt abschliessend zu einer der wenigen Instrumentalfugen in Bachs Kantatenwerk.

Es stellt sich die Frage, ob es denn legitim sei, solch grosse Eingriffe in ein Werk vorzunehmen. Drei Gründe sprechen dafür: Bach selber ist mit seinen Kompositionen ähnlich frei umgegangen und hat Besetzungen verändert, wie überhaupt zu jener Zeit ein freier Umgang mit der Instrumentation Usus war. Zweitens sind alle Änderungen plausibel erklärt und sorgfältig dokumentiert. Und drittens werden damit zwei eigenständige Sinfonien zu einem neuen Werk kombiniert, das klanglich und kompositorisch eine absolute Bereicherung der kammermusikalischen Literatur darstellt.

Image

Johann Sebastian Bach: Concertino a 5
nach Instrumentalsätzen aus Weimarer Kirchenkantaten,
für Altblockflöte, Oboe, Viola da braccio, Viola da gamba
und B.c., bearb. von Klaus Hofmann, EW 1085, € 21.80,
Edition Walhall, Magdeburg

Zum Rücktritt von Marianne Doran als Präsidentin von SONART – Musikschaffende Schweiz

Inklusion im Musikschulalltag

«Fionas Lieblingslied ist ‹Sternschnuppe› und sie mag ihre Klavierlehrerin Sophie mega!» – So gelingt der Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit Handicap an Musikschulen.

Fiona übt regelmässig und spielt gerne vor. Foto: zVg

Fiona-Olivia Plüss ist 17 Jahre alt. Seit mehr als fünf Jahren besucht sie an der Musikschule Konservatorium Zürich (MKZ) den Klavierunterricht, davon drei Jahre bei der Musikpädagogin Sophie Aeberli. Dass der Zugang zum Musikunterricht für sie trotz Downsyndrom so unkompliziert war, hat sicher auch mit dem pragmatischen Ansatz zu tun, den man an der MKZ lebt. Ein spezifisches Förder- oder Integrationsprogramm für Kinder mit Behinderung gibt es nicht. Der Unterricht ist «inklusiv» und – wie Sophie Aeberli es formuliert: «Ich ging angstfrei und mit ‹Gwunder› dran.»

Im Gespräch mit Fiona, ihren Eltern und Sophie Aeberli wird deutlich, wie gewinnbringend ein solcher Unterricht für alle sein kann. Dennoch bewegt sich die Zahl von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung, welche an den Musikschulen unterrichtet werden, noch immer im tiefen einstelligen Prozentbereich.
 

«Das will ich auch!»

Bei Fiona verlief der Einstieg ins Klavierspiel über die Melodica. Fiona lernte Notenlesen und mit einem Tasteninstrument umzugehen. Als die ältere Schwester Klavierunterricht nehmen wollte, meinte Fiona: «Das will ich auch!» Sowieso war Fiona immer überall dabei. Die Eltern engagierten sich stark für den inklusiven Weg. So besuchte Fiona denselben Regelkindergarten und danach die Primarschule wie ihre Schwester. Heute besucht sie mit den Kindern aus dem Quartier die zweite Sekundarschulklasse im Zürcher Schulhaus Letzi. «Das war der beste Entscheid», meint Fionas Vater.

Der Zugang zur städtischen Musikschule erfolgte problemlos, obwohl weder auf der Webseite noch in anderen Publikationen auf das Angebot zum inklusiven Musik-, Tanz- und Theaterunterricht hingewiesen wird. Eine Umfrage unter den Lehrpersonen an der MKZ hat kürzlich ergeben, dass deutlich mehr Schülerinnen und Schüler mit Behinderung unterrichtet werden, als bisher bekannt war.

Mit Begeisterung ist Fiona im Unterricht bei Sophie Aeberli dabei. Sie strahlt, wenn sie von ihrer Klavierlehrerin spricht. Nebst dem Klavierunterricht besucht sie mit einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern der MKZ den Theaterunterricht beim Theaterpädagogen Arniko Dross. Sie übt regelmässig, eigenständig und ist stolz darauf, etwas «für sich» zu haben. Grossen Spass hat sie auch am Vorspiel. Lampenfieber kennt Fiona eigentlich nicht, auf der Bühne ist sie in ihrem Element. Die Mutter bemerkt: «Die ältere Schwester wäre beim Vorspiel am liebsten davongelaufen, aber Fiona genoss den Auftritt.»

Ob die musische Ausbildung Einfluss auf Fionas Entwicklung habe, fragen wir die Mutter. Sie meint: «Ich denke schon. Weil sie aktuell auch in der Schule gut gefördert wird, ist es aber schwierig abzuschätzen, was welche Wirkung hat. Auch André Frank Zimpel, Professor mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung und Behindertenpädagogik der Universität Hamburg, ist der Ansicht, dass Klavierspiel etwas vom Besten ist, um die Koordination zu fördern. Das bewirkt im Gehirn etwas, wie auch das Singen und Tanzen.»
 

«Wir begegnen uns auf Augenhöhe»

Sophie Aeberli sieht in Fionas grossen Freude an der Musik den Schlüssel zum Erfolg: «Ich lasse sie oft spielen. Damit sie nicht das Gefühl hat, sie müsse jetzt dies oder jenes lernen. Der Punkt ist, wir verstehen uns menschlich einfach gut und begegnen uns auf Augenhöhe.» Für sie gebe es keine Trennung zwischen besonderer Förderung oder Didaktik und normalem Unterricht. Die Praxis liege wahrscheinlich in der Mitte.

Ob sie den Klavierunterricht speziell an Fiona angepasst habe? «Noten lesen wir weniger, es braucht zu viel Zeit. Von der Motorik her ist Fiona eher angespannt, aber kraftvoll in den Fingern. Geläufigkeit oder Geschwindigkeit sind daher nicht ihre Sache, deshalb fokussiere ich lieber auf andere Themen wie z. B. den Klang», verrät die Musikpädagogin. Zudem ist es wichtig, dass Fiona nicht in einen Stressmodus gerät. Sie habe begonnen, mit Fiona viel auswendig zu spielen, das funktioniere gut. Manchmal zeichnet sie das Gespielte in einer Art grafischen Notation auf. Auch das Zusammenspiel mit einer Freundin (ebenfalls mit Downsyndrom) fördert Aeberli. «Wir setzen uns bewusst kleinere Ziele, aber die erreichen wir.»
 

Ausbildung und Arbeitsumfeld

Inklusion war während ihrer Ausbildung zur Klavierpädagogin in Luzern kein Thema oder wurde höchstens am Rande erwähnt. Aeberli ging Fionas Unterricht daher auch eher pragmatisch-intuitiv an. Sie habe nicht viel recherchiert, sondern Verschiedenes ausprobiert. Denn eigentlich seien im Einzelunterricht jede Schülerin und jeder Schüler etwas Spezielles, und sie gehe immer unterschiedlich auf Lernarten und -tempi ein. Nun hätte sie aber das Bedürfnis nach spezifischer Weiterbildung oder einem Austausch unter Lehrpersonen. Ein Thema, das sie beschäftigt, ist die Leistungsbeurteilung an Stufentests. Aeberli steht rein leistungsorientierten Bewertungen kritisch gegenüber, weil dabei die Unterschiede der Schülerinnen und Schüler als Schwäche und nicht als Gewinn angesehen werden. Wenn Konzerte und Stufentests dagegen als spielerische, motivierende Momente des gemeinsamen Musizierens und des Austauschs gestaltet werden, können wie an der MKZ auch alle teilnehmen.

Die MKZ ist mit rund 23 000 Fachbelegungen die grösste Musikschule der Schweiz und eine der grössten Europas. Ein Konzept zur Inklusion von Schülern und Schülerinnen mit Behinderung gibt es für die rund 600 diplomierten Musik-, Tanz- und Theaterlehrpersonen (noch) nicht. Punktuell finden Weiterbildungs- oder Austauschmöglichkeiten statt. Die Offenheit seitens Direktion und Lehrerschaft ist aber gross.

Den Lehrpersonen, die neu an eine solche Aufgabe herangehen, rät Sophie Aeberli, locker zu bleiben, den Austausch mit erfahrenen Kollegen und Kolleginnen zu suchen sowie einen konstruktiven Kontakt zu den Eltern aufzubauen.

Eine Vorreiterrolle hat die Musikschule Konservatorium Bern inne. Auf ihrer Webseite weist sie explizit auf ihren Musikunterricht für Menschen mit Behinderung hin. Die Lektionen werden individuell angepasst. Es gibt auch Bandunterricht für Menschen mit Handicap. Ein separates Konzept geht auf die verschiedenen Methoden ein. Unter anderem wird der Unterricht bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen von der Pädagogischen Hochschule Bern gecoacht und begleitet. Die Musikschule trägt das Label «Kultur inklusiv», eine Auszeichnung für kulturelle Institutionen, die sich speziell für das Thema Inklusion einsetzen.
 

Weiterführende Informationen

Spektrum Inklusion – wir sind dabei! Wege zur Entwicklung inklusiver Musikschulen, VdM, Verband deutscher Musikschulen (ein sehr umfassender Ratgeber mit konkreten Beispielen)

Musizieren mit Behinderung an der Musikschule Konservatorium Bern (Konzept für inklusiven Zugang und Unterricht)

Weil Behinderung kein Hindernis ist, Verband Musikschulen Thurgau in Zusammenarbeit mit Pro Infirmis und Insieme Thurgau
 

Autorin und Autor

Eva Meroni, Geschäftsführerin der Stiftung Profil Arbeit & Handicap, und
Patrick Vogel, Mitglied der Geschäftsleitung der Musikschule Konservatorium Zürich MKZ, absolvieren den Executive MBA der Hochschule Luzern – Wirtschaft.

Saal und Stuhl

Sitzgelegenheiten und Räumlichkeiten gehören zum Musikgenuss – ein unerschöpfliches Thema. Wir konzentrieren uns auf klassische Säle und ihre Bestuhlung – mit einer Ausnahme freilich.

Titelbild: neidhart-grafik.ch
Saal und Stuhl

Sitzgelegenheiten und Räumlichkeiten gehören zum Musikgenuss – ein unerschöpfliches Thema. Wir konzentrieren uns auf klassische Säle und ihre Bestuhlung – mit einer Ausnahme freilich.

Alle blau markierten Artikel können durch Anklicken direkt auf der Website gelesen werden. Alle andern Inhalte finden sich ausschliesslich in der gedruckten Ausgabe oder im e-Paper.

Focus

Laisser la solution venir à soi
Dans le monde de lʼacoustique des salles, André Lappert est en quelque sorte un magicien — entretien

Neue Säle in schwierigen Zeiten
Traditionsreiche Konzertgebäude werden renoviert, neue gebaut

Quand le prestige rejoint le populaire
Les salles de concert ou de théâtre – et leurs sièges – ont évolué à l’image des seigneurs ou des communautés qui les faisaient construire

Zwischen Stuhl und Tanz
Das bewegte Publikum bei Rockkonzerten

Stühle, Säle, Städte
Ein Bilderrätsel

 

… und ausserdem

RESONANCE

Les orchestres et ensembles s’adaptent pour la rentrée

Coronatauglich und experimentierfreudig — Davos Festival

«Man darf nicht inVergessenheit geraten» — Festspiele in Zeiten der Pandemie

Carte blanche à Yvonne Meyer, Jennifer Jans et Laurence Desarzens

 

FINALE


Rätsel
— Torsten Möller sucht


Reihe 9

Seit Januar 2017 setzt sich Michael Kube für uns immer am 9. des Monats in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb.

Link zur Reihe 9


52 x Beethoven


Download der aktuellen Print-Ausgabe

Hier können Sie die aktuelle Ausgabe herunterladen. Bitte geben Sie im Printarchiv den Suchbegriff «e-Paper» ein.
Für Abonnentinnen und Abonnenten ist der Download kostenlos.

Allen andern Interessentinnen und Interessenten wird das PDF der aktuellen Ausgabe (oder einer früheren Ausgabe) gerne per E-Mail zugestellt. Kosten: Fr. 8.-.
Hier geht es weiter zur Bestellung des e-Papers.

Wir verschicken gerne auch die gedruckte Ausgabe. Kosten: Fr. 10.-
Hier geht es weiter zur Bestellung der gedruckten Ausgabe.

Kategorien

Vielseitig recherchiertes Know-how des Klarinettenspiels

Das Projekt «Clarinet Didactics» stellt Werkzeuge zur Grundtechnik für Studium, Lehre und Performance online zur Verfügung. Heinrich Mätzener, Klarinettist und Professor an der Hochschule Luzern, erläutert es im Gespräch mit Robert Stempfle.

Ana-Maria Tegzes/stock.adobe.com
Vielseitig recherchiertes Know-how des Klarinettenspiels

Das Projekt «Clarinet Didactics» stellt Werkzeuge zur Grundtechnik für Studium, Lehre und Performance online zur Verfügung. Heinrich Mätzener, Klarinettist und Professor an der Hochschule Luzern, erläutert es im Gespräch mit Robert Stempfle.

Heini, Du hast mir kürzlich von einem Projekt erzählt, das Dich im Rahmen deiner Professur stark beschäftigt. Worum geht es?
«Clarinet Didactics»vermittelt auf einer Wikipedia-Plattform didaktisches Wissen zur Grundtechnik des Klarinettenspiels. Die Quellen, die ich dazu nutze, sind Interviews mit namhaften Professoren aus der Schweiz, Deutschland, Österreich, Frankreich und aus den USA, historische und aktuelle Unterrichtswerke sowie ausgewählte Beiträge aus dem Internet. Das Wiki ist online allen Interessierten zugänglich und möchte Lösungsansätze für Unterricht, Studium und Performance vermitteln. Den Auftrag dazu gab das Kompetenzzentrum Forschung Musikpädagogik der HSLU -Musik.

Die Seite ist bereits online. Die bearbeiteten Themenfelder sind umfangreich und komplex. Hast Du in der Auswahl eigene Schwerpunkte setzen können oder gab es bestimmte Vorgaben?
Die Themen im Wiki folgen den Parametern der Grundtechnik wie Ansatz, Artikulation, Atmung etc. Beim Zusammenstellen orientierte ich mich an der gängigen Unterrichtsliteratur, habe aber auch die «Méthodes» und «Anweisungen» des 18. und 19. Jahrhunderts einbezogen. Der historische Aspekt hat im Laufe der Arbeit an Bedeutung gewonnen. Am faszinierendsten waren der Austausch und die spontane Bereitschaft der Interviewpartner, an diesem Projekt mitzuwirken.

Wer waren diese Interviewpartner?
Es sind renommierte Musikerinnen und Musiker, die meist an Hochschulen oder französischen Conservatoires unterrichten. Sie arbeiten mit Studenten, aber auch mit Anfängern und Schülern der Mittelstufe. Insgesamt konnte ich26 Interviews durchführen bei ungefähr gleicher Berücksichtigung des deutschen, französischen und amerikanischen Sprachraums.

Der Umgang mit verschiedenen, sich vielleicht gar widersprechenden Lehrmeinungen erfordert sicher viel Differenzierungsvermögen. Wie bist Du damit umgegangen?
Viele didaktische Ansätze stehen einander sehr nahe, werden aber unterschiedlich formuliert. Darin sehe ich den Gewinn dieses Projektes: Es will ein möglichst weit gefasstes didaktisches und methodisches Vokabular für den Unterricht zur Verfügung stellen. Bei den Themen Artikulation und Atmung gab es während den Interviews immer wieder Momente, die sich bestens als Ausgangspunkt für Diskussionen geeignet hätten. Ich habe mich aber bewusst immer zurückgehalten, denn es ging darum, die Lehrmeinung meiner Interviewpartner aufzuzeichnen und weitergeben zu können.

Was hat Dich als Studenten in die USA zu Robert Marcellus geführt und fielen Dir damals schon Unterschiede in den Lehrmeinungen zu Europa auf?
Ich brauchte nach dem Studium weiteres Coaching für Probespiele. Die legendäre Aufnahme von Robert Marcellus mit dem Cleveland Orchestra unter George Szell mit dem Mozart Klarinettenkonzert hat mich dann an die North-Western Uni nach Evanston geführt. Nach diesem ergänzenden Unterricht war ich ein paar Wochen später erfolgreich am Probespiel für die Stelle an der Oper in Zürich. Besonders fasziniert hat mich in Marcellus’ Unterricht – er war damals schon erblindet –, dass er mir präzise Anweisungen geben konnte, wie ich mit bestimmten Veränderungen in der Ansatzformung und Ausformung der Mundhöhle klangliche Verbesserungen erreichen konnte.

Kannst Du ein Beispiel für einen didaktischen Ansatz nennen, den Du erforscht hast?
Die Ansatzformung. Dazu möchte ich etwas weiter ausholen: Im letzten Jahr habe ich bei der Arbeit an «Clarinet Didactics» den Fokus auf die alte Französische Schule gerichtet. Ihr typisches Merkmal war der Doppellippenansatz: Die Oberlippe, nicht die Zähne berühren das Mundstück. Der Widmungsträger der Debussy-Rhapsodie, Prosper Mimart, spielte und unterrichtete diese Technik, auch Gaston Hamelin, sein Schüler, spielte die erste Aufnahme 1931 noch mit Doppellippenansatz ein. Er war einer der Lehrer aus Frankreich, die in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts diese Technik unterrichteten. Diese Linie wollte ich weiterverfolgen. So konnte ich ein Interview mit John Moses führen, dessen Lehrer, Joe Allard, Schüler von Hamelin gewesen war. Die meisten der weiteren Interviewpartner hatten Unterricht bei Daniel Bonade. Auch er studierte in Paris bei Prosper Mimart. Bonade kam um 1916 nach Philadelphia. Er wechselte seine Ansatztechnik im Laufe seiner Karriere zum «normalen» Ansatz. Viele der renommierten Klarinettisten in den grossen Orchestern der USA waren Schüler von Bonade, so dass er als einer der Begründer der Amerikanischen Schule gilt. Anlässlich einer Reise nach Paris um 1950 war er über den dortigen Stil sehr erstaunt, konnte nicht glauben, dass sich die Französische Schule in Paris klanglich derart anders entwickelt hatte. Es gab dort einen klaren Bruch, einen Wechsel zum einfachen Ansatz, wahrscheinlich in den Vierzigerjahren. Die Méthode von Eugène Gay (1932) lässt noch offen, welche der beiden Ansatzarten zu verwenden sei.
Der Doppellippenansatz verändert die Innenform der Mundhöhle, der weiche Gaumen hebt sich und die Zunge rollt sich etwas nach oben, der Mundboden spannt sich nach unten. So ergibt sich für die Tonbildung eine vorteilhafte Konstellation.

Gibt es Erkenntnisse, die Dich verblüfft haben?
Es ist erstaunlich, dass in den USA die Auseinandersetzung mit dem Doppellippenansatz heute noch gepflegt wird, weniger in der Konzertpraxis, aber oft als Mittel der Tonbildung. Die Basis der Ansatzformung kann dadurch immer wieder kontrolliert und gestärkt werden. Diese Konstellationen auf den normalen Ansatz zu übertragen, ist eine Methode, die in den USA noch praktiziert wird. Ich kannte das auch von meinem Lehrer Hans-Rudolf Stalder, er war Schüler von Louis Cahuzac, der seinerseits noch bei Cyrille Rose studierte (Rose gehörte zur Generation vor Prosper Mimart).

Haben sich bei Deiner Recherche Unterschiede zwischen dem französischen und deutschen Klarinettensystem gezeigt?
Dieser Frage ist Stephanie Angloher, besonders was den Klang betrifft, in ihrer umfangreichen Studie (2007) nachgegangen. Es gab einige bemerkenswerte Parallelen in französischen, deutschen und amerikanischen Interviews, was die Atemtechnik oder auch die Vokalisierung, gemeint ist die Ausformung des Mundinnenraums, betrifft. Erstaunt hat mich, dass sich die «neue» und die «alte» Französische Schule klanglich deutlich unterscheiden, was zwei Aufnahmen aufzeigen: Prosper Mimart ca. 1920, Schubert, Der Hirt auf dem Felsen, und Ulysses Delécluse 1952, Louis Cahuzac, Fantaisie sur un vieil air champêtre. Dieser Unterschied ist eindeutig grösser als derjenige, der heute zwischen dem deutschen oder französischen System wahrnehmbar ist.

Hast Du eine Erklärung dafür, warum sich das Vibrato auf der Klarinette in der sogenannt «ernsten Musik» kaum hat durchsetzen können? Auf allen sonstigen Holzblasinstrumenten wird es eingesetzt, sogar auf dem Saxofon, das auch nur mit einem einfachen Rohrblatt gespielt wird.
Das ist eine gute Frage! Steve Hartman, Solo-Klarinettist im New York City Ballet Orchestra, meinte ironisch, dass sofort Interpol eingeschaltet würde, sollte er mit Vibrato spielen. Wie von Richard Mühlfeld überliefert ist, nutzte er dieses Ausdrucksmittel, und wie die oben erwähnten Aufnahmen belegen, war es bis zirka 1955 vielerorts selbstverständlich, mit Vibrato zu spielen. Ab etwa 1970 ist das Vibrato ausser Mode geraten; wie es scheint, parallel zum sich ändernden Klangideal vom hellen zum dunkleren, heute fast international einheitlichen Klangbild. Das ist aber kein Forschungsergebnis, nur eine subjektive Beobachtung. Viele der Interviewpartner spielen mit mehr oder weniger dezentem Vibrato, z. B. Richard Stoltzman oder John Moses. Letzterer ist stilistisch sehr versiert.

Wie weit ist das Projekt nun gediehen?
Die Interviews sind alle transkribiert und auf dem Wiki greifbar, ebenso wie Zusammenfassungen ausgewählter «Méthodes», «Anweisungen» und Unterrichtswerke. In der grossen Kategorie «Grundtechnik» wird das gesammelte Wissen gebündelt und aufgezeigt, wo sich Lehrmeinungen entsprechen, ergänzen oder auch widersprechen. Das ist die gegenwärtige Aufgabe, auch das Einarbeiten der Links, die zu den Quellen führen. Gleichzeitig werden die Texte mit passenden Bild-, Ton- und Videodateien ergänzt.
Diese Arbeit sollte bis Ende September abgeschlossen sein, das gesamte Projekt bis Ende 2020. Ursprünglich waren nur zwei Jahre geplant, danach wurde mir die Möglichkeit gegeben, das Projekt zweimal zu verlängern. Dafür bin ich dem Forschungsleiter, Marc-Antoine Camp, sehr dankbar. Ich wollte die Chance nutzen, die verborgenen Vorgänge näher zu beleuchten, die sich beim Klarinettenspiel wie bei jedem Blasinstrument im Innern abspielen. Themen also, die in der Unterrichtsliteratur eher wenig ausgeführt werden. Da vieles in Notenschrift notiert ist, bleiben ganz unterschiedliche Möglichkeiten der Umsetzung offen. Die Feinarbeit findet immer im Kontaktunterricht statt, und die Interviews scheinen mir ein geeignetes Format zu sein, nicht gerade eine Lücke zu schliessen, aber doch die bestehende Unterrichtsliteratur zu ergänzen.

Wenn man auf Wikipedia einen Eintrag machen möchte, muss man gewisse Regeln einhalten. Wie kann das Qualitätsniveau beibehalten werden?
Die frei verfügbare Wikimedia-Software ist auf dem Hochschul-Server installiert. Dort lege ich die Inhalte von «Clarinet Didactics» ab. Die wichtigste Regel, der lückenlose Quellennachweis, ist akademische Vorschrift. Sie bietet dem Leser Gelegenheit, sich in die Materie weiter zu vertiefen: Viele der Quellen sind online greifbar.
In der Wikimedia-Software können interne und externe Links und verschiedene Medien eingearbeitet werden. Es gleicht dem Vielschichtigen des Instrumentalspiels, wo auch das Know-how und die Fertigkeiten zwischen verschiedenen physischen und intellektuellen Ebenen zu koordinieren sind. Im Gegensatz zu einem Printmedium sind die Beträge auch laufend erneuerbar, man kann sie ergänzen, korrigieren oder neu ordnen. Deshalb haben wir uns für diese Publikationsform entschieden.
Nach meiner Pensionierung plane ich, das Wiki weiterzupflegen. Zugangsrechte stehen allen Interessierten offen, müssen aus Sicherheitsgründen aber beantragt werden. Kontakte siehe Impressum.

In welchen Sprachen wird es das Nachschlagewerk «Clarinet Didactics» geben?
Die Interviews bleiben in den Originalsprachen Deutsch, Französisch und Englisch, die Zusammenfassungen in der Kategorie «Grundtechnik» werden vorerst auf Deutsch verfasst. Es ist geplant, diese auf Französisch und Englisch zu übersetzen.
 

Heinrich Mätzener ist Solo Es-Klarinettist in der Philharmonia Zürich, spielt historische Klarinetten in «La Scintilla» und hat eine Professur an der Hochschule Luzern inne.

 

Robert Stempfle ist studierter Klarinettist und gelernter Holzblasinstrumentenmacher – er führt eine Fachwerkstatt für Holzblasinstrumente.
 

Kategorien

get_footer();