Heavy Metal in der DDR

Heavy Metal war eine der grössten Jugendsubkulturen der späten DDR. Nikolai Okunew vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) hat diese Szene erstmals historisch erforscht.

Nikolai Okunew mit seiner Studie «Red Metal». Foto: ZZF

Okunew hat private wie staatliche Archive durchforstet und Dutzende Interviews geführt. Das Ergebnis ist eine popgeschichtliche Studie über die Entstehung und Entwicklung einer bislang kaum beachteten jugendlichen Subkultur: die Heavy-Metal-Szene der DDR. Sie wurde in den 1980er-Jahren von der staatlichen Kulturpolitik ähnlich kritisch beäugt wie die Punks. Denn die Jugend sollte sich «niveauvoll» kleiden, in der FDJ engagieren und Lieder singen, die sie fröhlich stimme und die Liebe zur sozialistischen Heimat stärke.

Doch viele junge Menschen fühlten sich davon schon lange nicht mehr angesprochen. Immer stärker und offener wandten sie sich westlicher Popkultur zu. AC/DC, Motörhead, Metallica und Slayer begeisterten die Jugendlichen. So wuchs die Metal-Szene in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre zur vermutlich grössten jugendlichen Subkultur in der DDR heran.

Mehr Infos:
https://zzf-potsdam.de/de/presse/kutte-statt-blauhemd-neue-studie-erforscht-die-heavy-metal-szene-hinter-dem-eisernen
 

Aargauer Kuratorium unter neuer Leitung

Der Kinospezialist Daniel Waser wird zum neuen Geschäftsführer des Aargauer Kuratoriums ernannt. Er folgt in dem Amt auf den Musikkenner Peter Erismann, der die Leitung des Ensemble Proton Bern übernommen hat.

Daniel Waser. Foto: zVg

Der 1963 geborene Daniel Waser ist in Bern aufgewachsen und schloss seine Ausbildung als Bernischer Fürsprecher ab. Er bringt über 25 Jahre Erfahrung im Kulturbereich mit einem nationalen und europäischen Netzwerk mit. Insbesondere baute er nach erfolgreicher Volksabstimmung ab 2005 die Zürcher Filmstiftung auf. Er leitete die Stiftung während 14 Jahren als Geschäftsführer und positionierte die regionale Filmförderung erfolgreich als international anerkanntes Kompetenzzentrum.

In seiner beruflichen Laufbahn war er unter anderem freiberuflicher Journalist bei der Tageszeitung Der Bund, Gründer und Geschäftsführer der Cinématte AG sowie Geschäftsführer der Quinnie Cinéma Films in Bern und Zentralsekretär bei impressum, dem Schweizer Journalistenverband in Freiburg.

Paul Hindemith ist wieder da

Am 27. Oktober wurde das Paul-Hindemith-Archiv mit einer festlichen Veranstaltung in der Aula der Universität Zürich eröffnet. Tabea Zimmermann spielte dessen Sonate op. 25/1 für Bratsche solo und Christine Lubkoll hielt den Festvortrag.

Blick ins Archiv. Foto: Musikwissenschaftliches Institut der Universität Zürich,SMPV

Eigentlich hätte das Archiv schon letztes Jahr im April eröffnet sein sollen. Die Fondation Hindemith hatte dem Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich das Archiv des Komponisten und von dessen Frau aus ihrer Villa in Blonay geschenkt (siehe SMZ 6/2020, S. 24). Pandemiebedingt musste der Festakt mehrmals verschoben werden. Die Freude darüber, dass es am 27. Oktober endlich dazu kam, war in der Aula der Universität Zürich gross. «Hindemith ist wieder da», brachte es Katharina Michaelowa, Dekanin der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich, auf den Punkt. Die Pflege der Erinnerung an Paul Hindemith mache dessen Kreativität deutlich spürbar und motiviere, Neues zu versuchen. Andreas Eckhardt, Präsident der Fondation Hindemith, Blonay, wies auf das Anliegen dieser Schenkung hin, Hindemiths Bibliothek im Sinne des «angemessenen Erinnerns» als Ganzes zu erhalten und für die Wissenschaft und die Öffentlichkeit nutzbar zu machen.

In die Feier integriert war die sogenannte «Hindemith-Vorlesung 2021». Seit 2006 erinnert das Musikwissenschaftliche Institut jeweils im November mit einem Vortrag an den ersten Lehrstuhlinhaber. Christine Lubkoll, Professorin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, sprach zum Thema «Verpflichtendes Erbe»: Paul Hindemith und die Kulturtradition. Mit Bezug auf die Rede, die Hindemith am 12. September 1950 in Hamburg gehalten hatte (Johann Sebastian Bach. Ein verpflichtendes Erbe), beleuchtete sie Hindemiths Leben als Exilant und Heimkehrer, sein Verhältnis zur Tradition und schloss: «Verpflichtendes Erbe ist immer Aufbruch.»

In ihren Begrüssungsworten wies Inga Mai Groote, als Direktorin des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich die Gastgeberin dieses Anlasses, schon darauf hin: Das Zürcher Hindemith-Archiv will die Schätze bewahren, aber auch zum Klingen bringen. Und so rundete Tabea Zimmermann mit ihrer höchst eindrucksvollen Interpretation von Hindemiths Sonate für Bratsche solo op. 25/1 diese Eröffnungsfeier aufs Schönste ab.
 

Hohe Ehren für Mozart-Forscher Konrad

Der Musikwissenschaftler Ulrich Konrad hat mit dem Maximiliansorden die höchste Auszeichnung bekommen, die der Freistaat Bayern für akademische Leistungen vergibt.

Ulrich Konrad (li) mit Ministerpräsident Markus Söder. Foto: Bayerische Staatskanzlei,SMPV

Der 1957 geborene Ulrich Konrad hat seit 1996 einen Lehrstuhl für Musikwissenschaft an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) inne. Er studierte Musikwissenschaft, Germanistik sowie Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Bonn und Wien. Nach der Promotion zum Doktor der Philosophie lehrte und forschte er ab 1983 am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Göttingen. Dort habilitierte er sich 1991.

Nach der Vertretung des Musikwissenschaftlichen Lehrstuhls an der Freien Universität Berlin und einer Lehrtätigkeit in Göttingen leitete er von 1993 bis 1996 die C4-Professur für Musikwissenschaft an der Staatlichen Hochschule für Musik Freiburg. Danach wechselte er als Lehrstuhlinhaber und Leiter des Instituts für Musikwissenschaft an die JMU. Unter seiner Führung wurde das Institut neu ausgerichtet und ausgebaut.

Der Zwang, sich ständig neu zu erfinden

Hundert Jahre Donaueschinger Musiktage: Versuch einer Bilanz.

Ein grosses Jubiläumsfestival sollte es werden, keine Feierlichkeiten, aber eine breit angelegte Leistungsschau des heutigen Musikschaffens mit Ausblicken in die Zukunft. Zwei kleine Blicke zurück gab es trotzdem: Im Festakt zur Eröffnung spielte das Diotima Quartett das dritte Streichquartett von Paul Hindemith, das im Gründungsjahr 1921 am 1. August im Donaueschinger Schloss des Fürsten von Fürstenberg erstmals erklungen war. Und das Lucerne Festival Contemporary Orchestra, das nun zum ersten Mal in Donaueschingen auftrat, brachte unter der Leitung von Baldur Brönnimann neben zwei Uraufführungen von Christian Mason und Milica Djordjević auch die Polyphonie X von Pierre Boulez zu Gehör, die 1951 in Donaueschingen für Aufruhr gesorgt hatte und dann dauerhaft in der Versenkung verschwand. Die Aufführung geriet schlackenlos, und man fragte sich, was an diesem harmlosen Zombie denn einst so skandalös erschienen war. Vielleicht die sterile serielle Mechanik?

Musizieren vor und hinter den Zäunen

Ansonsten herrschte pralle Gegenwart in dem um einen Tag verlängerten Festivalprogramm. 27 Uraufführungen in 24 Konzerten: Das grenzte an akustischen Overkill. Das Geschehen liess sich aber auch schön à la carte zu Hause am Bildschirm verfolgen, denn vom SWR wurde alles live in Radio und Internet übertragen. So entstand eine Öffentlichkeit, die über die notorischen Insiderkreise hinausreichte, und auch vor Ort wurden die «Neue-Musik-Zäune» für kurze Zeit beiseitegeräumt. Mit der massenwirksamen «Landschaftskomposition» Donau/Rauschen schufen Daniel Ott und Enrico Stolzenburg ein Jekami-Ereignis für über hundert Mitwirkende vom Akkordeonisten bis zur Blaskapelle, garniert mit Klängen und Geräuschen aus Lautsprechern. Schauplatz: die Donaueschinger Einkaufsmeile am Samstagnachmittag.

In den Orchester- und Ensemblekonzerten war man dann wieder unter sich und begegnete neben viel neuen Namen auch wieder den üblichen Verdächtigen: der Siemens-Preisträgerin Rebecca Saunders, dem unermüdlichen Enno Poppe, der trendigen Chaya Czernowin oder dem mit einem kompakten Orchesterstück aufwartenden Beat Furrer. Den Abschluss machte das in breiten Klangwogen sich ergiessende Oratorium The Red Death von Francesco Filidei über einen Text von Edgar Allan Poe, dem konkurrenzlosen Master of Disaster. Es war der passende Schlusspunkt für ein Festival, in dem Zukunftsskepsis und Untergangsfantasien schon seit Längerem eine kulturkritische, lustvoll applaudierte Unterströmung bilden und sich inmitten der Saturiertheit zunehmend künstlerisches Unbehagen breitmacht. Insofern Business as usual auch im Jubiläumsjahr.

Der Fürst als Mäzen der neuen Musik

Ein kurzer Blick in die alten Programme zeigt: Von ästhetischer Dauerlähmung konnte nie die Rede sein. Es gehört zu den Eigenschaften des Donaueschinger Festivals, dass es, getrieben von den Widersprüchen der Zeit, sich immer wieder neu erfinden und dadurch den Blick zwangsläufig nach vorne richten musste. Schon die Gründung war eigentlich ein produktives Missverständnis. Fürst Max Egon II. von Fürstenberg, ein kaisertreuer Adliger alten Stils, hatte die verrückte Idee, im kriegsverwüsteten Deutschland, in einer Zeit des revolutionären Umbruchs dem kompositorischen Nachwuchs eine Bühne zu verschaffen. Für ihn war das eher eine mäzenatische Laune, er liebte die Jagd und glamouröse Gesellschaften. Doch für die Komponisten und Interpreten, die er damit anlockte, waren die «Donaueschinger Kammermusikaufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst», so der damalige Titel, ein Versprechen auf die Zukunft.

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Das Frankfurter Amar-Quartett führte im Umfeld der Donaueschinger Musiktage 1923 Paul Hindemiths Militärmusikparodie «Minimax – Repertorium für Militärmusik» auf. Links der Festivalgründer Fürst Max Egon II. zu Fürstenberg. Foto: Fürstlich Fürstenbergisches Archiv

Ein Programmausschuss, bestehend aus dem Reger-Schüler Joseph Haas, dem Pianisten Eduard Erdmann und dem Donaueschinger Chorleiter und Archivar Heinrich Burkhard, hatte für den ersten Jahrgang aus den Einsendungen von hundertsiebenunddreissig Komponisten ein Programm für drei Konzerte zusammengestellt; ein internationaler Ehrenausschuss, dem unter anderem Ferruccio Busoni, Richard Strauss, Franz Schreker und Arthur Nikisch angehörten, gab dem Unternehmen die höheren Weihen. Zu den Komponisten der ersten Stunde gehörten Philipp Jarnach, Alois Hába, Alban Berg, Paul Hindemith und Ernst Krenek, später kamen Schönberg und Webern dazu. Der Honeymoon dauerte sechs Jahre, dann wuchsen dem Fürsten die Kosten über den Kopf.

Ein Festival auf Wanderschaft

1927 wanderte das Festival nach Baden-Baden aus. Nun nahm der Dirigent Hermann Scherchen das Heft in die Hand, und mit Lehrstück von Brecht/Hindemith (mit Publikumsbeteiligung), dem Lindberghflug von Brecht/Hindemith/Weill sowie Filmmusik von Hanns Eisler rückte die «angewandte Musik» ins Zentrum. Doch auch das dauerte nicht lange, die Wirtschaftskrise von 1929 versetzte dem Unternehmen den Todesstoss.

So zog man 1930 erst weiter nach Berlin und 1933, als das Nazidesaster einsetzte, wieder heim nach Donaueschingen. Der irrlichternde Fürst war inzwischen in die SA eingetreten, und bei den neugeborenen Donaueschinger Musiktagen wurden nun völkische Kantaten und Gemeinschaftsmusik mit der Schwäbischen Frauensinggruppe aufgeführt. 1938 stand auch Othmar Schoecks Präludium für Orchester op. 48 auf dem Programm. Beim Kriegsausbruch 1939 nahm der Spuk dann ein vorläufiges Ende.

Auferstanden aus Ruinen

Der zweite grosse Anfang geschah 1946, zuerst mit bewährten Namen wie Prokofjew, Schostakowitsch und Hindemith. 1950 stieg der Südwestfunk Baden-Baden mit dem Musikchef Heinrich Strobel und dem Dirigenten Hans Rosbaud ein, und nun entwickelte sich Donaueschingen innerhalb weniger Jahre zu einem internationalen Hotspot der zeitgenössischen Musik. Alles, was in der Avantgarde Rang und Namen hatte, ging hier jetzt ein und aus: die Platzhirsche des Serialismus wie Stockhausen und Boulez, die Aleatoriker, die polnischen Klangkomponisten, Cage, Berio, Ligeti, Xenakis, Kagel und viele andere. Das Prinzip, stets den neuen Tendenzen ein Forum zu bieten, hatte auch in der Phase der Postmoderne Bestand und hat bis heute gegolten. Doch vermutlich ändert sich nun einiges.

Von Beginn an haben die Musiktage ihren ästhetischen Horizont schrittweise erweitert. In der ersten Phase war er noch weitgehend auf den deutsch-österreichischen Bereich begrenzt. Ab 1946 weitete er sich auf Europa aus, mit wenigen Abstechern in aussereuropäische Gebiete. Und ab jetzt will man sich gezielt den anderen Kulturen zuwenden. Das Signal dazu setzte nun der Jubiläumsjahrgang.

Die Globalisierung Donaueschingens

Der Schritt ist richtig und notwendig. Die «Neue Musik» ist längst kein europäisches Phänomen mehr. Doch je mehr sie sich auf dem Globus ausbreitet, desto stärker werden die europäischen Massstäbe infrage gestellt. Unter dem Motto «Donaueschingen global» standen nun auch Ensembles, Komponisten und Performer unter anderem aus Kolumbien, Bolivien, Ghana, Thailand und Usbekistan auf dem Programm. Während manche Südamerikaner noch am Schnittpunkt von indigenen Kulturen und europäisch-amerikanischen Einflüssen arbeiten, entwickeln die meisten asiatischen und afrikanischen Beiträge ihre eigenen Traditionen weiter; bevorzugte Mittel sind Elektronik und aktuelle mediale Darstellungsformen.

Der traditionelle Festivalgänger in Donaueschingen wurde mit völlig neuen Hör- und Seherfahrungen konfrontiert. Und mit einem Sack voller Fragen: Was ist das «Neue» an diesen Beiträgen? Ist es neu in der Sache oder bloss neu für uns weisse Männer und Frauen? In welchem Verhältnis steht das «Neue» zum «Alten» der Herkunftsregion? Müssen wir das wissen, um es zu verstehen? Geht es um interkulturelle Verständigung oder bloss um die gute alte Exotismus-Show in neuen, bunten, medial aufgehübschten Kleidern? Klar war jedenfalls: Viel frischer Wind im Schwarzwald, und die thematische Auswahl garantierte, dass sich auch die Segel der antikolonialistischen Debatte blähen durften.

Mit «Donaueschingen global» lag man voll im Trend. Wie es weitergeht unter der neuen Leiterin Lydia Rilling, die nun Björn Gottstein ablöst, wird sich zeigen. Zwei neuralgische Punkte sind aber schon erkennbar: Der eine betrifft die begrenzten zeitlichen Kapazitäten des Wochenendfestivals. Bei der neuen Weltoffenheit könnten die etablierte weisse Avantgarde und ihr Publikum noch unvermutet in die Defensive geraten. Der andere betrifft die Kooperation mit regierungsnahen Organisationen bei «Donaueschingen global». Wenn sich die Musiktage weiter auf deren organisatorische und finanzielle Effizienz verlassen, dann kann der hippe multikulturelle Spass zwar ungebremst weitergehen. Aber damit begeben sie sich auch in die Abhängigkeit der Aussenpolitik, die den Kulturaustausch ihren Richtlinien unterordnet und zur Imagepflege nutzt. Und dann ist in der Neuen Musik auch Schluss mit der künstlerischen Freiheit.

Legende zum Titelbild

Komponisten an den 1. Donaueschinger Kammermusikaufführungen 1921: Wilhelm Grosz, Ernst Krenek, Philipp Jarnach und Alois Hába (v.l.)
(© Fürstlich Fürstenbergisches Archiv)

https://www.swr.de/swrclassic/donaueschinger-musiktage

Milena Krstic reist nach Belgrad

Die Stadt Bern fördert mit zwei Stipendien Arbeitsaufenthalte für Kulturschaffende im Ausland. Für vier Monate nach Belgrad reist die Musikerin Milena Krstic. Die zweite Jahreshälfte 2022 wird die Theaterwissenschaftlerin Silja Gruner in Kairo verbringen.

Milena Krstic. Foto: Sarah Wimmer

Milena Krstic tritt solo als Milena Patagônia auf, im Duo mit Sarah Elena Müller als Cruise Ship Misery. Seit sie für ein Balkan-Theaterprojekt engagiert war, will sie den Wurzeln ihrer Familie in Serbien auf den Grund gehen. Diese Recherche wird ihr Lebenspartner Markus Mezenen in einem Film dokumentieren. Zum ersten Mal werde, schreibt die Stadt Bern, damit in Zusammenarbeit mit der Städtekonferenz Kultur (SKK) ein Atelierstipendium an ein Kollektiv oder eine Familie vergeben.

Die zweite Jahreshälfte 2022 wird die Theaterwissenschaftlerin Silja Gruner in Kairo verbringen. Sie arbeitet seit fünf Jahren beim auawirleben Theaterfestival Bern und will die Zeit nutzen, um ihre Recherche zu inklusiverer Theaterpraxis und der arabischen Theaterwelt zu vertiefen.

Gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Schweizer Städtekonferenz Kultur SKK bietet die Stadt Bern alle zwei bis drei Jahre Aufenthalte für Kulturschaffende aller Sparten in Belgrad (4 Monate), Buenos Aires (6 Monate), Genua (3 Monate) und Kairo (6 Monate) an. Das Stipendium umfasst die Kosten für ein Wohnatelier und einen Beitrag an die Lebenskosten. Die Arbeits- und Wohnräume in Belgrad sind im Rahmen des Berner Stipendiums für ein Kollektiv, Duo oder eine Familie reserviert.

HSLU-M offeriert Volksmusik-Bachelor

Die Hochschule Luzern bietet ab Herbst 2022 einen kompletten Bachelor-Studiengang in Volksmusik an. Dozierende sind Volksmusikgrössen wie Markus Flückiger, Andreas Gabriel, Christoph Pfändler oder Nadja Räss.

Nadja Räss gehört zu den Dozierenden im Studiengang Volksmusik der HSLU. Foto: Daniel Ammann

Traditionelle und moderne Volksmusik erfreut sich nicht nur beim Publikum grosser Beliebtheit. In den letzten Jahren ist auch die Nachfrage nach entsprechenden Musiklehrpersonen stark gewachsen. Dieser Entwicklung trägt die Hochschule Luzern – Musik nun verstärkt Rechnung: Konnten Studierende bisher lediglich einen Schwerpunkt Volksmusik im Rahmen des Bachelor- oder Masterstudiums wählen, so haben sie ab Herbst 2022 die Möglichkeit, ihr Studium komplett auf die Volksmusik – instrumental wie auch vokal – auszurichten.

Als Hauptinstrument wählen die Studierenden volksmusiktypische Instrumente wie Schwyzerörgeli, Hackbrett, Akkordeon und Jodel oder ein volksmusiknahes Instrument wie Geige, Kontrabass, Klarinette oder Klavier. Im praktischen Bereich wird es zudem Unterricht im Stegreifeln, also dem Spielen nach Gehör geben.

Mehr zum Studium unter: hslu.ch/bachelor-volksmusik

Vom Turm bis in den Untergrund

Das Neue-Musik-Netzwerk Pakt Bern bespielte am 23. September 2021 das Münster und die Kirche St. Peter und Paul.

«Von Roll Twist» von Cod.Act. auf dem Müsterplatz. Fotos: zVg,SMPV

Nachmittags um drei ging es los und endete spät abends: Musik, Performances und eine Klanginstallation nahmen das Berner Münster in Beschlag, und zwar von oben bis unten. Auf den «Bsetzisteinen» des Münsterplatzes hatten die Brüder Michel und André Décosterd, bekannt als Cod.Act, eine ihrer Installationen aufgebaut: Ein mit Seilen verstricktes Inividuum versuchte sich zu befreien, wobei die Seile je nach Zug und Zugrichtung unterschiedliche Klänge von sich gaben.

Im Gewölbesaal, einem achteckigen Konzertraum hoch oben im Münster, spielten acht Musikerinnen und Musiker des Ensembles Proton Bern Earth Ears: A Sonic Ritual der amerikanischen Komponistin Pauline Oliveros. Mit Appel interstellaire für Horn solo aus dem Stück Du Canyon aux étoiles von Olivier Messiaen begann das Olivier-Darbellay-Hornquartett seine Darbietung von Werken für ein bis vier Hörner, die meisten komponiert vom Kollektiv L’art pour l’Aar.

Franziska Baumann stellte in Prop-hectics unser Verhältnis zu virtuellen Stimmen auf den Prüfstand; Léa Legros Pontal näherte sich von der Improvisation her Ligetis Bratschen-Sonate und Christoph Mahnig verführte mit Spaces für Trompete solo zum genauen akustischen Erkunden seines Instruments und des Konzertraums.

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Franziska Baumann im Gewölbesaal des Münsters

Werner Hasler liess sich vom Münstergeläut inspirieren, «hängte» seine Intervention an die ausströmenden Klänge, veränderte sie unmerklich, um ihnen dann seinen Nachklang hinterher zu schicken.

Für den Nachklang des Festivals zogen die Besucherinnen und Besucher keine hundert Meter weiter in die Krypta der Kirche St. Peter und Paul. In dem niedrigen Untergeschoss spielte das Kukuruz Quartet auf vier Klavieren Kompositionen des afroamerikanischen Komponisten Julius Eastman, der Rassismus und Homophobie bereits in den 1970er-Jahren zu bedrückenden Themen seiner Stücke machte.

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Musik von Julius Eastman in der Krypta der Kirche St. Peter und Paul

BSO wählt neuen Konzertmeister

Das Berner Symphonieorchester ernennt mit David Guerchovitch einen neuen 1. Konzertmeister aus den eigenen Reihen. Er ist seit 2018 Mitglied und zweiter Konzertmeister des Berner Symphonieorchesters.

David Guerchovitch (Bild: zVg)

Bereits im Alter von drei Jahren erhielt Guerchovitch von seinen Eltern seinen ersten Geigenunterricht. Im Anschluss studierte er bei Pavel Vernikov in Italien, Ana Chumachenco in Deutschland und Maxim Vengerov in der Schweiz. Er gewann sowohl bei Solowettbewerben als auch im Bereich Kammermusik diverse Preise (1. Preis des «Gianni Bergagmo Classic Music Award», 3. Preis bei «International Mozart Competition», Spezialpreis beim «Wigmore Hall String Quartet Competition»).

Von 2015 bis 2018 war er Stimmführer der 2. Violinen beim Luzerner Sinfonieorchester, dem Residenz Orchester des KKL. Gemeinsam mit seinem Bruder Slava Guerchovitch und Jonas Vischi, gründete er das Trio Pilatus, das regelmässig in der Schweiz und im Ausland auftritt.

Meilenstein der Talentförderung

Am 29. Oktober überreichten VMS und KMHS in Luzern sieben Schulen das Label «Pre-College Music CH».

Valentin Gloor dankt Leander Schöpfer, Fiona Busse-Grawitz und Samuel Brunner (v.r.). Foto: A. Kohler

«Qualität» und «Austausch» resp. «Kooperation» waren Schlüsselbegriffe dieses feierlichen Anlasses im Club Knox der Hochschule Luzern – Musik. Die musikalischen Beiträge der Nachwuchstalente aus erstmals mit dem Label «Pre-College Music CH» zertifizierten Schulen boten nicht nur den passenden Rahmen. Sie standen für die grosse Vielfalt potenzieller Professionalität und zeugten vom hohen Niveau des Ausbildungsmodells an der Schnittstelle zwischen Musikschule und Musikhochschule. Zudem hatten die jungen Musikerinnen und Musiker Gelegenheit zum direkten Austausch untereinander.

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Christine Bouvard-Marty (links) und Noémi L. Robidas sprechen für die Label-Trägerschaft VMS und KMHS.

Die Präsidentinnen der Label-Trägerschaft, Christine Bouvard-Marty, Verband Musikschulen Schweiz (VMS), und Noémie L. Robidas, Konferenz Musikhochschulen Schweiz (KMHS), schlugen in ihren Begrüssungs- und Schlussworten die Brücke zum Verfassungsartikel «Musikalische Bildung». Er ist die Grundlage für die jahrelange Arbeit von VMS und KMHS im Hinblick auf eine systematische Förderung musikalischer Talente mit Hochschulpotenzial in der Schweiz. Mit dem gemeinsam entwickelten Label Pre-College Music CH soll die Qualität des Einstiegs in die Berufsausbildung schweizweit auf ein vergleichbares, hohes Niveau gebracht, die Wahrnehmung des Berufs Musikerin resp. Musiker gestärkt und die Zusammenarbeit der ausbildenden Institutionen untereinander gefördert werden. Die erste Verleihung des Labels an sieben Ausbildungsstätten sei ein Meilenstein für die musikalische Bildung, besonders für die Förderung junger Musiktalente, die sich auf ein Hochschulstudium im Fach Musik vorbereiteten, sagte Bouvard. Das Schweizer Qualitätslabel, das sich an bestehenden internationalen Standards orientiert, verdiene nationale Anerkennung, gerade auch durch die Behörden. Damit sprach sie direkt die als Gäste anwesenden Lorenzetta Zaugg, Bundesamt für Kultur, und Marcel Schwerzmann, Regierungspräsident des Kantons Luzern, an. Weitere Themen im Bericht der Arbeitsgruppe zur Umsetzung von Art. 67a BV auf Bundesebene harrten nach wie vor der Verwirklichung. Oder, wie Valentin Gloor, Vize-Präsident KMHS, Gastgeber und Direktor der Hochschule Luzern – Musik, an anderer Stelle bemerkte: Von den rund 40 vorgeschlagenen Massnahmen seien bislang «gefühlt zwei» umgesetzt.

Wer, wie und wie weiter

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Anna Brugnoni schildert die Arbeit der Paritätischen Kommission.

Die zentrale Rolle im Zertifizierungsprozess spielt die sogenannte Paritätische Kommission, deren Arbeit Anna Brugnoni vorstellte. Die Kommission (neben Brugnoni gehören ihr Valentin Gloor, Präsidium, Raphael Camenisch, Helena Maffli, Luca Medici und Béatrice Zawodnik an) sichtet die Zertifizierungsanträge, stellt fest, ob die Kriterien erfüllt werden, ob Dokumente fehlen. Das Highlight sei jeweils der Besuch von zwei Kommissionsmitgliedern vor Ort, wichtigster Leitstern immer die Qualität der Lehrenden und Lernenden. Alle Prozesse werden offengelegt, Fragen beantwortet. Diesen direkten Austausch, verbunden mit konstruktiver Kritik durch einen Blick von aussen, schätzen die Vertreterinnen und Vertreter der zertifizierten Schulen sehr. Thomas Saxer, Vorstand VMS, übergab die Zertifikate an sieben Ausbildungsstätten aus drei Sprachregionen: Conservatoire de musique neuchâtelois, Conservatoire de Lausanne, Conservatorio della Svizzera italiana, Hochschule Luzern – Musik, Konservatorium Winterthur, Musikschule Konservatorium Zürich und Zürcher Hochschule der Künste (die Verlinkungen führen direkt zu den jeweiligen Pre-College-Angeboten).

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(v.l.) Christian Ledermann, Konservatorium Winterthur; Luca Medici, Conservatorio della Svizzera italiana; Josua Dill, Zürcher Hochschule der Künste; Christian Kipper, Hochschule Luzern – Musik; Seung-Yeun Huh, Musikschule Konservatorium Zürich; Nicolas Farine, Conservatoire de musique neuchâtelois; Hélène Celhay, Conservatoire de Lausanne sowie Christoph Brenner und Thomas Saxer

Schliesslich wurde im Schnellverfahren öffentlich und unkompliziert der Verein «Schweizerische Konferenz Pre-Colleges Music CH» mit Sitz in Basel gemäss Art. 60 ff. des Schweizerischen Zivilgesetzbuches ins Leben gerufen. Thomas Saxer begründete als Vorsitzender der Gründungsversammlung diesen Schritt: Der Austausch unter ähnlichen Organisationen garantiere eine langfristige Qualitätsentwicklung und sei somit weiterhin wichtig zur Stärkung der musikalischen Studienvorbereitung in der Schweiz. Neben Saxer unterzeichnete Christoph Brenner, KMHS, Direktor des Conservatorio della Svizzera italiana, als Protokollführer der Gründungsversammlung die Statuten. Zu den Gründungsmitgliedern gehören neben KMHS und VMS die sieben erstzertifizierten Schulen. Luca Medici und Christian Ledermann sitzen im von Thomas Saxer präsidierten Vorstand, in der Revisionsstelle Valentin Gloor und Christoph Brenner. Letzterer verwies auf die Einführung des Fachhochschulgesetzes Ende der 1990er-Jahre, als die professionelle Musikausbildung den Fachhochschulen zugeordnet wurde, wodurch die Bereiche Begabtenförderung und Berufsvorbereitung etwas unter die Räder geraten seien. Einige Musikschulen entwickelten entsprechende Angebote, für andere war das nicht möglich. Die Vorbereitungsarbeiten zur Musikinitiative und später die Aktivitäten in der vom Bundesrat eingesetzten Arbeitsgruppe führten zu einer Kooperation zwischen KMHS und VMS, die in der Erarbeitung eines Modells professioneller Studienvorbereitung und schliesslich im Label Pre-College Music CH gipfelte. Mit der Gründung der Schweizerischen Konferenz Pre-Colleges Music CH ist nun auch der direkte Austausch wieder institutionalisiert worden.

Informationen und Dokumente zum Label Pre-College Music CH

Das Label kann über ein Formular, das auf der VMS-Website aufgeschaltet ist, beantragt werden. Eine nächste Zertifizierungsrunde findet im Sommer 2022 statt.

Weblink zu Informationen und Unterlagen

Adresse
Label Pre-College Music CH
c/o Verband Musikschulen Schweiz VMS
Dufourstrasse 11
4052 Basel

Kanton Luzern will Villa Senar kaufen

Der Luzerner Regierungsrat will die in Hertenstein gelegene Villa Senar des Pianisten, Dirigenten und Komponisten Serge Rachmaninoff kaufen. Sie soll der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und als Kulturzentrum genutzt werden.

Villa Senar (Bild: Kanton Luzern)

Senar soll als Kulturzentrum etabliert werden, das unterschiedliche Zielgruppen ansprechen kann. Der Kanton wird als Eigentümer die Sanierung und den Unterhalt der Liegenschaft sicherstellen sowie die Villa für die Veranstaltung kleinerer Anlässe selber nutzen oder Veranstaltern zur Verfügung stellen. Das eigentliche kulturelle Angebot soll von der Stiftung Serge Rachmaninoff organisiert werden. Für den Kauf beantragt der Regierungsrat dem Kantonsrat einen Sonderkredit von 15,45 Millionen Franken zu bewilligen.

Grosse Anlässe wie Festivals oder musikalische Aufführungen mit viel Platzbedarf und grossem Publikum eignen sich laut der Mitteilung des Kantons nicht für die Villa Senar. Es wird eine Nutzung in den Bereichen Vermittlung (Musik, Architektur, Geschichte), Talentförderung, Aufführungen sowie Tourismus angestrebt. Zudem sind gastronomische Anlässe für Privatpersonen und die öffentliche Hand mit kulturellem Rahmenprogramm möglich. Für das kulturelle Angebot bieten sich vielfältige lokale, regionale und internationale Kooperationen an.

Originalartikel:
https://newsletter.lu.ch/inxmail/html_mail.jsp?id=0&email=newsletter.lu.ch&mailref=000g6u00000ti000000000000cqkn35v

Tomasello GMD der Mittsächsischen Philharmonie

Der italienische Dirigent Attilio Tomasello, der ab 2013 als Erster Kapellmeister des Sinfonieorchesters St. Gallen amtete, wird ab August Generalmusikdirektor der Mittelsächsischen Philharmonie und des Mittelsächsischen Theaters der Städte Freiberg und Döbeln in Mittelsachsen.

Attilio Tomasello. Foto: zVg

Tomasello wurde in Alessandria (Italien) geboren und erwarb unter anderem Abschlüsse in Klavier und Komposition am Konservatorium seiner Geburtsstadt. 2005 gewann er den 1. Preis beim Wettbewerb für Orchesterdirigenten des Orchestre Nationale de l’Ile de France. Tomasello amtete als 1.Kapellmeister an der Deutschen Oper Berlin und ab 2009 als 1. Kapellmeister am Nationaltheater Mannheim.

Hauptspielstätten des Mittelsächsischen Theaters sind die Stadttheater in Freiberg und Döbeln sowie eine 2007 errichtete Seebühne an der Talsperre Kriebstein. Gesellschafter der 1993 ins Leben gerufenen Mittelsächsischen Theater und Philharmonie gemeinnützigen GmbH sind die Städte Freiberg und Döbeln sowie der Landkreis Mittelsachsen.

 

Menschsein als unerreichter Zustand

Die chinesisch-amerikanische Komponistin Du Yun ist am Luzerner Theater zu Gast und feierte am 27. Oktober eine Mehrfach-Premiere.

Die Menschheit verfügt zurzeit nicht über den besten Leumund. Zerstörung des Planeten in der Gegenwart, Krieg und Gewalt in der Vergangenheit. Dennoch sehnen sich die Protagonisten von Du Yuns Kammeropern A Cockroach’s Tarantella und Zolle genau danach: Menschsein. Damit stellt sich die in Shanghai geborene und in New York lebende Komponistin gegen den Zeitgeist. Der Mensch figuriert nicht als Bedrohung, sondern als Utopie. Ob es allerdings schmeichelhaft ist, das Ziel der Sehnsüchte und Träume von Kakerlaken und Geistern zu sein, sei dahingestellt.

Entstanden ist Zolle (ital. Erdklumpen/-schollen) 2004 in Harvard als Doktorarbeit. Seither hat Du Yun eine beeindruckende Karriere hingelegt, die sie und ihre Werke um den gesamten Erdball geführt haben. Ihre die unterschiedlichsten Stile mischende Musik ist derart erfolgreich, dass ihr 2017 gar der Pulitzer Prize of Music verliehen wurde. Es ist nun spannend, das frühe Stück als europäische Erstaufführung erleben zu können. Und erst noch zum ersten Mal gemeinsam mit dem kurz darauf als mögliches Vorspiel dazu konzipierten A Cockroach’s Tarantella.

Oper ohne Gesang

Zusammengehalten werden die beiden Werke durch Blut und Tränen. Zwei Flüssigkeiten, die das Menschsein offenbar ausmachen. Zumindest für Oudfy, der Kakerlake, einer Sprechrolle, die Yun bei der Aufführung am Luzerner Theater selber verkörpert. Wie Robocop steht sie auf der Bühne, mit einem während der knapp 20-minütigen Vorstellung unaufhörlich anwachsenden Bauch. Es ist die fünfte Schwangerschaft dieses Jahr und sie hat genug davon, in ständiger Erwartung zu sein. Denn seit der einmaligen Kopulation als ganz junge Nymphe ist sie dies eigentlich immer. Sie träumt davon, als Mensch aus Liebe schwanger zu werden und über den Tod ihrer Kinder trauern zu können, weinen zu können. Bei der letzten Geburt war ihr Blut rot statt wie üblich gelb, und sie deutet dies nun als Zeichen, bei der nächsten Wiedergeburt als Mensch auf die Welt zu kommen.

Der um sie selbst kreisende Monolog Oudfys wird von der Ich-Erzählerin vorgetragen, begleitet lediglich von einem Streichquartett. Ein enges, intimes Setting, das Oudfys Einsamkeit betont und ihren Wunsch nach menschlicher Gemeinsamkeit dadurch bestärkt. Dazu passt eine Musik, die vom Kontrast zwischen modernen und stark romantisierenden Klängen lebt und so ihrerseits den zwischen Groteske und ehrlicher Verzweiflung changierenden Text unterstreicht. Doch trotz dieser Bemühungen berührt einen das Schicksal der dagegen aufbegehrenden Kakerlake nur begrenzt. Das mag mit der Dominanz des Textes zu tun haben, der schlechter gealtert ist als die noch frisch wirkende Musik. Vielleicht liegt es aber auch an unseren Rezeptionsgewohnheiten. Eine Oper, in der nicht gesungen wird, ist für uns schwer verständlich, werden doch gerade in den Arien die Gefühle ausgedrückt. In der chinesischen Operntradition jedoch seien die Arien Gedichte, wie Du Yun beschreibt. Eine gewisse Fremdheit zwischen der Komponistin und ihrem Schweizer Publikum bleibt.

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Du Yun, Misaki Morino und Anna Bineta Diouf in «Zolle», Regie Roscha A. Säidow
Im Hintergrund ein Ensemble des Luzerner Sinfonierorchesters unter der Leitung von Alexander Sinan Binder

Wilder stimmiger Stilmix

Das passt zum gesamten Abend, denn «Fremdheit» ist das grosse Thema von Zolle. Ein Geist kehrt in sein Heimatdorf zurück und stellt fest, dass er dort mittlerweile genauso fremd ist wie in der Geisterwelt. Er, oder besser sie, rekapituliert ihr früheres Leben, das bestimmt war vom langen Stammbaum der Ahnen, deren Blut durch ihre Adern floss. Seit sie als Achtjährige am Grab der ihr eigentlich unbekannten Grosseltern in Tränen ausbrach, konnte sie es kaum erwarten, dass ihr Name auf diese lange Papierrolle geschrieben würde. Doch nun wird sie von ihrer Familie nicht mehr erkannt, ist ihr die Heimatscholle fremd geworden.

Verkörpert wird dieser Geist wiederum von Yun als Sprecherin, zusätzlich aber noch von der Sopranistin Misaki Morino und der Mezzosopranistin Anna Bineta Diouf. Die Dreiteilung der Protagonistin ist eine Idee der Regisseurin Roscha A. Säidow, die damit die von Yun vorgesehene Sopranrolle nochmals aufspaltet. In Zolle wird also richtig gesungen, auch wenn der Text bloss Pseudoitalienisch ist. Dadurch wird das Stück vielschichtiger als A Cockroach’s Tarantella, greifbarer. Auch das siebenköpfige Kammerorchester unter der Leitung von Alexander Sinan Binder klingt viel voller, wohl auch wegen des zum Teil ungewohnten Instrumentariums inklusive Plastik-Kazoo und Elektronik. Im wilden, aber stets stimmigen Stilmix fallen dann vor allem die historisierenden Passagen auf, die pseudoitalienischen Arien, das barockisierende Madrigal. Denn es sind diese unseren Ohren eigentlich vertrauten Klänge, die in der musikalischen Landschaft fremd wirken und die Melancholie der verlorenen Seele in musikalische Nostalgie übersetzen.

Am überzeugendsten wirkt Zolle zum Ende hin, wenn sich der Geist, der sich zwischen Dies- und Jenseits nicht entscheiden kann, in den titelgebenden Erdklumpen verwandelt. Eine Metamorphose, die sich in einer berückenden Musik vollzieht, sphärisch beinah, ohne gross erklärenden Text zu benötigen. Und da jetzt auch Säidows Inszenierung zur Hochform aufläuft, den Vorgang verständlich illustriert und doch immer stimmungsvoll auf der Höhe der Musik bleibt, wird man zum Schluss noch richtig in diese Geschichte hineingezogen. Oder ist uns Du Yuns Kunst hier einfach am wenigsten fremd?

Weitere Daten: 5.11. / 12.11. / 13.11. / 18.11.

Dritter Zyklus: Kontext und Perspektiven – Orpheus Institute

The question of the development of the 3rd cycle in music has arisen in Switzerland for many years with different achievements depending on the regions of the country.

Antoine Gilliéron — Addressing the issue of the consistency of the path of music students from their entry into a university of music until their last diploma obtained invites us to question the articulation between first (Bachelor), second (Master) and third cycle (Doctorate). What about Switzerland?

Kontext in der Schweiz

Der dritte Zyklus, also Studien auf Doktoratsstufe, sind an Musikhochschulen ein relativ neues Phänomen, obwohl sie an einzelnen Institutionen seit Langem möglich sind. Dafür gibt es einen Hauptgrund: Als höhere Ausbildungsstätten für Musikerinnen und Musiker bieten die Musikhochschulen eine Berufsausbildung an, die auf eine Karriere als Musiker, Komponistin oder Musiklehrer ausgerichtet ist, sei es an allgemeinbildenden Schulen oder an Musikschulen aller Art. Studien des dritten Zyklus anzubieten, war lange Zeit ein Privileg der Universitäten. Und die Behörden erachteten die Institutionen, die für die musikalische Berufsausbildung zuständig sind, nicht durchwegs für geeignet, um einen Doktorats-Studiengang auszuarbeiten, wie er im Bologna-Prozess definiert wurde.

Gefundene Lösungen

Aus diesem Grund haben Musikhochschulen in Europa auf unterschiedliche Weise begonnen, dritte Zyklen anzubieten. Einige können diese Qualifikation aufgrund einer individuellen Zertifikationsberechtigung unabhängig erteilen, andere – und das gilt für alle Schweizer Musikhochschulen – müssen Zusammenarbeitsformen und Partnerschaften mit Universitäten aushandeln. Solche Partnerschaften können für beide Seiten gewinnbringend sein, sowohl was den Austausch von Kenntnissen wie die Steigerung der internationalen Ausstrahlung betrifft. Die Zusammenarbeit ist auch mit ganzen Hochschul-Netzwerken denkbar und kann auf Fachrichtungen ausserhalb der Musik ausgedehnt werden (zum Beispiel auf andere Künste oder wissenschaftliche Fächer).

La recherche artistique au centre

Ce cadre étant posé, il s’agit de questionner la forme et le fond de la recherche (artistique) dans un contexte doctoral. Il est vrai en effet que si traditionnellement celle-ci se réalise sur la musique (notamment en musicologie) ou avec la musique (dansle cas d’un doctorat d’interprétation), la recherche par la musique ouvre un nouveau champ des possibles. Par voie de conséquence, les efforts actuellement au niveau national se concentrent sur le développement de cette dernière, encore peu valorisée, la recherche par la musique.

Blocage au niveau fédéral

Les écueils politiques à surmonter à dessein d’offrir davantage de possibilités de se former en Suisse au niveau du troisième cycle résident essentiellement à l’échelon national. La législation fédérale est bloquée et il s’agit par voie de conséquence pour chacune des hautes écoles de musique faisant vivre l’enseignement supérieur en Suisse de développer des partenariats privilégiés, à l’international ou non, avec des universités ou autres institutions de formation tertiaire.

Une vision systémique

En tant que présidente de la Conférence des Hautes Écoles de Musique Suisses (CHEMS) et directrice générale de la Haute École de Musique Vaud-Valais-Fribourg (HEMU), Noémie L. Robidas se trouve bien placée pour apporter des clés de compréhension quant à ce sujet : « À la CHEMS, nous souhaitons sensibiliser la sphère politique au fait que la recherche artistique subit une double-peine en terme de financement tant par rapport aux critères utilisés pour juger des projets de recherche et que ceux en lien avec les CV des chercheurs.ses. Ces critères sont inopérants quant au type de recherche menées et au profil des chercheurs.euses dans nos hautes écoles de musique. Il y a par conséquent inadéquation entre critères et objets de recherche. » Ainsi, la relative non prise en compte des critères de la recherche artistique constitue la pierre d’achoppement de ce sujet. En effet, le Fond National Suisse de la recherche (FNS) n’octroie pas aisément de financements du fait de ses règlements d’attribution non-calibrés pour des projets artistiques notamment de type recherche-création. Faire avancer l’état des connaissances par le questionnement du langage et des formes, faire croiser les savoirs au-delà de la musique, rencontrer les limites de l’expression artistiques tout en la déplaçant pour l’amener à la rencontre de nouveaux publics constituent par exemple des éléments d’innovations dans un cadre doctoral ou de recherche qui ne sont pas encore suffisamment reconnus.

Création d’un cercle vertueux

Aux yeux des différentes personnes consultées pour la rédaction de cet article, il s’agit avant tout de se demander dans quel but, pourquoi et avec quels moyens ces recherches sont menées. Ensuite, la création d’un cercle vertueux à même de vitaliser l’environnement de recherche en Suisse pourra être implémenté. Cela permettra d’attirer des artistes-professeur.es capables d’encadrer des recherches doctorales et de facto d’augmenter aussi bien le nombre de doctorant.es dans le champ de la musique en Suisse que la quantité de recherches financées. Noémie L. Robidas partage d’ailleurs ce constat et la méthode pour engendrer une boucle d’action vertueuse : « Les pays anglo-saxons ont résolu la quadrature du cercle depuis plus de vingt ou trente ans. C’est véritablement en revoyant les critères de la recherche artistique, évaluée encore passablement à l’aune du nombre d’articles publiés dans des revues de référence et probablement pas assez à celle de la qualité intrinsèque des projets et de la démarche créative de l’artiste, que le retard pris en Suisse pourra être comblé en créant un terreau de recherche favorable propice à attirer des artistes-chercheurs.euses de haut vol dans nos institutions tertiaires de formation et recherche ».

Auswirkungen des 3. Zyklus

In der schweizerischen Hochschullandschaft wird mit Hochdruck an der Ausarbeitung eines Studienplans für den dritten Zyklus in der musikalischen Bildung gearbeitet. Wer in diesem Bereich tätig ist, kann Einfluss nehmen auf die Zukunft der Ausbildung, den angestrebten Wissensstand und die musikalische Leistung. Studentinnen und Studenten werden damit ihr Potenzial auf neue Art entfalten und in innovativen Fachgebieten glänzen können. Es ist zu hoffen, dass hier ein Prozess der Reflexion, Planung und Verwirklichung in Gang gesetzt wird, der anspruchsvoll und auf die Studierenden ausgerichtet ist. Die daraus resultierende Vitalität des Forschungsumfelds wird nicht nur die einzelnen höheren Ausbildungsinstitutionen, sondern die ganze helvetische Musiklandschaft befruchten.

For twenty-five years, the Orpheus Institute based in Ghent in Belgium has been offering doctoral training focused on artistic research. It aims to:

produce and promote high quality music research;

generate new knowledge with and through musical practice;

while keeping the artist’s perspective as a starting point for research.

The docARTES program trains nearly a dozen hand-picked students each year.

Here is an example of a center for artistic research at postgraduate level which plays leading roles at European level and which is a major force in creating new developments in artistic practice, with a perceptible impact throughout the world.

orpheusinstituut.be

 

 

«Geschichten für Ruth»

Urs Frauchigers neue Essay-Sammlung «Geschichten für Ruth» fasziniert durch eine subtile Vielschichtigkeit, die Leben, Kunst und Literatur als ein Ganzes erleben lässt.

Lucas Bennett — Mit «Geschichten für Ruth» legt Urs Frauchiger, der am 17. September seien 85. Geburtstag feierte, neun tiefgründige und zutiefst persönliche Essays vor.

Drei der Texte stellen explizit musikalische Themen in den Vordergrund, obschon die Musik auch in den anderen Texten weithin präsent ist. Am Anfang steht ein Essay über Mozarts «Zauberflöte» und Schwierigkeiten ihrer Deutung und Interpretation vor allem in Bezug auf das Verhältnis von Libretto und Musik – welches nicht mit Kritik am sogenannten Regietheater spart. Der später zuweilen erlebten Trivialisierung des Stoffes stellt Frauchiger seine erste als Kind erlebte Aufführung gegenüber. Diese Verbindung von Biographischem und späterer Reflexion ist charakteristisch für das ganze Buch, welches man deshalb wohl auch (aber nicht nur) als innere Biographie in Momentaufnahmen verstehen kann.

Grossartig ist das Portrait des legendären Cellisten Pablo Casals (1876-1973). Es gelingt Frauchiger hier, im Rückblick auf seine Begegnungen mit Casals das Besondere dieser Überfigur, für Nachgeborene nur noch über Aufnahmen erlebbar, vorstell- und fassbar zu machen – auch für Nicht-Cellisten.

Nicht weniger faszinierend ist das folgende, der portugiesischen Cellistin Guilhermina Suggia (1885-1950) gewidmete Kapitel. Akribisch spürt Frauchiger dem Lebensweg der heute nur mehr wenig bekannten Künstlerin und den spärlichen greifbaren Aufnahmen nach. Nicht nur erfährt die Biographie Casals, mit welchem sie eng verbunden war, dabei eine wertvolle Ergänzung, sondern es wird der bekannteren «Meistererzählung» eine weniger bekannte weitere Erzählung zur Seite gestellt: Auch das ist Geschichte.

Eine (Wieder-) Entdeckung sind auch die Verweise auf Leben und Werk des Schriftstellers und Journalisten Joseph Victor Widmann (1842-1911), dessen fein in den Text eingewobene Zitate und Positionen das Bild eines bedeutenden Denkers und Literaten, der von Zeitgenossen (und der Nachwelt) gerne unterschätzt wurde.

Vieles wäre noch zu erwähnen, genannt seien hier noch zwei besonders eindrückliche Momente; ein Spaziergang zum corona-bedingt verschlossenen Berner Rosengarten, der gleichwohl vielfältige und tiefe Einblicke eröffnet, eine fabelhaft geschilderte ausgedehnte Wanderung des Autors mit seinem Sohn durch die Toskana, die sich dem Leser gleichzeitig als geschichtliche und kulturelle Landschaft öffnet.

Die verschiedenen Ebenen der Essays, Biographisches, Künstlerisches, Literarisches, gehen nahtlos ineinander über, bedingen sich gegenseitig und verweigern sich dadurch einer eindimensionalen, linearen Lesart. Der Autor lädt uns indessen zu einer Deutung ein, indem er die Konzepte von «Bedeutung» und das Bild des «roten Fadens» zur Diskussion stellt. Wir würden sagen: Bedeutung stellt sich in diesem Buch allenthalben ein: als Sinnzusammenhang der geistigen und künstlerischen Einflüsse, die ein Leben geprägt haben. Dabei lassen sich unzählige rote Fäden entdecken und verfolgen. Eine ungemein bereichernde und bewegende Reise.

«Geschichten für Ruth» erscheint am 2. November.

Urs Frauchiger: Geschichten für Ruth. Essays. Zytglogge, 140 Seiten.

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