Leoncavallo am Lago Maggiore

In Brissago am Langensee im Tessin gibt es ein reizendes Museum, das den Komponisten Ruggero Leoncavallo anhand prominenter Exponate aus seinem Nachlass ehrt und Besucherinnen und Besuchern auf angenehmste Weise nahebringt. Doch ist das nur ein Teil der Geschichte.

Florian Bassani — Leoncavallo, 1857 in Neapel geboren, hat viele Jahre seines Lebens in Brissago verbracht und an diesem um die Jahrhundertwende grenzenlos idyllischen Ort einen grossen Teil seiner Werke geschaffen. Als Ende der 1980er Jahre die Hinterlassenschaft des Komponisten vor der Zerschlagung stand, erwarb der Kanton Tessin den Löwenanteil der schriftlichen Dokumente und schuf so den Fondo Leoncavallo, ein monographisches Komponistenarchiv, das seither an der Kantonsbibliothek in Locarno seinen Sitz hat, in einem schmucken Barockpalais unweit der Piazza Grande.

Während also das Museum in Brissago vor allem Memorabilien des Meisters beherbergt, ruhen in Locarno kostbare Autographen, Erstausgaben und Skizzen seiner Opern und Libretti, denn wie Wagner und Boito schrieb auch er viele seiner Texte selbst. Dazu kommen rund 3000 Briefe, eine eindrucksvolle Plakatsammlung, ein Fundus an zeitgenössischen Programmen zu Aufführungen seiner Werke, Klavierrollen und frühe Aufnahmen sowie ein solider Bestand an Forschungsliteratur. Über 500 Fotografien aus den Familienalben eröffnen zugleich ein Panoptikum der Lebenswelten Leoncavallos, beruflich wie privat. In der Zusammenschau bietet die Komplementarität der Materialien ein erstaunlich facettenreiches Bild seiner Persönlichkeit wie auch seiner Zeit.

Künstler und Selbstvermarkter

Leoncavallo war gross im Geschäft und europaweit vernetzt. Mit prominenten Komponisten und Textdichtern pflegte er engen Austausch, mit Sängerinnen und Sängern, mit Dirigenten und Musikverlegern, Theaterdirektoren und Konzertveranstaltern. Viel davon (dazu allerlei Fanpost) ist in seinem Nachlass erhalten, vieles wurde zudem in Kopien aus anderen Kollektionen zusammengetragen, weiteres wird angekauft. Dabei ist noch keineswegs alles Vorhandene auch katalogisiert, ein Umstand, der die Bestände für die Forschung so interessant macht.

Die Ansatzpunkte für wissenschaftliches Arbeiten sind mitnichten auf die noch ausstehende Herausgabe verschiedener seiner Werke beschränkt. Die Vielzahl erhaltener Verträge für die Verlegung seiner Kompositionen, für die Vertonung seiner Libretti, die Einspielung oder sonstige Vermarktung werfen ein Licht auf die Erfordernis der permanenten Monetarisierung des eigenen Schaffens in einer Zeit, in der nach Generationen der Regellosigkeit endlich – seit der Berner Übereinkunft von 1886 – die Grundlagen für einen internationalen Urheberschutz bestanden.

Besonders anschaulich lässt sich am Beispiel Leoncavallos auch der posthume Umgang mit seinem Opus studieren. Die bislang unerschlossenenen Bestände des Archivs halten eine breite Dokumentation darüber bereit, wie die Erben nach seinem Tod 1919 die Rechte an Opern, Liedern und anderen Werken verwalteten und als Einkommensquelle nutzten. Die Korrespondenz mit Verlagen, Bühnenagenten und nationalen Verwertungsgesellschaften liefert dafür umfassendes Material.

Vielfältiges Forschungspotential

Weitere unstudierte Glanzstücke der Kollektion sind zwei Bände mit Presseschauen, die Leoncavallo selbst anlegte. Er sammelte (und kommentierte) dafür Dutzende Rezensionen zu den Erstaufführungen mehrerer seiner Opern sowie verschiedener Konzerte. Hinzu kommt der gigantische Pressespiegel, den ihm der Organisator seiner Amerika-Tournee im Jahr 1906 verehrte: als Album mit 1379 Zeitungsausschnitten, die sich zu einer kaleidoskopischen Gesamtperspektive formieren, sowohl auf die 61 Konzerte als auch auf die nicht unumstrittene Person des Maestro. Der ungnädige Blick auf Autor und Werk ist dabei nicht nur der der Musikkritik; ebenso wird in dem vielstimmigen Chor die Wahrnehmung der amerikanischen Öffentlichkeit laut, keineswegs nur die der Musikliebhaber und Italienfreunde. Über diese Quellen hinaus zeichnet sich der Fondo durch die immense Anzahl weiterer Presseberichte aus, die Leoncavallo und seine Angehörigen über die Jahrzehnte zusammentrugen, und die aufschlussreiche Blicke auf sein Opus gestatten.

Bleibt zu erwähnen, dass die Sammlung auch eine Reihe von Gegenständen aus dem Besitz des Kom-ponisten verwahrt. Neben Orden, Pokalen und anderen Geschenken gekrönter Häupter sowie seiner Pri-vatbibliothek zeitgenössischer Dichtung sind es vor allem Leoncavallos persönliche Musikalien – Dutzende Dirigierpartituren eigener und fremder Werke, häufig mit Eintragungen zur Interpretation –, die für aufführungspraktische Untersuchungen bereitstehen.

Trouvaillen

Quasi nebenbei ergeben sich bei der Recherche auch kuriose Zufallsfunde. Etwa eine jüngst aufgetauchte Geburtsurkunde aus Leoncavallos Umfeld: ein biographisches Dokument seines Freundes Maurice Vaucaire, eines Pariser Literaten und Librettisten, dessen Frau während der gemeinsamen Sommerfrische in Brissago 1904 ein Söhnchen zur Welt brachte. Der Knabe namens Michel avancierte in späteren Jahren zum Liedtexter von Edith Piaf – die Lyrik zu Hits wie Non, je ne regrette rien stammt aus seiner Feder.

Vor dem majestätischen Bergpanorama am Lago Maggiore erblickten natürlich auch wichtige Werke Leoncavallos das Licht der Musikwelt, etwa die wenig erforschten Opern und Operetten jener Jahre: Bohème (1897) und Zazà (1900), Roland (1904), Maïa und Malbruk (beide 1910), La reginetta delle rose und Zingari (1912) sowie zahlreiche seiner Salonlieder, darunter so mancher populäre Schlager der Schelllackzeit.

«Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit»

Michael Bühler ist neuer Rektor der Kalaidos Musikhochschule.

Interview: Annette Kappeler — Michael Bühler studierte Musik mit Hauptfach Klarinette, hat einen Master in Business Administration und promovierte mit einer Studie, welche die (negativen) Auswirkungen der Ritualisierung auf das klassische Konzert untersucht. Ausserdem blickt er auf eine beeindruckende Karriere als Intendant und Orchestermanager zurück – unter anderem beim Opernhaus Zürich und dem Zürcher Kammerorchester. Seine vielfältigen Erfahrungen bringt er ab Oktober 2021 in die Hochschularbeit ein.

Michael, welche Deiner vielen Kenntnisse und Eigenschaften erscheinen Dir für Deine neue Funktion als Rektor einer Hochschule zentral?

Ich denke, dass meine vielseitige Neugier, meine Offenheit und mein Interesse am gesellschaftlichen und technologischen Wandel meine Arbeit massgeblich prägen werden.

Wie kann ich das verstehen?

Nun, in den letzten Jahren habe ich aufmerksam mitverfolgt, wie sich die Anforderungen an Kulturschaffende und Kulturinstitutionen grundlegend verändert haben: Das Mediennutzungsverhalten wurde multimedial, sodass jüngere Konsumenten heute kaum mehr in der Lage sind, an einem klassischen Konzert in kontemplativer Stille zu versinken und sich nur der Musik hinzugeben. Die Aufmerksamkeitsspanne hat sich drastisch verkürzt. Das kann dazu führen, dass jüngere Menschen rasch gelangweilt sind oder es schlicht nicht mehr schaffen, sich «nur» auf die Musik zu konzentrieren.

Aber diese gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen sind scheinbar spurlos am klassischen Konzert vorbeigegangen. Wen wundert es da, dass jüngere Besucherinnen fehlen und das Durchschnittsalter des Publikums in die Höhe schiesst!

Und was bedeutet das für die Musikhochschulen?

Den staatlich subventionierten Musikhochschulen wird ein grosser Anreiz zu Wachstum gegeben. Wie dabei die Qualität aufrechterhalten werden kann, scheint noch unklar.

In meinen Augen müssten weniger das Wachstum, sondern vielmehr die Erfolgsbilanz auf dem Arbeitsmarkt im Vordergrund stehen – und damit wird die Frage, wie Musikerinnen auf diese Herausforderungen reagieren, zentral.

Sollten sich Ausbildungsprogramme demnach noch stärker diesen aktuellen Entwicklungen anpassen?

Unbedingt! Wir müssen unsere Studierenden noch besser darauf vorbereiten, dass niemand auf die 345. Aufnahme der Frühlingssonate wartet – und wird sie auch noch so brillant gespielt. Um damit aufzufallen, muss es der Musikerin gelingen, sich mit hartnäckigem Selbstmarketing oder anhaltender Präsenz auf den sozialen Medien Gehör zu verschaffen und mit dem Publikum zu interagieren. Im Sinne des Changemanagements müssen wir die Studierenden nicht nur zu musikalischen Höchstleistungen führen, sondern sie auch unternehmerisch für den Arbeitsmarkt fit machen. Oder frei nach den Worten Friedrich Schillers: «Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit».

Welche Rolle kann eine private Hochschule wie Kalaidos in der Schweizer Bildungslandschaft spielen? Was hebt sie von anderen Musikhochschulen ab?

Dadurch, dass die Kalaidos als einzige private Fachhochschule keine staatlichen Subventionen erhält, setzen wir uns diesem wirtschaftlichen Druck selber aus und müssen uns täglich fragen: Wie können wir unsere Ausbildungsprogramme verbessern, so dass die Studierenden erfolgreich sein können?

Denn nur wenn sie erfolgreich sind, sind wir als Institution erfolgreich. Auch wenn das hart klingen mag, es entspricht der marktorientierten Realität – und dieser Herausforderung wollen wir uns ganz im Sinne unserer Studierenden auch in Zukunft stellen.

Hast Du vor, auch Deine eigenen Forschungsarbeiten und -ergebnisse in die Hochschularbeit einzubringen?

Ja. Wie gerade erwähnt, scheint es mir zentral, dass wir versuchen, ständig am Puls der Zeit zu bleiben. Und das bedeutet eben auch, auf akademischem Weg nach Lösungsansätzen für neue Herausforderungen zu suchen. Wenn diese Erkenntnisse dann direkt ins Studium einfliessen, sind die Studierenden sicherlich gut vorbereitet.

Annette Kappeler

… ist Studiengangleiterin im Master Pädagogik an der Kalaidos Musikhochschule.

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