Festival der Chöre in Gossau

An zwei Maiwochenenden fand das Schweizer Gesangsfestival (SGF) endlich wieder statt, sieben Jahre nach dem letzten in Meiringen. Rund 9000 Teilnehmende repräsentierten die vielfältige heimische Chorlandschaft.

Unmittelbar beim Bahnhof betritt der Gast die Festmeile durch ein grosses, beschriftetes Tor; als «Festival der kurzen Wege» wird dieser Anlass angekündigt. Es fühlt sich an, als beträte man das Gelände irgendeines Volksfests, eines Schwing- oder Jodelfests zum Beispiel. Es gibt Wurst- und Getränkebuden, Glace und andere bodenständige Kost.

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Ältere Herren sitzen bei Weisswein oder Bier beisammen und stimmen ein Volkslied an. Ein grosses Festzelt wartet auf Musikbegeisterte, und mitten auf der Festwiese erhebt sich ein veritables Zirkuszelt. Weitere Konzertlocations sind um das Gelände herum gruppiert. Am Nachmittag des ersten Tages ist noch nicht viel los. Die Maisonne brütet stärker als zu dieser Jahreszeit üblich und die Schweissperlen glitzern auf den Stirnen der Chorherren.

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Von Puzzle-Konzerten bis Obertonsingen

Das Auffahrtswochenende ist traditionell ein festivalintensives Datum. Nachdem das zweijährlich stattfindende Europäische Jugendchorfestival im vergangenen Jahr – wenngleich in verkleinerter Form – stattfinden konnte, war dieser Zeitraum heuer für das Festival der Chöre und das Schweizer Kinder- und Jugendchorfestival (Skjf) frei. Beide Veranstaltungen fanden somit gleichzeitig statt, das Skjf unter dem Motto «Save the singing planet» vom 26. bis 29. Mai in Winterthur. Das Schweizer Gesangsfestival machte aus der Not eine Tugend. Es stellte buchstäblich eine Verbindung zwischen den Festivalorten her und erfand mit dem generationenübergreifenden Singen kurzerhand ein neues Format: Am Freitag, 27. Mai, brachte ein Singzug diverse Kinder- und Jugendchöre von Winterthur nach Gossau; diese führten zusammen mit Erwachsenenchören sogenannte Puzzle-Konzerte auf.

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Ein breites, viele Aspekte des Singens umfassendes Angebot ist inzwischen bei grossen Chorfestivals üblich. Das Wochenende vom Freitag, 20., bis Sonntag, 22. Mai, sowie das Auffahrtswochenende gehörten in Gossau den rund 340 Chören, 9000 Sängerinnen und Sängern und Chorverbänden aus allen Kantonen. Es gab 125 Konzerte an 9 Veranstaltungsorten zu geniessen, darunter Festkonzerte und Gottesdienste. Auf den Singinseln konnten sich Ensembles spontan im Freien zeigen und hören lassen. Dazu kamen ab halb zehn jeweils die sehr beliebten Konzerte vor Expertinnen und Experten. Hier liessen sich die Chöre von Fachleuten objektiv beurteilen und holten sich Ratschläge zur Verbesserung ihres sängerischen Tuns. Zeitgleich gab es täglich «Begegnungskonzerte», in denen das Miteinander von Chören im Zentrum stand – Begegnung ist eines der Grundprinzipien des Festivals. Das gemeinsame Singen mit dem Publikum wurde in den Nachmittagskonzerten gepflegt.

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Rund 1500 Schülerinnen und Schüler der Gossauer Schulen beteiligten sich am SGS – eine Premiere in der Geschichte des Schweizer Chorwesens.

Auch die pädagogische Schiene kam nicht zu kurz. In Schnupperateliers konnte man sich von Marcello Wick in die Geheimnisse des Obertonsingens einweihen oder von Nadja Räss die Jodeltechnik beibringen lassen. Unter Anleitung von Bliss, der erfolgreichen Schweizer A-cappella-Band, konnten Ensembles an der musikalischen Umsetzung eines Songs, der Performance, dem Ausdruck und der Bühnenpräsenz arbeiten.
Montag bis Mittwoch waren «Gossauer Schülertage». Die lokalen Schulen veranstalteten ihr eigenes Festival mit Proben und Konzerten.

Vom Auftakt bis zur Heimreise

Zum Festivalstart war viel Show und Hochklassiges zu erleben. Die Latte der Singkultur wurde gleich am ersten Tag hoch angelegt. Im Festkonzert in der Andreaskirche gaben sich die beiden Formationen Singfrauen Winterthur (Leitung Franziska Welti) und Cantaurora (Peter Appenzeller) ein Stelldichein. Der Frauenchor überzeugte unter Weltis suggestiver Zeichengebung mit eingängigen Arrangements und einer untadeligen Intonation. Mit einem Liederblock aus der Ukraine setzten sie ein Zeichen der Solidarität. Peter Appenzeller und sein Spitzenchor legten den Schwerpunkt auf Bündner Lieder. Was hier an Feinheiten, Piani und Dynamik geboten wurde, war zum Staunen. Ein Lied interpretierten die beiden Chöre gemeinsam und das Publikum wurde auf humorvolle Art zum Mitsingen animiert.

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In der abendlichen Aufzeichnung für die Musikwelle SRF im Zirkuszelt waren vier Spitzenchöre zu erleben. Nach dem gemeinsam gesungenen Festivalsong (Komposition Guido Helbling) traten abwechslungsweise der bezaubernde Kinder- und Jugendchor Coro Calicantus aus Locarno, der Chœur des Armaillis de la Gruyère mit berührenden Volkslied-Arrangements, das ambitionierte Consonus Vocalensemble und der hochmusikalische Bündner Jugendchor auf (nachzuhören auf: https://www.srf.ch/audio/so-toents).
Hoher Besuch war am Samstag an der Eröffnung zu verzeichnen. Im Beisein von Bundesrätin Karin Keller-Sutter und viel Lokalprominenz moderierte Beni Thurnheer im Festzelt eine abwechslungsreiche Show.

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Was dieses schweizerische Gesangsfest aber ausmacht, sind die unzähligen Sängerbünde, Männer- und Frauenchöre, die jahraus, jahrein eine tolle Basisarbeit leisten. Abends um acht warteten die Mitglieder des Männerchors Sängerbund Meiringen am Bahnhof auf den Zug nach Hause. Müde, aber glücklich berichteten sie von ihrem Singen vor Experten: «Es lief sehr gut, fast zu gut. Es hat alles so geklappt, wie wir es uns vorgenommen hatten», sagte voller Stolz einer der Sänger.

Kanton Freiburg zeichnet Max Jendly aus

Der mit 15’000 Franken dotierte Kulturpreis 2022 des Staates Freiburg geht an Max Jendly. Mit dem Preis wird der Musiker, der die Geschichte des Jazz im Kanton Freiburg geprägt hat, für sein gesamtes Lebenswerk ausgezeichnet

Max Jendly (Bild: Romano Riedo)

Max Jendly, 1945 in Freiburg geboren, studierte in Freiburg Wirtschaftswissenschaften und klassisches Klavier. Zunächst übte er verschiedene Berufe aus, widmete sich dann aber ab 1978 endgültig der Musik.

Als treibende Kraft in der Freiburger Kulturszene eröffnete er 1979 auf Wunsch des Staates Freiburg  die Jazzabteilung des Konservatoriums Freiburg, schweizweit die erste ihrer Art. Hier erteilte er Unterricht in Jazz-Klavier und Arrangement und leitete die Ensembleklassen sowie die Big Band des Konservatoriums Freiburg.

2017 gründete er die «Max Jendly Jazz Big Band», ein permanentes, professionelles Orchester für moderne Musik. Dessen Leitung wird er an den mexikanischen Dirigenten Gerry Lopez übergeben.

 

Klassik sucht Vielfalt

Das internationale Fachtreffen Classical:next widmete sich Fragen der Kollaboration und Öffnung. Fairer Zugang im Klassiksektor fehle.

In der Staatsoper Hannover wurde festlich und in ausgelassener Stimmung die Eröffnung der seit zehn Jahren bestehenden Klassikmesse gefeiert. Hannover, als Unesco City of Music ausgezeichnet, ist nach Rotterdam der neue Standort des Fachtreffens für Veranstalter, Musikverbände, Musikindustrie und Musikkreative. Hunderte Delegierte waren offensichtlich fest entschlossen, die Folgen der vergangenen zwei Jahre und die Herausforderungen der Klimakatastrophe und des bedrohlichen Kriegsgeschehens in Osteuropa aktiv anzugehen. Die eigens zur Eröffnung kreierte Show NEXT:matters! begeisterte mit der Uraufführung von Dubwise and Dread Volume 1 von Jason Yarde und Werken von Maximilian Guth, hinreissend musiziert von Asambura (Hannover) und Colorfull UK.

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Asambura und Colorfull UK am Eröffnungsabend

Wann ist eine Praxis fair?

Mehr noch als an den zurückliegenden Ausgaben des internationalen Fachtreffens wurde im Congress Center am Stadtrand an vier Tagen konstatiert und diskutiert, ob der Zugang zu den vielfältigen Welten des Sektors eigentlich endlich ein fairer sei. Sind die Fragen rund um Exklusivität – gern beschworen in der Vergangenheit – und Diversität nicht oft genug gestellt worden? Wie kann den als problematisch beschriebenen Gatekeepern das Handwerk gelegt und Vielfalt realisiert werden?

Bereits die Ausschreibung von Kompositionsaufträgen zum Beispiel birgt eine Reihe von Stolpersteinen auf dem Weg zu einer fairen Vergabepraxis. So ist in Grossbritannien erfasst, dass Komponistinnen rund 1500 Euro weniger Honorar erhalten als ihre Kollegen, dies bedingt durch die Tatsache, dass sie durchwegs Aufträge für kleine Besetzung erhalten und nicht an die grossen Ensembles gelangen. Aus Norwegen wurde berichtet, dass nur etwa zehn Prozent der durch Kompositionsaufträge generierten Einkommen an Frauen gehen. In den Niederlanden ist es sogar üblich, die Sicherung der Finanzierung auch den Komponierenden zu überlassen. Anne La Berge (Niederländische Berufsvereinigung von Komponistinnen und Komponisten Nieuw Geneco, NL) stellte «Fair Practice» vor. Dabei wird unter anderem vorgeschlagen, als Kooperationsgemeinschaften Aufträge zu vergeben und mittels Partnermodellen zu mehr als nur einer Uraufführung zu kommen. Sie betonte, dass sich Komponistinnen unbedingt besser verkaufen und allenfalls auch organisieren sollten.

Gibt es Fort- oder eher Rückschritte?

Wen lassen wir zurück? Die Musikindustrie und ihre Echokammern haben es noch immer nicht geschafft, faire Zugangsbedingungen zu Ausbildung, Stipendien und Arbeitsmarkt zu schaffen. Selbst im Fall eines «open call» kann nicht davon ausgegangen werden, dass gleiche Bedingungen bereits einen fairen Zugang garantieren. Da dies auch für den Bereich der Talententwicklung gilt, sind alle Player der Musikvermittlung eingeladen, das eigene Verhalten und die institutionelle Praxis auf Voreingenommenheit zu prüfen.

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Roger Wilson appelliert an die Ehrlichkeit.

Roger Wilson (Black Lives in Music, UK) rief das engagiert diskutierende Auditorium zu mehr Ehrlichkeit auf: Hat sich etwas geändert seit dem Tod von George Floyd 2020? Wird der (rassistischen) Ungleichheit stärker entgegengetreten? Ist die klassische Musikbranche «versklavt» in ihren Traditionen? Wilson benannte vier Felder, in welchen Wandel geschehen muss: Governance, Programmierung, Rekrutierung und Kommunikation. Sobald es gelingt, durch ein vielfältigeres (Programm-)Angebot an jüngeres Publikum zu gelangen, potenzieren sich die Chancen, auch zukünftig erfolgreich zu wirtschaften. Einen Zeit- und Aktionsplan zu entwerfen, mit Zielen zu unterfüttern und vor allem Daten zu erheben, sollte in jeder Institution möglich sein, welche sich aufmacht, Menschen ausserhalb der eigenen Blase die Möglichkeiten des Mittuns zu geben. Die Zeit drängt, die Bedingungen sind eher schlechter geworden (s. Report Being Black In The UK Music Industry).

Wie geht es weiter?

In den vergangenen zwei Jahren hat sich der Klassiksektor im digitalen Bereich mehr verändert als in den 15 Jahren zuvor. Benjamin Woodroffe (Global Foundation for the Performing Arts, New York/Genf) besprach mit der Musikwissenschaftlerin Julia Haferkorn (Middlesex University, UK) eine Erhebung unter britischen Musikerinnen und Musikern aus den Jahren 2020/21. Die Chancen der digitalen Distribution bei geringeren Kosten, die Gewinnung neuen Publikums, welches bereit ist, sich emotional und monetär zu engagieren, wurden als erfolgversprechend beschrieben; dennoch bleibt die Sorge, im digitalen Konzertraum viel weniger zu verdienen als mit Live-Auftritten, bestehen.

Am Schweizer Stand Swiss Music, organisiert von Fondation Suisa und Pro Helvetia, wurden diese Fragen ebenfalls vertieft diskutiert. In diesen Tagen, an denen viele Häuser und Ensembles ihre Saisonbroschüren 22/23 veröffentlichen, bietet sich die gute Gelegenheit, Programme und Besetzungen auf Diversität hin zu studieren.

An der gelungenen viertägigen Veranstaltung zur Weiterentwicklung der Musikszene und -wirtschaft nahmen mehr als 900 professionelle Akteurinnen und Akteure des erweiterten Klassiksektors aus 50 Ländern teil. Innovationspreise gingen u. a. an den Musikveranstalter Death of Classical (USA) und das Orquesta Filarmónica de Medellín (Kolumbien).

2023 wird die Veranstaltung übrigens pausieren, um das Konzept zusammen mit Ideen aus der Community weiterzuentwickeln.

Raff-Jubiläum in Lachen

Mit der Aufführung des Oratoriums «Welt-Ende – Gericht – Neue Welt» in der Lachner Pfarrkirche erfuhr das Raff-Jahr 2022 einen Höhepunkt.

Vor 200 Jahren, am 27. Mai 1822, wurde Joachim Raff in Lachen am oberen Zürichsee geboren. Seit 50 Jahren erinnert dort die Joachim-Raff-Gesellschaft (JRG) systematisch an den Komponisten. Raff hat in Deutschland eine erfolgreiche Musikerkarriere verfolgt. Er war mit den grossen Künstlern seiner Zeit bekannt und seine Werke wurden international oft gespielt. Nach seinem Tod geriet er rasch in Vergessenheit.

Die JRG unter der Leitung ihres Präsidenten Res Marty ist dem Ziel, Raffs Schaffen lokal und international wieder vertraut zu machen, einen grossen Schritt nähergekommen. Das seit Jahren gesammelte Material wurde in das vom Musikwissenschaftler Severin Kolb geleitete Joachim-Raff-Archiv zusammengeführt, das seit 2018 auch digital erreichbar ist. Musikverlage, Breitkopf & Härtel zum Beispiel, legen seine Werke neu auf und Labels spielen sie auf Tonträgern ein.

Die Joachim-Raff_Gesellschaft hat 2022 zum «Raff-Jahr» deklariert. Seit Januar und bis Dezember finden in Lachen, schweizweit und international unzählige Veranstaltungen statt. Ein Höhepunkt war die gestrige Aufführung des Oratoriums Welt-Ende – Gericht – Neue Welt, das kurz vor Raffs Tod entstanden ist. Es war in der Lachner Pfarrkirche zu hören, in der Raff selbst in seinen Jugendjahren musiziert hatte. Der GewandhausChor Leipzig, Marie Henriette Reinhold, Alt, Andreas Wolf, Bariton, und die camerata lipsiensis sangen und spielten unter der Leitung von Gregor Meyer.

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Res Marty begrüsst zum Konzert in der Lachner Pfarrkirche. Handyschnappschuss: SMZ/ks

 

Blick auf den südafrikanischen Musikmarkt

Als erster Bericht seiner Art gibt «Revenue Streams for Music Creators in South Africa 2022» detaillierte Einblicke in die Einnahmequellen südafrikanischer Musikschaffender.

Die Musikerin Buhlebendalo aus Südafrika. Foto: © Music In Africa Foundation

Rund 3000 Musikschaffende verschiedener Genres nahmen an der landesweiten Studie der Music In Africa Foundation teil. Ziel ist es, Musikschaffenden Informationen bereitzustellen, damit sie fundierte berufliche Entscheidungen treffen und ihr Einkommen verbessern können.

Ein Fokus liegt daher auf der informellen Musikindustrie Südafrikas, zu der bislang kaum repräsentative Zahlen vorliegen. Die Studie beschäftigt sich unter anderem mit Einkommenstrends vor und nach der Corona-Pandemie, mit Einnahmemöglichkeiten und deren Profitabilität.

Unterstützt wird das Projekt vom Internationalen Fonds für kulturelle Vielfalt (IFCD) der UNESCO im Rahmen des UNESCO-Übereinkommens zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen von 2005, dem Siemens Cents4Sense-Programm, der Siemens Stiftung, dem Goethe-Institut, dem National Arts Council of South Africa und Kaya FM.

Link zum Bericht:
https://www.siemens-stiftung.org/wp-content/uploads/2022/05/projekt-kultur-musikinafrica-report.pdf

Der Kanton Tessin und die musikalische Bildung

Im Tessin gibt es 9 öffentliche Musikschulen mit insgesamt rund 3500 Schüler*innen, die dem kantonalen Verband FeSMut (Federazione delle Scuole di Musica Ticinesi) angeschlossen sind. Die FeSMut wurde 1996 gegründet. Präsident und VMS-Delegierter des Kantons ist seit 2015 Matteo Piazza.

Foto: zVg

2015 wurde im Kanton ein neues Kulturgesetz verabschiedet, das auch Strukturen und Subventionen der anerkannten Musikschulen festlegt. „Es ist für uns ziemlich unbefriedigend, ehrlich gesagt“, sagt Piazza. Der Kanton übernimmt 20% der Unterrichtskosten. Wenn eine Gemeinde sich dazu entscheidet, zusätzlich Beiträge an Schulgelder zu übernehmen, bekommt sie vom Kanton einen Drittel zurück. Dass die zusätzliche Unterstützung durch die Gemeinde freiwillig ist, führt dazu, dass Familien je nach Wohnort 80% der Unterrichtskosten selber tragen müssen – während der schweizweite Durchschnitt sich bei etwa einem Drittel bewegt.

Zwei zusätzliche Herausforderungen sind die Tatsache, dass der im Kulturgesetz vorgeschriebene Mindestlohn für die Lehrpersonen den Schüler*innen zu maximal einem Faktor von 1.5 berechnet werden darf, und dass der Kanton Subventionen nur für Schüler*innen unter 20 Jahren leistet. Folglich fehlen den Musikschulen finanzielle Ressourcen, die in den Bereichen Organisationen und Führung mit Freiwilligenarbeit und sehr viel Herzblut kompensiert werden. Für Matteo Piazza als FeSMut-Präsident und auch für die anderen Schulleitenden im Kanton hat sich das Lobbying deshalb zu einem wichtigen Teil der Arbeit entwickelt. „Wir haben sehr gute Verbindungen im Kantonsparlament, und der Verband hält stark zusammen“, sagt er. Für die Zukunft ist Piazza deshalb optimistisch: „Wir haben sehr viel gekämpft und vieles ausprobiert, aber die Arbeit für mehr Chancengerechtigkeit in der musikalischen Bildung geht weiter – gemeinsam!“

Nebst der politischen Arbeit bleibt der zweifache Vater nach wie vor Schulleiter des Centro di Studi Musicali della Svizzera Italiana in Lugano, unterrichtet einen halben Tag pro Woche Schlagzeug an der Accademia Ticinese di Musica in Locarno und spielt jährlich rund 150 Gigs in unterschiedlichen Formationen.

www.fesmut.ch

Rund um Othmar Schoeck

«Passé composé. Neoklassizismus in der Schweiz» – Das Begleitbuch zum Othmar-Schoeck-Festival 2021 erweist sich als Lesebuch zur Schweizer Musikgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Das «Begleitbuch zum Othmar Schoeck Festival 2021» ist mehr als nur dies und in gewissem Sinn auch weniger. Die Wahl der Themen, der verhandelten Komponisten hat sich aus den Programmen ergeben, die in den Konzerten des Festivals gespielt wurden. Dennoch sind nur wenige Texte (etwa Heinrich Aernis Einlassungen zu Paul Müller-Zürich, Raffaele d’Alessandro und Hans Schaeuble oder Katrin Spelinovas Interview mit der Komponistin Cécile Marti) eigentliche Konzerteinführungen.

Zur Hauptsache enthält das Büchlein gemischte Essays, die Unterschiedliches wollen: Chris Walton gibt einen gedrängten Abriss seines Buches über Richard Flury, Michael Schneider eine Kurzbiografie von Peter Mieg, Cristina Urchueguía einen Bericht ihrer Beschäftigung mit Walter Furrer, Anselm Gerhard setzt sich in drei Analysen mit verschiedenen Perspektiven von Schoecks Liedkunst auseinander. Stand der Neoklassizismus als Leitstern über dem Festivalprogramm, so macht sich das Büchlein gar nicht die Mühe, diesen Bezug voll auszuleuchten oder gar zu Neudeutungen dieses musikhistorisch schwierigen Begriffs vorzustossen. Einzig Sibylle Ehrismanns Porträt des Aargauer Komponisten Werner Wehrli stellt diesen Epochenbezug her. Vielmehr entstand eine Sammlung von Texten, die sich erfrischend unaufgeregt zu einem anregenden Lesebuch zur Schweizer Musikgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammenfügt. Ergänzt werden die Betrachtungen um Interviews, etwa mit Marc Andreae über seinen Grossvater, den Dirigenten und Komponisten Volkmar Andreae.

Wahre Trouvaillen sind indes die Quellentexte, zum einen Arthur Honeggers Souvenirs sur Othmar Schoeck, welche den Protagonisten von ungeahnten Seiten zeigen, vor allem aber die beiden einfühlsamen essayistischen Betrachtungen von Schoecks älterem Bruder Walter aus den 1940er-Jahren, die gerade in unseren Tagen auch hierzulande erstaunlich aktuell sind: «Verzweiflung packt michob der Sinnlosigkeit der allgemeinen Vernichtung um Weniger willen […]. Sind Mozart, Bach, Beethoven und die andern nicht mehr, was sie waren, weil es den Zerstörern beliebt, die Welt in einen solchen Zustand der Armut zu versetzen, dass sie um Sicherheit und Brot froh ist und solche zu Trotteln macht, denen ein Gedicht oder ein Lied Erbauung ist […]. Ich will versuchen, noch etwas zu üben.»

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Passé composé. Neoklassizismus in der Schweiz, Begleitbuch zum Othmar Schoeck Festival 2021, hg. von Alvaro Schoeck und Chris Walton, 134 S., Fr. 15.00, Müsigricht, Steinen 2021, ISBN 978-3-9524842-7-2

In 100 Opern durch das 20. Jahrhundert

Jeder Komponist und jede Komponistin kommen nur einmal vor in dieser von Bernd Feuchtner erstellten Werkauswahl.

Diesem Bernd Feuchtner kann man den überraschenden Titel Die Oper des 20. Jahrhunderts in 100 Meisterwerken abnehmen, denn er war zwanzig Jahre lang Musikjournalist, dann Dramaturg, Operndirektor, Dozent an verschiedenen Hochschulen und ist heute freier Autor. Mit Pfitzners Rose vom Liebesgarten (1901) und Debussys Pelléas et Mélisande (1902) setzt er an und fährt völlig überraschend mit Isaac Albéniz’ Merlin weiter, bevor er zu Puccinis Madama Butterfly (1904) kommt, jedesmal mit einleitenden Grunddaten zu Libretto, Dauer, Rollen, Uraufführung, Spielorten und Sprache.

Konsequent hält er sich an die Regel, jeden der 94 Komponisten und 6 Komponistinnen nur mit einem Werk in die Jahrhundert-Übersicht aufzunehmen, wobei Ethel Smyth mit The Wreckers von 1906 als einzige Opernkomponistin vor 1975 eingeschlossen wurde. Bis 2000 folgen dann noch Thea Musgrave, Adriana Hölszky, Meredith Monk, Olga Neuwirth und Kaija Saariaho mit ihren Meisterwerken. Als einziger Schweizer Komponist ist Othmar Schoeck mit seiner Penthesilea (1927) vertreten, zwischen König Roger von Szymanowski und Das Wunder der Heliane von Korngold. Der Autor fügt hinzu, dass James Joyce ein Bewunderer von Schoecks «farbenreicher Orchesterkantate Lebendig begraben» war.

Da begegnet man keinem trockenen Rapportieren von Handlung und Aufführungszahlen, sondern einem sehr persönlich gefärbten Miterleben, Beurteilen und Einordnen. Feuchtner hat ein ausgesprochenes Talent, Opernhandlungen attraktiv zu erzählen oder knapp zusammenzufassen, aber auch Bezüge zum zeitbedingten kulturellen Umfeld herzustellen oder Rezeptionsschwierigkeiten zu erläutern. Mit Krzysztof Pendereckis Oper Die Teufel von Loudon wird der Weg der allmählichen Befreiung Polens als Satellit der Sowjetunion aufgezeigt, der 1956 mit der Gründung des Festivals Warschauer Herbst einsetzte. Feuchtner geht aber auch von eigenen Erlebnissen als Dramaturg aus und schildert seinen Ersteindruck eines Werks, aber auch seine Enttäuschungen.

Theodor W. Adorno wird als einflussreichster Musiktheoretiker des 20. Jahrhunderts bezeichnet, aber auch seine Fehlurteile betreffend Sibelius, Britten und Schostakowitsch werden nicht verschwiegen. In vier materialreichen Exkursen ordnet Feuchtner das Opernschaffen in das politische Zeitgeschehen ein: «Der Weg der Veristen in die Arme von Mussolini», «Politische Oper in den USA», «Oper in Lateinamerika», «Berlin, Hauptstadt der DDR». In der umfangreichen Einleitung schreibt er: «Komponiert wurden im 20. Jahrhundert weit mehr als zehntausend Opern. Hunderte davon konnte ich als Journalist […] und in der Theaterpraxis kennenlernen.» Und daraus ist dieses in jeder Hinsicht lesenswerte Opernbuch entstanden.

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Bernd Feuchtner: Die Oper des 20. Jahrhunderts in 100 Meisterwerken, 688 S., reich illustriert, € 39.80, Wolke, Hochheim 2020, ISBN 978-3-95593-250-3

Mehr Ausbildungsplätze für Musiktherapie

Der Deutsche Musikrat und die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft fordern mehr Ausbildungskapazitäten im Bereich der Musiktherapie.

Foto: microgen/depositphotos.com

Aufgrund der Belastungen durch die Corona-Zeit und angesichts des Kriegs in der Ukraine, schreibt der Musikrat, hätten psychische und psychosomatische Störungen stark zugenommen, wie zahlreiche aktuelle Studien belegen. Musik könne sich positiv auf Körper, Geist und Seele auswirken und daher auch ohne Worte Verbindung zwischen Menschen schaffen – gerade im professionellen musiktherapeutischen Umgang mit dem seelischen Leid geflüchteter Menschen.

Doch obwohl die Hochschulrektorenkonferenz die Musiktherapie inzwischen als «Kleines Fach» anerkannt hat und damit ihre Relevanz unterstreicht, sind die Ausbildungskapazitäten für den musiktherapeutischen Bereich sehr begrenzt: Derzeit wird nur an sieben Hochschulen in Deutschland ein Musiktherapiestudium mit Bachelor- oder Masterabschluss angeboten.

Unverwechselbare Atmosphäre

1919 schrieb Egon Wellesz seine «Sechs Klavierstücke» op. 26. Nun sind sie erstmals gedruckt greifbar.

«Ich fühlte mich nie gedrängt, wenn ich zu komponieren begann, denn wenn mich ein Vorwurf fesselte, so war ich völlig im Bann der Ideen und schrieb meine Musik, ohne mich von etwas anderem aufhalten zu lassen.»

Egon Wellesz (1885–1974) war zeitlebens ein unabhängiger Geist. Sein mehr als hundert Opuszahlen umfassender Werkkatalog zeugt davon. Nebst viel Kammermusik und zahlreichen Sinfonien finden sich darin nicht weniger als elf Bühnenwerke. Stilistisch liess sich Wellesz nie festlegen. Seine frühen Drei Skizzen für Klavier op. 6 sind beispielsweise radikaler als alles, was sein Lehrmeister Arnold Schönberg bis zu diesem Zeitpunkt komponiert hatte. Andererseits bewegt sich sein Klavierkonzert op. 46 von 1931 in einem Feld zwischen Neobarock und Postromantik. Seine in England entstandenen neun Sinfonien bedeuteten für ihn «eine geistige Rückkehr zu seinen grossen Ahnen», was ihm seitens der Avantgarde heftige Kritik einbrachte.

Die Sechs Klavierstücke op. 26 hat nun die Universal Edition mehr als hundert Jahre nach ihrer Entstehung erstmals veröffentlicht. Auch sie zeigen, wie eigenständig Wellesz mit der Harmonik umgeht und wie er in der Lage ist, mit wenigen Noten sofort eine unverwechselbare Atmosphäre zu kreieren. Dies gilt ganz besonders für die beiden meditativen Nr. 1 (Tranquillo) und Nr. 3 (Lento). In Nr. 2 und Nr. 4 dominiert dagegen das spielfreudige, tänzerische Element.

Auch pianistisch sind die kurzen Stücke abwechslungsreich, jedoch im Allgemeinen recht anspruchslos. Nr. 4 erfordert allerdings eine flinke rechte Hand, wenn das vorgeschriebene Tempo auch realisiert werden soll. Und in Nr. 6 sind grosse Hände von Vorteil, falls man die weitgriffigen Akkorde in ihrer dramatischen Wirkung nicht durch Arpeggieren mildern möchte. Gerade dieses Stück weist über das Klavier hinaus; und Wellesz hat das thematische Material später auch für seine Oper Alkestis verwendet.

Im Anhang dieser Erstausgabe findet sich noch ein weiteres Klavierstück zu Opus 26, dessen Schicksal genau das gegenteilige war. Wellesz hat es aus nicht ganz unverständlichen Gründen verworfen. Hier sind die musikalischen Ideen tatsächlich zu kurzatmig, der Funke will nicht so recht springen.

Insgesamt sind die Sechs Klavierstücke op. 26 aber «definitiv eine Bereicherung der Klavierliteratur der Wiener Schule», wie Herausgeber Hannes Heher im Vorwort zu Recht feststellt.

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Egon Wellesz: Sechs Klavierstücke op. 26, Erstausgabe von Hannes Heher, UE 38225, € 19.95, Universal Edition, Wien

Bild oben: Vossische Zeitung vom 22. November 1924 / wikimedia commons

Rätsel lösen und Oper spielen

Vom Klassenmusizieren im Schulzimmer auf die Opernbühne. Kinder und Profis führen in Basel gemeinsam Detlev Glanerts «Die drei Rätsel» auf.

Das Inselschulhaus steht in einem der sozial schwächsten Quartiere Basels. Der Ausländeranteil und die Anzahl der Sozialhilfeempfänger gehören zu den höchsten im Kanton. Hier nahm vor acht Jahren ein spannendes Klassenmusizier-Projekt seinen Anfang. Im zweiten und dritten Primarschuljahr steht drei Mal pro Woche das Erlernen eines Streichinstruments auf dem Lehrplan. Vor sechs Jahren gründete die Cellistin und Leiterin des Klassenmusizierens, Dorothee Mariani, den Verein Orchesterschule Insel, um den Kindern die Möglichkeit zu bieten, in einem Orchesterverband mit Profis zusammen musikalische Erfahrungen zu sammeln. Der Verein hat sich über das angestammte Schulhaus hinaus geöffnet und zählt inzwischen rund 50 musizierende Kinder. Sie bekommen jeweils freitagnachmittags unter der Anleitung von Berufsmusikerinnen und -musikern instrumentenspezifischen Gruppenunterricht. Am Samstagvormittag wird gemeinsam geprobt: «Der Unterricht ist gratis und die Kinder erhalten unentgeltlich ein Instrument, das sie zum Üben mit nach Hause nehmen dürfen. Als Gegenleistung werden der regelmässige Probenbesuch sowie eine entsprechende Vorbereitung verlangt», schreibt die Musikerin auf der Webseite. Es gibt vier Leistungsniveaus. Ein wichtiges Prinzip des Unterrichts besteht darin, dass die Fortgeschrittenen den Anfängern beim Lernen helfen. Neben klassischem Streicherrepertoire spielt die Orchesterschule Volksmusik aus den verschiedenen Herkunftsländern der Kinder.

Funktionierendes Konzept

Die Aufführung der Kinderoper Die drei Rätsel beweist, dass das instrumentale Lernen in heterogenen Gruppen an der Volksschule eine gültige Alternative zum konventionellen Instrumentalunterricht an Musikschulen sein kann. Der in die Stundentafel integrierte Instrumentalunterricht erreicht Kinder, die niemals an eine Musikschule gehen würden, dies aus sozialen, aber vor allem auch aus finanziellen Gründen. Die Arbeit in einem Orchester mit professioneller Anleitung, wie sie an der Orchesterschule angeboten wird, scheint die Kinder mächtig zu motivieren. Rund 100 Kinder und Jugendliche der Orchesterschule Insel, der Mädchen- und Knabenkantorei Basel, der Primarschule Insel, von Musikschulen sowie einige Mitglieder des Sinfonieorchesters Basel waren beteiligt an dieser gelungenen Aufführung. Zu den 20 fortgeschrittensten Streicherinnen und Streichern der Orchesterschule gesellten sich Instrumentengruppen aus verschiedenen Musikschulen beider Basel, z. B. Flöten, Gitarren, Blasinstrumente und Perkussion. Es war ein wunderbares Erlebnis, die vielen kleineren und grösseren Kinder anderthalb Stunden konzentriert am Pult sitzen und aufmerksam den Signalen des Dirigenten folgen zu sehen. Die restlichen Kinder der Orchesterschule spielten, sangen und tanzten auf der Bühne zusammen mit den jungen, hervorragenden Gesangsprofis, oder sie halfen hinter der Bühne mit. An der besuchten Vorstellung am 13. Mai spielte der 11-jährige Yannick Köllner die Hauptrolle des Lasso. Er besucht die Musikschule Liestal, und sein Lehrer war als Solist mit auf der Bühne. Mit hübscher, intonationssicherer Stimme bewegte er sich darstellerisch souverän und bewältigte ohne Probleme die rhythmischen Klippen seiner umfangreichen Partie. – Chapeau!

Pyjamaparty mit Prinzessin

Unter der klaren Leitung von Stefano Mariani wurde die abwechslungsreiche, farbig instrumentierte und rhythmisch anspruchsvolle Partitur von Detlev Glanert überzeugend interpretiert. Trotz widriger räumlicher und akustischer Umstände – das Stadt-Casino ist als Theaterraum nun einmal nicht geeignet – gelang ein unterhaltsamer Opernabend. Maria Riccarda Wesseling setzt in ihrer Regie auf Bewegung, Humor und Symbolik. Die Figuren werden theatralisch und plastisch herausgearbeitet. Das lieblose Elternhaus des kleinen Lasso personifiziert sich in seiner hysterischen Mutter (Christina Campsall), die aggressiv mit ihrem Staubsauger hantiert, die Erwachsenenwelt versteckt sich hinter uniformen und bedrohlichen Masken. Lasso flüchtet aus seiner biederen Welt und erträumt sich eine Prinzessin am Königshof. So einfach lassen sich seine Träume allerdings nicht umsetzen. Auf der Flucht wird er fast durch den vergifteten Kuchen seiner Mutter getötet und am Hof trifft er einen vertrottelten König (Robert Koller) und lauter skurrile Figuren. Die Prinzessin (Sophia Schwendimann) ist spröde und schützt sich mit einer übergrossen Krinoline. Er kann sie nur für sich gewinnen, wenn er ihr drei Rätsel stellt, die sie nicht lösen kann. Dieser Plan geht auf. Der König findet die Rätsel alle nur dumm und niemand am Hof weiss die Lösungen. Er darf eine Nacht mit der Prinzessin verbringen, ohne sie anzufassen. Während dieser gemeinsamen unschuldigen Pyjamaparty blüht sie auf, der Königshof geht unter und das junge Paar geht zusammen mit dem Galgenvogel (Akinobu Ono), einem guten Freund, hinaus ins Leben.

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Stefano Mariani probt mit dem Orchester.

Ein Jahr vor fast zwei Säkula

Der Cellist Christoph Dangel und seine Kammermusikpartner spielen, was Rossini, Hummel, Romberg und Schubert 1824 so komponiert haben.

Die Idee ist einfach, aber in diesem Fall bestechend. Man schneidet die Zeitwurst mal nicht der Länge nach, sondern quer auf und schaut, was nebeneinander zu liegen kommt. Zum Beispiel im Jahr 1824, als Beethovens Neunte uraufgeführt wurde. Es ist ein bewegtes Jahr, wie das reichhaltige CD-Booklet von Johannes Bosch aufzeigt, aber auch ein musikalisch bewegendes Jahr, allein jenes jungen Wieners wegen, der einen enormen Schaffensschub erlebt, grandiose Musik komponiert und nach neuen Formen strebt: Schubert. Dessen Arpeggione-Sonate mag derAusgangspunkt für das Programm gewesen sein. Der in Basel tätige Cellist Christoph Dangel, die zentrale Figur, um die sich hier alles dreht, spielt sie zusammen mit dem Gitarristen Stephan Schmidt – eine aparte und schlüssige Kombination, denn die Arpeggione war ja eine Streichgitarre.

Daneben erscheint der etwas ältere Rossini, der Schubert zwei Jahre zuvor im Wiener Opernbetrieb den Schneid abgekauft hatte und hier mit einem Duett für Cello und Kontrabass vertreten ist – was man zuallerletzt von ihm erwartet hätte. Dann ist da der brillante Johann Nepomuk Hummel mit der reifen Cellosonate op. 104 – am Fortepiano die quirlende Els Biesemans. Und schliesslich der ein bisschen vergessene Cellovirtuose Bernhard Romberg mit einem ungewöhnlichen Trio für Solocello, Bratsche (Katya Polin) und Cello (hier Kontrabass).

Es fehlt ausgerechnet der überlebensgrosse Beethoven in diesem Querschnitt, aber die CD des innovativen Zürcher Labels Prospero wartet dafür mit reizenden Entdeckungen und sorgfältigen Interpretationen auf. Etwa bei Rossini: Dangel und der Kontrabassist Stefan Preyer umspielen das, was daran schematisch ist, mit Charme, feinem Witz und bedachtsamer Phrasierung, führen den Walking Bass delikat vor und sind gleichberechtigte Partner. So kann man sich via Musik und Booklet in jenes fast zwei Säkula ferne Jahr zurückträumen. Die CD wird ein kleines Kunstwerk zum Lesen und Lauschen.

1824 (Rossini, Hummel, Romberg, Schubert). Christoph Dangel, Cello; Els Biesemans, Fortepiano; Katya Polin, Viola; Stefan Preyer, Kontrabass; Stephan Schmidt, Gitarre. Prospero PROSP 0016

Unerreichtes Original

Michael Töpels Bearbeitung von Mozarts Hornquintett ist nicht die erste.

Eine Bearbeitung von Mozarts Hornquintett KV 407 als Trio für Violine, Horn und Klavier rechtfertigt sich lediglich als Programmergänzung zum berühmten Horntrio op. 40 von Johannes Brahms, obwohl doch Originalalternativen zur Kombination vorhanden wären: Lennox Berkeley, Don Banks, Charles Koechlin u. a. Abgesehen davon, dass bereits eine Transkription des Mozartquintetts für Trio von Carl Ernst Nauman (1832–1910) im Verlag Breitkopf greifbar ist.

Die besondere, dunkle Klangmischung des Originals, Horn, Violine, 2 Violen, Violoncello, spricht deutlich für die ursprüngliche Version.

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Wolfgang Amadeus Mozart: Trio in Es nach dem Hornquintett KV 407, für Violine, Horn und Klavier bearb. von Michael Töpel, EM 2157, € 24.00, Edition Merseburger, Kassel

Eine «Handgelenksarbeit»

Richard Strauss’ zweites Hornkonzert entstand in den reifen Jahren. Um die Uraufführung und die Schweizer Erstaufführung kursieren einige Gerüchte.

Im März 2021 besprach ich die Neuausgabe des ersten Hornkonzertes op. 11 von Richard Strauss (SMZ 3/2021), und es ist mir eine Freude, nun die Neuausgabe des zweiten Hornkonzertes aus dem Jahre 1942 im Urtext und in ebensolch luxuriöser Ausgabe vor mir zu haben. Der Klavierauszug soll laut Herausgeber, entgegen dem für Begleiter halsbrecherischen Auszug der Boosey & Hawkes-Ausgabe, vereinfacht worden sein.

Sechzig Jahre reichen Schaffens waren seit der Entstehung von Opus 11 vergangen, und das zweite Konzert, nach der letzten Oper Capriccio entstanden, gehört zusammen mit dem Oboenkonzert, den Metamorphosen, und den Vier letzten Liedern zu den Werken der letzten Lebensjahre des Komponisten. Der Solohornist der Bayerischen Staatsoper, Josef Suttner, der die Hornpartien der Straussopern unter des Komponisten Leitung spielte, hatte um ein zweites Konzert für sein Instrument gebeten. Für die Uraufführung an den Salzburger Festspielen unter Karl Böhms Leitung im August 1943 sah die Festspielleitung allerdings den Solohornisten der Wiener Philharmoniker, Gottfried von Freiberg anstelle des sechzigjährigen Suttner vor.

Alle diese Geschichten, teils aus der Gerüchteküche der Festspiele, über die vorzeitige Abreise von Richard Strauss aus Salzburg nach einer Probe des Hornkonzertes sowie die erste Aufführung des Werks in der Schweiz mit dem Solisten Hans Will und dem Dirigenten Hermann Scherchen 1944 in Winterthur, die eine abenteuerliche Notenmaterialbeschaffung nötig machte, erzählt der Herausgeber Hans Pizka in seinem äusserst spannend zu lesenden Vorwort.

Eher als Kuriosität legt der Herausgeber, selbst einstiger Student Gottfried von Freibergs, eine Hornstimme bei mit Bezeichnungen der Ventilgriffe für das heute gebräuchliche Doppelhorn, vergleichend mit dem bei der Uraufführung vermutlich gespielten Wiener F-Horn: Eine Sisyphusarbeit für interessierte Hornspieler, die sich durch solche Hieroglyphen durcharbeiten wollen. Das zweite Hornkonzert, für Richard Strauss laut eigenen Angaben eine «Handgelenksarbeit», hat sich fin der Horn-Welt als das zentrale Solowerk für dieses Instrument herausgestellt.

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Richard Strauss: Hornkonzert Nr. 2 Es-Dur, hg. von Hans Pizka, Klavierauszug, HN 1255, € 23.00, G. Henle, München

Aufstrebende Gattung

Die Streichquartette von Johann Matthias Sperger gehören zu den zahlreichen Beiträgen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert für diese eben aufgekommene Besetzung geschaffen wurden.

Die fünf Jahrzehnte zwischen Johann Sebastian Bachs Tod 1750 und Beethovens zukunftsweisenden sechs Streichquartetten op.18 gelten als primäre Entwicklungsphase und als Höhepunkt der quantitativen Produktion für das neue Genre der vier Streichinstrumente. Der Viererbund und die entsprechenden Werke waren derart populär, dass es kaum Komponisten gab, die sich nicht darin versucht hätten. Diese grandiose Phase des Suchens nach Expansion der Vierstimmigkeit, parallel zur ebenfalls mit Hochdruck nach neuen Ausdrucksformen suchenden Sinfonie, führte zu einer schwer überschaubaren Menge an Werken, von denen nur wenige regelmässig auf den Konzertbühnen zu hören sind. Unter den selten gespielten sind auch solche, deren Schöpfer klangvolle Namen haben wie beispielsweise Luigi Boccherini.

Der Auswahlprozess der Zeit liess aus diesem halben Jahrhundert neben Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart keinen einzigen weiteren Komponisten gleichrangig im Repertoire bestehen. Die Gründe sind vielfältig, auch bei qualitativ überdurchschnittlichen Erzeugnissen: die mangelnde Bandbreite eines Komponisten bezüglich der unterschiedlichen Gattungen; eine zahlenmässig kleine Produktion an Streichquartetten bzw. die Beschäftigung mit diesen über einen nur kurzen Zeitraum ohne Weiterentwicklung; die Beibehaltung eines einmal etablierten Stils; wenig oder keine Veröffentlichungen in Druck; geringe Aufmerksamkeit für einen Komponisten zu Lebzeiten oder ein unerwartet frühes Ableben. Und natürlich und zuallererst: die Abwesenheit eines individuellen Stils. Die seit dem Aufkommen der CD zahlreichen Neuveröffentlichungen auf Tonträgern schliessen erfreulicherweise viele Lücken, ebenso neue Editionen.

Die fünf im Schweriner Verlag Edition Massonneau verdienstvoll und in vorbildlicher Qualität herausgegebenen Quartette von Johann Matthias Sperger sind ein weiterer Beleg dafür, wie erfolgreich sich das Streichquartett im deutschsprachigen Raum etablierte. Insgesamt neun davon schrieb Sperger – sechs sind König Friedrich Wilhelm II. höchstpersönlich gewidmet –, der trotz seiner niederen Herkunft als Sohn eines «Küh-Halters» mittels seines aussergewöhnlichen Kontrabassspiels bis in die Vorzimmer der Mächtigen gelangte und ihnen sogar direkt zu Diensten wurde. Erst zu Spergers Zeit wurde es als Kontrabassist möglich, aus dem Schatten des ewigen Bassknechts zu treten und mit virtuoseren Kompositionen Aufmerksamkeit zu erregen. So liegt sein Augenmerk als Komponist auch besonders auf dem eigenen Instrument, das er mit zahlreichen Solokonzerten in den Fokus rückte und gleichzeitig die Spieltechnik erweiterte.

Dass ihm das Komponieren als Mittel zum eigenen Zweck nicht ausreichte, beweisen die Streichquartette, die ohne den Kontrabass auskommen. Komponiert 1788 und erschienen 1791, stehen sie zeitlich in unmittelbarer Nähe zu Mozarts Preussischen Quartetten und Haydns Opera 50 bis 64, zu jener Zeit also, als das Streichquartett in der Wiener Klassik Meisterwerke ersten Ranges hervorbrachte, die erst von Haydns Opus 76/77 und später Beethovens Erstlingen wieder in den Schatten gestellt wurden.

Kann Sperger auf Augenhöhe mit diesen Zeitgenossen konkurrieren? Sind seine hörbaren Versuche, Anschluss zu finden an die wohlbekannten Vorbilder, erfolgreich? Ja und Nein. Zunächst erreicht Sperger eine ohrenfällige Nähe, indem er die etablierten Stilmittel nutzt, die Themenfindung abwechslungsreich gestaltet und den klar vorgegebenen formalen Gesetzen der späten Klassik Folge leistet. Dabei hat man immer wieder das Gefühl, Ähnliches schon einmal gehört zu haben, ohne ein direktes Plagiat festzustellen. Man nimmt eine Verinnerlichung und Nutzung der gerade modischen Farbpalette wahr, die übrigens wunderbar zu unterhalten weiss. Worin Sperger scheitert, ist die Etablierung einer eigenständigen Musiksprache, aber auch, auf der Höhe seiner Zeit zu sein. Man stellt dies schon anhand der Dreisätzigkeit der Streichquartette fest, die Haydn bereits in seinen ersten vollgültigen Quartetten op. 9 (1769) nicht mehr nutzte, Mozart ab den sechs Wiener Quartetten KV 168 bis KV 173 (1773) verwarf. Viel bedeutender aber ist, wie sparsam Sperger die Themen verarbeitet, wie er nie zu einem vergleichbar durchdrungenen Satz findet, besonders auffällig in den knappen Durchführungen und Codas. Die Begleitfiguren der Mittelstimmen, ob nun zu erster Violine oder Cello, sind zuweilen schablonenhaft und harmonisch sehr vorhersehbar. Die Stimme der ersten Violine, die bei Haydn wahrlich akrobatisches Geschick erfordert, verlässt selten den Tonraum bis zur dritten Lage.

Trotz dieser eher rückwärtsgewandten Musiksprache sind seine Quartette sehr angenehm, heiter, eloquent und handwerklich perfekt gemacht. Für ein Laienensemble sind sie sehr gut spielbar, für Profis eine dankbare Musizierfreude prima vista, besonders in den volkstümlich mitreissenden Schlussrondi. In den langsamen Mittelsätzen schliesslich geht Sperger am tiefsten, kostet er sängerische Mittel schön aus. Will man Werke eigenständigeren Charakters spielen, bieten sich beispielsweise die Quartette von Franz Xaver Richter, Antonio Rosetti und die späten Werke von Joseph Martin Kraus an.

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Johann Matthias Sperger: Streichquartette Band I, 3 Quartette op. 1, hg. von Reinhard Wulfhorst, Partitur und Stimmen, EM 0421, € 35.20, Edition Massonneau, Schwerin

id.: Band II, Quartette B-Dur und g-Moll, EM 0521, € 32.00

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