Werke des «kleinen Bruders»

Sinfonien von Michael Haydn erklingen immer noch allzu selten. Dabei sind sie mit eher kleiner Besetzung und nicht zu hohem Schwierigkeitsgrad ideal, gerade für Liebhaberorchester.

Michael Haydn, Ölbild vermutlich von Franz Xaver Hornöck, circa 1805. Wikimedia commons

Schon seit vielen Jahrzehnten überrascht der Wiener Verlag Doblinger in seiner Reihe Diletto Musicale mit musikalischen Raritäten aus vier Jahrhunderten. In diesem Fall sind es zwei Sinfonien von Michael Haydn – den im Konzertleben noch immer viel zu selten gespielten «kleinen Bruder» des grossen Klassikers.

Mit zwei Oboen, zwei Hörnern und Streichern vergleichsweise klein besetzt, handelt es sich allein schon wegen der bequem zu bewältigenden Tonart D-Dur um dankbare Werke. Das betrifft vor allem die Sinfonie MH 287 mit ihrem abschliessenden Fugato, das wie eine Vorschau auf das weitaus gewichtigere Finale in Mozarts Jupiter-Sinfonie wirkt. Der saubere Notensatz der Partituren wird das Einstudieren erleichtern.

Dennoch erweisen sich die Ausgaben nicht als «gebrauchsfertig», sondern fordern eine aufmerksame Einrichtung der Artikulation an Parallelstellen, gelegentlich gar einige Korrekturen und Ergänzungen: im Kopfsatz von MH 287 etwa das staccato (Takt 99, vgl. Takt 1) sowie das notwendige a“ (Takt 103, vgl. Takt 6) in den Bläsern. Auch werden Bögen, Punkte und Keile nicht angeglichen, so dass sich merkwürdige Situationen einstellen, die zwar der Hauptquelle (einem Stimmensatz) entsprechen mögen, jedoch eine klare Entscheidung seitens des Herausgebers gefordert hätten – siehe im 2. Satz Takte 2 und 45 sowie 39f., im 3. Satz Takt 217 (vgl. Takt 75).

Auffällig ist zudem, dass es offenbar keine generellen Richtlinien für die gesamte Reihe gibt: Die eine Ausgabe klammert rund, die andere eckig. Trotz aller Entdeckerfreuden wünschte ich mir in solchen Fällen die ordnende Hand eines Lektorats.

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Michael Haydn: Sinfonia D-Dur (MH 24 / Perger deest), hg. von Michaela Freemanová, DM 1453 (Partitur € 26.35; Stimmensatz € 63.80), Doblinger, Wien

id.: Sinfonia D-Dur (MH 287 / Perger 43), hg. von Wolfgang Danzmayr, DM 1454 (Partitur € 30.70; Stimmensatz
€ 75.90)

Dringend zu entdeckende Meisterinnenwerke

Das umfangreiche Œuvre von Emilie Mayer ist noch zu entdecken. Das Streichquartett e-Moll, eines von zwölf (!), besticht durch Klarheit, Geschlossenheit und ansprechende Themen.

Emilie Mayer, Zeichnung von unbekanntem Autor. Wikimedia commons

Keine der verhältnismässig wenigen Komponistinnen des 19. Jahrhunderts hat bis heute den Sprung auf die Höhe des Podests der männlichen Kollegen geschafft. Noch immer sind gleichrangige Produktionen weiblicher Provenienz Kuriositäten im Konzertbetrieb; sie in einem Programm herauszustellen – so verdient und ehrenwert dies sein mag – kommt wiederum einer unfreiwilligen Stigmatisierung gleich. Eine, die zu Lebzeiten von Publikum und Kollegen anerkannt und geschätzt wurde, war die in Mecklenburg geborene Komponistin Emilie Mayer (1812–1883).

Ihr Œuvre ist bemerkenswert, sie galt als hochambitioniert und fleissig, ja opferte ihrer Kunst sogar eine eigene Familie. Acht Sinfonien, zwölf Streichquartette, Klavierkammermusik, fünfzehn Konzertouvertüren, Violin- und Cellosonaten, Klavierwerke, ein Singspiel nach Goethe, Lieder und vierstimmige Chöre, ein reges Konzertleben, ein für Persönlichkeiten der Gesellschaft und Konzerte offenes Haus in Berlin und Respekt von weiblicher und männlicher Seite kennzeichnen ihr Leben.

Warum es dann wieder so still um sie und ihr Werk wurde, ist schwer nachvollziehbar, denn es enthält alles, was gute Musik ausmacht: technische und instrumentale Meisterschaft, unmittelbar prägnante und verständliche Themen, Raffinesse, Innovation, Sanglichkeit und eine spezifisch eigene Note. Man mag anführen, es erginge ihr nicht anders als vielen Komponisten ihrer Zeit, beispielsweise Friedrich Gernsheim, Geschichte sei also mithin nicht gerecht. Aber warum hört man die grosse, überwältigende 5. Symphonie in f-Moll nicht auf den Konzertpodien guter Orchester, dafür aber zum x-ten Mal Brahms, neben dem sie sich nicht zu verstecken braucht, sondern mit ihm beinahe verwechselt werden könnte? Konzertveranstalter und Intendanten sind vielfach leider zu desinteressiert oder ignorant. Leider hat die Komponistin auch keine engagierte Fürsprecherin in Form einer Emilie-Mayer-Gesellschaft, die es noch zu gründen gilt!

Zwölf Streichquartette aus spätromantischer Zeit sind eine höchst ungewohnt grosse Anzahl; Mayer hat sich also intensiv mit der Gattung beschäftigt. Sie fallen in ihre frühe Kompositionsphase, das letzte, Opus 14 g-Moll, erschien 1858. Da war sie aber eine voll ausgereifte Meisterin ihres Fachs, die sich zu dieser Zeit gerne auf Beethoven bezog. Während die beiden Klavierquartette und Klaviertrios aufgenommen wurden, fehlen Einspielungen der Streichquartette völlig. Die vorliegende Partitur zeugt von einer glasklaren Architektur, Ausgewogenheit der Stimmen, formaler Geschlossenheit und schönen Themen. Komplexe Verschränkungen oder Verschachtelungen wie bei Schumann sind hier nicht zu finden. Es steht auch nicht der späte, sondern allenfalls der mittlere Beethoven Pate. Mit Sicherheit ein überaus lohnenswertes Stück für eine Wiederentdeckung. Schade nur, dass die Furore-Edition weiterhin auf ein wahrlich unattraktives Äusseres setzt und den grossen Inhalt in einen dürftigen Umschlag steckt, hinter dem man keine Juwelen vermutet.Image

Emilie Mayer: Streichquartett e-Moll, hg. von Heinz-Mathias Neuwirth, Erstausgabe, fue 10056, € 39.90, furore-Edition, Kassel

Unbekannte Kammermusik

Der Pan-Verlag hat Werke des Cellovirtuosen Johann Benjamin Gross aus der Zeit der Frühromantik zugänglich gemacht.

Johann Benjamin Gross, Zeichnung von unbekanntem Autor, vor 1848. Wikimedia commons

Johann Benjamin Gross (1809–1848) war Solocellist am Gewandhaus Leipzig und spielte ab 1837 im kaiserlichen Orchester in Sankt Petersburg. Bis vor Kurzem waren die Werke des Mendelssohn- und Schumann-Zeitgenossen beinahe vollständig vergessen. Der schreibende Virtuose hat den Hauptanteil seiner Kompositionen seinem eigenen Instrument gewidmet, doch er verfasste auch mehrere Streichquartette, war er doch in Russland Kammermusikpartner des berühmten belgischen Geigers Henri Vieuxtemps.

Der Pan-Verlag hat mehrere Werke von Gross erstmals herausgegeben. Auf drei Editionen sei hier im Speziellen hingewiesen:

  • Die dreisätzige Sonate in C-Dur für zwei Celli bewegt sich innerhalb der 1. und 5. Lage, wobei der Komponist die klanglichen Möglichkeiten des eingeschränkten Tonumfangs geschickt ausschöpft. Dank der leichten technischen Anforderungen eignet sich das Werk gut für Unterrichtszwecke. Ein kleiner Abstrich an dieser Erstausgabe: Sie enthält zwei Einzelstimmen, aber keine Partitur.
  • Das Capriccio op. 6 (Pan 1602) über ein Thema aus Étienne-Nicolas Méhuls Oper Joseph in Ägypten für Violoncello und Bass ist ein effektvolles Virtuosenstück, welches mit seiner Variationsform dem Zeitgeist der Frühromantik entspricht. Während die Solostimme brillante Bogentechnik und sicheres (Daumen-)Lagenspiel verlangt, ist der Bassstimme reine Begleitfunktion zugewiesen.
  • Die Sonate h-Moll op. 7 für Cello und Klavier (Pan 1603) steht stilistisch Mendelssohn nahe und stellt eine bedeutende Bereicherung des Duo-Repertoires aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dar. Zusammen mit Liedern und dem Streichquartett f-Moll op. 37.3 ist sie beim Label Laborie Records eingespielt worden (Interpreten: Quatuor Mosaïques; Michael Dahmen, Bariton; Yoko Kaneko, Klavier; Christophe Coin, Violoncello).
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Johann Benjamin Gross: Sonate C-Dur für 2 Violoncelli, hg. von Folckert Lüken-Isberner, PAN 1600, € 10.00, Pan, Kassel

id.: Capriccio op. 6 für Violoncello und Bass, PAN 1602, € 16.00

id.: Sonate h-Moll op. 7 für Violoncello und Klavier, PAN 1603, € 19.00

Sinfonischer Atem

Die sechssätzige Sonate in h-Moll ist wohl nicht Carl Czernys Meisterwerk, aber eine durchaus originelle Ausgestaltung des Gattungsmusters.

Carl Czerny, LCarl Czerny, Lithographie von Josef Kriehuber 1833. Wikimedia commons

«Carl Czerny war vielleicht der grösste Pianist, der fast nie auftrat, und der grösste Komponist, der in Vergessenheit geriet», schreibt Iwo Zaluski in seinem Vorwort zur Neuausgabe von Czernys neunter Klaviersonate. Er zählt ihn neben Beethoven und Schubert sogar zum «grossen Triumvirat» der klassischen Klaviersonate. Diese Aussagen sind natürlich in höchstem Masse anfechtbar. Was das «Triumvirat» betrifft, sollte man Haydn und Mozart nicht so achtlos übergehen. Und es ist auch nicht wahr, dass Czerny als Komponist in Vergessenheit geraten ist. Allerdings kommen einem da nicht unbedingt seine Klaviersonaten in den Sinn. Diese würden tatsächlich mehr Beachtung verdienen.

Seine neunte in h-Moll op. 145 hat nun Iwo Zaluski bei Doblinger neu herausgebracht. Ungewöhnlich die formale Anlage: sechs Sätze, darunter eine freie Fuge als Abschluss. Das erinnert eher an Beethovens späte Streichquartette als an eine klassische Sonate. Auch die harmonische Sprache ist stellenweise ungewöhnlich apart. Die melodischen Phrasen sind sehr weiträumig gestaltet, besonders im langsamen dritten Satz (Adagio molto espressivo) – wohl dem Höhepunkt des Werkes –, der von einem geradezu sinfonischen Atem beseelt ist.
Eigentlich erstaunlich: den schwächsten Eindruck macht die pianistische Ausarbeitung dieser Musik. Der Klaviersatz ist zwar bequem zu spielen, leidet aber darunter, dass gerade die vielen Begleitfloskeln stereotyp und einfallslos klingen.

Wer den Komponisten Czerny «at his best» erleben möchte, greift da besser zur vierhändigen Grande Sonate in f-Moll op. 178, einem ungewöhnlich leidenschaftlichen und farbigen Werk, ganz im Geiste der Appassionata seines Lehrers Beethoven.

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Carl Czerny: Sonate Nr. 9 h-Moll op. 145, hg. von Iwo Zaluski, Diletto Musicale DM 1470, € 18.95, Doblinger, Wien 

Puccini als Orgelkomponist

Vor seinen Meisterwerken für die Opernbühne schrieb der junge Giacomo Puccini auch Werke für Orgel.

Der Dom von Lucca, eine der Wirkungsstätten des jungen Puccini. Foto: Oliver Weber/pixelio.de

Für jene, die sich beim Betrachten dieser Partitur die Augen reiben, sei es grad vorneweg gesagt: Ja, es handelt sich um den Komponisten von Tosca oder Turandot, und nein – mit dem Stil Puccinis, den man von der Opernbühne kennt, haben die hier veröffentlichten 7 Sonaten, 6 Versetti und 4 Märsche nur wenig zu tun. Als Abkömmling einer Musikerfamilie, die über vier Generationen das Musikleben der Stadt Lucca prägte – sein Vater war u. a. Domorganist –, gelangte Giacomo Puccini sicher schon sehr früh in Kontakt mit Kirchenmusik, erlernte das Orgelspiel und trat als Organist zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. Von 1872 bis 74 war er als Assistenz-Organist der Kathedrale angestellt und bis 1882 wirkte er an der Kirche San Girolamo. Aus dieser Zeit scheinen auch die bisher unveröffentlichten insgesamt 61 Orgelwerke zu stammen, von denen Carus hier eine Auswahledition präsentiert; eine komplette Publikation scheint in der Puccini-Gesamtausgabe geplant zu sein.

Auch wenn man noch wenig von Puccinis späterem Klang-Raffinement spürt, reiht er sich mit diesen Werken doch in eine Tradition ein, die von Komponisten wie Vincenzo Petrali oder Padre Davide da Bergamo geprägt worden war: schwungvolle, an Blasmusik oder Rossini-Opern erinnernde, durchwegs kurze und leicht zu spielende Sätzchen, die einen selbstsicheren, bereits souverän schreibenden Komponisten verraten und hie und da sogar schon eine Rückwendung zu einem «seriöseren» Stil kirchenmusikalischen Komponierens andeuten. Parallel zur Notenedition hat der niederländische, in Bologna wirkende Organist Liuwe Tamminga beim Label Passacaille übrigens eine Einspielung dieser Werke vorgelegt (PAS 1029). Dank Orgeln, die Puccini gekannt oder gespielt haben könnte, vermittelt sie einen guten Eindruck davon, wie sich auch eine auf dem Papier etwas simpel wirkende Musik auf einem passenden Instrument grandios orchestrieren lässt. Eine wertvolle Bereicherung des italienischen Repertoires also, für einmal von einem grossen und bekannten Komponisten, vielseitig verwendbar in Gottesdienst und Konzert – und mit Erfolgsgarantie!

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Giacomo Puccini: Sonate, Versetti, Marce – Ausgewählte Orgelwerke, hg. von Virgilio Bernardoni, CV 18190, € 28.00, Carus, Stuttgart 2018

Russische Ohrwürmer

Mittelschwere Arrangements für zwei Violinen von bekannten Melodien.

Foto: Harald Wanetschka/pixelio.de

Allgemein bekannte Melodien aus russischen Opern, Balletten und Kammermusik des 19. und 20. Jahrhunderts (Tschaikowsky, Borodin, Prokofiew, Rimski-Korsakow, Mussorgski, Schostakowitsch und Chatschaturjan) sind hier mittelschwer für zwei Violinstimmen arrangiert. Das melodische Material und die Begleitung sind auf beide Spieler verteilt.

Die Fingersätze in der Duopartitur müssen an einigen Stellen verbessert oder ergänzt werden. Es ist sehr motivierend, diese anregenden Stücke zu spielen, was wiederum den Willen fördert, den technischen Anforderungen (chromatische Folgen, rhythmisches Zusammenspiel, Flageoletts, Pizzicato) gerecht zu werden.

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David Brooker: Classical Favourites from Russia, arr. für zwei Violinen, UE 36749, € 16.95, Universal Edition Wien 2017

Überzeugender Teil eines grossen Ganzen

Chor und Orchester der J. S. Bach-Stiftung St. Gallen führen kontinuierlich alle Bach-Kantaten auf und geben sie auf CDs gesammelt heraus. Auf der Nr. 20 finden sich BWV 67, 96 und 121.

Foto: J. S. Bach-Stiftung St. Gallen

Spektakuläres kommt manches Mal ganz unscheinbar daher. Das schlichte orangefarbene Cover kommt ohne Foto aus. Die Namen der Solisten sucht man vergeblich. Dirigent Rudolf Lutz geht es mit seinem auf alten Instrumenten spielenden Orchester der J.S. Bach-Stiftung St. Gallen um die Sache – eine auf 25 Jahre ausgelegte Gesamtaufführung von Bachs Vokalwerk inklusive Ton- und Videoaufnahmen (s. Schweizer Musikzeitung 9/2009, S. 14 f.).

Musikalisch wird auf der zwanzigsten CD des ambitionierten Projekts mit den Pfunden gewuchert. Die Textverständlichkeit ist durchwegs hervorragend. Der Chor der J.S. Bach-Stiftung glänzt mit Beweglichkeit und Transparenz, die Solisten überzeugen mit kluger Phrasierungskunst und vielen Klangfarben. In der Kantate BWV 96 Herr Christ, der ein‘ge Gottessohn zieht Special Guest Maurice Steger an der Sopranino-Blockflöte kunstvolle Linien. Der schnelle Eingangschor kommt ganz leichtfüssig und tänzerisch daher. Die Liegetöne im Orchester sind lebendig, die Artikulation ist immer sprechend. Jan Börners Altus berührt genauso wie Noëmi Sohn Nads schlackenloser Sopran. Und auch die Arien sind bei Hans Jörg Mammel (Tenor) und Wolf Matthias Friedrich (Bass) in guten Händen.

In der lichten Kantate BWV 67 Halt im Gedächtnis Jesum Christ begeistert der Chor mit lockeren Koloraturen. Und wenn Bassist Dominik Wörner seinen ruhigen Friedensgruss in die aufgewühlten Seelen in Chor und Orchester singt, dann entsteht grosse Theatralik. In der Kantate Christus wir sollen loben schon BWV 121 setzt Andreas Holm an der Oboe d’amore Akzente, während Johannes Kaleschke (Tenor) die Koloraturen in der Arie O du von Gott erhöhte Kreatur perlen lässt. Nur die Schlusschoräle wirken etwas atemlos in dieser anregenden, auf flüssige Tempi und grosse Beweglichkeit setzenden Bach-Interpretation. Aber das kann den hervorragenden Gesamteindruck nicht trüben.

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Bachkantaten Nr. 20 (BWV 67, 96, 121). Chor und Orchester der J.S. Bach-Stiftung, Leitung: Rudolf Lutz. www.bachstiftung.ch

Klingende Sternbilder

Die CD «Constellations Ardentes» vereint zeitgenössische Duos von Jean-Luc Darbellay und Stefan Wirth mit romantischen Trios von Charles Koechlin und Johannes Brahms.

Olivier Darbellay, Noëlle-Anne Darbellay und Benjamin Engeli. Ausschnitt aus dem CD-Cover

Diese CD sei eine «family affair» heisst es im Booklet; diese Familiensache hat ein Programm, das im CD-Titel angedeutet wird: Constellations Ardentes – glühende Sternbilder; dieser Titel wiederum bezieht sich auf das Stück Ori, das der Berner Komponist Jean-Luc Darbellay (*1946) im Jahr 2007 für seine beiden Kinder Noëlle-Anne (Violine, Viola, Stimme) und Olivier (Horn) geschrieben hat. Ori meint Orion, ein Sternbild, dessen Kraftzentrum im Stern Beteigeuze liegt, ein Riesenstern mit dem tausendfachen Durchmesser unserer Sonne. Das elf Minuten dauernde Stück wirkt wie ein klanggewordenes Gravitationsfeld von Horn und Violine, die einander in wechselnden Bewegungen umkreisen, umflirren, umschmeicheln und kontrastieren.

Für die gleichen Interpreten hat der Zürcher Komponist Stefan Wirth (*1975) das Stück Lunules électriques (2012) geschrieben. Wirth intendierte darin weniger ein Gespräch zwischen Violine und Horn als vielmehr Verbindungen und Verschmelzungen der beiden Instrumente in einem neuen Klang. So werden z. B. die Flatterzungen-Töne des Horns von den Tremoli der Violine aufgenommen, und im Obertonspektrum der beiden Instrumente entstehen fortwährend neue Farbverbindungen. Gegen Ende des Stücks vereinigen sich die Instrumente in einer choralähnlichen Passage, wo sich zum Klang von Horn und Violine noch die Stimme der Geigerin gesellt, mit einer Vokalise über «lunules électriques» aus Rimbauds Gedicht Le bateau ivre.

Schön ist die Bereicherung des Programms durch zwei romantische Trios: die Quatre Petites Pièces von Charles Koechlin (1867–1950) und das Trio op. 40 von Johannes Brahms (1833–1897). Die vier Miniaturen des Fauré-Schülers Koechlin entstanden 1890 bis 1909 und bilden eine träumerische, sehnsüchtige Erinnerung an den Duft der Jahrhundertwende. Der Fassung für die Standard-Besetzung, Violine, Horn und Klavier, liess Koechlin noch eine weitere mit Viola anstelle der Geige folgen, und in dieser selten zu hörenden, ausserordentlich schönen Version wurde das Werk hier eingespielt.

Das Schwergewicht der CD liegt auf Brahms’ Opus 40 für Klavier, Violine und Waldhorn. Er schrieb das gedankenvolle Trio in einer Stimmung tiefster Trauer über den Tod seiner Mutter.

Die Interpretation ist ein Glücksfall: Zu den beiden Darbellay-Geschwistern gesellt sich der ausgezeichnete Schweizer Pianist Benjamin Engeli, auch er aus einer Musikerfamilie. Die drei finden sich in kraftvollem, subtilem und technisch makellosem Zusammenspiel.

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Constellations Ardentes: Werke von Jean-Luc Darbellay, Charles Koechlin, Stefan Wirth und Johannes Brahms. Olivier Darbellay, Horn; Noëlle-Anne Darbellay, Violine, Viola, Stimme; Benjamin Engeli, Klavier. Challenge Classics CC72770

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Von guten Ideen, die Geldquellen zum Fliessen bringen, über Urheberrecht und Einkommen von Künstlerinnen und Künstlern, Kultursubventionen der öffentlichen Hand als Investitionen, produktiven Umgang mit unangenehmen Gefühlen bis zur fairen Entlöhung für vielseitiges Wirken.

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Von guten Ideen, die Geldquellen zum Fliessen bringen, über Urheberrecht und Einkommen von Künstlerinnen und Künstlern, Kultursubventionen der öffentlichen Hand als Investitionen, produktiven Umgang mit unangenehmen Gefühlen bis zur fairen Entlöhung für vielseitiges Wirken.

Alle blau markierten Artikel können durch Anklicken direkt auf der Website gelesen werden. Alle andern Inhalte finden sich ausschliesslich in der gedruckten Ausgabe oder im e-paper.

Focus

Von Ideen- und Geldflüssen
Inteview mit Michael Haefliger, dem Intendanten des Lucerne Festivals

Soutirer de l’argent
Le point sur les droits d’auteur
Geld anzapfen – vom Urheberrecht aus gesehen. (Deutsche Übersetzung des Artikels)

1 franc investi dans la culture en rapport 4
Des études menées dans plusieurs cantons ont montré que la culture rapporte plus qu’elle ne coûte

Ankern statt Angst haben
Lampenfieber als Kraftquelle

Ansprüche, weit über das Unterrichten hinaus
Musiklehrpersonen haben vielerlei Aufgaben. Der Weg zu einer fairen Entlöhnung ist noch weit.

 

… und ausserdem

RESONANCE

Kotaro Fukuma : pensée japonaise sur musique impressioniste

«Wo bist du João Gilberto?» — Dokumentarfilm von Georges Gachot

Ein Anfang — Schweizer Erstaufführung von Genesis

Innen und Aussen — Festival Rümlingen

Modell Meisterkurs auf den Kopf gestellt — Darmstädter Ferienkurse

Musik für Mario Bottas «Steinerne Blume»

Englische Musikkultur in den Alpen — Klosters Music Festival

Ruhetage in Davos

Stradivarifest in Gersau

Schweizer Musik? Schweizer Musik! — Festival Murten Classics

Carte blanche à Francesco Biamonte

 

FINALE


Rätsel
— Torsten Möller sucht


Reihe 9

Seit Januar 2017 setzt sich Michael Kube für uns immer am 9. des Monats in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb.

Link zur Reihe 9


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Abnabeln und sich neu erfinden

Mátyás Seiber (1905-1960) war der gesuchte Komponist in der Ausgabe Juli/August 2018. Hier finden Sie die Aufschlüsselung all der Hinweise im Rätsel, die diesen wenig bekannten Musiker auch ein bisschen näher vorstellen.

Foto: Schott Music/Gabriele Buckley
Abnabeln und sich neu erfinden

Mátyás Seiber (1905-1960) war der gesuchte Komponist in der Ausgabe Juli/August 2018. Hier finden Sie die Aufschlüsselung all der Hinweise im Rätsel, die diesen wenig bekannten Musiker auch ein bisschen näher vorstellen.

Unser Komponist wurde unter einem alten Kaiser geboren [in Budapest] und starb unter einer jungen Königin [in Südafrika, damals noch unter der Königin]. Er studierte bei Zoltán Kodály, ging dann aber auf hohe See, um reichen Passagieren musikalische Unterhaltung zu bieten [in einem Streichquartett]. Zurück in Europa wurde er einer der allerersten Jazz-Dozenten an einer deutschen Musikhochschule [am hochschen Konservatorium in Frankfurt]. Als Hitler an die Macht kam, musste er fliehen und fand in London eine neue Heimat. Er jobbte überall, wurde zum Berater von Adorno, gab Harmonikastunden und schrieb Musik für einen preisgekrönten Film über die entlegenste Stadt Australiens [A town like Alice].

Unser Komponist hatte ein besonderes literarisches Gespür. Er vertonte Ausschnitte aus irischen Romanen [von James Joyce] und komponierte Opern in seiner Muttersprache (sein Librettist, ebenfalls Exilant, wurde später mit einem satirischen Buch über die Schweiz bekannt [George Mikes: Switzerland for beginners]). Eines seiner populärsten Werke war eine Vertonung des angeblich «schlechtesten schottischen Dichters aller Zeiten» [William McGonagall], uraufgeführt in der rappelvollen Royal Festival Hall [The famous Tay Whale, am Hoffnung Music Festival]. Er wurde in dieser Zeit auch zum ersten (und wohl einzigen) Zwölftonkomponisten, der mit einem (tonalen) Hit in die «Top twenty» [1956 in Grossbritannien] gelangte [By the fountains of Rome] und sogar den grossen Popsong-Preis bekam [Ivor Novello Award für «Best Song Musically and Lyrically»], den viel später auch Amy Winehouse [2008] bzw. Ed Sheeran [2012] gewannen.

Im Exil wurde unser Komponist nie Dozent an einer Hochschule, gilt aber dennoch als einer der wichtigsten Kompositionslehrer seiner Zeit [u. a. von Hugh Wood in Cambridge]. Er spielte bei der IGNM eine grosse Rolle [Vizepräsident 1960] und nahm auch an den grossen Nachkriegs-Festivals der Neuen Musik teil, u. a. in Donaueschingen. Er starb mit 55 Jahren, von Löwen und Giraffen umgeben [bei einem Autounfall im Krüger-Park in Südafrika]. Zwei seiner berühmten Landesgenossen [Kodály & Ligeti] komponierten Werke zu seinem Gedenken; eines davon wurde später als Science-Fiction-Filmmusik weltberühmt [Atmosphères, in 2001: A Space Odyssey].

Weitere biografische Angaben:
Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit
 

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Zapfsäule Urheberrecht

Das Portemonnaie des Hörers würden sie anzapfen. Das wirft man den Verwertungsgesellschaften oft vor. Zu unrecht, denn damit es Musik gibt, müssen diejenigen entlöhnt werden, die sie schaffen. Zum Glück sieht es für die Suisa auch im zunehmend digitalen Musikmarkt nicht allzu düster aus. 2017 war sogar ein Jahr des Übergangs.

Foto: © geschmacksRaum®/fotolia.com
Zapfsäule Urheberrecht

Das Portemonnaie des Hörers würden sie anzapfen. Das wirft man den Verwertungsgesellschaften oft vor. Zu unrecht, denn damit es Musik gibt, müssen diejenigen entlöhnt werden, die sie schaffen. Zum Glück sieht es für die Suisa auch im zunehmend digitalen Musikmarkt nicht allzu düster aus. 2017 war sogar ein Jahr des Übergangs.

2017 waren die erzielten Urheberrechtserträge aus der digitalen Musiknutzung (Streaming und Download) erstmals höher als diejenigen aus der Produktion von Tonträgern. Die Entwicklung vom physischen Datenträger zur Online-Datei findet überall statt, etwa auch bei den audiovisuellen Angeboten, wo traditionelle Videotheken fast vollständig verschwunden sind, während Download-Portale wie Netflix ihren Platz eingenommen haben.

Für die Suisa und die Rechteinhaber ist diese Umwälzung gleichbedeutend mit sinkenden Einnahmen, denn die abgeführten Beträge stehen in einem Verhältnis zur Summe, die der Nutzer insgesamt für seine Musik zahlt. In der Regel sind es etwa 10 %. Wenn also ein Musikliebhaber eine CD für 15 Franken kauft, kommen rund 1.50 Franken den Urhebern zugute, den durchschnittlich ein bis zehn Personen, die die Musik auf dem Tonträger geschaffen haben. Bei einem Spotify Premium Abonnement werden dagegen von den 12.95 Franken Monatsgebühr rund 1.20 Franken unter den Urhebern all der Stücke verteilt, die der Abonnent in diesem Zeitraum hört. Für den einzelnen Komponisten oder Interpreten bleiben so nur minimale Beträge.

Suisa investiert im digitalen Sektor mit Mint

Auch wenn die Online-Einnahmen (7.9 Millionen Franken) diejenigen aus dem Tonträgerverkauf (6.5 Millionen Franken) überholt haben, so sind diese Erträge zusammengenommen doch weit unter dem Niveau des Jahres 2000. Damals, ein Jahr vor der Lancierung von iTunes, beliefen sie sich auf über 30 Millionen Franken! Obwohl sie aus den oben angeführten Gründen bestimmt nie wieder so hoch ausfallen werden wie vor 20 Jahren, schöpft Suisa alle Möglichkeiten aus, um die Einnahmen aus dem Musikkonsum im Internet zu erhöhen. So hat sie vor über einem Jahr mit der amerikanischen Verwertungsgesellschaft Sesac die Mint Digital Services gegründet, eine Organisation, die mit den Online-Plattformen Lizenzverträge aushandelt. Suisa verspricht sich durch die Verbindung mit Sesac günstigere Lizenzbedingungen, weil auch das Musikangebot, das die beiden Gesellschaften zusammen den Plattformen anbieten können, grösser ist. Sesac nimmt beispielsweise die Rechte von Musikern mit Weltruf wie Bob Dylan und Adele wahr.

Durch das Joint Venture von Suisa und Sesac können verschiedene Kompetenzen gebündelt werden, insbesondere die Möglichkeit, Urheberrechte sowohl nach europäischer wie nach angelsächsischer «Methode» zu verwalten. Es bestehen zahlreiche Unterschiede vor allem bei der Abgeltung der mechanischen Rechte. Dies ist essenziell, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es seit 2006 kein Gebietsmonopol im Online-Sektor mehr gibt: Die Verwertungsgesellschaften vertreten nicht mehr das weltweite Repertoire, das über Schweizer IP-Adressen genutzt wird, sondern lediglich die Werke ihrer eigenen Mitglieder in zahlreichen Ländern. Die Verlage und Label können zudem die Verwaltung ihres Online-Repertoires einer Verwertungsgesellschaft ihrer Wahl übertragen. Mint ist zwar noch in der Einführungsphase, aber die ersten Resultate sind ermutigend. So hat beispielsweise Warner/Chapell Music, der drittgrösste Musikverlag weltweit, Mint sein Repertoire anvertraut, was die Nutzung über iTunes anbelangt. Verhandlungen mit weiteren grossen Verlagen laufen.

Steigender Umsatz, insbesondere dank der Privatkopie

Trotz den schwierigen Verhältnissen beim Online-Konsum ist die Gesamtentwicklung im Bereich der Urheberrechte positiv. 2017 wurden in der Schweiz 139.2 Millionen Franken abgerechnet, 2 % mehr als 2016, in dem auch schon sehr gute Ergebnisse erzielt wurden. Die Aufführungsrechte (insbesondere Konzertaufnahmen) sind leicht gestiegen (auf 46.9 Mio. Fr., + 1 %). Der höchste Anstieg ist aber durch die Abgeltungen für den Speicherplatz in digitalen Geräten zu verzeichnen (Abgeltung für Privatkopien). Dies vor allem, weil diese Geräte, allen voran Smartphones, immer mehr Speicherplatz zur Verfügung stellen.

Entgegen der Kritik, die manchmal zu hören ist, sind es die Suisa-Mitglieder, die in hohem Masse von diesen gesteigerten Erträgen profitieren. 2017 gingen neben den 60 Millionen Franken, die direkt an die Autoren und Verleger ausgeschüttet wurden, noch 2.7 Millionen Franken an die Fondation Suisa (www.fondation-suisa.ch), die einen unabhängigen Teil der Gesellschaft bildet. Und 8.1 Millionen an die Vorsorgestiftung der Musikautoren und -verleger. Die Fondation Suisa fördert das aktuelle schweizerische Musikschaffen in all seinen Facetten und ebenso Projekte mit Bezug zum Musikschaffen im Fürstentum Liechtenstein. Die Vorsorgestiftung ermöglicht den Suisa-Mitgliedern, ab dem 63. Altersjahr eine Rente von maximal 38 500 Franken zu beziehen.

Die gesetzliche Grundlage für die Beiträge an beide Stiftungen bildet Art. 48 des Urheberrechtsgesetzes. Darin wird verfügt, dass mit Zustimmung der Generalversammlung der Suisa Teile des Verwertungserlöses für Kulturförderung und Sozialvorsorge verwendet werden können. Dabei muss hervorgehoben werden, dass die bewilligten 10.8 Millionen Franken nicht zulasten der Musiknutzer gehen, sondern, genau aufgeteilt, von den auszuschüttenden Beträgen an die Mitglieder abgezogen werden. Die Mitglieder haben insofern Mitsprache, als sie diesen Vorgang an der Generalversammlung gutheissen müssen. Derselbe Abzug wird auch auf den Vergütungen gemacht, die Mitgliedern von ausländischen Verwertungsgesellschaften zugute kommen. Sie leisten damit ebenfalls einen Beitrag an die Entwicklung der Schweizer Musik und an den Ausbau der Vorsorgeeinrichtungen der Suisa-Mitglieder.

Nicola Pont
… ist Verantwortlicher des Rechtsdienstes bei der Suisa in der Westschweiz.
 

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Rebecca Saunders erhält «Roche Commissions»

Die Britin Rebecca Saunders erhält den zehnten Kompositionsauftrag der «Roche Commissions». Das neunte, «Reading Malevich» von Peter Eötvös, wurde am 1. September vom Orchester der Lucerne Festival Academy unter Matthias Pintscher uraufgeführt.

Foto: © Astrid Ackermann/Edition Peters

Die 1967 in London geborene Rebecca Saunders studierte bei Nigel Osborne in Edinburgh sowie bei Wolfgang Rihm in Karls­ruhe. Ihre Musik steht «für feinste musikalische Gesten und Klänge, das Ausloten nie gehörter Klang­farben und die Verräumlichung musikalischer Verläufe». Sie ist unter anderem Trägerin des Mauricio Kagel Musikpreises und des Ernst von Siemens Musikpreises.

Seit 2003 wird im Rahmen der «Roche Commissions» alle zwei Jahre ein Werk an einen weltweit renommierten Komponisten in Auftrag gegeben. Die Wahl Saunders erfolgte durch Roche auf Vorschlag der künstlerischen Leitung von Lucerne Festival. Die Uraufführung Ihres Werks wird im Rahmen des Sommer-Festivals 2020 stattfinden.

«Wo bist du João Gilberto?»

Der Dokumentarfilm von Georges Gachot über den brasilianischen Bossa-Nova-Sänger Gilberto ist ein gut gemachter Nostalgie-Streifen. Allerdings verweigert er sich dem heutigen Brasilien.

Still aus dem Film «Wo bist du João Gilberto?» © Georges Gachot

Der französisch-schweizerische Regisseur Georges Gachot hat einige bemerkenswerte Filme realisiert, die ganz nahe an Legenden der Música Popular Brasileira heranführen. Maria Bethânia, Nana Caymmi und Martinho da Vila hat er porträtiert und dabei – wie in seinem exzellenten Feature über die sonst kamerascheue Pianistin Martha Argerich – eine ungekünstelte, intime Nähe zu diesen Protagonisten geschaffen, die viel zum Verständnis ihrer Musik beiträgt. Ausgerechnet diese Stärke kann er im Film Wo bist du João Gilberto? nicht ausspielen. Schuld daran ist einerseits die Konzeption des Filmes selber, daneben aber auch die eher zweifelhafte künstlerische Bedeutung des Sängers, dem die Suche gilt.

Gachot enthält dem Publikum Gilberto, der sich bewusst vor der Öffentlichkeit versteckt, mehrfach vor. Zum einen nähert er sich ihm bloss indirekt, indem er die Suche eines andern nacherzählt: Der verstorbene deutsche Journalist Marc Fischer war mit einem Versuch gescheitert, dem Bossa-Nova-Pionier nahezukommen, und hatte darüber ein Buch geschrieben. Der Film zeichnet denn auch nach, wie Gachot Fischers Recherchen nachzuvollziehen versucht, womit bereits zwei Abwesende den direkten Zugang zum Phänomen Gilberto versperren. Hinzu kommt eigentlich noch eine dritte: Gilbertos Tochter Bebel, die während der Dreharbeiten offenbar Kontakt mit ihrem Vater hatte, aber ebenfalls Phantom bleibt. So muss man über lange Strecken bloss Reisebanalitäten mitverfolgen, Telefonate, die zu nichts führen, Gespräche, die keine Resultate zeitigen, auch mit Gilbertos Ex-Frau Miúcha. Ein wenig – zu wenig – erfährt man über die Bossa-Nova-Kultur aus episodischen Begegnungen mit Grössen des Stils, vor allem Marcos Valle und Roberto Menescal, in denen dann auch mal – ebenfalls zu wenig – von der Musik selber die Rede ist.

Man nähme dies alles in Kauf, hätte João Gilbertos Versteckspiel tatsächlich eine tieferliegende ästhetische Bedeutung, die Licht auf eine höchst fruchtbare Epoche der brasilianischen Musikgeschichte werfen würde. Nun gilt João Gilberto zwar als einer der Väter des Bossa Nova, entscheidend geprägt wurde der Stil hingegen von andern, unter zahlreichen weiteren vor allem Tom Jobim und Vinicius de Moraes sowie etwa Marcos Valle, Roberto Menescal, Carlos Lyra oder Edu Lobo. Im heutigen Brasilien selber, wagen wir zu behaupten, wird João Gilberto keineswegs die Verehrung entgegengebracht, die er beim in die Jahre gekommenen bildungsbürgerlichen europäischen Jazz- und Weltmusik-Publikum geniesst. Den meisten Brasilianern dürfte es herzlich egal sein, wo und weshalb er sich in Rio mutmasslich in einem Hotelzimmer verkriecht.

Vor allem mit Blick auf die zur Zeit höchst brisante politische und künstlerische Situation Brasiliens irritiert diese Suche nach Gilberto, die wie eine Art Realitätsverweigerung wirkt: Während im Land alles bachab zu gehen scheint, verbeisst sich Gachot in einen irrelevanten Nebenaspekt einer längst vergangenen goldenen Epoche der Música Popular Brasileira. Wo bist du João Gilberto? wird so zum zwar durchaus gut gemachten, streckenweise auch stimmungsvollen Nostalgie-Streifen – allerdings mit falschem Thema zur falschen Zeit.
 

Der Film ist ab dem 13. September im regulären Kinoprogramm.

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Europaparlament behandelt Urheberrecht

Das Europaparlament wird am 10. September erneut über die geplante EU-Richtlinie für das Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt abstimmen. Der Deutsche Musikrat appelliert an die Abgeordneten, für ein schnelles Inkrafttreten der Richtlinie zu sorgen.

Europäisches Parlament in Strassburg. Foto: fotogoocom/wikimedia commons

Der Deutsche Musikrat unterstützt einen Appell, mit dem die Landesmusikräte Nordrhein-Westfalen, Bayern, Brandenburg, Berlin, Schleswig-Holstein und Thüringen, sowie der Kulturrat Nordrhein-Westfalen, die Abgeordneten des Europaparlamentes dazu auffordern, der geplanten EU-Richtlinie zum Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt zuzustimmen.

Das Europaparlament hatte sich in seiner Abstimmung am 5. Juli mit einer knappen Mehrheit gegen das vom Rechtsausschuss vorgeschlagene Verhandlungsmandat über die geplante EU-Richtlinie zum Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt ausgesprochen. Der Standpunkt des Parlaments soll nun auf der nächsten Plenartagung neu diskutiert und abgestimmt werden. Erst wenn das Parlament den Entwurf befürwortet hat, können die Verhandlungen mit der EU-Kommission und dem Europäischen Rat aufgenommen werden.
 

Auf den Echo Klassik folgt nun der Opus Klassik

Am Sonntag, 14. Oktober 2018 wird im Konzerthaus Berlin erstmalig der Opus Klassik, der neue Preis für klassische Musik in Deutschland, verliehen. Nach dem Ende des Echo im Frühjahr werden somit auch in diesem Jahr ausserordentliche Leistungen im Genre Klassik ausgezeichnet.

Foto: Rainer Sturm/pixelio.de

Ausrichter des Preises ist der neu gegründete Verein zur Förderung der Klassischen Musik e.V.. Die Gründungsmitglieder sind die Association of Classical Independents in Germany, die Deutsche Grammophon, die Konzertdirektion Dr. Rudolf Goette, Dagmar Sikorski, Sony Music, Benedikt Stampa und die Warner Music Group. Ausgestrahlt wird die Preisverleihung am 14. Oktober um 22 Uhr beim Medienpartner ZDF. 

Der Verein hat sich gegründet, nachdem der Ausrichter des Echo, der Bundesverband Musikindustrie (BVMI), das Ende sämtlicher Echo-Preise in den Kategorien Pop, Klassik und Jazz bekannt gegeben hatte. Beruhen in diesem Übergangsjahr die Regularien und Jury des neuen Preises noch auf denen des Echo Klassik, will der Verein den neuen Preis für klassische Musik, basierend auf dem Feedback der Branche, kontinuierlich weiterentwickeln.

 

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