Beeindruckende Erfindungsgabe

Die Orgelsonaten von Camillo Schumann sind der Tradition des 19. Jahrhunderts verpflichtet. Sie zeugen von sprühender Inspiration und solidem Handwerk.

Camillo Schumann 1869. Fotograf unbekannt / wikimedia commons

Mit der Urtext-Publikation der sechs Orgelsonaten von Camillo Schumann (1872–1946) in einem Band leistet Breitkopf einen willkommenen Beitrag zur Erweiterung des deutsch-romantischen Orgelrepertoires. Der in Dresden, Leipzig und Berlin ausgebildete Komponist (ohne verwandtschaftliche Beziehungen zum «illustren» Namensvetter Robert) wirkte als Organist in Eisenach und Bad Gottleuba und hinterliess ein umfangreiches kompositorisches Schaffen, darunter auch Klarinetten-, Cello- und Hornsonaten.

Mit den Sonaten für Orgel, entstanden in Eisenach zwischen 1899 und 1910 und bislang nur in Reprints oder Einzelausgaben (Butz, Möseler) verfügbar, reiht sich Schumann in eine Traditionslinie ein, die ganz offensichtlich auf das Sonatenschaffen Mendelssohns und Rheinbergers zurückgeht. Die (mit einer Ausnahme) jeweils viersätzigen Werke mit Spieldauer zwischen 20 und 25 Minuten atmen noch ganz den Geist des 19. Jahrhunderts. Schwungvolle Sonatensätze, kunstvolle Fugen, innige Kantilenen, ab und zu die Verwendung bekannter (Choral-)Themen wie Lobe den Herren im fugierten Finalsatz der 4. oder B-A-C-H im Finale der 2. Sonate – ein vertrautes Vokabular, das zeigt, dass der Komponist zwar der Ästhetik seiner Lehrergeneration treu bleibt und weder formal noch harmonisch von den musikgeschichtlichen Entwicklungen seiner Zeit wirklich berührt zu werden scheint, aber nichtsdestoweniger durch seine Erfindungskraft beeindruckt. Nur selten verliert sich Schumann in «Gemeinplätzen», die mehr von solidem Handwerk als von blühender Inspiration zeugen.

Technisch liegen die Sonaten im Bereich jener von Rheinberger und verraten auch in den anspruchsvolleren Sätzen den erfahrenen Praktiker, wobei einzelne Sätze durchaus auch leichter sind, modernen Instrumenten angepasst werden können und daher sicher einen Platz ausserhalb des Konzertbetriebs finden werden. Fazit: Eine erfreuliche, auch im Notenbild schön gestaltete Edition, die bei Liebhabern romantischer Orgelmusik einen Platz im Bücherregal finden dürfte.

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Camillo Schumann: Sämtliche Orgelsonaten, hg. von Antje Wissemann, EB 8979, € 44.90, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

Wagners Wohnungen

Wagner-Orte in Zürich, Luzern, Tribschen und Venedig vorgestellt im Bild und in hochstehenden Aufsätzen.

Landsitz Tribschen Luzern. Foto: 2011pnm / Wikimedia commons

Nach dem grossformatigen Buch Wandrer heisst mich die Welt – Auf Richard Wagners Spuren durch Europa folgt nun der ebenso aufwendig gestaltete Band über Wagners Wohnungen: neun allein in Zürich (1849–1858), zwei Hotels in Luzern (1850 und 1859), das Landhaus in Tribschen (1866–1872) sowie Hotels und ein Palazzo in Venedig, in dem er 1883 gestorben ist. «Prachtgemäuer» waren es wohl nur in Luzern und Venedig; die Wohnungen in Zürich waren eher bescheiden zu nennen. Es ist denn auch oft von Ausstattungsproblemen die Rede, welche Wagners Schuldenwirtschaft verstärkten und dem «Pumpgenie» – ein Ausdruck von Thomas Mann – alle Ehre machten.

Dennoch ist der luxuriöse Band mit grossen Bildern und attraktiven Beiträgen verschiedener Autoren und Autorinnen eine Fundgrube an Dokumenten und Faksimiles; selbst aus dem «Wagner-Clan» haben Nike Wagner und Dagny Beidler informative Texte zum Thema «Wagner und die Schweiz» beigesteuert. Dass etliche Illustrationen in beiden Büchern verwendet wurden, ist unerheblich angesichts der Fülle an Informationen über Wagners privates Leben und Wirken: eine sympathische Form von Schlüsselloch-Perspektive, welche die Psyche dieses «Jahrhundert-Genies» beleuchten und die vorherige Publikation wirkungsvoll ergänzen kann. Die neueste Forschung ist auch in «kleinen Dingen» berücksichtigt: Dokumente zur «Verlassenschaft des Richard Wagner» und zum «Leichenbegängnis» sowie Meinungen zum ärztlichen Befund und Mutmassungen zur «Affäre Pringle» sind hier wohl erstmals ausserhalb der wissenschaftlichen Literatur publiziert.

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Prachtgemäuer – Wagner-Orte in Zürich, Luzern, Tribschen und Venedig, hg. von Christian Bührle, Markus Kiesel und Joachim Mildner, 288 S., 500 Abb., € 58.00, ConBrio, Regensburg 2020, ISBN 978-3-940768-89-6

Ein Panorama an Ausdrucksweisen

In seinen 1968 entstandenen «Vier Stücken» für Kontrabass und Klavier lotet František Hertl die Klangpalette seines Instruments bis in die Extreme aus.

Kontrabassist auf der Karlsbrücke in Prag. Foto: Paulwip / pixelio.de

Der 1906 in Westböhmen geborene, nach musikalisch vielseitigem Leben in Prag 1973 verstorbene Komponist ist an ehesten als Autor der 1946 entstandenen Sonate für Kontrabass und Klavier bekannt. Zudem machte er sich als prägender Kontrabasspädagoge der Prager Schule, als Komponist für diverse kammermusikalische Besetzungen und Orchesterwerke sowie als Dirigent einen Namen.

Während die Sonate für Kontrabass und das selten gespielte Kontrabasskonzert sich meist in chromatisch erweiterter Tonalität bewegen, tendieren die 1969 erstmals veröffentlichten Vier Stücke mehr in Richtung einer auf Quart- und Quintschichtungen basierenden Modalität. Mit ihrer prägnanten Rhythmik, der in erfrischender Weise sich rasch abfolgenden kontrastreichen Dynamik, den gegensätzlichen Tempi sowie den klanglichen Wechseln zwischen hell und dunkel, expressiv und impressionistisch lässt sich ihre Tonsprache als mit der Tradition verbunden, aber dennoch individuell und im 20. Jahrhundert beheimatet verorten.

Das Präludium (Moderato bis Allegro) lotet die Extreme in Dynamik und Artikulation aus. Die Burleske in ABA-Form beginnt mit verspielten, Scherzo-ähnlichen Stakkati im Piano und endet in einer überdrehten Stretta im Fortissimo. Der feinen, kantabel gehaltenen Nocturne folgt eine Tarantella. Darin spielt František Hertl geschickt mit deren Idiom und verleiht ihr mittels Dissonanzen eine weit über das Unterhaltende hinausführende Expressivität.

Zu bedauern sind editorische Mängel. Vermutlich wurden die originalen Druckplatten unlektoriert übernommen, was Vorzeichenfehler sowie fehlerhafte Noten und Bindebögen bzw. entsprechend notwendige Detektivarbeit zur Folge hat. Angesichts der heute zur Verfügung stehenden Technik ist es nicht nachvollziehbar, dass in der Klavierpartitur im Präludium die Kontrabassstimme in oktavierendem Klang notiert wird, in den anderen drei Stücken jedoch eine grosse Sekunde tiefer bzw. eine kleine Septime höher als der tatsächliche Klang, d.h. die für den sologestimmten Kontrabass in D notwendige Schreibweise übernommen wird. Stefan Schäfer hat sich bei seiner Einrichtung auf wenige bogentechnische Empfehlungen beschränkt zu Gunsten der interpretatorischen Freiheiten.

Die Neuauflage bereichert das sonst nicht allzu üppige kammermusikalische Repertoire für die Kontrabassisten und Kontrabassistinnen.

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František Hertl: Vier Stücke für Kontrabass und Klavier, Kontrabassstimme eingerichtet von Stefan Schäfer, BA 11556, € 18.95, Bärenreiter Prag

Im Zeichen der Tiere

Für das neue Werk seiner Formation This Is Pan hat sich Bandleader Matthias Kohler ein Konzeptalbum ausgedacht. In dessen Fokus steht die einheimische Tierwelt, der man sich mittels smart arrangiertem Jazz annähert.

Foto: Karin Salathé

Matthias Kohler ist stets auf der Suche nach Inspirierendem: Als Artist in Residence in New York trieb ihn 2016 der dortige Fluss zu seiner Hudson Suite an, während am Ursprung des neuen Werkes seiner Formation This Is Pan nun das Wildschwein stand. Es trat dem Berner Musiker bei einem Aufenthalt in Südfrankreich als Wappentier vor Augen. Daraus entstand erst ein musikalisches Motiv und anschliessend die Idee zu einem Konzeptalbum.

Denn Kohler hatte sich dazu entschlossen, der einheimischen Tierwelt ein musikalisches Denkmal zu setzen. Folgerichtig entpuppt sich Animal Heart jetzt nicht bloss als Album voller treibender Melodien, sondern auch als animalischer Aufmarsch, bei dem sich nebst Wildschweinen auch Luchs, Rotwild, Pferde und Raubvögel die Ehre geben. Kommt hinzu, dass die elf Stücke in einer euphorischen Phase entstanden sind, was dem überaus variablen, wendigen und lebendigen Sound auch anzumerken ist: Bandleader Matthias Kohler am Saxofon und seine vier Mitstreiter, Lukas Thoeni (Trompete), André Pousaz (Bass), Gregor Hilbe (Schlagzeug) und Gitarrist Dave Gisler, mussten bis zum Ende des Lockdowns ausharren, bis sie sich wieder live begegnen und gemeinsam loslegen konnten. Die Freude über das Wiedersehen spiegelt sich in spielerischer Lust, rhythmischen Höhenflügen und wildwüchsigen Harmonien wider.

Während All The Pretty Horses die Anmut der Pferde mit getragener Melodie nachzeichnet und mit geschmackvollen Bläsern sowie frei fliessenden Gitarreneinwürfen kombiniert, weiss I Saw A Lynx Once mit arabesken Motiven und vertrackten Wendungen zu gefallen. Ein weiteres Highlight, Red Milan, zeichnet mit Bläsern die Nervosität der Vögel nach, die ihr Nest im Flug verteidigen müssen – das ist unmittelbar, unverfälscht und intensiv. Animal Heart bietet smart arrangierten und freigeistigen Jazz, der fulminant dargeboten wird und seine unablässige Neugier und Experimentierfreudigkeit zu nutzen versteht. Das Resultat spricht für sich.

This Is Pan: Animal Heart. Matthias Kohler, Saxofon; Lukas Thoeni, Trompete; Dave Gisler, Gitarre; André Pousaz, Bass; Gregor Hilbe, Drums und Elektronik; Sissel Vera Pettersen, Vocals (Track 11). Anuk Label ANUK 0044

Lang erwartete Neuausgabe

Schafft Hansjörg Schellenberger mit seiner Edition von Richard Strauss‘ Oboenkonzert nun Klarheit in so manchem strittigen Punkt?

Richard Strauss, Ölgemälde von Max Liebermann. Alte Nationalgalerie Berlin

Auf einer Liste von «sehnlich erwarteten» Neuausgaben stünde bei der oboespielenden Zunft das Konzert von Richard Strauss sicher ganz weit oben. Die neu erschienene Henle-Urtextausgabe weckt also grosse Hoffnungen, dass viel geäusserte Zweifel und Unklarheiten in der Boosey & Hawkes-Ausgabe nun beseitigt und eine Referenzausgabe geschaffen wurde.

Um es vorweg zu nehmen: Die vom ehemaligen Oboisten der Berliner Philharmoniker, Hansjörg Schellenberger, betreute Neuausgabe ist seriös erarbeitet und berücksichtigt als Quelle erstmals auch das Aufführungsmaterial der Erstaufführung in Zürich. Sie erfüllt damit die Voraussetzungen, zu einem neuen Standard zu werden. Gleichzeitig muss erwähnt werden, dass die Boosey & Hawkes-Ausgabe so schlecht nicht war, weil sie auf der gleichen Hauptquelle (nämlich der praktisch fehlerfreien autografen Partitur) beruht und gegenüber der Erstausgabe bereits mehrere Korrekturdurchgänge durchlebt hat.

Das grosse Plus der Neuausgabe ist sicher der Editionsbericht, der alle quellenrelevanten und editorischen Details erwähnt und beleuchtet. Richtig Spass macht dies in der digitalen Version der Henle Library, denn hier erscheinen sämtliche Stellen blau markiert, über die im Editionsbericht etwas geschrieben steht. In der Druckversion sind nur einige wenige (meist überflüssige) Fussnoten eingefügt, und auf gelegentlich äusserst wichtige Ossias von objektiv gleichberechtigten Lesarten wird gänzlich verzichtet. Unverständlich beispielsweise, dass eine neue Lesart im 3. Satz (T. 386) ohne Ossia oder direkte Fussnote dasteht, denn vermutlich wurde sie noch nie so gespielt und macht auch musikalisch wenig Sinn.

Dass bei Ziffer 9 und 10 viele Worte verloren werden, ob nun sfzp oder p sfz gemeint sein könnte, ist ebenfalls unverständlich. Ein Blick in die autografe Partitur zeigt eindeutig, dass Strauss die beiden Bezeichnungen nicht nebeneinander, sondern schräg untereinander schrieb. Somit ist klar, dass die Dynamik der Passage piano sein soll und sfz an dieser Stelle eine Artikulationsangabe meint, nämlich einen deutlichen Akzent. Dass in modernen Editionen alle Dynamikangaben auf derselben grafischen Ebene zu erscheinen haben, sollte man in diesem Zusammenhang dringend überdenken! Wenig glücklich scheint mir auch die Fixierung einer umstrittenen Note im ersten Fagott (zwei Takte vor Ziffer 23) auf d; gegenüber f in der bisherigen Ausgabe bedeutet es zwar eine Verbesserung, aber c (wie es in Strauss‘ Particell steht) wäre bezüglich Stimmführung und harmonischer Ausdeutung bestimmt die bessere Variante gewesen.

Erfreulich sind die Instrumentenangaben im Klavierauszug, ansonsten sind hier keine grossen Unterschiede zur früheren Edition auszumachen. Schade dagegen, dass die Erstaufnahme des Werkes (1947; Léon Goossens, Philharmonia Orchestra, Leitung Alceo Galliera) nicht als Quelle berücksichtigt wurde, da sie offensichtlich unter Verwendung der Erstausgabe realisiert worden ist und somit das einzige Tondokument mit dem ursprünglichen Werkschluss darstellt. Niemand wird diesen ersten (verkürzten) Schluss heute noch spielen wollen, dennoch wäre es interessant gewesen, wenn Henle ihn in diese Ausgabe integriert hätte, um wertvolle Einblicke in Strauss‘ kompositorische Werkstatt und sein Denken zu ermöglichen.

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Richard Strauss: Oboenkonzert D-Dur, hg. von Hansjörg Schellenberger; Klavierauszug von Johannes Umbreit, HN 1248, € 24.00; Studienpartitur, HN 7248, € 15.00; G. Henle, München

Tiere

Zum Verhältnis zwischen Tier und Mensch im Bezug auf die Musik.

Titelbild: neidhart-grafik.ch
Tiere

Zum Verhältnis zwischen Tier und Mensch im Bezug auf die Musik.

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Focus

Singt dieser Esel?
Musikmachen scheint nicht dem Menschen vorbehalten. Interview mit der Kulturanthropologin Britta Sweers

Bestiaire musical
Comment les compositeurs mettent-ils les animaux en musique

Coole Katzen, üble Hunde
Tiere müssen ihren Kopf oft für gesungene Metaphern herhalten

Les animaux mélomanes
Entre trucages et anthropomorphisme
Musikliebende Tiere — zwischen Trick und Anthropomorphismus (Übersetzung)

Der singende Dr. Dolittle
Roland Zoss und seine Tierlieder

 

Wer sich für Vögel und Musik interessiert, findet in der Ausgabe 4/2016 zum Thema «zwitschern» Lesestoff.

La RMS parle du sujet de ce numéro à la radio :
Espace 2, Pavillon Suisse, mardi 25 mai 2021, de 20h à 22h30

ab 2:03:30

 

… und ausserdem

RESONANCE

Radio Francesco — le coeur / das Herz

Clavardons… — au sujet de la Cité de la musique de Genève

A vos partitions ! — le Festival International de Musiques Sacrées Fribourg et son concours de composition

Zeitgemässe Melancholie — Wittener Tage für neue Kammermusik

Carte blanche für Wolfgang Böhler

CAMPUS


Ehrendoktorwürden für Harald Strebel und Rudolf Lutz
 

FINALE


Rätsel
— Torsten Möller sucht


Reihe 9

Seit Januar 2017 setzt sich Michael Kube für uns immer am 9. des Monats in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb.

Link zur Reihe 9


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Kategorien

Tierisch was los

Auf «Song of Beasts» beschäftigt sich das Ensemble Dragma mit fantastischen Kreaturen in mittelalterlichen Liedern.

Ensemble Dragma (Agnieszka Budzińska-Bennett, Jane Achtman, Marc Lewon). Foto: Hans Joerg Zumsteg

Das Mittelalter hatte so seine Vorstellungen, was Mensch und Tier betrifft. Auf der neuen CD Song of Beasts des in Basel beheimateten Ensembles Dragma tummelt sich so allerlei: Singvögel, Drachen, Mäuse oder Einhörner. Farbenprächtig dargestellt sind sie in mittelalterlichen «Bestiarien», wertvollen Pergament-Büchern, in denen die Fabelwesen auch ausführlich beschrieben werden. Sie werden in so bedeutenden Archiven wie der British Library in London oder der Bibliothèque National in Paris aufbewahrt.

Die bunt verzierten Kreaturen haben eine enorme Ausdruckskraft. Sie werden deshalb in einem eigens für dieses Projekt kreierten Film gezeigt und sanft animiert. – Der exklusive Link dazu ist auf der CD aufgedruckt. Dieses Video passt ausgezeichnet zu den Liedern, die das Ensemble Dragma in Bibliotheken von Florenz, Lucca, Chantilly oder Paris zusammengetragen hat: ein faszinierender musikalischer Zoo voller Poesie.

Gruppiert sind die Lieder nach verschiedenen Tierarten: «Von Singvögeln aller Art», «Hör mich brüllen» oder «Viper, Skorpion & Basilisk». Die mittelalterlichen Schilderungen der Wesen sind jedoch voller religiöser und politischer Symbolik, entsprechend rätselhaft und poetisch wirken die Texte. Sie sind im Booklet in englischer Übersetzung zu entschlüsseln, im Film werden einige davon auch in eigentümlichem Mittelhochdeutsch gesprochen.

Dass im Ensemble Dragma drei profilierte Kennerinnen und Kenner der mittelalterlichen Spielpraxis am Werk sind, wird sogleich ohrenfällig. Sie offenbaren in diesen tierischen Welten eine lebendige und rhythmisch agile Musizierlust. Agnieszka Budzińska-Bennet, die ab und zu auch zur Harfe greift, singt mit weicher, gut fokussierter Stimme und schildert diese Fabelwesen sehr plastisch.

Sie wird von Jane Achtman auf der Fidel aufmerksam begleitet, gerade so, als singe sie eine zweite Vokalstimme. Als Dritter im Bunde sorgt Marc Lewon mit der Laute für eine agile Grazie. Lewon tritt auch als Sprecher und Sänger in Erscheinung: etwa im Madrigal Fenice fu von Jacopo da Bologna, in dem eine Frau erzählt, wie sie sich von einem Phönix in eine Turteltaube verwandelt. Budzińska und Lewon singen dieses Duett kraftvoll und ergreifend.

Im Kapitel «Von Fledermäusen und Mäusen» kann man sich den derben Humor des Mittelalters zu Gemüte führen. Das dreistimmige Stück über die Maus wird von den drei Ausführenden mit witzigem Charme vorgetragen. Die Maus ist unglücklich und hungrig und wünscht sich Wurst oder einen fetten Kapaun zum Abendessen. Die Beschreibung ihrer tatsächlichen Mahlzeit ist jedoch eher deprimierend: Schwarzbrot, Rettich und Saubohnen. Damit schliesst dieses bunte Kaleidoskop mittelalterlicher Kunst: Lebendiger kann man das nicht machen!

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Song of Beasts – Fantastic Creatures in Medieval Song. Ensemble Dragma : Agnieszka Budzińska-Bennett; Jane Achtman, Marc Lewon. Ramée RAM 1901

Überschattete Juwelen

Von den acht Streichquartetten Joachim Raffs wurden die ersten beiden vorbildlich neu herausgebracht.

Bild: ÖNB, Bildarchiv Austria

Breitkopf & Härtel, in Zusammenarbeit mit dem Joachim-Raff-Archiv im schweizerischen Lachen, ist die Neuausgabe der ersten beiden Streichquartette von Joachim Raff in Stimmen und Partitur zu verdanken, die 1855 bzw. 1858–59 entstanden sind. Mit erheblichem Aufwand und einem akribisch genauen Kritischen Bericht zur Quellenlage, den jeweiligen editorischen Entscheidungen sowie einem ausführlichen, spannenden Vorwort verdienen sie – besonders auch unter musikwissenschaftlichen Aspekten – hohen Respekt. Joachim Raff, den Joseph Hellmesberger übertrieben wohlmeinend im Range Schumanns und Beethovens sah, vollendete in den an hochwertigen Streichquartetten raren Jahren nach Schumanns Tod insgesamt acht Quartette. Keines von ihnen fand Eingang in den klassischen Kanon der im 20. und 21. Jahrhundert bedeutenden Ensembles, übrigens genauso wenig wie Louis Spohrs 36 Quartette.

Mit Raffs Tod 1882 verblasste bald seine Geltung. Im Gegensatz zu manch anderen, weniger nachvollziehbaren Bedeutungsverlusten von Tonschöpfern, findet man bei Raff selbst und seinem Werk gute Gründe dafür. Gegenwärtige, verdienstvolle Aufführungen verdeutlichen dies – trotz der Renaissance seines Namens. Er wird, wie auch fast durchgängig zu Lebzeiten, ein umstrittener Komponist bleiben, der viel, aber auch viel Durchschnittliches produziert hat. Seine Ambition, Streichquartette zu schreiben, entsprang durchaus praktischen Erwägungen, denn zur Entstehungszeit des ersten etablierte sich ein immer professionelleres öffentliches Quartettleben, auch direkt in Raffs Umfeld. Dennoch kämpfte er lange um Resonanz dafür, sowohl bei den Interpreten als auch beim Publikum.

Widmet man sich den ersten beiden Quartetten, so ist man immer wieder von glänzenden melodischen Einfällen, überraschend modernen Effekten (längeren Ponticello- und Flageolett-Passagen), Anklängen an Volkslieder, wirkungsmächtigen, durch und durch quartettmässig konzipierten Elementen gefangen genommen, die Raffs herausragende musikalische Begabung belegen. Was teilweise fasziniert (beispielsweise im Scherzo von Opus 77), verflacht Raff leider immer wieder durch ausgedehnte, ja man möchte sagen nichtssagende Episoden, die die absolut genialischen Juwelen seiner Kunstfertigkeit überschatten. Es hätte einer grösseren, formal geschlossener denkenden Meisterschaft bedurft, um diese Schwächen zu verhindern, bzw. einer kompromisslosen Konzentration auf das Wesentliche.

Es ist die Krux künstlerischen Schaffens, dass wahre Grösse sich erst formiert, wenn höchste Qualität vorherrschend ist und nicht nur zeitweise zutage tritt. Von dieser Problematik der Zweit- oder Drittrangigkeit von Musik sind einige Zeitgenossen Raffs betroffen, gerade weil sie sich aus den Fängen des beethovenschen Erbes befreien mussten, ohne epigonal zu wirken oder die Traditionen vollends aus den Angeln zu heben. Wege aus diesem Dilemma suchten die meisten auf sich alleine gestellt, dabei hätten sie viel voneinander lernen können.

Ob man Raffs Quartette mit dieser verdienstvollen Ausgabe nun mehr aufführen wird, bleibt, angesichts der online zugänglichen Erstausgabe, abzuwarten. Es gibt noch zahllose Werke, die nicht verlegt sind, beispielsweise die bis Mitte der 1850er-Jahre entstandenen, höchst beachtenswerten Quartette von Carl Czerny.

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Joachim Raff: Streichquartette Nr. 1 (op. 77) und 2 (op. 90), hg. von Stefan König und Severin Kolb; Stimmen Nr. 1: EB 8939, € 41.90; Stimmen Nr. 2: EB 8940, € 41.90; Studienpartitur 1+2: PB 5622, € 39.90; Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

 

Durch bekannte Melodien lernen

«Vom einfachen Kindelied zum virtuosen Hummelflug», lautet der Untertitel dieser Marimba-Schule von Elisabeth Amandi. Tatsächlich werden Instrumentaltechnik und Notenlesen immer über die Musik vermittelt.

Foto: Frabribris / wikimedia commons

Mit diesem Schulwerk schließt die Marimba-Pionierin Elisabeth Amandi eine seit Jahrzehnten bestehende Lücke im Markt der Unterrichtsliteratur für Perkussion und bietet eine Malletschule für Einsteiger und Fortgeschrittene an, die den Motivationsaspekt in den Fokus rückt.

Bewusst ersetzt sie rein technische Übungen durch 300 internationale Lieder, Tänze und Solostücke, die Schritt für Schritt die wichtigsten Spieltechniken systematisch abdecken. Egal, ob bei Kindern oder Erwachsenen: Bekannte und einprägsame Melodien sprechen das musikalische Vorstellungsvermögen an und erleichtern die Umsetzung auf dem Marimbafon, Xylofon oder Vibrafon.

Die Anforderungen sind klar aufgebaut. Nach den anfänglichen Viertelnoten kommen schon bald Wirbel ins Spiel und der Tonumfang wird Stück für Stück erweitert. Durch die verschiedenen Stile kommen auch abwechslungsreiche Taktarten und Tonarten zum Zuge. So werden Handsätze und Bewegungsabläufe trainiert und gleichzeitig musiktheoretische Grundlagen sowie musikalische Gestaltungsmöglichkeiten vermittelt. Bei vielen Titeln beschreibt Amandi, wieso sie dieses Lied ausgewählt hat und welche Schwierigkeiten oder Herausforderungen es für diesen weiteren Schritt zu meistern gibt.

Fast nebenbei werden das Notenlesen und die Zwei-Schlägel-Technik geschult. Jeder Musiktitel – vom einfachen Kinderlied bis zum virtuosen Hummelflug – bereitet den darauffolgenden vor. Einige bekannte Nummern dürfen natürlich nicht fehlen wie etwa Trepak, The Entertainer, Zirkus Renz, und der letzte Titel mit der Nummer 300 ist dann eben der Hummelflug.

Auf diese Weise deckt Garantiert Marimba lernen die wesentlichen Aspekte des komplexen Malletspiels ab. Denn Elisabeth Amandi weiß aus eigener Erfahrung als Marimba-Solistin und -Pädagogin: «Wenn eine Melodie gefällt, geht selbst beim intensiven Üben der Spass nicht verloren, und das Training wird zu einem wunderschönen Tanz über die Marimbatasten!»

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Elisabeth Amandi: Garantiert Marimba lernen. Die Methode für Einsteiger und Fortgeschrittene an Marimba, Xylophon und Vibraphon mit 300 internationalen Songs und Konzertstücken, Buch und CD, Nr. 20288G, € 23.95, Alfred Music, Köln

Musikliebende Tiere

Videos von Klavier spielenden Hunden oder Melodien miauenden Katzen werden auf Youtube millionenfach angeschaut. Aber jenseits von Manipulation und der Übertragung menschlicher Betrachtungsweisen ist anzunehmen, dass die Tierwelt wohl wenig musikliebend ist.

Paul Barton spielt Beethoven für die Elefanten. Haben sie etwas davon? Foto: P. Barton
Musikliebende Tiere

Videos von Klavier spielenden Hunden oder Melodien miauenden Katzen werden auf Youtube millionenfach angeschaut. Aber jenseits von Manipulation und der Übertragung menschlicher Betrachtungsweisen ist anzunehmen, dass die Tierwelt wohl wenig musikliebend ist.

Wenn Sie auf dem Klavier ein C spielen gefolgt von einem D, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass das anschliessende Miauen Ihrer Katze genau der Höhe eines E entspricht, etwa so gross, wie dass ein rotes Auto vorbeifährt, nachdem Sie bereits ein blaues und ein weisses gesehen haben. Wenn man aber in Betrachtung zieht, dass es viel weniger Autofarben gibt als mögliche Frequenzen von Katzenmiauen, dann ist es weit unwahrscheinlicher, dass Ihr Haustier die Tonleiter weiterführt, als dass eine Autokolonne die Farben der Trikolore vervollständigt. Um Katzen dazu zu bringen, die traditionellen Tonschritte der menschlichen Musik einzuhalten, könnte man für das Lernen von Terz oder Quinte pawlowsche Dressurmethoden einsetzen. Die am häufigsten eingesetzte Methode bleibt aber heutzutage die Videomanipulation. Das ist ethisch eher vertretbar, stützt aber das Vorurteil, Tiere seien in Sachen Musik grundsätzlich irrelevant. Einige Youtuber haben Videos hochgeladen mit dem Titel «cat perfect pitch» und darauf gewartet, dass ihre Katze ein C von sich gibt. Dieses montierten sie dann als Schlusspunkt nach der gespielten Reihe C-D-E-F-G-A-H. Oder sie passten das Miauen elektronisch der gespielten Tonleiter an. Was diese Filmchen, auch wenn sie gefälscht sind, so faszinierend macht: Sie nähren die Illusion – und unterstreichen damit die Unmöglichkeit – dass Katzen eine Vorstellung von harmonischer Richtigkeit haben könnten. Es sei denn, sie würden immer auf dieser Tonhöhe miauen oder seien ausreichend trainiert. Unter der Annahme anderer «Pfotenflüsterer»-Hypothesen könnte man die Diskussion unaufrichtig und mehr oder weniger parodistisch noch etwas weiterführen: Vielleicht miauen Katzen nicht auf der richtigen Tonhöhe, weil sie ein gänzlich anderes musikalisches Sensorium haben als wir. Oder: Sie wollen uns auf keinen Fall merken lassen, dass sie ein Faible für Puccini-Opern haben. Oder sogar: Sie sind zum Glück nicht so dumm wie die Menschen, die das absolute Gehör für ein Geschenk der Natur halten.

Autotune und Singvögel

Videos, die das sanfte Heulen eines Hundes über Autotune abspielen, legen nahe, dass Hundegesang nur mit technischer Unterstützung perfekt sein kann. Die Musikalität der Tiere hinge also von Spezialeffekten ab. Die Kombination Tier-Plug-in ist eine Spielart 2.0 des Anthropomorphismus, der sich gerne einschränkt, um zu überdauern. Die Vögel, die am besten singen, sind bei denen, die es weniger gut können, nicht unbedingt am beliebtesten (um der Hypothese zu entsprechen, wonach «sich die Natur weniger ihr Recht zurücknimmt, als dass sie ihre Aufgaben neu erfindet, soweit, dass sie uns verpflichtet, den Vögeln zuzuhören, die, überdeckt von den Schreihälsen, weniger deutlich singen».) {Anmerkung 1} Die Auswahl, welches denn die Singvögel seien, stützt sich jedenfalls offensichtlich auf Kriterien menschlicher Musik. François-Bernard Mâche versetzt sie in menschliche Massstäbe: «Von den rund 8700 Vogelarten sind 4000 bis 5000 Singvögel. Davon haben 200 bis 300 so variierte Gesänge, dass sie musikalisch interessant sind. Das ist übrigens ein 50 bis 100 Mal höherer Prozentsatz, als es Profimusiker im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung Frankreichs gibt.»{Anmerkung 2} Wie die Versuche der Youtuber, die ihre Katzen und Hunde auf Pavarotti trimmen, gehören auch die Bemühungen von François-Bernard Mâche, mit der Musikalität der Vogelgesänge zu spielen, in die Kategorie der technischen Manipulation. Beispielsweise wenn er eine mehr oder weniger repräsentative Auswahl an Vogelstimmen über eine Cembalo-Partitur anordnet.

Beethoven für Elefanten

Wenn man auf Youtube einen Hund ans Klavier treten sieht, ohne Manipulation, ist man verblüfft, nicht nur amüsiert. Mag dieser Hund das Klavier oder, genauer, hält er sich für einen Menschen? Ist es ein dressierter Hund oder einer der sich spontan musikalisch betätigen möchte? Auch ohne einen direkten Befehl seines Herrchens ist sein Verhalten den musikalischen Menschen, mit denen er lebt, abgeschaut. Videos mit Tieren, die musikalische Situationen zu lieben scheinen, sind extrem beliebt. Die Kameraeinstellungen werden also so gewählt, dass sie die Musikalität der Tiere zu bestätigen scheinen. Aber bei aller Rührung über ein Filmchen, das Elefanten um ein Klavier versammelt zeigt, auf dem ihnen Paul Barton die Pastorale vorspielt, kann sich auch jeder fragen, ob die Elefanten wirklich Beethoven lieben oder nicht eher die Äpfel, die um das Klavier herum liegen. Vielleicht sind es Elefanten, die jenseits von Bartons Klavierkünsten, den Austausch zwischen verschiedenen Tierarten mögen. Wenn hier Anthropomorphismus vorliegt, wenn die Fixierung auf den Menschen die Deutung der Situation verfälscht, dann beweisen diese Freiluftkonzerte vielleicht weniger die Musikaffinität der Tiere als die Empathie des Pianisten für die Elefanten. Jemandem Beethoven vorzuspielen, ist ein Zeichen der Sympathie und wird als solches wahrgenommen. Die offiziellen Geschichten über diese Videos mit Hunderttausenden von Klicks werden von einer Logik der Fürsorge genährt. Es handelt sich um geschundene Tiere, die in einem Park in der thailändischen Provinz Kanchanaburi aufgepäppelt werden. Paul Bartons Rezitals sind eine Therapie, um «ihre körperliche Gesundheit und ihre Seele wieder aufzubauen».{Anmerkung 3} Der Glaube an die wohltuende Wirkung der Musik auf die Tiere ist bestimmt ein entscheidendes Element bei der Bindung, die der Pianist mit den Elefanten zu knüpfen vermag, auch ohne den Beweis, dass Beethoven oder Chopin eine sichtlich heilende Kraft auf die Tiere ausübt. Immerhin sind diese Konzerte musikalische Darbietungen eines Menschen, der sich von anderen Menschen löst und lieber den Dickhäutern etwas vorspielt als seinen musikliebenden Mitmenschen.

{Anmerkungen}

1 Cora Novirus, «Oiseaux et drones», Multitudes n° 80, Herbst 2020, S. 150
2 François-Bernard Mâche, Musique – Mythe – Nature, Éditions Aedam Musicae, 2015, S. 116
3 Paul Barton, cité par Philippe Gault, «Les singes affamé en Thaïlande, apaisés par Beethoven grâce au pianiste Paul Barton», www.radioclassique.fr


 David Christoffel

… ist Poet und Komponist, Radiomacher und Forscher. Er widmet sich der Poesie und der Musik in spezifischen Umfeldern.

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Antike hörbar gemacht

Schauen, hören, lesen: Eine multimediale Ausstellung im Antikenmuseum Basel lässt die Klänge des Altertums wieder aufleben.

Blick in die Ausstellung. Fotos: Ruedi Habegger, Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig

Wie hat eine Leier im alten Ägypten geklungen oder eine Kithara und ein Aulos im klassischen Griechenland? Tonbeispiele können leider nicht einfach hergestreamt werden, und doch ist die Musikforschung heute imstande, den Klang dieser Instrumente durch Nachbauten originalgetreu zu rekonstruieren. In der reich bebilderten Begleitpublikation zur Ausstellung finden sich spannende Informationen zu den wissenschaftlichen Grundlagen. Auch ohne dieses Hintergrundwissen lässt sich die Ausstellung geniessen. Rund 30 Tonbeispiele verschiedener Instrumente können über die Museums-App angehört werden. Das Smartphone mit Kopfhörern müssen die Besucher selbst mitbringen.

Das Instrumentarium des Vorderen Orients, Ägyptens und des alten Griechenlands umfasst im Wesentlichen Saiten-, Blas-, Geräusch- und Rhythmusinstrumente sowie den Gesang. Aufgrund von Fundstücken und Abbildungen auf vielen Gefässen, vor allem aus der griechischen Antike, wurden Nachbauten gefertigt. Diese Instrumente sind grösstenteils Leihgaben des Martin-von-Wagner-Museums der Universität Würzburg. Sie wurden auf dem Album Sappho and her time von Conrad Steinmanns Ensemble Melpomen zu neuem Leben erweckt und bilden den auditiven Teil der Ausstellung. Es handelt sich um musikalische Nachschöpfungen für Gesang und instrumentale Begleitung, welche sich einerseits am Klang der rekonstruierten Instrumente und anderseits am Versmass der Lyrik Sapphos orientieren.

Die übrigen Exponate, darunter Gefässe, Skulpturen und Reliefs, sind grösstenteils aus Privatkollektionen, dem Kunstmuseum und dem Historischen Museum in Basel. Vieles kommt aus der «eigenen» Skulpturenhalle des Antikenmuseums.

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Einblick in die Ausstellung

Der menschliche Körper als Ausgangspunkt

Aus dem Vorderen Orient des 4. Jahrtausends v. Chr. oder später aus Ägypten gibt es nur wenige Zeugnisse zur Musik und zum Musizieren. Das wenige, was erhalten ist, deutet aber darauf hin, dass es ab Mitte des 4. Jahrtausends bereits Niederschriften von Melodien sowie eine Art Notationssystem gegeben haben muss. Die alten Griechen lernten dieses vorderorientalische System wohl auf mündlichem Weg kennen und entwickelten es zu einer regelrechten Musiktheorie weiter. Philolaos (ca. 470 bis 399 v. Chr.) und Platon (ca. 427 bis 347 v. Chr.) sind hier die zentralen Figuren. Theorie heisst eigentlich «Betrachtung» und beschreibt zunächst das Vorhandene. Beim Aulos handelt es sich zum Beispiel um ein Doppelrohr-Blasinstrument aus Holz oder Knochen, das mit aufschlagender Zunge gespielt wird. Auf dem linken und dem rechten Rohr sind jeweils vier bis fünf Töne spielbar. Steinmann schreibt dazu: «Die Anordnung der Grifflöcher folgt in natürlicher Weise den Möglichkeiten der menschlichen Hand. Die beim Blasen entstehenden Töne folgen also physiologischen Gegebenheiten. … Sie sind die Grundlage eines Musiksystems und damit auch eines Musikempfindens.» (Katalog, S.45)

Auf dem Aulos spielende Kurtisane. Nebenseite des sog. Ludovisischen Throns. Grossgriechisches Werk um 470 v. Chr. Gipsabguss nach dem Original im Palazzo Altemps in Rom.

Aus den Nachbauten klingt die damalige Welt

Der Titel «Von Harmonie und Ekstase» deutet darauf hin: Die verschiedenen Instrumente wurden in der Antike gegensätzlichen Prinzipien zugeordnet. Die Saiteninstrumente wurden dem apollinischen Prinzip der Harmonie (Leben, Ordnung, Geist) zugeteilt, während die Blas-, Geräusch- und Rhythmusinstrumente mit Ekstase, Tod, Chaos und Körper assoziiert wurden. Die Kithara beispielsweise war im antiken Griechenland das Instrument der Berufsmusiker und ist in der Mythologie das Erkennungszeichen des Apollon, während der etwas schrill klingende Aulos zur Welt von Dionysos und den Naturdämonen gehört.

Silbernes Bügelsistrum mit dem Haupt der Göttin Hathor, Ägypten, 22. Dynastie, 945 – 720 v. Chr.

Ein bemerkenswertes Tonbeispiel lässt eine nachgebaute Bogenharfe aus dem Ägypten des 13. Jahrhunderts v. Chr. hören. Die Harfe galt als vornehm und war entsprechend selten anzutreffen. Auch relativ selten war die etwas jüngere Laute. Sie verfügte über ein Griffbrett, einen langen Stab, über den drei Saiten aus Schafdarm gespannt waren. Wesentlich mehr Verbreitung fand die Lyra (Leier). Sie ist eine ägyptische Erfindung aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. In Griechenland wurde sie oft zur Begleitung von Gedichten eingesetzt (daher die Wortverwandtschaft Lyra > Lyrik). Das Beispiel dokumentiert ein rhythmisches Schlagen der Saiten, das am ehesten an die heutige Ukulele erinnert.

Die Rasseln und Glocken wurden zur Besänftigung bzw. Abwehr von Dämonen und im Totenkult eingesetzt. Zur Familie der Rhythmusgeräte gehören unter anderem das Tympanon (Tamburin), die Krotala (Handklappern) und die Kymbala (Zimbeln). Sie wurden nach der Mythologie meist von Mänaden und tanzenden Nymphen betätigt, während die Satyrn auf den Auloi spielten. Singende wurden auf ägyptischen und griechischen Gefässen in typischen Sängerposen, meist in Ekstase, dargestellt.

Unter den Hörbeispielen finden sich einige sehr schöne Beiträge, die allerdings kaum das Kriterium der historischen Authentizität erfüllen wollen.

Die Ausstellung «Von Harmonie und Ekstase» ist noch bis zum 24. Oktober 2021 im Antikenmuseum Basel zu besuchen.

Es gibt eine Konzertreihe dazu.

DieBegleitpublikation zur Ausstellung kann online eingesehen werden.
http://www.antikenmuseumbasel.ch/de/ausstellungen.html

Beginn einer Trilogie

Die Klaviersonaten Nr. 13 und 14, die Klavierfantasie op. 77 und die Chorfantasie op. 80 sind die Bestandteile der ersten CD von See Siang Wongs Beethoven-Trilogie.

Foto: SRF/Christoffel

Er ist schon mit einigen ungewöhnlichen Projekten aufgefallen: der in der Schweiz lebende und in Zürich an der Hochschule der Künste dozierende Pianist See Siang Wong. So hat er etwa ein «Kompendium der neuen Schweizer Klaviermusik» angeregt, oder er hat Kammermusikversionen von Konzerten Chopins und Beethovens aufgenommen. Beethoven widmet er nun auch eine ganze Trilogie, die sich vornehmlich unbekannteren Werken des Bonner Meisters annehmen soll. Die erste CD trägt den Titel «Fantasia». Eingespielt hat er dazu die Fantasie op. 80 in c-Moll für Klavier, Chor und Orchester – mit dem Radio-Symphonieorchester Wien (Dirigent: Leo Hussain) und dem Wiener Singverein. Daneben finden sich auf der Scheibe die Klaviersonate Nr. 13 Es-Dur «Quasi una fantasia» und zum Auftakt die alles andere als unbekannte Klaviersonate Nr. 14 cis-Moll. Sie hat vom Dichter Ludwig Rellstab nach einer Bootsfahrt auf dem Vierwaldstättersee einst den Beinamen «Mondscheinsonate» verpasst bekommen.

Damit steht am Anfang der Trilogie, die eigentlich den Raritäten gewidmet sein soll, zunächst einmal ein Beitrag zur epischen Diskussion, wie die berühmt-berüchtigte, alleinstehende Pedalanweisung Beethovens zu Beginn der Mondscheinsonate zu deuten sei. András Schiff plädiert immer mal wieder für ein zügiges Alla-breve-Tempo, aber konsequent gehaltenes Pedal; er betrachtet dies als Intention Beethovens. See Siang Wong sieht in dem Adagio einen Bezug zur Szene nach dem Tod des Komturs aus Mozarts Don Giovanni. Auch er hält das Pedal nun durchwegs gedrückt, wählt aber das sehr langsame Tempo, das sich in den meisten Interpretationen mittlerweile eingebürgert hat. Dabei entsteht auf dem D-274-Konzertflügel von Steinway eine delikate, impressionistische Klanglandschaft, die stimmiger wirkt als Schiffs etwas ruppig ineinander zerfliessende Harmonien.

Aufgenommen worden sind die Chorfantasie im April 2019 im Grossen Sendesaal des Radio Kulturhauses Wien und die Sonaten im Januar 2020 im SRF Radiostudio, Zürich. ORF und SRF zeichnen auch als Koproduzenten.

Beethoven Trilogie 1: Fantasia (Klaviersonaten Nr. 14 und 13, Klavierfantasie op. 77, Chorfantasie op. 80) See Siang Wong, Klavier; RF Vienna Radio Symphony Orchestra, Wiener Singverein, Leitung Leo Hussain. Sony Music RCA Red Seal 19439800512

Tod des Komponisten Cristóbal Halffter

Der spanische Komponist Cristóbal Halffter, der in den 1980er-Jahren auch am Berner Konservatorum unterrichtete – zu seinen Schülern gehören unter anderem Christian Henking, Jean-Luc Darbellay und David Philipp Hefti – ist im Alter von 91 Jahren in Ponferrada verstorben.

Foto: © Universal Edition/Eric Marinitsch.

Halffter wurde 1930 in Madrid geboren und verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Deutschland. Von 1939 bis 1951 lernte er in Madrid Klavier, Musiklehre, Harmonielehre und Kompositionslehre. 1961 wurde er Lehrer für Komposition und Formenlehre an das Real Conservatorio Superior de Música de Madrid. Von 1964 bis 1966 war er Direktor des Instituts.

Ab 1970 begann er als Dozent an der Universität von Navarra zu unterrichten und auch zu dirigieren. 1976 war er Dozent der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt, nachdem er in den sechziger Jahren mehrfach mit Komponisten wie Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Luciano Berio gearbeitet hatte, und wurde 1979 Leiter des Studios für elektronische Musik der Heinrich-Strobel-Stiftung in Freiburg im Breisgau.

2009 erhielt er den mit 400’000 Euro dotierten Preis «Grenzen des Wissens» der spanischen Fundacion-BBVA in der Sparte Musik der Gegenwart. 2014 wurde er mit dem Kulturpreis der Stadt Kiel ausgezeichnet.

Krivenko Soloflötist im Konzerthausorchester Berlin

Andrei Krivenko studierte an der FHNW in der Flötenklasse von Felix Renggli und ist seit zwei Jahren Teil der Orchesterakademie der Wiener Philharmoniker. Nun hat er die Stelle als Soloflötist im Konzerthausorchester Berlin gewonnen.

Foto: zVg

Der aus Russland stammende Andrei Krivenko erhielt seinen ersten Flötenunterricht im Alter von 6 Jahren. Er ist Absolvent der Musikakademie Basel in der Klasse von Felix Renggli. Krivenko ist Stipendiat der Kurt Redel Foundation und Gewinner zahlreicher renommierter internationaler Wettbewerbe.

Als Solist trat er bereits in Schweden, Frankreich, Deutschland, Italien, Russland sowie mit dem Festival Orchester von Zakhar Bron (Schweiz) und dem Jugend Symphonie Orchester Russland unter der Leitung von Yuri Bashmet auf. Weitere wichtige künstlerische Impulse erhielt er in Meisterkursen, unter anderem bei Vincent Lucas (Paris), Andrea Lieberknecht (München), Philip Bernold (Paris), William Bennett (London), Peter Lukas Graf (Basel) und Denis Bouriakov (Los Angeles).

Basel-Landschaft ehrt Michael Zisman

Michael Zisman wird mit dem Spartenpreis Musik 2021 des Kantons Basel-Landschaft ausgezeichnet. Der Preis ist mit 20’000 Franken dotiert. Der Bandeonist tritt als Solist und in verschiedensten Formationen auf und hat bereits Projekte mit zahlreichen renommierten Künstlern realisiert.

Foto: Matthias Willi / Kanton BL

Michael Zisman ist argentinisch-schweizerischer Doppelbürger und gelte als «eines der grossen Talente auf seinem Instrument, dem Bandoneon», schreibt der Kanton. In Argentinien spezialisierte er sich in der Tango-Musik. Dabei entwickelte er eine aussergewöhnliche Brillanz, sein Spiel sei «natürlich und unangestrengt, warm und aufregend».

In seiner Kindheit erlernte Zisman die Musik vor allem von seinem Vater, dem Geiger, Bandleader und Komponisten Daniel Zisman. Nachdem er das Instrument – zusammen mit seinem langjährigen Kollegen Peter Gneist – weitgehend auf autodidaktische Weise erlernt hatte, studierte er im Alter von 13 Jahren in Buenos Aires bei Nestor Marconi und Juan C. Cirigliano, dem ehemaligen Pianisten von Astor Piazzolla.

2007 erhielt Michael den ersten Preis in der Kategorie Bandoneon Solo an der International Accordeon Competition Klingenthal (Deutschland).
 

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