Studierende erfüllen den Kampus Südpol

Mit dem neuen Studienjahr beginnt das Departement Musik der Hochschule Luzern (HSLU-M) das Gebäude auf dem Kampus Südpol zu beleben. Es verzeichnet überdies 221 Neueintritte.

Eingang des Hochschulgebäudes auf dem Kampus Südpol. Foto: SMZ

Auf dem Campus werden auf rund 8000 Quadratmetern über 500 Bachelor- und Master-Studierende, knapp 500 Weiterbildungsteilnehmende sowie rund 200 Mitarbeitende der Musikhochschule lernen, lehren und forschen sowie ihr Schaffen der Öffentlichkeit präsentieren. Mit dem Neubau führt die Hochschule Luzern – Musik ihre bisherigen vier, in Luzern verteilten Standorte an einem Ort zusammen. Vom 11. bis 13. September wird der Neubau mit einem musikalischen Rahmenprogramm feierlich eröffnet. In den drei neuen Konzertsälen finden bis Ende Jahr immer wieder öffentliche Veranstaltungen statt.

Die Coronakrise zeigt sich vor allem in den Zahlen ausländischer Studierender: Die meisten internationalen Studierenden stammen aus Europa, die Anmeldungen aus nicht-europäischen Ländern haben deutlich abgenommen. Die Gruppe der Austausch-Studierenden, die lediglich für ein Semester an die HSLU kommt, ist geschrumpft. Für ein Austauschsemester haben sich nur halb so viele Studierende angemeldet wie ein Jahr zuvor.

Ästhetische Reaktionen unter der Lupe

Das Aesthetic Responsiveness Assessment (AReA) eines Forschungsteams am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik erleichtert die Wahl von Stichproben für Studien zur Wirkung von Kunst.

Foto: Ian Williams / unsplash.com (Link siehe unten),SMPV

Mit dem Ziel, eine schnelle Beurteilung der allgemeinen, ästhetischen Reaktionsfähigkeit zu ermöglichen, hat ein Forschungsteam am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik ein Verfahren entwickelt, das die Wahl von Stichproben für Studien zukünftig erleichtern soll. Das sogenannte Aesthetic Responsiveness Assessment (AReA) ermöglicht eine Unterscheidung zwischen Personen, die regelmässig intensiv auf Kunstwerke reagieren, und denjenigen, die im Alltag selten mehr als eine alltägliche Wertschätzung ästhetischer Objekte empfinden.

Die Skala basiert auf einem Fragebogen, der mit dem Ziel zusammengestellt wurde, Personen zu identifizieren, die besonders auf ästhetische Stimuli reagieren und sich daher für eine Studienteilnahme eignen. Wie stark eine Person auf Musik, Bildende Kunst und Lyrik reagiert, kann mit der AReA-Skala innerhalb der Kategorien «Ästhetische Wertschätzung», «Intensive Ästhetische Erfahrung» und «Kreatives Verhalten» festgestellt und für die Auswahl besonders reaktionsfähiger Stichproben nutzbar gemacht werden.

Das Beurteilungsverfahren wurde mit knapp 800 Teilnehmern in Studien in den Vereinigten Staaten und in Deutschland getestet und kann in beiden Sprachen gleichermassen durchgeführt werden. Die Publikation ist im Journal Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts der American Psychological Association erschienen.

Originalpublikation:
Schlotz, W., Wallot, S., Omigie, D., Masucci, M. D., Hoelzmann, S. C., & Vessel, E. A. (2020). The Aesthetic Responsiveness Assessment (AReA): A screening tool to assess individual differences in responsiveness to art in English and German. Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts. Advance online publication. https://doi.org/10.1037/aca0000348
 

Erste Gesamtbilanz von «Jugend und Musik»

Seit 2017 unterstützt das Bundesamt für Kultur (BAK) im Rahmen des Programms «Jugend und Musik» (J+M) Musikkurse und -lager finanziell. Insgesamt wurden seit Beginn des Programms bis Ende Juni 2020 907 J+M-Lager und 544 J+M-Kurse durchgeführt.

Symbolbild: ©Kalle Kolodziej – stock.adobe.com,SMPV

Die Anzahl Teilnehmende pro Jahr nehme stetig zu, schreibt das BAK. So haben sich 2019 die Gesuche gegenüber 2017 mehr als verdoppelt. Dies geht aus dem Bericht zur Förderperiode 2016-2020 hervor, den das BAK veröffentlich hat.

Insgesamt haben schweizweit bisher über 46’000 Kinder und Jugendliche an J+M-Angeboten teilgenommen. Per Juni 2020 waren rund 17‘000 Kinder und Jugendliche für J+M-Kurse und -Lager angemeldet (2017: rund 8700; 2018: rund 15‘500; 2019: knapp 21‘000). Per Ende Juni 2020 verfügte das Programm über 1’036 zertifizierte J+M-Leiterinnen und -Leiter.

Seit dem Start von J+M wurden vom Bund rund 7,5 Millionen Franken in das Programm investiert. Rund 5 Millionen davon entfielen auf die Unterstützung von J+M-Kursen und J+M-Lagern, und ungefähr 500’000 Franken auf die Beiträge an die Aus- und Weiterbildung von J+M-Leitenden. Seit 2019 beteiligt sich auf der Grundlage eines im Mai 2018 abgeschlossenen zwischenstaatlichen Abkommens auch das Fürstentum Liechtenstein am Programm J+M.

Originalartikel:
https://www.bak.admin.ch/bak/de/home/aktuelles/nsb-news.msg-id-80298.html

 

 

Auf Coimbras Spuren

Der Pianist und Autor Yorck Kronenberg auf den Spuren eines Sonderlings aus den Tropen, José Diego Coimbra.

Yorck Kronenberg, das Casal-Quartett und Christine Egerszegi in der Alten Kirche Boswil. Foto: mny

Auch auf fernen Inseln ist früher im Stil der europäischen Klassik komponiert worden. Das Riemann-Musiklexikon erwähnt zum Beispiel den 1870 in München geborenen Komponisten Otto Jägermeier, der 1915 aus dem kriegsgeplagten Europa nach Madagaskar auswanderte und dort sinfonische Dichtungen wie Im Urwald oder die Suite tananarivienne, benannt nach der madagassischen Hauptstadt Tananarive, schrieb. Und neuerdings ist auch die Rede von einem anderen Inselbewohner, der weitab von unserer Zivilisation seine Partituren schrieb. Er hörte auf den portugiesisch-spanischen Namen José Diego Coimbra und lebte, wie es heisst, von 1824 bis 1865 auf der Insel Mondariz, einer kleinen Vulkaninsel im Südatlantik, per Postschiff fünf Tagesreisen vom südamerikanischen Festland entfernt.

Coimbra ist eine Erscheinung, die neugierig macht. Ein Exzentriker, von dem man wohl kaum je gehört hätte, wenn er nicht zur geisterhaften Hauptperson eines Romans gemacht worden wäre. Autor ist der 1973 im schwäbischen Reutlingen geborene Yorck Kronenberg, der mit Mondariz nun seinen fünften Roman vorgelegt hat. Als Schriftsteller und Konzertpianist ist er eine Doppelbegabung. Damit ist er wie kein zweiter in der Lage, sowohl eine spannende Geschichte um den längst verstorbenen Komponisten zu erzählen, als auch sich musikalisch kompetent zu äussern. Die Partituren befanden sich, folgt man Kronenberg, lange im Hauptort der Insel, einer verschlafenen Siedlung aus der Kolonialzeit, wo die Einwohner die Erinnerung an den exotischen Tonsetzer mehr schlecht als recht wachhalten. In der Hoffnung auf einen irgendwann einmal einsetzenden Touristenstrom haben sie sein Wohnhaus, die Casa Coimbra, als kleine Gedenkstätte eingerichtet und es damit vor dem schleichenden Zerfall bewahrt.

Zwischen Hyperrealismus und Fiktion

Kronenbergs Buch bietet dem Leser eine schlitzohrige Mischung von hyperrealistischer Beschreibung und Fiktion. Der Icherzähler, hinter dem man den Autor selbst vermuten darf, war vor zehn Jahren schon einmal auf der Insel, um den Spuren des Komponisten nachzuforschen. Jetzt ist er zum zweiten Mal gekommen, um sich die Partituren und die in alten Truhen verstauten Dokumente genauer anzuschauen und Coimbras Lebensumfeld biografisch aufzuarbeiten. Er steigt in das Dorfleben und die Kolonialgeschichte der Insel ein, doch bei seinen Recherchen macht er gemischte Erfahrungen mit den misstrauischen Einheimischen. Während er versucht, in der ihm fremden Welt Boden unter den Füssen zu bekommen, holt ihn zudem seine europäische Vergangenheit in Form von SMS-Nachrichten seiner ehemaligen Lebensgefährtin ein. Beim ersten Besuch auf der Insel hatte sie ihn begleitet, nun befinden sich die beiden über Tausende von Kilometern hinweg in einem schmerzhaften Trennungsprozess. Diese beiden Ebenen werden in der Erzählung gekonnt ineinander verschachtelt.

Allen praktischen Unzulänglichkeiten und dem Liebeskummer zum Trotz nehmen die Gestalt des Komponisten und seine Musik schrittweise Kontur an. Als der Erzähler am Schluss die Insel mit einem Frachtkahn wieder verlässt, ist er um einige Erfahrungen reicher. Mit dem Eintauchen in das Fremde tauchte er zugleich in sein Inneres ein. Er weiss jetzt, dass ihm die Welt der Inselbewohner immer verschlossen bleiben wird, zu seiner Exfreundin im fernen Europa hat er Distanz bekommen, und die mit der undurchschaubaren Inselwirklichkeit verwachsene Musik Coimbras ist ihm vertrauter geworden. Einige Partituren nimmt er als Trophäen mit nach Hause.
Und hier befinden sie sich nun in den Händen des Autors und Pianisten Yorck Kronenberg. In seinem Buch hat er sie kenntnisreich beschrieben, zum Beispiel die grosse Sinfonie in cis-Moll, ein Spätwerk von 1862, in welcher der Dirigent die Musiker auffordern kann, das Spielen nur zu fingieren, so dass die Bewegungen zwar weitergehen, aber kein Ton erklingt. Coimbra nimmt hier die Experimente des instrumentalen Theaters voraus, die hundert Jahre nach ihm Avantgardisten wie Dieter Schnebel wieder aufgreifen sollten.

Entdeckungsreise nach Boswil

In einer musikalisch-literarischen Sonntagssoiree im Künstlerhaus Boswil am 30. August 2020 konnte man sich nun von der bisher nur literarischen Existenz Coimbras und seiner Musik einen konkreten Eindruck verschaffen. Kronenberg und das Casal-Quartett interpretierten zwei Werke des Komponisten, dazwischen las der Autor einige Passagen aus seinem Buch vor. Christine Egerszegi, Beiratspräsidentin der Boswiler Stiftung, unterhielt sich mit ihm und leitete durch das Programm.

Kronenberg ist ein Vorleser und Gesprächspartner, dem man gerne zuhört. Als Pianist geht er voll ins Risiko. Das zeigte sich besonders bei Bachs Klavierkonzert in d-Moll. Es erklang in einer Fassung mit Streichquartett zum Abschluss des Abends. In fulminantem Tempo und technisch bestens gerüstet jagte er durch die Ecksätze, das reaktionsschnell hinterherhechelnde Quartett immer dicht auf den Fersen. Eine Probe mehr hätte dem Ganzen gutgetan. Im Mittelsatz konnte der Pianist dann auch seine introvertierte Seite vorteilhaft herausstellen.

Kernpunkt des Konzerts und der Publikumsneugierde waren aber natürlich die beiden Originalwerke des geheimnisumwitterten Komponisten. Zu Beginn spielte Kronenberg Dos Estudios para Piano. Die erste Etüde trumpft mit motorischer Akkordrepetition in der linken und weit ausholender, einstimmiger Melodik in der rechten Hand auf. Die zweite ist freier in der Bewegung und harmonisch farbiger. Beides klingt wie eine unschuldige Vorwegnahme der Rhythmusstücke von Prokofjew oder Bartók. Das darauffolgende Streichquartett war eine Uraufführung. Das viersätzige Werk ist von einer warmen Emotionalität durchdrungen, ein nachdenklicher Ton herrscht vor. Ein gleichförmiges, polyfon geschichtetes Stimmengeflecht prägt den ersten Satz. Im zweiten treten einzelne ausdrucksstarke Figurationen hervor, die dann im langen Schlusssatz mit absteigenden Linien und abgerissenen kleinen Glissandi einen konkreten Charakter in Form von Klagelauten annehmen. Es scheint, als hätte hier Coimbra den Liebesschmerz seines späteren Biografen vorausgeahnt.

Was ist von den musikalischen Hervorbringungen dieses Einzelgängers zu halten, der auf einer gottvergessenen Tropeninsel im Südatlantik unverdrossen seine Partituren schrieb, im Bewusstsein, dass er sie zu Lebzeiten wohl nie zu Gehör bekommen würde? Wer Kronenbergs Roman liest, wird Schritt um Schritt in diese unwahrscheinliche Situation hineingezogen. Man beginnt an die Existenz Coimbras zu glauben, hinter der Fiktion wird eine neue, starke Realität sichtbar. Der Höreindruck seiner Kompositionen bestätigt jedoch die Versprechungen von Einzigartigkeit, die das Buch macht, nur bedingt. Die Fiktion bleibt in diesem Fall stärker. Trotzdem: Die Entdeckung der musikalisch-literarischen Welt von Mondariz war eine Reise nach Boswil wert.

PS: Der Komponist Otto Jägermeier ist ein musikwissenschaftlich-lexigrafischer Scherz. Die Insel Mondariz ist auf keiner Karte zu finden.
Yorck Kronenberg: Mondariz. Dörlemann Verlag, Zürich 2020, 283 Seiten

Die Motetten überraschen

Lieder und Motetten der Zürcher Komponistin Martha von Castelberg, einer Autodidaktin, die aus einer tiefen Spiritualität schöpfte.

Martha von Castelberg. Foto: Martha-von-Castelberg-Stiftung

Wenn man liest, dass die Komponistin Martha von Castelberg (1892–1971) weder Klavier- noch Kompositionsunterricht erhalten hat, kommt man beim Hören der CD mit ihren Motetten sowie weltlichen und geistlichen Liedern ins Grübeln: Hätte Lili Boulanger ihren Liederzyklus Clairières dans le ciel ohne geregelten Kompositionsunterricht, Fanny Hensel ihr Klavierwerk Das Jahr ohne langjährigen Klavierunterricht schreiben können? Bringt einen das autodidaktische Erlernen eines Instruments dazu, neue Wege zu entdecken, und könnte es sein, dass das Komponieren ohne Studium bei einem Lehrer oder einer Lehrerin einen davon abhält, auf stilistisch ausgetretenen Pfaden zu wandeln?

Castelbergs Lieder, nicht aber ihre Motetten lassen einen eher zur Überzeugung gelangen, dass ein geschultes Handwerk ihrem Komponieren förderlich gewesen wäre und sich ihr zweifellos vorhandenes Talent freier hätte entfalten können. Man hat das Gefühl, dass ihre Lieder vom Klavier etwas gar schlicht begleitet werden und ein bisschen pianistische Raffinesse auch den geistlichen Texten gut anstehen würde.

Wer war Martha von Castelberg? Die Zürcherin wuchs als Tochter eines Privatbankiers in einem streng katholischen bürgerlichen Elternhaus auf. Früh erhielt sie Geigenunterricht, durfte aber trotz ihrer Begabung nicht Musik studieren. Wie Sibylle Ehrismann in ihrem informativen CD-Booklet schreibt, setzte sich von Castelberg, die sehr gläubig und spirituell interessiert war, mit ihrem Mann für den Zürcher Katholizismus ein, der in der reformierten Stadt einen schweren Stand hatte. Viele ihrer Kompositionen haben einen religiösen Hintergrund, andere eine Beziehung zum bündnerischen Disentis, der Heimat ihres Mannes.

Die vier Sängerinnen und Sänger und die Pianistin interpretieren die Lieder mit hörbarem Engagement, farbenreich und fein gestaltet. Wenn man alle Lieder, die einzeln durchaus reizvoll sind, hintereinander hört, stellt sich besonders bei den geistlichen Gesängen eine gewisse Monotonie ein, da die Werke doch etwas zu wenig unterschiedlich sind. Es ist bemerkenswert, dass es von den gewählten Texten – etwa von Fontane, Rückert, Bergengruen und rätoromanischen Dichtern – kaum andere Vertonungen gibt.

Die eigentliche Entdeckung auf der CD sind aber die fünf Motetten für gemischte Stimmen. Sie werden vom Basler larynx Vokalensemble unter der Leitung von Jakob Pilgram auf höchstem Niveau, klangschön und mit jeder wünschenswerten Differenzierung interpretiert. Obwohl fest in der Tradition der geistlichen Musik verankert, faszinieren die Motetten durch eine aparte, «moderne» Harmonik. Sie dürften Martha von Castelbergs wichtigster Beitrag zur schweizerischen Musik des 20. Jahrhunderts sein.

Die Namen, Werktitel und Liedtexte im Booklet enthalten ziemlich viele Fehler, was bei einer sonst so sorgfältigen Edition besonders auffällt.

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Martha von Castelberg: Lieder und Motetten. Estelle Poscio, Sopran; Susannah Haberfeld, Mezzosopran; Remy Burnens, Tenor; Äneas Humm, Bariton; Judit Polgar, Klavier; larynx Vokalensemble; Jakob Pilgram, Leitung. Solo Musica SM 334

Sonate für Klavier Nr. 32

Jeden Freitag gibts Beethoven: Zu seinem 250. Geburtstag blicken wir wöchentlich auf eines seiner Werke. Heute auf die Sonate für Klavier Nr. 32 c-Moll.

Obwohl 1821/22 entstanden und damit noch lange kein «letztes Werk», wird die Klaviersonate Nr. 32 c-Moll op. 111 von einer geheimnisvollen Aura umweht. So überschrieb schon Adolf Bernhard Marx das entsprechende Kapitel seiner Beethoven-Biografie von 1859 mit «Abschied vom Klavier». Thomas Mann bezog sich in seinem Doktor Faustus darauf, diagnostizierte aber, von Theodor W. Adorno sekundiert und sachlich treffender, einen «Abschied von der Sonate» im doppelten Sinne – nämlich bei Beethoven selbst, aber auch hinsichtlich der Gattung, die sich schon nicht mehr so recht am Markt durchsetzen konnte. 1839 notierte Robert Schumann mit betrübtem Blick auf die Klaviersonate: «Das Publikum kauft schwer, der Verleger druckt schwer, und die Komponisten halten allerhand, vielleicht auch innere Gründe ab, dergleichen Altmodisches zu schreiben.»

Die Sachlage ist freilich (wie so oft) komplizierter, zumal für Beethoven dieser Weg des «Abschieds» ein längerer und keineswegs gerader war. Beispielsweise entstand das letzte Klavierkonzert (op. 73) schon 1810, das letzte Klaviertrio (op. 97) im darauffolgenden Jahr. Andererseits wurden die Diabelli-Variationen (op. 120) erst nach der Sonate op. 111 abgeschlossen, ebenso wie die mitunter recht experimentellen Bagatellen op. 126. Was also ist von Charakterisierungen zu halten, die die Sonate als «Testament» sehen, als «tiefsinnige Sphärenmusik», als «letzte Vergeistlichung, Auflösung im All» oder als ein «Präludium des Verstummens»? Konkret auf Beethoven oder auf eine zeitgenössische Quelle lassen sie sich nicht beziehen. Sie bieten jedoch die Möglichkeit, die eigene Empfindung der Musik in Worte zu fassen, mehr über die musikalische Sprache und den Ausdruck zu verraten, als es eine rein technisch-analytische Beschreibung vermag.

Tatsächlich beziehen sich die poetisch geformten Deutungen weniger auf den ersten Satz mit seinem wahrlich stürmischen, auch polyfon ausgearbeiteten Hauptgedanken. Vielmehr zielen sie auf den zweiten (und letzten) Satz – eine Arietta mit Variationen, in denen nicht bloss koloriert wird, sondern das Material vielfach in reinen Klang transzendiert.


Hören Sie rein!

Die ZHdK öffnet mit Schutzkonzept

Die ZHdK ist offen. Ein Schutzkonzept stellt sicher, dass Verhaltensregeln und Schutzmassnahmen in den ZHdK-Gebäuden eingehalten werden.

Foto: Adam Nieścioruk/Unsplash (s. unten)

Die ZHdK-Gebäude stehen der Öffentlichkeit wieder offen und zwar täglich, Montag bis Sonntag, von 7 bis 19 Uhr. Das gilt auch für das Museum für Gestaltung, den Pavillon Le Corbusier sowie die Bar und den Garten des Musikklubs Mehrspur und das Bistro Chez Toni. Das Medien- und Informationszentrum (MIZ) ist bis zum 11. September von Montag bis Freitag 10 bis 16 Uhr wieder zugänglich.

Die Hochschulleitung hat am 17. August beschlossen, das Herbstsemester im Präsenzunterricht durchzuführen. Seit 24. August gilt grundsätzlich eine Maskenpflicht in allen Lehrveranstaltungen, auch in jenen von Vor- und Weiterbildung. Ausserdem gilt ab sofort die Maskenpflicht überall dort, wo sie gekennzeichnet ist. Unter anderem gilt die Maskenpflicht auch im Medien- und Informationszentrum (MIZ). In den öffentlichen Bereichen der ZHdK-Gebäude gilt die Distanzregel, aber keine generelle Maskenpflicht.

Ab sofort werden die Kontaktdaten der Gäste bei jedem Besuch der Mensa Molki, des Chez Toni, des Kafi Z und des Café Momento erhoben. Entweder kann die Erhebung der Kontaktdaten durch die Campus Card erfolgen oder durch einen QR-Code. Zudem gilt die Maskenpflicht im Bereich der Selbstbedienung, vor den Ausgabestellen und an den Kassen. Weiterhin gelten die Empfehlungen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) und des Kantons Zürich. Die Richtlinien und Vorgaben der ZHdK können jederzeit ändern.
 

Paulines Birthday Party

Zum 200. Geburtstag von Pauline Viardot organisiert Aurea Marston ein halbszenisches «Concert in Action». Das Konzert findet, wenn die Finanzierung zustande kommt, im Mai 2021 statt.

Die Protagonistinnen der Party zu Ehren Viardots, die am 18. Juli 1821 zur Welt kam. Foto: zVg,SMPV

Die französische Opernsängerin und Komponistin Pauline Viardot (1821–1910) war eine der vielseitigsten Künstlerinnen des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit war es für Frauen kaum möglich, ihre Talente zu entfalten. Gleichwohl hat sie sich als Sängerin, Komponistin und Frau von Welt einen Namen gemacht. Als Sängerin war sie vergleichbar mit Stars wie Adele oder Netrebko, nur dass sie offenbar über einen weitaus grösseren Stimmumfang als diese verfügte. Die Treffen in ihrem Salon mit namhaften Zeitgenossen wie Franz Liszt oder Clara und Robert Schumann müssen legendär gewesen sein und zeugen nur ansatzweise davon, was für eine interessante Persönlichkeit sie gewesen sein muss. Als Frau von heute sucht man immer wieder vergebens nach weiblichen Vorbildern in der Vergangenheit. Anhand von Pauline Viardot wird man belohnt und in diesem Projekt soll ihr Vermächtnis als Komponistin voll zur Geltung und vor allem zu Gehör kommen!

Aurea Marston, Cornelia Lenzin, Simona Mango und Nicolaia Marston möchten im Mai 2021 Viardots 200. Geburtstag mit einem halbszenischen Konzert feiern. Dabei spielen ihre Lieder, Duette und Liedbearbeitungen die Hauptrolle. Ergänzt werden sie durch weitere Lieder und Duette von Komponisten aus ihrem Freundeskreis (z. B. Johannes Brahms, Franz Liszt oder Clara und Robert Schumann). Neben der Musik wollen die Interpretinnen auch Leben und Zeit der Komponistin mit viel Humor an die Frau und den Mann bringen. Das Programm erhält durch eine leichtfüssige Inszenierung einen erzählerischen roten Faden und eine humorvolle Note. Dadurch soll diese wunderbare Musik der Romantik einem breiten Publikum nahegebracht werden.

In Zeiten von Corona hat das klassische Fundraising die Interpretinnen auf dem Trockenen sitzen lassen, weswegen sie neue Wege zur Finanzierung des Projektes gesucht und ein Crowdfunding gestartet haben:
www.lokalhelden.ch/concerts
 

Schweizer Rokoko-Konzerte

Der Geburtstag von Franz Joseph Leonti Meyer von Schauensee jährt sich zum 300. Mal. Aus diesem Anlass sind seine vier Concerti für Cembalo oder Orgel und Orchester neu herausgegeben worden.

Schloss Schauensee in Kriens. Foto: Tilman-AB/wikimedia commons

In der Bibliothek des Klosters Engelberg liegt ein Stimmendruck aus dem Jahr 1764. Geschrieben hat die vier Concerti für Cembalo oder Orgel und Orchester der Luzerner Franz Joseph Leonti Meyer von Schauensee (1720–1789). Sein Leben, das im Jahr der Französischen Revolution endete, wurde geprägt durch seine patrizische Abstammung. Seine Eltern erbten das Schloss Schauensee ob Kriens und nannten sich fortan Meyer von Schauensee. (Auf den Umschlagbildern der Partituren prangt dieses Schloss, gemalt von Mara Meier.)

Die musikalische Familie liess Joseph ab dem Alter von fünf Jahren Gesangs- und Orgelunterricht geben, so dass der Frühreife schon bald seinen Lehrer an den Orgeln der Hofkirche St. Leodegar in Luzern vertreten konnte. In Klosterschulen in St. Gallen lernte er Violine und Cello spielen. Zurück in Luzern eignete er sich autodidaktisch die Grundlagen der Komposition an und schuf bereits 1738 Musik für das Schultheater der Jesuiten. 1740–41 befand sich der junge Mann in Mailand. Beeindruckt vom glanzvollen Musikleben und den Werken der neapolitanischen Schule (Feo, Leo, Pergolesi) erwarb er weitere Virtuosität auf der Violine und dem Cembalo, was ihn zu beliebten Cammer-Sonaten für das Clavecin veranlasste, die leider verschollen sind.

Nach seiner Rückkehr organisierte ihm sein Vater eine Offiziersstelle beim König von Sardinien-Piemont. Doch trotz der militärischen Pflichten fand er Zeit zum Komponieren. Das nasskalte Wetter in den Bergen und die Stürme auf dem Mittelmeer inspirierten ihn für künftige Werke. Seine späteren Luzerner Ämter als Grossrat und Aufseher der Reis-Waage liessen ihm genug Zeit für die Musik; er dirigierte und spielte Orgel in Engelberg, Muri, St. Gallen, Beromünster und wurde als Orgelexperte in Rheinau beigezogen. Ab dem Alter von 32 Jahren zog er sich von den weltlichen Ämtern zurück und konzentrierte sich auf geistliche und musikalische Aufgaben im Stift St. Leodegar. Er gründete 1760 das erste öffentliche Collegium musicum, rief 1775 mit der Helvetischen Concorde-Gesellschaft eine Vereinigung ins Leben, die die nationale Einheit der Alten Eidgenossenschaft propagierte. Seine Musik wurde zu seinen Lebzeiten sehr geschätzt – sogar Vater und Sohn Mozart haben seine Kirchenmusik aufgeführt – und seine Virtuosität und Fantasie wurden gerühmt. Mit den politischen und kulturellen Umwälzungen nach Meyers Tod versank seine Musik allerdings in der Vergessenheit.

Nun hat der Solothurner Organist Hans-Rudolf Binz die erwähnten vier Concerti zum 300. Geburtsjahr des Komponisten umsichtig neu herausgegeben. Jedes der dreisätzigen Werke hat einen besonderen Charakter. Das erste schliesst virtuos mit einem prestissimo ed alla breve, im zweiten wird martellato und sospirando verlangt, das dritte ist ein Weihnachtskonzert mit piverone-(Dudelsack)-Pedaltönen und Allegretto ed amoroso-Wiegenmusik, im vierten Il Molino ahmen rasche Apeggien das Klappern einer Mühle nach. Die Concerti II und III fordern nebst den Streichern zwei Hörner ad lib. Für die im I. und IV. vom Komponisten verlangten Kadenzen hat der Herausgeber gedruckte Lösungen beigefügt.

Einleitung und Revisionsbericht in Deutsch, Französisch und Englisch geben ausführlich Auskunft über Person und Zeitgeschichte (die hier angeführten biografischen Angaben fussen darauf), Aufführungs- und Editionspraxis. Die Werke wurden schon 1949 im Radio Bern durch Eugen Huber aufgenommen, der dafür auch fehlende Teile sorgfältig ergänzte (schade, dass diese Ergänzungen in der Neuedition fehlen!), und 1975 mit Philippe Laubscher und François Pantillon auf Schallplatte. Das schöne neue Material regt zu Wiederaufführungen an!

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Franz Joseph Leonti Meyer von Schauensee: Quattro Concerti armonici d‘Organo o di Cembalo op. 8, parte 1ma.
Concerto I in C-Dur, M&S 2367
Concderto II in D-Dur, M&S 2368

Concerto III in G-Dur, M&S 2369
Concerto IV in A-Dur «il molino», M&S 2370
Partitur I, II, IV/III: Fr. 38.00/22.00, Klavierauszug Fr. 28.00/18.00, Stimmen je Fr. 8.00/5.00;
Müller & Schade, Bern

Kurzer, aber reicher musikalischer Parcours

Die Klaviersonatine von Albert Moeschinger, komponiert 1944 in Saas Fee, bietet grosse Abwechslung bei knappem Umfang.

Albert Moeschinger als 16-Jähriger. Foto: Albert-Moeschinger-Stiftung

Der Name Albert Moeschinger taucht auch in der Schweiz nur mehr vereinzelt in den Konzertprogrammen auf, und der jungen Musikergeneration scheint er fast unbekannt zu sein. Geboren wurde er 1897 in Basel, wo er auch zur Schule ging und anschliessend – ganz nach dem Willen seines Vaters – eine Banklehre begann. Bald aber brach er diese ab und widmete sich Musikstudien in Bern, Leipzig und München. Seinen Lebensunterhalt bestritt er zunächst als Kaffeehausmusiker, später dann als Lehrer am Konservatorium Bern.

Als Komponist setzte sich Moeschinger mit den vielfältigsten Stilrichtungen auseinander und schuf ein Werk von über 100 Opuszahlen in fast allen Gattungen. Prominente Solisten wie Walter Gieseking spielten seine Klavierkonzerte, während Hermann Scherchen, Paul Sacher und andere Dirigenten sich für seine Orchesterwerke stark machten.

Aus gesundheitlichen Gründen gab Moeschinger sein Lehramt in Bern schon 1943 auf und lebte danach als freischaffender Künstler in Saas Fee, Ascona und Thun, wo er 1985 starb.

Weshalb wird seine Musik heutzutage so wenig aufgeführt? An ihrer Qualität kann es nicht liegen. Insbesondere seine Klavierkonzerte und Werke für Klavier solo verraten einen überaus gekonnten Umgang mit den Möglichkeiten des Instruments. Und so kann man nur dankbar sein, dass der Verlag Müller & Schade die Sonatine op. 66 neu herausgebracht hat. Ein abwechslungsreiches dreisätziges Werk auf insgesamt 13 Seiten, das nicht nur wegen des knappen Umfangs an Ravels Sonatine pour piano erinnert. Auch bei Ravel meint der Titel ja nicht ein Schülerstück, sondern eben ein bewusstes, ökonomisches Reduzieren der zeitlichen Dimension.

Die pianistischen Ansprüche sind nicht übermässig gross, und der Klaviersatz liegt im Grossen und Ganzen sehr gut. Einige Passagen verlangen ein geschicktes Kreuzen der Hände (was ja auch bei Ravels Werk manchmal etwas unangenehm ist …). Trotz der bewussten Reduzierung der kompositorischen Mittel sind die drei Sätze ganz unterschiedlich in Charakter und Klang, sodass einem der Eindruck eines reichen musikalischen Parcours in Erinnerung bleibt.

Hoffentlich wird der Verlag Müller &Schade in Zukunft noch weitere solche Trouvaillen von Moeschinger veröffentlichen. (Bislang sind für Klavier greifbar: Kleine Klavierstücke M&S 1999, Danses américaines M&S 2095, Fête de capricorne, M&S 2107.) Und dann vielleicht auch mit etwas Begleittext und weiteren Informationen zu diesem spannenden Musiker.

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Albert Moeschinger: Sonatine für Klavier op. 66, M&S 2144, Fr. 12.00, Müller & Schade, Bern

So traditionsgebunden wie individuell

In seinen Streichquartetten Nr. 1 und 2 korrigiert und konterkariert Camille Saint-Saëns die Nähe zu klassischen Vorbildern immer sogleich durch Unerwartetes.

Camille Saint-Saëns, vermutlich bei der Ankunft für seine USA-Tournee 1915. Foto: George Grantham Bain collection at the Library of Congress

Ausserhalb des französischen Kulturkreises führen die beiden Streichquartette op. 112 (1899) und op. 153 (1918) von Camille Saint-Saëns ein randständiges Dasein. Zu dominant sind die Werke anderer Franzosen, allen voran die epochalen Meilensteine der Gattung von Claude Debussy (op. 10, 1893) und Maurice Ravel (F-Dur, 1904). Aber auch die Beiträge von Darius Milhaud, Gabriel Fauré und César Franck sind nicht ganz vergessen gegangen.

Saint-Saëns ist ein Phänomen der Musikgeschichte. Ähnlich wie Max Bruch verliess er nie den Weg der Tonalität, klingt manches Werk aus der Zeit gefallen. Während aber beispielsweise Bruchs Quintett a-Moll und Oktett B-Dur von 1918/19 auch 60 Jahre früher hätten geschrieben werden können, weisen die beiden Streichquartette e-Moll (1899) und G-Dur (1918) des Franzosen deutlich Züge ihrer Entstehungszeit auf. Saint-Saëns stand Gustav Mahler und anderen an die Spätromantik anknüpfenden Modernisten durchaus aufgeschlossen gegenüber, während er diejenigen, die die bekannten Gesetze und Formen über den Haufen warfen, wie Igor Strawinsky, Debussy und die Gruppe Les Six, als «Irre» bezeichnete.

Seine Musik ist rein technisch immer makellos, von grosser Raffinesse und Einfallsreichtum sowie einnehmender Melodik geprägt. Dabei ist sie der Tradition immer eng verbunden und in den über Jahrhunderte gewachsenen formalen Prinzipien verankert. Gleichzeitig ist sie aber voller Überraschungen, brillanter Einfälle und Effekte, die so anderswo nicht zu finden sind. Sie zeichnet also den Individualisten Saint-Säens aus, der sich vielfach zu Unrecht als rückständig hat beschimpfen lassen müssen, nur weil er die Umbrüche des 20. Jahrhunderts nicht hat nachvollziehen wollen. Denn in seiner eigenen, ihm einzig zur Verfügung stehenden Stilistik bewegte er sich ständig mutierend fort, selbst wenn er zuweilen den Weg zurück wählte. Auch in einer angestammten Sprache, die ihre Wurzeln kenntlich macht, kann man innovativ sein. Es darf nicht vergessen werden, dass der Komponist bis zuletzt ein feuriger Pianist und Musikant war.

Die beiden Quartette sind sehr unterschiedlich. Schon durch seine Länge von 30 Minuten überragt das 1. Streichquartett sein fast eine Generation später entstandenes Pendant von haydnscher Kürze. Im Ankündigungstext des Bärenreiter-Verlages heisst es, Form und Stil der Quartette bezögen sich (u. a.) auf die Ästhetik dieses grossen Vaters der Gattung. Das ist im 2. Quartett durchaus manchmal geradezu schockierend zutreffend, greift aber als Verkaufsargument oder Stigma – je nachdem, wie man darauf blickt – viel zu kurz. Denn der Komponist korrigiert und konterkariert diese Nähe immer sogleich durch Unerwartetes, beispielsweise grandios komplexe Fugentechnik. Im traditionelleren Spätwerk ist der tief empfundene, langsame Satz besonders einnehmend, der durchaus als Anklang an die Verwüstung und Trauer der Zeit verstanden werden kann. Das 1. Quartett, von den grossen Stars der Streicherszene im französischsprachigen Raum sofort nach Erscheinen viel gespielt (z. B. von Eugène Ysaÿe und Pablo Sarasate), ist nichts weniger als ein Meisterwerk ohne Einschränkung. Mit reicher Harmonik, Kontrapunktik, Effektpassagen, rhythmisch packend wie das Scherzo, streicherisch dankbar und voll leidenschaftlicher Melodik verdient es einen vollgültigen Platz neben den Werken der bekannten Spätromantiker.

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Camille Saint-Saëns: Streichquartett Nr. 1 e-Moll op. 112, Stimmen, BA 10927, € 32.95; Streichquartett Nr. 2 G-Dur op. 153, Stimmen, BA 10928, € 34.95; Nr. 1 + 2, Studienpartitur, TP 779, € 29.95; Bärenreiter, Kassel

Plädoyer für Offenheit

Werner Grünzweig hat sechs Komponisten und eine Komponistin über ihre Studienzeit befragt. Eine Spurensuche über verschiedene Wege zur Musik

Foto: Philipp Berndt / Unsplash

Man könnte es trocken «Beiträge zur Biografie-Forschung» nennen. Doch Werner Grünzweigs «Gespräche mit sechs Komponisten und einer Komponistin über ihre Studienzeit» bietet weit mehr als subjektive Rückblicke mittlerweile erfolgreicher Komponisten. Wer aufmerksam die Interviews liest mit Peter Ablinger, Orm Finnendahl, Georg Friedrich Haas, Hanspeter Kyburz, Bernhard Lang, Isabel Mundry und Enno Poppe, der erhält tiefe, zugleich lebendige und facettenreiche Einblicke, die einiges sagen über ästhetische Erziehung, über Psychologie und nicht zuletzt auch über ein bestimmtes Milieu namens Neue Musik.

Ein steter Bezugspunkt ist der österreichische Komponist und Kompositionsprofessor Gösta Neuwirth. Er war von etwa 1980 bis 1990 Lehrer aller sieben Porträtierten, teils in Graz, später in Berlin. Neuwirth war ein liberaler Förderer, dem Kompositionstechnik viel, aber nicht alles bedeutete. Mit seinen Studenten sprach er über Filme, über Literatur und Malerei. Den in der Schweiz aufgewachsenen Hanspeter Kyburz inspirierte seine Grazer Studienzeit gerade wegen der Vielfalt: «Göstas Unterricht war sehr anregend, sehr offen, fremde Welten. Aber was macht man dann mit diesen Aliens, die man gesehen hat?»

In der Tat eine zentrale Frage. Wer sich die Entwicklung der sieben so unterschiedlichen Komponisten vergegenwärtigt, kommt erst mal zum Schluss, dass jeder seine eigene ästhetische Welt baute. Kyburz ging in eine fast naturwissenschaftlich-objektive Richtung, Peter Ablinger verfolgte eine konzeptuell-grenzüberschreitende Ästhetik, während sich Georg Friedrich Haas erfolgreich der mikrotonalen Klangerkundung zuwandte. Dass er keine Schule im Sinne Arnold Schönbergs ausbildete, spricht eindeutig für Neuwirth. Es gibt ungleich rigidere Kompositionsprofessoren mit ungleich engerem Musikbegriff.

Neuwirth ist zwar das verbindende Glied, doch Grünzweig geht es nicht primär um den Kompositionsunterricht. In den – bereits in den Jahren 2007 und 2008 geführten – Interviews stellt er seine Fragen offen, vom Gesprächsfluss geleitet, jeweils zugeschnitten auf den jeweiligen Komponisten. Diese Methodik führt zu einer mitreissenden Themenvielfalt, auch zu einem sehr persönlichen Ton. Selbst Fachleute für den ein oder anderen Komponisten werden Neuigkeiten erfahren, auch zwischen den Zeilen einiges herauslesen können (gerade dort, wo Namen nicht genannt werden). Fast melancholisch wird man bei diesen Rückblicken in die 1980er-Jahre. Damals gab es offenbar noch weit mehr Freiheiten als heutzutage, wo auch das Kompositionsstudium sukzessive verschult wird. Im Grunde ist das Buch ein Plädoyer für liberale Offenheit – eine Offenheit, die selbstbestimmte und selbstbewusste Wege erst ermöglicht.

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Werner Grünzweig: Wie entsteht dabei Musik? Gespräche mit sechs Komponisten und einer Komponistin über ihre Studienzeit, 200 S., € 19.80, von Bockel-Verlag, Neumünster 2019, ISBN 978-3-95675-026-7

Entspannungs-Pausen vorgeschrieben

Acht äusserst unterschiedliche Stücke, die den beiden Beteiligten Freiheiten geben, aber auch viel Können voraussetzen.

Rudolf Kelterborn 2013. Foto: Kaspar Ruoff

Die acht Miniaturen für zwei Violinen von Rudolf Kelterborn haben eine gesamten Aufführungsdauer von sieben Minuten – dazu kommen die vom Komponisten empfohlenen «deutlichen Entspannungs-Pausen». Die Acht Einfälle, wie er sie nennt, können in beliebiger Reihenfolge aufgeführt werden, weshalb die Partituren auf Einzelblätter gedruckt sind. Die anspruchsvollen komplementär-rhythmischen Bildungen verlangen grosse Geistesgegenwart. Die technischen Anforderungen sind vielfältig und sehr anregend. Wenn Einfälle ausgesprochen werden, gibt es Denkpausen; entsprechend sind oft Fermaten auf Pausen oder Geräuschen (z. T. sogar die Dauer in Sekunden!) vorgeschrieben. Aufregung, gesangliche Geruhsamkeit, exakte Geschäftigkeit und homofoner Tanz wechseln sich ab.

Der 1931 geborene Rudolf Kelterborn – «Komponist, Musikdenker, Vermittler», wie ihn Andreas Briner im Titel seines 1993 erschienenen Buches nennt – hat diese Duos Bettina Boller und Malwina Sosnowski gewidmet.

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Rudolf Kelterborn: Acht Einfälle für zwei Violinen (2018), BA 11408, € 28.50, Bärenreiter, Kassel

Menoud-Baldi Präsidentin des SBV

Mit Luana Menoud-Baldi wurde zum ersten Mal in der Geschichte des Schweizer Blasmusikverbandes, des grössten Laienmusikverbandes der Schweiz, eine Frau an die Verbandsspitze gewählt.

Neue SBV-Verbandsspitze (Bild: zVg)

Nach 13 Jahren im Amt ist Valentin Bischof als Präsident des SBV zurückgetreten. An der Delegiertenversammlung des Verbandes setzte sich Luana-Menoud Baldi, seit 2021 Mitglied der Verbandsleitung, mit einer klaren Mehrheit gegen den Berufsmusiker Armin Bachmann als Nachfolgerin durch. Menoud-Baldi, gebürtige Tessinerin und nun im Kanton Freiburg wohnhaft, ist die erste Frau auf diesem Posten.

Die  Delegierten des SBV trafen sich im Kultur- und Kongresshaus Aarau zur jährlichen Sitzung, die eigentlich im März hätte stattfinden sollen, aber aufgrund der Corona-Pandemie verschoben werden musste. Als grösster Laienmusikverband der Schweiz zählt der Verband 30 Mitglieds-Verbände mit fast 70’000 Musikerinnen und Musikern.

Ein «neues» Concertino von Bach

Aus zwei instrumentalen Kantaten-Einleitungen hat Klaus Hofmann ein überzeugendes Stück für Altblockflöte, Oboe, Viola da braccio, Viola da gamba und B.c.,geschaffen.

Unter Verwendung des Bach-Porträts von Elias Gottlob Haussmann. Quelle: wikimedia commons

Johann Sebastian Bach hat einigen seiner Kantaten statt eines Eingangschors eine Sinfonia als instrumentale Einleitung vorangestellt. Immer sind dies kammermusikalische Preziosen mit oft aussergewöhnlicher Besetzung.

Das vorliegende Concertino a 5 vereint nun die Sinfonien der Kantaten BWV 18 und 152 (Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und Tritt auf die Glaubensbahn) zu einem dreisätzigen Instrumentalwerk. Um die Kombination der Stücke zu ermöglichen, mussten die Besetzungen aufeinander abgestimmt werden. Diejenige der Kantateneinleitung von BWV 152 mit Altblockflöte, Oboe, Viola (im Original Viola d’amore), Viola da gamba und Basso continuo wurde unverändert übernommen. Die ursprüngliche Besetzung der Sinfonia von BWV 18 war im Original mit vier Bratschen und Continuo recht ungewöhnlich; bei der Wiederaufnahme wurde sie gar um zwei partiell colla parte oktavierende Blockflöten verstärkt. An diesem Stück wurden nun grössere Eingriffe vorgenommen: die beiden ursprünglichen Bratschenoberstimmen an Blockflöte und Oboe mit teils veränderten Oktavlagen oder vertauschten Stimmen übertragen und Bratsche und Gambe am Motivgeschehen beteiligt. Kleinere satztechnische Retuschen bei beiden Streichinstrumenten ergänzen die Aufbereitung für diese neue und reizvolle Besetzung.

Die umgestaltete Sinfonia bildet nun den ersten Satz des vorliegenden Concertinos, in welchem im Charakter einer Chaconne fallender Regen und Schnee musikalisch dargestellt werden. Das nur viertaktige, mit fein ziselierten Oberstimmen versehene Adagio aus BWV 152 im Mittelsatz führt abschliessend zu einer der wenigen Instrumentalfugen in Bachs Kantatenwerk.

Es stellt sich die Frage, ob es denn legitim sei, solch grosse Eingriffe in ein Werk vorzunehmen. Drei Gründe sprechen dafür: Bach selber ist mit seinen Kompositionen ähnlich frei umgegangen und hat Besetzungen verändert, wie überhaupt zu jener Zeit ein freier Umgang mit der Instrumentation Usus war. Zweitens sind alle Änderungen plausibel erklärt und sorgfältig dokumentiert. Und drittens werden damit zwei eigenständige Sinfonien zu einem neuen Werk kombiniert, das klanglich und kompositorisch eine absolute Bereicherung der kammermusikalischen Literatur darstellt.

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Johann Sebastian Bach: Concertino a 5 nach Instrumentalsätzen aus Weimarer Kirchenkantaten, für Altblockflöte, Oboe, Viola da braccio, Viola da gamba und B.c., bearb. von Klaus Hofmann, EW 1085, € 21.80, Edition Walhall, Magdeburg

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