Mit geeinter Stimme schreien

Vielleicht ist es nur eine Verkettung von Umständen, vielleicht ist das Mass voll, auf jeden Fall haben sich Musikerinnen und Musiker aus der Romandie zu Wort gemeldet, um ihre Besorgnis und die zunehmenden Schwierigkeiten beim Ausüben ihres Berufes auszudrücken.

Muss ich die Musik aufgeben? Zeichnung von Meimuna

Anfang Mai hat die Cellistin Sara Oswald in den sozialen Netzwerken einen offenen Brief veröffentlicht, in dem viele Künstler und Künstlerinnen ihre eigene Situation wiedererkannt haben. Sie spricht von einer «… Erschöpfung davon, immer einen mageren Lohn zu haben, während die Lebenshaltungskosten steigen. Eine Erschöpfung, mich immer um eine Prämienverbilligung bei der Krankenkasse bemühen zu müssen, weil ich ohne sie wirklich einpacken kann. Eine Erschöpfung, tonnenweise Dossiers zu erstellen, um meine Projekte zu verwirklichen.»

Sie erinnert daran, dass eine Berufsausbildung Musikerinnen und Musiker nicht vor prekären Verhältnissen schützt: «Ich habe an der HEMU Lausanne studiert und an der HEM in Genf einen Master in Barockcello gemacht. Seit 23 Jahren bin ich Berufsmusikerin. Es gibt Monate, in denen ich 400 Franken verdiene, weil ich in 30 Tagen nur ein Konzert spielen kann. Ja, ich könnte unterrichten, ich könnte in einem Orchester spielen. Das entspricht mir aber überhaupt nicht. Ich schreibe gern Musik, komponiere für Projekte, gebe Konzerte. Dafür habe ich diesen Beruf gelernt. Es braucht Zeit, Musik zu kreieren, am Instrument zu üben, Konzerte zu bewerben, administrative Arbeiten zu verrichten (mehr als die Hälfte meiner Zeit). Wer hat nach einem Unterrichtstag noch die Energie, sich in seinen Übungsraum zu setzen und die Inspiration zu einer originellen Komposition zu finden? Denn tatsächlich, über den Musikerberuf hinaus muss man auch lernen, sich zu verkaufen. Ich kann von mir sagen, dass meine Arbeit mehr als 100 Prozent meiner Zeit ausmacht. Um es klar zu sagen: Ich mache nur das: arbeiten. Und das gratis.»

Die Walliser Sängerin Meimuna hat ihre Unzufriedenheit zeichnerisch ausgedrückt: eine Reihe von 14 Abbildungen, die auch auf den sozialen Medien zu sehen sind. Sie spiegeln die gleiche Besorgnis und sprechen eine existenzielle Frage an: «Muss ich die Musik aufgeben?»

Tiefschläger Paléo

Am 2. Mai wird das Thema im Programm von Radio RTS von einer dritten Künstlerin aufgegriffen, von der Sängerin Moictani, die dieses Jahr am Paléo-Festival auftreten wird. Man vernimmt, dass auch sie sich mit Gagen von 200 bis 300 Franken pro Konzert zufriedengeben muss und dass das grösste Schweizer Festival in keiner Weiser grosszügiger ist. Das gesamte Budget fliesst in die schwindelerregenden Honorare der Stars. Man träumt von einem Paléo, das zwei Berühmtheiten weniger einlüde und dafür die weniger bekannten Künstlerinnen und Künstler korrekt bezahlte. Es würde seine 200 000 Tickets dann vielleicht in 30 Minuten verkaufen, statt nur in 13.

Insgesamt träumt man von einer Gesellschaft, die sich der unverzichtbaren Rolle der Kultur bewusst wäre, der Notwendigkeit auch, unsere eigene Kultur zu vertreten, statt kulturelles Leben an einzelne Stars von jenseits des Atlantiks zu delegieren. Dazu braucht es Unterstützung von staatlicher Seite, die nicht jedes Mal hinterfragt wird, wenn Geld gebraucht wird, um eine Bank zu retten oder Zölle zu kompensieren.

Die Honorarempfehlungen, die kürzlich von Sonart erarbeitet wurden, sind ein sehr guter Schritt in diese Richtung. Da ihr offener Brief zahlreiche Reaktionen ausgelöst hat, führt Sara Oswald nun eine Online-Umfrage durch, aus der schliesslich ein Manifest hervorgehen soll. Es wird sehr wahrscheinlich in der Westschweizer Tageszeitung Le Temps erscheinen. Um eine Besserung zu erzielen, da sind sich Musiker und Musikerinnen der Schweiz einig, müssen sie gemeinsam vorgehen und den Mund aufmachen – noch eher: schreien – mit einer geeinten Stimme. Die Schweizer Musikzeitung ist genau dafür da.

Sara Oswald. Foto: Holger Jacob

Offener Brief von Sara Oswald: Unsichtbar

«Es begann vor einigen Jahren. Ein Anflug von Müdigkeit. Eine aufkommende Gereiztheit, noch immer erklären zu müssen, dass ich gern bezahlt werden möchte, wenn ich auf dem Album von dieser oder jenem mitspiele oder wenn ich ein Konzert gebe. Eine zunehmende Bestürzung angesichts der so realitätsfremden Vorstellungen, die man sich vom Künstlerleben macht. Ich höre immer noch die Leier: Es ist schön, seine Leidenschaft ausleben zu können.

Die Jahre vergehen und zu alledem gesellt sich eine Erschöpfung, verbunden mit den Tausenden von Kilometern, zurückgelegt, um irgendwo im französischen Niemandsland für 300 Euro aufzutreten, ohne Reisevergütung. Ich frage mich, wie sinnvoll es ist, anderswo spielen zu gehen, und die Lust auf etwas Ungewohntes ist immer stärker als der Realitätssinn. Eine Erschöpfung davon, immer einen mageren Lohn zu haben, während die Lebenshaltungskosten steigen. Eine Erschöpfung, mich immer um eine Prämienverbilligung bei der Krankenkasse bemühen zu müssen, weil ich ohne sie wirklich einpacken kann. Eine Erschöpfung, tonnenweise Dossiers zu erstellen, um meine Projekte zu verwirklichen.

Und wenn ich schon von Projekten spreche: In jüngster Zeit, mit 47 Jahren, erfüllt mich eine unverhohlene Wut über die Ablehnung einer Unterstützung, die eine sehr persönliche Aufführung, Frucht meiner Arbeit der letzten vier Jahre, in Gefahr bringt, weil «wir nur ein Drittel der eingereichten Gesuche berücksichtigen können». Ich bin mir im Klaren, dass nicht unendlich viel Geld für die Kultur zur Verfügung steht. Im Gespräch mit befreundeten Musikerinnen und Musikern bekomme ich zu hören, dass einige ihre gesamten, kärglichen Ersparnisse für die Produktion und Fabrikation eines Albums auf den Tisch legen. (Unnötig zu sagen, dass wir keinen Rappen von Spotify und Konsorten bekommen.) Andere verschwenden eine kleine Erbschaft, «um Projekte nicht ganz aufzugeben», wieder andere hören tatsächlich angewidert auf und noch andere haben ein Burn-out. Alle leiden. Mehr und mehr. In der Stille. Unsichtbar.

Ich habe an der HEMU Lausanne studiert und an der HEM in Genf einen Master in Barockcello gemacht. Seit 23 Jahren bin ich Berufsmusikerin. Es gibt Monate, in denen ich 400 Franken verdiene, weil ich in 30 Tagen nur ein Konzert spielen kann. Ja, ich könnte unterrichten, ich könnte in einem Orchester spielen. Das entspricht mir aber überhaupt nicht. Ich schreibe gern Musik, komponiere für Projekte, gebe Konzerte. Dafür habe ich diesen Beruf gelernt.

Es braucht Zeit, Musik zu kreieren, am Instrument zu üben, Konzerte zu bewerben, administrative Arbeiten zu verrichten (mehr als die Hälfte meiner Zeit). Wer hat nach einem Unterrichtstag noch die Energie, sich in seinen Übungsraum zu setzen und die Inspiration zu einer originellen Komposition zu finden? Denn tatsächlich, über den Musikerberuf hinaus muss man auch lernen, sich zu verkaufen. Ich kann von mir sagen, dass meine Arbeit mehr als 100 Prozent meiner Zeit ausmacht. Um es klar zu sagen: Ich mache nur das: arbeiten. Und das gratis.

Es versteht sich von selbst, dass Proben auch nicht bezahlt sind. Wie die Arbeit am Instrument, das Komponieren, das Zusammenstellen eines Konzertprogramms, die Stunden am Computer, um ein Budget zusammenzustellen oder eine Projektpräsentation. Nur das Konzert ist bezahlt. Und die Reisespesen, oft, wenn man darum kämpft. Wie die hervorragende Studie von Marc Audétat und Marc Perrenoud nachweist, die am 25. April von Stéphanie Arboit in Le Temps publiziert wurde, liegt die Gage für Jazz und Neue Musik im Mittel bei 300 Franken. Sogar wenn man jedes Wochenende auftritt, was (wie ich glaube) kaum ein Schweizer Künstler kann, ist es extrem schwierig, davon zu leben … Die schönen Zeichnungen von Maimuna (auf Instagram, 25. April) zeigen das in aller Deutlichkeit.

Ist es nicht traurig und schockierend, dass wir uns sagen müssen: Wir machen eine Berufsausbildung, besuchen eine Hochschule, lernen autodidaktisch oder über andere Bildungswege, wir verbringen unser Leben damit, Musik zu machen und können nicht davon leben. Was ich ebenfalls misslich finde in unserem Beruf, ist die unlautere Konkurrenz. Da wir uns in einer derart misslichen Situation befinden, erweist man dem Berufsstand meiner Meinung nach keinen Dienst, wenn man bereit ist, für weniger als 300 Franken irgendwo zu spielen. Das erweckt den Eindruck, als seien unsere Leistungen wertlos. Daher die Frage: Was ist ein Berufsmusiker, eine Berufsmusikerin? Jemand, der oder die von seiner Kunst lebt, an einer Schule studiert hat, keine anderen Einkünfte hat als die Musik?

In den vergangenen Tagen habe ich mit vielen Musikerinnen und Musikern gesprochen. Und überall fühle ich diese Erschöpfung, diese gesunde Wut, diese Niedergeschlagenheit. Ich finde, wir müssen etwas tun.

Welche Schlüsse werden aus der erwähnten Studie gezogen? Wie werden wir sichtbar? Was sollen wir unternehmen, damit wir gehört werden? Wie schliessen wir uns zusammen? Und vor allem: Was schlagen wir vor, damit sich etwas ändert?

Heute Morgen bin ich meiner/unserer Unsichtbarkeit müde.»

 

Zeichnungen von Meimuna: Muss ich die Musik aufgeben?

Tarantella mit veränderter Solostimme

Die von Henri Vieuxtemps umgearbeitete Violinstimme ist nun mit Klavier- wie auch mit Orchesterbegleitung erhältlich.

Henri Vieuxtemps 1846. Lithografie von C.P. Mazin / Source gallica.bnf.fr / BnF

Der belgische Violinvirtuose und Komponist Henri Vieuxtemps arbeitete sechs Jahre am Hof des Zaren Nikolaus I. in Petersburg. Zu Beginn dieses Engagemets 1846 komponierte er die Morceaux de Salon op. 22 für Violine und Klavier, darin Nr. 5 Tarentelle, und gab sie in Druck. Da er sie auch für die grosse Bühne als tauglich befand, schuf er eine Orchesterfassung, die 1854 gedruckt wurde. Dafür veränderte Vieuxtemps die Violinstimme von 1846 erheblich, Veränderungen, die man bisher nur in der Partitur fand.

Jetzt sind Neuausgaben (5a) greifbar, einerseits der Version für Violine und Klavier mit der Soloviolinstimme der orchestrierten Fassung, andererseits der Partitur. Das Orchestermaterial ist leihbar – die perfekte Voraussetzung, die Tarantella in grösserem Rahmen aufzuführen! Das Vorwort ist spannend und der kritische Bericht hilft bei vielen Detailfragen. Die Fingersätze in der Partitur und im Klavierauszug stammen von Vieuxtemps, diejenigen in der Violinstimme vom Herausgeber.

 Henri Vieuxtemps: Tarantella für Violine und Orchester op. 22 Nr. 5a, Erstdruck hg. von Olaf Adler; Partitur, OCT-10371, Fr. 40.60; Klavierfassung, OCT-10371a, Fr. 29.50; Edition Kunzelmann, Adliswil

 

Erstmals eingespielte Streichquartette

Das Colla-Parte-Quartett hat Richard Flurys Beiträge zur Gattung Nr. 2 und 3 aufgenommen.

Colla-Parte-Quartett (v.l.): Friedemann Jähnig, Eva Simmen, Susanna Holliger und Georg Jacobi. Foto: zVg

In seinen 1950 herausgegebenen Lebenserinnerungen schreibt der Komponist Richard Flury (1896–1967): «Die Möglichkeit neuer und eigener musikalischer Gedanken mit romantischen Mitteln halte ich noch lange nicht für erschöpft und ich suche die Originalität weniger in der Erfindung neuer, technischer Ausdrucksmittel um jeden Preis als in der Vitalität eines starken Erlebens. Das Schöpferische in der Kunst gleicht einem organischen Wachstum, an welchem das Temperament und die intuitiven Kräfte der Seele mehr beteiligt sind als der Intellekt, von dessen Seite die Gefahr droht, dass er die natürliche Entwicklung der Kunst unheilvoll beeinflusst.»

Auf einer CD des englischen Labels Toccata Classics sind Flurys Streichquartette Nr. 2 (1929) und Nr. 3 (1938), die bisher noch nie eingespielt wurden, in hervorragenden Interpretationen des Berner Colla-Parte-Quartetts erschienen. Sie sind gute Beispiele für Flurys Ästhetik, die von seinen Lehrern Hans Huber, Ernst Kurth, Joseph Lauber und Joseph Marx geprägt wurde. Die «unerträgliche Häufung gesuchter und auch ungewollter zufälliger Dissonanzen» in manchen Werken, die er in seinen Erinnerungen kritisiert, sucht man vergebens, die Tonalität wird gewahrt, ebenso die klassische Viersätzigkeit. Dass Flury, in Solothurn als Lehrer an der Kantonsschule und Dirigent des Stadtorchesters eine zentrale Figur des Musiklebens, als ausgebildeter Geiger und Bratschist die Streichinstrumente ausgezeichnet kannte, ist offenkundig. Das 1997 gegründete Colla-Parte-Quartett mit Georg Jacobi, Susanna Holliger, Friedemann Jähnig und Eva Simmen spielt die Werke engagiert, nuanciert und farbenreich und lässt sie optimal zur Geltung kommen.

Richard Flury: Chamber Music, Volume Two: String Quartet No. 2 and No. 3. Colla Parte Quartet. Toccata Classics TOCC 0717

Frobergers charmante Tastenkunst

Der niederländische Spezialist für Tastenmusik Pieter Dirksen hat Frobergers Suiten für Cembalo neu herausgegeben.

Detail eines Cembalos von Jean Denis II, 1648. Foto: Maniac Parisien / Wikimedia commons

Mit Ausnahme zweier Motetten und eines Ensemblestücks besteht Johann Jacob Frobergers (1616–1666) Œuvre aus Kompositionen für Clavierinstrumente. «Was Chopin für die Klavierliteratur des 19. Jahrhunderts wurde, war Froberger für die Claviermusik des 17. Jahrhunderts: Beide stellten das subjektive Empfinden von Spieler und Hörer in den Brennpunkt ihres Schaffens und beiden gelang es, ihre Instrumente bis an die Grenzen von Klang und Ausdruck heranzuführen» (Siegbert Rampe).

Nun hat Pieter Dirksen, der niederländische Spezialist für die Tastenmusik des 17. Jahrhunderts, Frobergers Suiten erneut herausgegeben und damit allen Spielerinnen und Spielern von Tasteninstrumenten Einblicke in die Suitenmusik vor Bach und Händel gewährt. Hier lässt sich Expressivität und jene Klanggestaltung lernen, die dem «Style brisé» aus der französischen Musik für Laute entstammt. Diese Besonderheit bedingt eine minutiös notierte Auflösung der Akkorde, welche nicht leicht zu lesen ist. Darum wäre ein weniger gedrängtes Layout wünschenswert gewesen, und auch die Verteilung des Notentexts auf die beiden Clavier-Systeme hätte spielfreundlicher ausfallen dürfen. Mag man sich auch über einige editorische Entscheidungen wundern, so schliesst der Henle-Verlag dennoch eine Lücke in einem Repertoire, welches auch mit Gewinn in der Klavierpädagogik eingesetzt werden kann.

Johann Jacob Froberger: Suiten für Cembalo, hg. von Pieter Dirksen, HN 1091, € 31.00, G. Henle, München

Emotionsgeladenes Geigenkonzert

Antja Weithaas und die Camerata Bern haben das zweite Violinkonzert von Pēteris Vasks eingespielt.

Antje Weithaas. Foto: Marco Borggreve

In seiner Musik sucht Pēteris Vasks nach den letzten Dingen. Der lettische Komponist will «der Seele Nahrung geben» und betont die Wichtigkeit von Emotionen für seine tonale musikalische Sprache. Auch sein 2020 komponiertes zweites Violinkonzert Vakara gaismā (Im Abendlicht) entfaltet viel Gefühl und hat einen grossen Atem. Ein melancholischer Grundton liegt über dem meist in Moll geschriebenen, fünfsätzigen Werk, das aber auch kämpferische Passagen enthält und sich am Ende im hellen Licht sphärisch auflöst. Ein letzter Sonnenstrahl vor der eintretenden Nacht, die der spirituelle Komponist mit dem Tod assoziiert.

Antje Weithaas und die Camerata Bern widmen sich diesem tief in der Romantik verorteten, in manchen Passagen auch schwülstigen Werk mit hoher Intensität und nie nachlassender Gestaltungskraft. Die grossen Ab- und Aufschwünge, von denen das eröffnende Andante con passione durchzogen ist, haben Spannung und Richtung. Weithaas‘ Violinklang schält sich fast unmerklich aus dem Tutti. Erst in der von Doppelgriffen geprägten Cadenza I tritt die Solovioline ganz in den Vordergrund. Die langjährige künstlerische Leiterin der Camerata Bern hält die Dringlichkeit hoch. Und kann bei der emotionalen und rhythmischen Zuspitzung im Andante cantabile, das mit seinen manischen Wiederholungen und dem forcierten Streicherklang an die Musik Schostakowitschs erinnert, noch zulegen. Die Glissando-Abstürze in der Cadenza II erschüttern, die Cluster im Tutti erzählen von Erregung und Widerständen. Die Streicherinnen und Streicher der Camerata Bern können zupacken, aber auch einen schwebenden Teppich auslegen. Und spiegeln stets die Emotionalität der Solovioline.

Im Finale, dem Andante con amore, sind bis auf ein letztes Aufbäumen die emotionalen Kämpfe passé. Wie erlöst schwebt die Solovioline am Satzbeginn über dem Orgelpunkt im Orchester. Selbst in den eisigen Höhen des Schlusses wird Antje Weithaas‘ Geigenton nie kalt, sondern entfaltet Wärme und Nachdruck.

Pēteris Vasks: Violinkonzert Nr. 2 (Vakara gaismā/Im Abendlicht). Camerata Bern; Antje Weithaas, Violine und Leitung. CAvi-music (nur digital erhältlich)

Mit intuitiver Musik der Welt zugewandt

Die Dokumentation über das Ensemble für intuitive Musik Weimar zeigt ein Stück Geschichte der zeitgenössischen Musik in der DDR und der Beziehung zu Karlheinz Stockhausen. Nicht unwesentlich ist dabei der Internationale Kompositionswettbewerb des Künstlerhauses Boswil.

Postkarte Stockhausens an Michael von Hintzenstern, der sich Ende 1976/Anfang 1977 in Boswil aufhielt und Stockhausen auf der Hinreise besucht hatte. Illustration aus dem Buch

Geschichten, die das Leben schreibt: Dank eines Preises beim Internationalen Kompositionswettbewerb in Boswil kann Michael von Hintzenstern 1976 seine erste Westreise aus der DDR antreten. Er nutzt wohlgemerkt nicht nur den mit dem Preis verbundenen dreimonatigen Arbeits- und Studienaufenthalt in der ländlichen Schweiz, sondern ändert – natürlich unerlaubt vom DDR-Regime – seine Reiseroute: Auch nach Köln macht er sich auf, um den verehrten «Meister» Karlheinz Stockhausen zu besuchen. Stockhausens Ansatz einer «intuitiven Musik» wird sowohl Hintzenstern wie auch sein Ensemble für intuitive Musik Weimar (EFIM) prägen – letztlich auch das reich bebilderte und kurzweilige Buch Klänge des Augenblicks, das unter anderem einige handschriftliche Zeugnisse der Korrespondenz mit Stockhausen wiedergibt.

Im Zentrum steht die Geschichte des 1980 gegründeten Ensembles mit dem Stamm von vier ebenso umtriebigen wie experimentell gestimmten Musikern: Michael von Hintzenstern spielt Orgel und allerhand Synthesizer, Hans Tutschku ist der Spezialist für Elektroakustisches und Elektronisches, der «Jazzer» Daniel Hoffmann spielt Horn und Trompete, Matthias von Hintzenstern agiert in der Regel am Cello, tritt aber auch mit Klanginstallationen in Erscheinung.

Zu Beginn stehen stockhausensche Werke im Mittelpunkt, etwa die 15 Textkompositionen für intuitive Musik in variabler Besetzung Aus den sieben Tagen (1968) oder der bekannte Tierkreis (1974/75). Zunehmend, auch bedingt durch den Mauerfall im Jahr 1989, weiten sich die Programme. Tutschku bringt seine Erfahrungen mit französischer elektroakustischer Musik verstärkt ein, das EFIM sucht sich Orte fernab von Konzerträumen, spielt in Parks, botanischen Gärten oder in Kali-Bergwerken 670 Meter unter der Erde. Das EFIM kann nun auch Konzert- und Workshop-Einladungen in 30 Länder auf 4 Kontinenten wahrnehmen.

Wer sich für experimentelle Musik begeistert, wird auch von dieser Dokumentation begeistert sein. Lesenswert ist es aber auch für diejenigen, die sich für die Kulturgeschichte der DDR interessieren. Gerade in der Musik waren Freiräume durchaus vorhanden – Freiräume, die das EFIM auf erstaunlich offene, intelligente wie sympathisch der Welt zugewandte Art nutzte.

Michael von Hintzenstern: Klänge des Augenblicks – 44 Jahre Ensemble für intuitive Musik Weimar 1980–2024, 256 S., über 300 Abb., € 44.00, Weimar 2024, ISBN 978-3-00-078834-5,
hintzenstern.eu

Beethovens Septett in neuer Ausgabe

Nach den beethovenschen Sinfonien hat Jonathan Del Mal auch dieses Werk für vier Streich- und drei Blasinstrumente ediert.

Erste Seite der Partitur, undatierte Abschrift. Quelle: Beethoven-Haus Bonn

Welches neue Werk wurde am 2. April im Jahr 1800 von den Herren Schuppanzigh, Schreiber, Schindlecker, Bär, Nickel, Matauschek und Dietzel im Hofburgtheater in Wien zum ersten Mal gespielt? Ein Septett für Streicher und Bläser von Ludwig van Beethoven. War es eine «Sinfonia concertante», eine Gattung, die sich in jener Zeit grosser Beliebtheit erfreute, oder eine Sinfonie für Kammermusikensemble?

Diese Komposition übertraf mit ihren sechs Sätzen und einer Spieldauer von nahezu vierzig Minuten weit die Dimensionen der anderen an diesem Abend gespielten Werke, des ebenfalls uraufgeführten 1. Klavierkonzerts und der 1. Sinfonie. Das reizvolle Zusammenwirken des Streichquartetts, ohne zweite Violine dafür mit Kontrabass, mit den als Harmonie agierenden Bläsern und die solistischen Partien der Geige und der Klarinette, wobei der ersteren vor allem in der Kadenz des letzten Satzes höchste Virtuosität vergleichbar mit dem späteren Violinkonzert op. 61 abverlangt wird, wurde mit Begeisterung aufgenommen und erfreute sich alsdann grosser Beliebtheit.

Beethovens Septett wurde auch Vorbild für Franz Schubert und dessen 1824 komponiertes Oktett F-Dur D 803 und weitere Werke in ähnlicher Besetzung von Louis Spohr, Ferdinand Ries, Franz Berwald und anderen. Beethovens Zufriedenheit mit dem Septett hielt sich nach dem Stolz bei der Erstaufführung in der Wiener Burg und der Bemerkung zu Joseph Haydn: «Das ist meine Schöpfung» in späterer Zeit nach Aussage von Ignaz Pleyel in Grenzen. Mit einer Widmung an Kaiserin Marie Therese wurde das Werk 1802 beim Verlag Hoffmeister in Druck gegeben.

Die vorliegende Urtextausgabe wurde herausgegeben vom englischen Beethoven-Forscher Jonathan Del Mar, der im Jahr 2000 die Beethoven-Sinfonien in der neuen Edition abgeschlossen hat, welche heute von allen bekannten Dirigenten als Interpretationsgrundlage benutzt wird. Die Studienpartitur beinhaltet zudem vier Autograf-Seiten aus der Biblioteka Jagiellońska in Krakau und ist mit Vorwort und ausführlichen Quellenangaben hervorragend ausgestattet.

Ludwig van Beethoven: Septett in Es op. 20, hg. von Jonathan Del Mar; Stimmen: BA 10944, € 38.95; Taschenpartitur: TP 944, € 18.95; Bärenreiter, Kassel

Improvisieren mit Walter Fähndrich

In einem schmalen Büchlein legt der ehemalige Dozent für Kammermusik-Improvisation einen musiktheoretischen Unterbau für sein Spezialgebiet.

Walter Fähndrich in Ittingen. Foto: musicforspaces.ch

Walter Fähndrich lernte ich ganz zufällig im Sommer 1984 im damaligen Studentenhotel Quellenhof in Schuls kennen. Schon damals – bevor ich überhaupt wusste, dass er Musiker ist – fiel er mir auf durch seine Kompromisslosigkeit und seinen Ehrgeiz. Erst später kamen mir seine Publikationen zum Thema Musik und Räume in die Hände, und ich hörte von seiner unglaublichen elektroakustischen Klanginstallation am Lago del Sambuco im obersten Maggiatal.

Fähndrich, geboren 1944 in Zug, ist ausgebildeter Bratschist, Komponist, Theorielehrer und Improvisator. 25 Jahre lang war er in Basel Dozent für Improvisation/Life-Komposition und baute einen Masterstudiengang für improvisierte Kammermusik auf. Bis 2002 entstanden seine acht Kompositionen für Solobratsche Viola I bis Viola VIII.

Im Büchlein Warum improvisieren wir? legt Fähndrich einen musiktheoretischen Unterbau für sein Spezialgebiet, die Kammermusik-Improvisation, vor. So gesehen sind die Schlagworte auf dem Klappentext provokativ: «Die totale Freiheit – Alles ist möglich und richtig!!!», «Man kann spielen, was man will!!!» und «Fehler machen kann man dabei nicht!!!». Das Gegenteil ist wahr: Folgt man Fähndrichs Überlegungen, ist man da sehr wohl eingeschränkt.

Seine Reflexionen beginnen mit «Zehn Aspekte der Improvisation». Da werden etwa «Kommunikation», «Risikobereitschaft» oder «Energieverwaltung» bis hin zu «Produkt, Zweck» beleuchtet. Fähndrich versteht Improvisation als «kompositorischen Prozess gleichberechtigter, die ganze Verantwortung tragender Spieler, in dessen Zentrum ein mit grosser Spiellust realisiertes, unvorhersehbares und doch möglichst überzeugendes Resultat steht». Er unterscheidet auch streng zwischen dem positiven Sichausleben, das er vom negativ konnotierten Sichgehenlassen abhebt.

Naturgemäss bleibt in dem Band vieles sehr wortreich-theoretisch. Notierte Beispiele gibt es keine, denn die improvisierte Musik wird ja gerade nicht aufgeschrieben. Wer sich ernsthaft und reflektiert mit Improvisation beschäftigt, für den ist Fähndrichs Buch Pflichtlektüre.

Walter Fähndrich: Warum improvisieren wir?, 80 S., € 18.00, Wolke-Verlag, Hofheim 2024, ISBN 978-3-95593-270-1

 

 

«Zogä am Bogä» für Musikkorps und Chöre

Von dem beliebten Stück aus der Feder des Urner Komponisten Bärti Jütz war bislang lediglich die Melodie in Gesangsbüchern notiert. Nun erschliesst der Arrangeur Roman Blum die Polka als Partitur mit sämtlichen Stimmen – auch musikschultauglich.

Bärti Jütz. Foto: zVg

«Zogä am Bogä, de Landammä tanzäd, wiä dr Tiifel dur Dieli dure g’schwanzet …» – Mit diesen frechen Zeilen und dem lüpfigen Rhythmus machte sich der Urner Komponist und Musikant Bärti Jütz (1900–1925) über das zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitverbreitete Tanzverbot lustig. Erst vor gut zehn Jahren tauchte die Originalschrift von Zogä am Bogä im Urnerland auf. Auf kariertem Papier von Hand niedergeschrieben und signiert von Bärti Jütz.

Michel Truniger, der Leiter des Theaters Uri, erkannte das Potenzial des Stücks für grössere Ensembles. Zusammen mit dem Haus der Volksmusik Altdorf wurde der im Aargau geborene und in Root (LU) wohnhafte Klarinettist, Dirigent und Arrangeur Roman Blum mit der Ausarbeitung des Notenmaterials für einzelne Register und Stimmen betraut. Nun liegen Arrangements für Blaskapelle, Chor und fürs Marschbüchlein vor.

Das Notenmaterial ist auch für Ensembles an Musikschulen geeignet. «Die Publikation entspricht dem grundlegenden Anspruch des Hauses der Volksmusik, das heimische Volksmusikschaffen zu fördern und möglichst breiten Kreisen zugänglich zu machen», sagt Markus Brülisauer, Geschäftsführer des Hauses der Volksmusik Altdorf.

Kostenloser Download der Arrangements: hausdervolksmusik.ch/baertisjuetz

 

Musikalische Hommage an den Komponisten

Aus Anlass des 125. Geburts- und des 100. Todestags von Bärti Jütz rückt das Haus der Volksmusik Altdorf über das ganze Jahr hinweg Leben und Wirken des Urner Komponisten und Musikanten in den Fokus. Zusammen mit dem Theater Uri wird unter anderem am 17. Mai 2025 eine konzertante Hommage aufgeführt. Zur Veranstaltung

Highmatt-Geschichte

Der Journalist und langjährige Vertraute Hanspeter Spörri hat eine reichhaltige Biografie des Appezeller Musikers und Multimedia-Künstlers Steff Signer geschrieben.

Highmatt-Dichter Steff Signer, 2008. Foto: Toni Schwitter / Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, Trogen

Steff Signer alias Infrasteff hat nie eine Hitparade geknackt noch gar Stadien gefüllt oder sonstwie die Kassen in Verzückung versetzt. Immerhin schaffte es seine Oper Später Nachmittag im Paradies ans Rossini-Opernfestival auf der Insel Rügen, wonach der Dirigent Wolfgang Danzmayr das Werk als «hinreissend schrägwitzig» zu rühmen wusste. Und einmal fand sich der im ausserrhodischen Hundwil geborene, heute 74 Jahre alte Experimentalrocker, -komponist, -dichter und -maler sogar in einer Schlüsselposition wieder: Von 1989 bis 1994 war er leitender Produzent für die vom Migros-Kulturprozent geführte Reihe «Musikszene Schweiz».

Gerade die unerwarteten (Seiten-)Sprünge sind es, welche die von Hanspeter Spörri, dem früheren Chefredaktor des Bund, einem Signer-Vertrauten seit der Schulzeit, verfasste Chronik zu einem so vergnüglichen und nahrhaften «Deepdive» in die Ostschweizer Musik- und Sozialgeschichte machen. Signers Archiv wird inzwischen von der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden gepflegt. «Als Zeitzeugnis dokumentieren die vielfältigen Materialien einen Zeitabschnitt appenzellischer Geschichte, der bisher in Museen, Archiven oder Bibliotheken nicht zugänglich war», schreibt die Bibliotheksleiterin Heidi Eisenhut. «Das Privatarchiv Signer ist Zeugnis einer Subkultur im Heimischen; von 1968 und Frank Zappa geprägt, ‹alternativ›, ‹freakig›, anders als Gewohntes und doch in vielen Referenzpunkten zutiefst mit Appenzellischem verbunden.»

Dank einer grosszügigen Auswahl an QR-Codes wird das Buch Signers multimedialem Werk vollauf gerecht. Die klingenden Beispiele beginnen mit jugendlichem «Piano-Jazz» und reichen über frühe «Beat»-Kombos, zappaeske Experimente (das Prädikat «Appenzeller Frank Zappa» wurde Signer nie mehr los), jazz-rockige Big Bands, Beschäftigungen mit Neuer Musik und einer Pop-Phase in den Achtzigerjahren bis hin zur satirisch-liebevollen Erforschung der Appenzeller Umgebung in jüngster Zeit. Ein exemplarisches Buch.

Hanspeter Spörri: Steff Signer. Die musikalische Biografie. Ein Stück Schweizer Rock-, Pop- und Highmatt-Geschichte, 400 S., Fr. 48.00, Appenzeller Verlag, Schwellbrunn 2024, ISBN 978-3-85882-888-0

Von der Uraufführung zur Drucklegung

Erst seit 2019 können Verdis erste Entwürfe für sein Streichquartett e-Moll eingesehen werden. Die Unterschiede zwischen Uraufführungs- und Druckversion sind enorm.

Giuseppe Verdi zwischen 1870 und 1880. Foto: Ferdinand Mulnier, Paris. Quelle: gallica.bnf.fr

Dass man bezüglich neuen, bisher wenig bekannten oder vergessenen Repertoires immer wieder überrascht werden kann, haben die letzten Jahre bewiesen. Eine Vielzahl an Streichquartetten kamen ans Licht, die zu Unrecht lange Zeit im Dunkeln lagen, wie beispielsweise diejenigen von Franz Xaver Richter, Peter Hänsel, Adalbert Gyrowetz oder Carl Czerny, um nur wenige zu nennen. Dass aber ein Quartett – und zwar das einzige – von einem weltberühmten Komponisten plötzlich in einer anderen Fassung zugänglich ist, die sich erheblich von dem viel gespielten Werk unterscheidet, ist hingegen höchst selten.

Verdi soll es langweilig gewesen sein; eine längere Probenpause soll ihn weg vom Gesang, hin zur reinen Instrumentalmusik getrieben haben, der er sich bekanntlich bis dahin nicht zugewandt hatte und dies danach auch für den Rest seines Lebens nicht mehr tun würde. Vom Erfolg des 1873 im kleinen Kreis uraufgeführten «Gelegenheitswerks» war Verdi selbst überrascht. Das Streichquartett als Gattung verortete er im deutschen Kulturkreis und empfand es als ein dem italienischen Gaumen fremdartiges Erzeugnis. Dennoch studierte er heimlich und sehr gründlich dessen DNA, was der veröffentlichte Erstdruck von 1876 eindrücklich beweist. Das Wesen und der Charakter des Quartetts sind originär südländischen Kolorits, die zugrunde gelegte Architektur hingegen basiert auf den Erzeugnissen der besten Meister der Zunft, die dem Italiener als Heiligtum galten.

Dass die uraufgeführte Version ein ganz anderes Stück war als die gedruckte, dürfte den wenigsten Kennern und Interpreten bewusst sein. Zu ihrer Entschuldigung sei gesagt, dass Verdis Manuskriptentwürfe aus der ersten Entstehungszeit – mithin 41 Seiten als Zeugen harter Arbeit – erst seit 2019 der Forschung zugänglich sind. Dem Drängen der ersten Zuhörer, den berühmten Opernkomponisten auch als Kammermusik-Meister öffentlich zu machen, schlug vom Urheber zunächst brüske Abwehr entgegen, bis er sich doch allmählich für diese Idee erwärmen konnte.

Was folgte, war ein Aufwand, den er wohl lieber vermieden hätte. Denn mit dem Gedanken der Gleichwertigkeit mit den Besten im Erschaffen eines Streichquartetts zu spielen, ist eine Sache, diese international auf den Prüfstand zu stellen, eine ganz andere. Dass es vor Häme in den Feuilletons nur so kochen würde, wenn er den Ansprüchen aus dem Norden nicht genügen sollte, stand ihm deutlich vor Augen. Der national geprägte Musikbegriff jener Zeit zeigte sich auch in Ausgrenzung und Herabsetzung anderer Tonschöpfer. Edvard Grieg konnte als norwegischer Streichquartett-Exot 1878 ein trauriges Lied davon singen, wie man ihn in «Fachkreisen» der groben Unfähigkeit beschimpfte. Vorsicht war also geboten für Verdi, der einen tadellosen Ruf zu verlieren hatte. So beschäftigte ihn seine Komposition, die er kokett «senza importanza» nannte, insgesamt sieben Jahre.

Es wäre allerdings unfair, dem Erstentwurf mangelnde Qualität zu unterstellen. Verdi geht dort weniger ausgeklügelt und methodisch vor, verlässt sich vor allem auf seine brillante Erfindungsgabe, die ein frisches und sehr ansprechendes Werk mit wacher Genialität zum Vorschein bringt. Etwas von dieser Respektlosigkeit könnte man im publizierten Quartett, das fast ein Drittel länger ist, vermissen, hätte man Gelegenheit, die beiden Stücke nebeneinander zu hören.

Für mich, der ich das Werk aus frühesten Ensembletagen kenne, ist es fast schon amüsant zu sehen, wie sich zwei der gefürchtetsten Stellen der zweiten Geige in der gesamten Streichquartettliteratur im Erstling in Luft auflösen: Das Thema im ersten Satz, etwas unangenehm auf der G-Saite zu spielen, intoniert nämlich die Primgeige, und den heiklen Scherzo-Fugenanfang im Finale, pianissimo leggerissimo zu artikulieren, gibt es überhaupt nicht. Wie übrigens gänzlich eine Fuge fehlt. Hochspannend das Ganze … In der Studienpartitur ist neben der Druckfassung auch die Uraufführungsfassung enthalten.

Ein grosses Lob für den G.-Henle -Verlag, den Werdegang des Glanzstücks Verdis so nachvollziehbar herauszuarbeiten!

Giuseppe Verdi: Streichquartett e-Moll, hg. von Anselm Gerhard; Stimmen: HN 1588, € 25.00; Studienpartitur: HN 7588, € 14.00; G. Henle, München

 

Pop in Tessiner Dialekt

Eine vom Aussterben bedrohte Sprache charakterisiert die Gesangstexte von Aris Bassettis Soloprojekt «Mortòri».

Foto: zVg

Aris Bassetti ist so etwas wie die Sonne des Tessiner Musikgeschehens. Vor zwanzig Jahren formierte er mit Barbara Lehnhoff die experimentell angehauchte Rockband Peter Kernel, die noch heute nichts von der ursprünglichen Abenteuerlust verloren hat. Das eigene Plattenlabel On the Camper Records folgte wenig später. Zum heutigen Umkreis gehören nebst Lehnhoffs Alter Ego Camilla Sparksss etwa die Harfenistin Kety Fusco, die psychedelische Band Monte Mai und die yé-yé-Archäologin Julie Meletta. Mit Mortòri wagt Bassetti nun sein Soloprojekt. Ein dringlich nötig gewordenes Unterfangen, die düsteren Gefühle zu erkunden, die mit «Liebe» eben auch verbunden seien, schreibt er und nennt als Einflüsse Ornella Vanoni, Gino Paoli, Südamerika, italienisch-schweizerische Volksmusik und «Arabic Music».

Die ersten, auf einer EP zusammengefassten Resultate verraten ihre italienischen Wurzeln vor allem in den Gesangsmelodien und den Texten, die Bassetti im vom Aussterben bedrohten Tessiner Dialekt verfasst hat. Das klingt so eigentümlich, dass man fast denken könnte, er habe diese Sprache erfunden. Bei der Instrumentierung lässt Bassetti seinen experimentellen Tendenzen freieren Lauf, ohne je den Blickkontakt mit süffiger Melodik zu verlieren. So wird O’l Amur von Vibrafon- und Bass-Riff, Querflöte und hyperaktiven Bongos vorwärtsgetrieben. Bei GDC haben wir es mit einer Art (elektronischer?) Holzbläser/Cello-Kombo zu tun und La Gata hätte in einer besseren Welt das San-Remo-Festival gewonnen. Wir freuen uns auf mehr!

Mortòri: A Mort l’Amur. On the Camper Records

Wiederentdeckte Schweizer Kunstlieder

Drei neue Alben machen deutlich, dass es in Sachen Klavierlieder von Schweizer Komponistinnen und Komponisten noch viel zu entdecken gibt, sei es im Dialekt oder auf Hochdeutsch.

Hans Thoma: Abend in der Schweiz II, 1916. Quelle: wikimedia commons

Mit ihrer aussergewöhnlichen CD Lieder der Heimat aus dem Jahre 2019 hatte die renommierte Luzerner Sopranistin Regula Mühlemann nicht nur Mut in der Repertoirewahl bewiesen, sie löste gleichsam einen neuen Trend aus (Rezension von Verena Naegele). Dieser widmet sich der sorgfältigen Sichtung und Wiederbelebung teils vergessener Werke von Schweizer Komponistinnen und Komponisten. So sind in letzter Zeit etliche Neueinspielungen erschienen, die sich solchen Vertonungen, zum Teil auch von Mundartgedichten, widmen und damit das Thema Heimat beleuchten.

Swiss Love

Das «Neujahrsstück» der Zentralbibliothek Zürich wurde für das Jahr 2025 von Franziska Heinzen (Sopran) und Benjamin Mead (Klavier) gestaltet. Unter dem Titel Swiss Love. Der Liebe Leid und Lust werden Liebesgeschichten aller Schattierungen in einem Programm vorgestellt, in dem das Duo teils erstmals eingespielte Lieder von Lothar Kempter, Johann Carl Eschmann, Yvonne Röthlisberger und Wilhelm Baumgartner kunstvoll mit neu arrangierten Volksliedern verwebt.

Hei cho

Die zweite Einspielung präsentiert unter dem Titel Hei cho Vertonungen von Gedichten Josef Reinharts, eines in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekannten Pädagogen und Schriftstellers aus der Region Solothurn. Komponiert haben sie Richard Flury, Ernst Honegger, Emil Adolf Hoffmann, Walter Lang, Friedrich Niggli, Heinrich Pestalozzi und Karl Schell. Die Sopranistin Stephanie Bühlmann – auch für sie ist es nicht die erste Mundart-Arbeit – hat für dieses Projekt den Tenor Daniel Behle sowie den Pianisten Benjamin Engeli gewinnen können, beide ausgewiesene Spezialisten.

 

Vergessene Lieder, vergessene Lieb

Die dritte CD dreht sich um das Schaffen von Willy Heinz Müller, einem aus Wien stammenden Geiger, Dirigenten und Komponisten, der bis in die 1970er-Jahre im Raum St.Gallen tätig war und ein internationales Kontaktnetz pflegte. Seine Lieder hingegen blieben für fast 100 Jahre unentdeckt, bis sich schliesslich die Sopranistin Mélanie Adami, seine Urenkelin, während der Corona-Krise die Zeit nahm, diese vergessenen Werke eingehend zu studieren. Von deren Qualität überzeugt, fand sie in der Pianistin Judith Polgar und im Bariton Äneas Humm ebenso neugierige Mitmusiker, um gemeinsam die Aufnahme mit dem Titel Vergessene Lieder, vergessene Lieb einzuspielen. Ergänzt wurden die Kompositionen durch Werke anderer Klangschöpfer, die Müller entweder sehr beeindruckt hatten oder zu denen er eine persönliche Beziehung unterhielt, etwa Ernst von Dohnányi, Franz Ries oder Carl Götze.

Das musikalische Niveau und die Aufnahmequalität ist auf allen drei Tonträgern dermassen hoch, dass man ab und zu vergisst, hier kein Standard- oder gar Meisterrepertoire zu hören. So ist beispielsweise auch der Umstand, dass Daniel Behle kein Dialektsprecher ist, nur zu Beginn auffällig. Insgesamt trägt auch dieses Merkmal eher zu einer gewissen Nobilitierung des Gesamtklangs bei. Und auch wenn vereinzelte Längen vorkommen, laden die drei Einspielungen dennoch zu einer inländischen Entdeckungsreise ein, die auch ein breiteres Publikum belohnen wird.

Swiss Love. Der Liebe Leid und Lust. Solo Musica SM 477

Hei cho. Mundartlieder auf Gedichte von Josef Reinhart. Solo Musica SM 464

Vergessene Lieder, vergessene Lieb. Forgotten Songs by Willy Heinz Müller. Prospero Classical PROSP 0087

Musik in der Fremde

Der Sammelband «Musik und Migration» liefert sowohl Begriffsklärungen wie längere Aufsätze aus diesem vielverzweigten Forschungsgebiet.

Foto: Anke van Wyk / depositphotos.com

Wird die vom Krieg geschüttelte Heimat zur Lebensbedrohung oder reicht das Geld zum Leben nicht mehr, dann ist Flucht oft die einzige Wahl. Doch was geschieht im anderen Land? Also dort, wo Flüchtlinge von ihrer eigenen Kultur abgeschnitten sind? Und wo sie im noch schlimmeren Fall nicht willkommen sind?

Es sind kulturpolitisch äusserst wichtige Fragen, die Musik und Migration behandelt. Musik ist seit je ein bestimmender Identitätsfaktor. Und daher verwundert es nicht, wenn Migranten oder Flüchtlinge Musik ihrer Heimat – seien es Volkslieder, Rap in der eigenen Sprache oder Pentatoniken aus dem eigenen Kulturraum – weiter hören und pflegen. Liest man die Aufsätze des umfangreichen Sammelbandes, kommt anderes hinzu: Musik lindert das Leid, auch dient sie der Traumaverarbeitung. Auf Seite 215 berichten Anna Papaeti und M. J. Grant von einem syrischen Geflüchteten. Bei seiner Bootsankunft in Griechenland stimmt er «eine Mischung aus Klagegesang und Gebeten» an, gerichtet an das Meer, das aufhören möge, «Kinder in seinen Wellen zu töten».

Solche drastischen Situationen sind nur ein Aspekt des hochkomplexen Themas Musik und Migration. Hinzu kommen Fragen und Probleme der «multikulturellen Gesellschaft», Aspekte der Kulturen-Aneignung inklusive das momentan seltsame Blüten treibende Feld Postkolonialismus. Die Herausgeber des dicken, 746-seitigen Sammelbands taten gut daran, «Schlüsselbegriffe» in Lexikon-Manier zu erklären, und zwar nicht nur «Postkolonialismus», sondern viele aus der Ethno- oder Soziologie entlehnte Termini wie «Agency», «Embodiment» oder «Liminalität». Grundsätzlich ist das Forschungsfeld auf interdisziplinäre Zusammenarbeit angewiesen, also tendenziell eher in den «Cultural Studies» zu verorten als in der gediegeneren Musikwissenschaft. Die Lektüre macht dies stellenweise schon fordernd. Zum einen aufgrund schwer zu fassender Probleme, zum anderen aufgrund kaum etablierter Forschungsmethoden.

Dennoch: Viel kann man mitnehmen nach dem Lesen. Unter anderem auch die Einsicht, dass musikalische Akkulturationsprozesse, also Durchdringungen verschiedener Kulturen, völlig normal sind. Begriffe vom «Eigenen» und «Fremden» sind nur Hilfskonstruktionen – und damit sind auch schon jene Patrioten, Nationalisten und zuweilen allzu selbstbewussten Europäer entlarvt, deren Rufe nach einer «Leitkultur» oder nach kultureller «Reinheit» bestenfalls blödsinnige Verkürzungen sind. Wie schreiben Katarzyna Grebosz-Haring und Magnus Gaul auf Seite 25? Schon Plato diskutiert das Phänomen der Akkulturation. Und das im 3. Jahrhundert vor Christus!

Musik und Migration, Band 3, ein Theorie- und Methodenbuch, hg. von Wolfgang Gratzer, Nils Grosch, Ulrike Präger und Susanne Scheiblhofer, 746 S., € 69.90, Waxmann, Münster 2023, ISBN 978-3-8309-4630-4, open access

Mozarts Werke thematisch geordnet

Die neuesten Ergebnisse der Mozart-Forschung sind in das neue Köchel-Verzeichnis eingeflossen: ein Meilenstein.

Autografe und gedruckte Noten im Mozarthaus Salzburg. Foto (Schnitt): Burkhard Mücke / wikimedia commons

Das neue Köchel-Verzeichnis (KV oder KV2024) repräsentiert das aktuelle Wissen zu Mozarts einzelnen Kompositionen und rechtfertigt in jeder Hinsicht seinen hohen Kaufpreis. Es bietet nicht nur aktuelle Forschungsergebnisse, sondern verweist kritisch auf die Angaben früherer Auflagen von 1862 (Köchel), 1905 (Waldersee), 1937 (Einstein), 1964 (Giegling u. a.).

Die Zählung von Mozarts Werken basiert auf der jeweils frühesten in jenen Ausgaben, z. B. 314, verzichtet aber auf die unbequemen Doppelnennungen, z. B. 314/285d, und nimmt dabei in Kauf, dass etwa zu 314 zwei Einträge nötig sind, nämlich für das Flöten- wie auch für das Oboenkonzert. Diese Vereinfachung führt dazu, dass die Nennung der Werke in der chronologischen Reihenfolge ihrer mutmasslichen Entstehung keine Rolle mehr spielt, diese aber in einer gesonderten, knappen Übersicht in grösstmöglicher Differenzierung erfolgt.

Die Notenbeispiele sind vereinfacht und liefern nicht einen Klavierauszug der ersten Takte, sondern nur die einstimmigen Anfangsthemen einzelner Sätze. Einen Gewinn stellen auch die Anhänge dar: Sie enthalten die unechten Werke, Mozarts Bearbeitungen fremder Kompositionen sowie die verstreut überlieferten Kadenzen und Auszierungen. Die Anleitung zur Benutzung des Verzeichnisses verweist sogar auf künftige Erweiterungen im Internet. Anders als das neue Bach-Werke-Verzeichnis geizt das Köchel-Verzeichnis nicht mit Literaturangaben, sondern listet die Herkünfte aller Erkenntnisse in einer übersichtlichen Bibliografie auf.

Mit dem Köchel-Verzeichnis ist den Herausgebern Neal Zaslaw und Ulrich Leisinger, ihren Hauptmitarbeiterinnen und einem Heer von Informanten und Helferinnen in jahrzehntelanger Arbeit ein Meilenstein gelungen, ein Ausgangpunkt künftiger Beschäftigung mit Mozarts Werk, hinter den kein Weg mehr zurückführt. Hoffentlich übersteht die zarte Rückenbindung dieses 1391 Seiten umfassenden Einzelbandes seinen häufigen Gebrauch.

Köchel-Verzeichnis, Thematisches Verzeichnis der musikalischen Werke von Wolfgang Amadé Mozart, Neuausgabe 2024, bearbeitet von Neal Zaslaw, vorgelegt von Ulrich Leisinger unter Mitwirkung von Miriam Pfadt und Ioana Geanta, BV 300, CXXV + 1263 S., € 499.00, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2024

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