Orgelmusik der Tudor-Zeit

Zwei qualitativ hervorragende Bände erschliessen ein bislang wenig bekanntes Repertoire.

Thomas Tallis auf einem Glasfenster der St Alfege Church in Greenwich, in deren mittelalterlichem Vorgängerbau der Komponist begraben wurde. Foto: Andy Scott / wikimedia commons

Während elisabethanische Musik für Tasteninstrumente von Komponisten wie Byrd, Gibbons, Farnaby oder Bull ihren Weg ins Konzertrepertoire gefunden hat, ist der umfangreiche Korpus an erhaltener Orgelmusik aus der Tudor-Zeit, entstanden ca. 1520–1560, hingegen kaum je zu hören. Mit zwei Bänden Early Tudor Organ Music hatten die Herausgeber John Caldwell (*1938) und Danis Stevens bereits 1966 in einer Pionierleistung die wesentlichen Quellen dafür – in erster Linie das in der British Library aufbewahrte MS 29996 – für die Praxis erschlossen. Fast 60 Jahre später ist nun, wiederum herausgegeben von Caldwell, eine prachtvolle zweibändige Neuausgabe dieses Repertoires erschienen, die in jeder Hinsicht den neuesten wissenschaftlichen Standards und dem aktuellen Stand der Wissenschaft entspricht.

Es handelt sich ausschliesslich um liturgische Musik, die in Verbindung mit der damals in England gemäss dem Sarum Use praktizierten Ausprägung der Gregorianik, aber auch mit mehrstimmigen «Faburdens» (von denen einige im Appendix abgedruckt sind) oder «auskomponierten» Vokalsätzen alternatim aufgeführt wurde: Versetten zu Hymnen, Antiphonen, für das Te Deum bzw. das Magnificat sowie für das Mess-Ordinarium. Ein umfangreiches Vorwort liefert eine Fülle von Informationen zur Aufführungspraxis, zum tudorianischen Orgelbau, über die Komponisten (am bekanntesten, neben vielen Anonymi, wohl Thomas Tallis, Thomas Preston oder John Redford) sowie zu editorischen und quellenkritischen Fragen.

Die über 100 Stücke – jeweils eingeleitet durch ausführliche kritische Berichte, Erläuterungen sowie Angabe der vokalen Vorlagen – geben einen Einblick in eine zunächst wohl etwas fremdartig anmutende Klangwelt, die sich durch einen strengen Satz und eine faszinierende rhythmische Komplexität auszeichnet. Wer sich über die klangliche Umsetzung informieren will, findet übrigens online einige neuere Tonaufnahmen (u. a. auf den wenigen bisher rekonstruierten Instrumenten dieser Epoche) sowie liturgie- und musikwissenschaftlich begleitete «Re-Enactments» von Gottesdiensten aus dieser Zeit, z. B. im Rahmen des Forschungsprojekts «Experience of Worship» der Bangor University.

Fazit: Wer sich mit diesem weitgehend unbekannten Repertoire grundlegend auseinandersetzen möchte, findet hier eine Publikation, die höchsten Ansprüchen genügt und deren hoher Preis durch die ausserordentlich sorgfältige Erarbeitung der beiden Bände gerechtfertigt wird.

Early Tudor Organ Music, Vol. 1 und 2, ed. by John Caldwell, (Early English Church Music Band 65/66), EECM65/EECM66, 246/210. S., £ 100/85, Stainer & Bell, London 2024

 

Spohrs Harfenfantasie: lang erwartete Neuausgabe

Louis Spohr schrieb die Harfenfantasie in c-Moll, heute ein überaus beliebtes Repertoirestück, für seine Frau Dorette.

Dorette Spohr, geborene Scheidler, (1787-1834) an der Harfe. Bild von Carl Gottlob Schmeidler / wikimedia commons

Wenn es ein Werk gibt, das alle Harfenistinnen und Harfenisten im Repertoire haben, manchmal geliebt, oft gefürchtet, ist es die Fantasie c-Moll von Louis Spohr. Im Jahre 1805 erlebte er seine zukünftige Frau Dorette Scheidler, Schülerin bei Johann Georg Heinrich Backofen, mit einem beeindruckenden Vortrag auf der Harfe. In seinen Lebenserinnerungen schreibt er, wie ergriffen und zu Tränen gerührt er nach diesem Konzert gewesen sei. Bald darauf hielt er um ihre Hand an. Das Paar heiratete 1806 und die Fantasie c-Moll komponierte er im darauffolgenden Jahr. Sie wurde schnell zu einer festen Grösse im Harfenrepertoire.

Harfentypen und Tonarten

Neben der strengen rhythmischen Einleitung und dem ebenso metrisch sehr genau notierten Allegretto-Teil gibt es freie Kadenzen ohne Taktstriche mit echoartigen Arpeggien und rezitativischem Charakter, die quasi improvisiert klingen sollen und frei zu gestalten sind. Es ist anzunehmen, dass Backofens Fantasie Spohr inspirierte. Dorette Scheidler führte beide Werke häufig in ihren Konzerten auf.

Sie spielte eine Einfachpedalharfe mit einem kleineren Saiten- und Tonartenumfang als unsere modernen Doppelpedalharfen. Obwohl Spohr 1820 noch in Erwägung zog, eines dieser neuen Instrumente für Dorette zu erwerben, ist dies letztlich nie geschehen. Die Einfachpedalharfe hat eine Grundstimmung in Es-Dur, somit ist die Paralleltonart c-Moll naheliegend. Trotz dieser harfentechnisch motivierten Tonartwahl passt das düstere und schwere c-Moll wunderbar zum Adagio-molto-Beginn mit grossen Akkorden, welche sich später in Melodien und Arpeggien fast bis zu geflüsterten Passagen wandeln.

Wissenschaftlich und praxisbezogen

Die Fantasie wurde 1816 bei Spohrs Verleger Simrock in Bonn erstmals herausgegeben– fast ein Jahrzehnt nach der Komposition, wohl um zu vermeiden, dass andere Harfenistinnen das Werk in der Öffentlichkeit aufführten. Zahlreiche Neuausgaben erschienen nach Spohrs Tod, wobei in vielen der originale Notentext modifiziert wurde. Leider sind die autografischen Quellen verschollen. Die heute am weitesten verbreitete Ausgabe wurde von Hans Joachim Zingel für die Doppelpedalharfe ediert (mit zugefügten Noten, veränderten Dynamikangaben u. v. m.) und erschien 1954 im Bärenreiter-Verlag.

Die Neuausgabe durch die Harfenistin und Musikwissenschaftlerin Masumi Nagasawa, ebenfalls bei Bärenreiter, besticht durch fundierte Recherchen, genaue Bezeichnungen und ein klares Notenbild. Schön ist, dass die Einleitung (en/dt) auf viele wichtige Fragen wie Spieltechniken und Harfenangaben eingeht und somit nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch sehr praktische Grundlage bietet. Die Ausgabe beinhaltet ebenso Fingersatz-Vorschläge und historisch informierte Ausführungsbezeichnungen. Angaben und Kommentare zu Stil, Tempo, Arpeggio, Fingersätzen, Staccato, Ornamenten und Bindebögen sind detailliert und informativ (nur auf Englisch). Auch die oft wiederkehrende Frage der Triller, bzw. wie diese umgesetzt werden sollen, wird angesprochen, ohne dogmatisch zu sein. Es ist eben auch der Freiheit des Interpreten überlassen, der dank den vielen Erläuterungen fundiert entscheiden kann. Begrüssenswert ist ebenfalls, dass keine Pedalangaben gedruckt wurden, denn jeder Harfenist hat eine individuelle Pedaltechnik und -bezeichnung.

Ein sehr schöner Bonus: Die Fantasie von Backofen ist vollumfänglich im Anhang enthalten: eine freie Einleitung, ein kleiner, metrisch notierter Teil und dann freie Arpeggien und Akkorde – ganz der freien Interpretation der Spielerin überlassen.

Louis Spohr: Fantasie in c-Moll für Harfe op. 35, Anhang: Fantasie von Johann Georg Heinrich Backofen, hg. von Masumi Nagasawa, BA 10954, € 19.95, Bärenreiter, Kassel

Konzert für einen Elefanten

Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 3 zeigt ein kunstvolles Beziehungsgeflecht von Themen und Melodien, und es stellt höchste Anforderungen an die Ausführenden.

Rachmaninow 1910 auf dem Landgut Iwanowka mit den Korrekturfahnen des 3. Klavierkonzerts. Fotograf unbekannt / wikimedia commons (Ausschnitt)

Sergei Rachmaninow komponierte sein 3. Klavierkonzert im Sommer 1909 im Hinblick auf seine erste Konzertreise nach Amerika. Viel Zeit zum Üben blieb ihm nicht, und so half er sich während der Überfahrt mit einer stummen Tastatur. Die Uraufführung fand nämlich bereits am 28. November desselben Jahres in New York statt. Das New York Symphony Orchestra spielte unter der Leitung von Walter Damrosch. Kurz darauf wurde das Werk erneut in New York gegeben, diesmal unter dem Dirigat von Gustav Mahler. Da wäre wohl mancher gerne dabei gewesen …

Die enormen Anforderungen des Soloparts sollen Rachmaninow zur Äusserung bewogen haben, es sei ein «Konzert für einen Elefanten». Vielen gilt es auch als das Klavierkonzert mit den «meisten Noten». (Da wäre dasjenige von Busoni allerdings ein ernsthafter Konkurrent.)

Angesichts all dieser Superlative geht manchmal vergessen, wie ökonomisch und kunstvoll dieses Opus 30 gebaut ist. Fast alle Themen und Melodien lassen sich auf ein paar wenige Kernmotive zurückführen. Das gilt nicht nur für den Klavierpart, sondern auch für das Orchester, das eng mit der Solostimme verwoben ist. Deshalb wohl verwandte Mahler bei den Proben zu der erwähnten Aufführung sehr viel Zeit darauf, was Rachmaninow offenbar sehr beeindruckte.

Kunstvoll gemacht ist auch das Beziehungsgeflecht, das alle drei Sätze zusammenschweisst. Zum Beispiel im Finale, wo mittendrin auf eindrucksvolle Weise wieder das erste Thema des Kopfsatzes auftaucht. Die Verbindung vom ersten zum zweiten Satz gelingt zudem mit Hilfe eines komplexen Modulationsteils, der von d-Moll nach des-Dur führt. In ähnlicher Weise verfährt Rachmaninow übrigens auch in seinen anderen Klavierkonzerten.

Dominik Rahmer hat nun dieses 3. Klavierkonzert beim Verlag G. Henle neu herausgebracht, und das Resultat ist mehr als zufriedenstellend. Der Druck ist klar und gut lesbar und gibt den vielen Noten deutlich mehr Platz als etwa jener in der alten Ausgabe von Boosey & Hawkes. Die Fingersätze von Marc-André Hamelin sind vernünftig und klugerweise sparsam angebracht. Der Orchesterpart (Klavier II) wurde nach dem Original von Rachmaninow übernommen und von Johannes Umbreit zur besseren Spielbarkeit nur leicht modifiziert.

Nach Rachmaninow haben zunächst nur wenige Pianisten sich an dieses gewaltige Werk gewagt. Darunter in erster Linie Vladimir Horowitz, der es geradezu vom Komponisten «erbte». Heutzutage gehört es zum festen Bestandteil des Konzertrepertoires, auch wenn die Anforderungen dadurch natürlich nicht geringer geworden sind. Einer, der sich sowohl als Pianist wie auch als Dirigent sehr oft mit diesem Konzert beschäftigt hat, ist Vladimir Ashkenazy. Von ihm existieren gleich mehrere Aufnahmen, darunter als wohl bemerkenswerteste jene mit dem Concertgebouw-Orchester unter der Leitung von Bernard Haitink (Decca). Eine Einspielung, die vielleicht auch Rachmaninow-Verächter bekehren könnte …

Sergei Rachmaninow: Klavierkonzert Nr. 3 d-Moll op. 30, hg. von Dominik Rahmer, Klavierauszug von Johannes Umbreit, HN 1452, € 29.00, G. Henle, München

Sensibles Debüt mit seltener Musik

Drei junge Musikerinnen präsentieren sich mit Werken von Emmy Frensel Wegener, Miriam Hyde und Tania León, den Rahmen bildet Regers erstes Streichtrio.

Streichtrio Triologie: Elodie Théry, Cello; Meredith Kuliew, Viola; Nevena Tochev, Violine. Foto: zVg

Der Anfang der CD ist etwas seltsam, als Intro das Einstimmen der Streichinstrumente, und erst recht dann das Programm: Max Regers erstes Streichtrio von 1904 erklingt zwischen den Werken dreier späterer Komponistinnen. Besonders schlüssig erscheint das nicht, eher aufgesetzt, aber schliesslich handelt es sich um ein Plattendebüt, und da wollten die Musikerinnen über die stilistische Vielseitigkeit hinaus wohl auch ihre eigene musikalische präsentieren – was ihnen aufs Schönste gelingt. Die drei vom Triologie-Streichtrio lernten sich 2019 beim Masterstudium an der Luzerner Hochschule kennen und treten seither gemeinsam auf.

Auf der CD gibt es nun einiges zu entdecken, nicht nur Regers Trio, sondern auch zwei Komponistinnen der frühen Moderne: Emmy Frensel Wegener (1901–1973) aus den Niederlanden komponierte vor allem in den 20er- und 30er-Jahren, musste es dann aber krankheitshalber aufgeben. Ihr fünfsätziges, kurzweiliges Werk von 1925 ist von einer wunderbaren Leichtigkeit und wird von Triologie behende dargeboten, ebenso wie das charmante Streichtrio der Australierin Miriam Hyde (1913–2003). Neunzehn Jahre alt war sie, als sie es schrieb. So steht es am Anfang eines reichen kompositorischen und übrigens auch literarischen Schaffens, für das Hyde mehrfach geehrt wurde. Das Hauptwerk der CD ist jedoch das einsätzige Stück A tres voces der 1943 geborenen Kubanerin Tania León. 2010 entstanden, vereinigt es Elemente aus der Neuen Musik mit afroamerikanischen Rhythmen. Das keineswegs in einer plakativen Crossover-Manier. Der Drive ist untergründig, trägt aber die Spannung, die Musik reflektiert, geht Abwege, durchbricht den Fluss durch solistische Einlagen und hält stets Überraschungen bereit. Und auch dieser hier als Weltersteinspielung vorliegenden Musik werden die drei Musikerinnen mit ihrer genauen, sensiblen und äusserst transparenten Spielweise gerecht. Das kommt auf den Punkt.

A tres voces. Triologie String Trio (Elodie Théry, Cello; Meredith Kuliew, Viola; Nevena Tochev, Violin). Prospero PROSP0101

Irische Westernmusik

Im Soundtrack für den Film «In the Land of Saints & Sinners» verwebt das schweizerisch-australische Komponistentrio Diego, Nora und Lionel Baldenweg gekonnt Westernklänge mit irischer Musik. Ein epischer Hörgenuss!

v. li.: Nora und Diego Baldenweg, Dirigent Dirk Brossé und Lionel Baldenweg bei den Orchesteraufnahmen zu «In the Land of Saints and Sinners». Foto: zVg

Das nordirische Küstengebiet bringt ähnlich raue Typen hervor wie die amerikanische Prärie. Schreitet Liam Neeson im Film In the Land of Saints & Sinners mit seiner Knarre durch die Weiten der irischen Landschaft, erinnert dies stark an Clint Eastwood, der einst als Solitär in Spaghetti-Western durch den imaginären Wilden Westen streifte.

Da verwundert es kaum, dass der Soundtrack, komponiert von den schweizerisch-australischen Geschwistern Diego, Nora und Lionel Baldenweg, viele typische Westernmusik-Elemente aufgreift. Der musikalische Kosmos von Ennio Morricone stand dabei bei gefühlt jeder zweiten Note Pate. Da darf auch eine Mundharmonika (sinnlich gespielt von Pfuri Baldenweg) nicht fehlen. Wie ein roter Faden zieht sich dieses Instrument durch den von Leitmotivik geprägten Score. Und dennoch: Nicht nur Westernklänge spielen eine wichtige Rolle in der Tonspur des Films von Regisseur Robert Lorenz, auch eigens komponierte irische Volksmusik ist subtil in das Klanggefüge integriert.

Grosser Ideenreichtum

Das Komponistentrio greift bei der Vertonung des Films, der in den Wirren des Nordirlandkonflikts spielt, mit grossem Ideenreichtum in die Filmmusik-Trickkiste: Rhythmisch vorwärtsdrängende Klangballungen (The Grand Showdown), wie man sie ähnlich aus Hans Zimmers Komponierfabrik kennt, wechseln sich gekonnt mit lyrischen Themen (Finbar’s Theme) und süffigem irischem Westernsound (Irish Western Ballad) ab.

Der meisterhaft von Diego Baldenweg orchestrierte Score wurde in den belgischen Galaxy-Studios unter der Leitung von Dirk Brossé klangschön eingespielt. Das Galaxy Symphonic Orchestra, zusammengesetzt mit Musikerinnen und Musikern aus verschiedenen Ländern Zentraleuropas, erhielt dabei von Mitgliedern des Vlaams Radiokoor stimmlich Unterstützung. Episch, wie dabei die herbe irische Landschaft musikalisch eingefangen wurde. Grosses Kino für die Ohren!

In the Land of Saints & Sinners. Music Composed by Diego Baldenweg with Nora Baldenweg & Lionel Baldenweg. Galaxy Symphonic Orchestra, Conducted by Dirk Brossé; Feat. Pfuri Baldenweg. Caldera Records C 6058

Aus der Zeit gefallen

Ein Sammelband porträtiert den Komponisten, Musikwissenschaftler, Publizisten und Dozenten Peter Benary.

Peter Benary 1991. Foto: Max Kellenberger / Schwabe-Verlag

Ganz offenbar war Peter Benary (1931–2015) nicht das, was man unter einem «einfachen Menschen» versteht. In seinen Seminaren an der Hochschule Luzern äusserte er sich schon mal spöttisch-sarkastisch gegenüber seinen Studenten. Von einer «schwierigen Freundschaft» spricht in diesem neu erschienenen Sammelband der langjährige Freund und Dirigent Peter Gülke. Und dann wären da noch die Kritiken, die Peter Benary für die NZZ schrieb. Sie waren manchmal bissig, denn das Engagement für die Musik konnte ins Verletzende kippen – gerade dann, wenn es eben nicht seine Musik war.

Seine Musik – da sind sich sämtliche 17 Autoren des Bandes einig – war nicht die der Avantgarde nach 1950. Es fallen die Namen von Benarys Fixsternen Wolfgang Amadeus Mozart, Anton Bruckner oder Paul Hindemith. Michel Roth, Komponist und Professor an der Hochschule für Musik Basel, erwähnt Benarys Aufsatz Die Ablehnung neuer Musik, wo «ein pervertiertes Technik-Verständnis» kritisiert wird und Benary einen «Sprachverlust der Musik» bemängelt, der darauf zurückzuführen sei, dass «Technik» an die Stelle von «Gehalt, Sprachsinn, Ausdruck» getreten sei (S. 116).

Als Komponist war Benary mässig erfolgreich. Seine Werke wurden im Rahmen von Neue Musik Festivals so gut wie gar nicht gespielt; er selbst klagte einmal, «nicht mehr für die Schublade» komponieren zu wollen. Nichtsdestotrotz entstand ein doch umfangreiches Œuvre mit vielen Chorwerken, drei Sinfonien, vier Streichquartetten und beachtlich viel Kammermusik. (Der Sammelband schliesst mit dem Werkverzeichnis, erstellt von David Koch, S. 212 ff.) Produktiv war Benary auch als Musikpublizist, sei es als Kritiker der NZZ oder als Autor für die Schweizer Musikzeitung und die Schweizer musikpädagogischen Blätter. Viele musikwissenschaftliche Aufsätze zeugen von einem breiten Horizont: Grundlegende ästhetische Betrachtungen stehen neben Gedanken zur Interpretation und spezifischen Auseinandersetzungen mit einzelnen Werken und Komponisten der Musikgeschichte.

Nach der Lektüre des 2024 im Basler Schwabe Verlag erschienenen Buches bleibt trotz des Schaffensdranges das Gefühl, dass Benary irgendwie aus seiner Zeit gefallen sei. Seine Zeit als Essayist und Programmheft-Autor für das Lucerne Festival endete im Jahr 2007, weil sich der Autor schlicht weigerte, mit dem Computer zu schreiben und auf der guten alten Schreibmaschine bestand. Haikus, Lyrik und Aphorismen schrieb der Komponist, Musikwissenschaftler, Publizist und Dozent übrigens auch. Darunter der munter-lustige Sinnspruch: «Eine Fliege geht über das Notenpapier bis zur Fermate.»

Peter Benary, Komponist, Musikwissenschaftler, Publizist und Dozent, hg. von Niccolò Raselli und Hans Niklas Kuhn, 229 S., Fr. 46.00, Schwabe, Basel 2024, ISBN 978-3-7965-5109-3

Klangmosaik mit Interviewtexten

Die Texte des Doppelalbums «Joy Anger Doubt» stammen teilweise aus ethnografischen Interviews, die der Norient-Gründer Thomas Burkhalter in den vergangenen 15 Jahren geführt hat. Für die Musik, mit vielen Featurings, zeichnet er zusammen mit Daniel Jakob verantwortlich.

Melodies In My Head: Daniel Jakob und Thomas Burkhalter. Foto: Web

Unter den vielen, feinen Taten des weitgereisten Berner Autors, Anthropologen, Musikethnologen und «Audiovisual Artist» Thomas Burkhalter ragt wohl die Gründung von Norient heraus. Unter der Ägide eines global verstreuten Teams präsentiert diese Arbeitsgemeinschaft unter anderem eine ausgezeichnete Website mit audiovisuellen Beiträgen über untergrundhafte, urbane Musikszenen aus aller Welt. Wie Burkhalter ist auch Daniel Jakob ein Urgestein der Berner Szene. Auf seine erste Band Merfen Orange folgten die Elektronikpioniere Filewile, danach wandte er sich dem Dub/Reggae zu und arbeitete auch mit Lee Perry. Nun haben sich die beiden schöpferisch zusammengetan. Die doppelte Vinylversion ihres Albumdebuts ist eine computerkünstlerische Augenweide, die prägnant signalisiert, dass wir es hier nicht mit einem ethnografischen Museumsprojekt zu tun haben. Burkhalter und Jakob zeichnen für die Musik und einen Teil der Texte verantwortlich. Gastsänger und -sängerinnen wie Joy Frempong, Christophe Jaquet aus Lausanne und der Bhangra-Veteran Balbir Bhujhangy aus Birmingham steuern eigene Worte bei – andere Textpassagen sind Interviews entnommen, die Burkhalter während seinen Reisen geführt hat. Musikalisch gesehen bewegt sich das Projekt zwischen pfundigen Tanzbeats mit poppigen Gesangsmelodien, trancigem Techno, Ambient-Klängen und – dies ein Highlight – der bedrohlichen, an die Young Gods gemahnenden, perkussiven Intensität von Pressure From All Sides. Der Musik ist die globale Dimension des Projekts nur spurenhaft anzumerken. Die Stimmen dagegen widerspiegeln diese laut und deutlich. Sie sprechen zu gleichen Teilen von Träumen, Frust und kreativer Inspiration (den Kenianer Boutross Munene ereilt eine solche gewöhnlich um vier Uhr früh, wenn er den ersten Kaffee getrunken hat). Ob man die Interviewausschnitte mehr als zwei Mal zu hören braucht, sei dahingestellt – dennoch bilden sie einen integralen Teil eines faszinierenden Klangmosaiks.

Melodies In My Head: Joy Anger Doubt. melodiesinmyhead.com

Groovende Weihnacht

Gerwin Eisenhauer hat einen zweiten Band mit Play-alongs für die Adventszeit herausgebracht. Sie bieten viel Freiraum für jedes Niveau.

Kleine Trommel unter dem Weihnachtsbaum. KI-generiert von depositphotos.com

The Christmas Drum Book 2 beinhaltet abwechslungsreiche Christmas-Play-alongs in unterschiedlichen Stilen von Pop, Swing, Hip-Hop und Funk. Dabei sind traditionelle amerikanische Songs sowie einige Klassiker aus dem deutschsprachigen Raum.

Bis auf Jingle Bells sind die Drumset-Titel offen gestaltet, das heisst, es stehen verschiedene, zum Stück passende Grooves zur Auswahl. Der Chart zeigt lediglich die Form und Abläufe des Songs mit Angabe der Feels und möglichen Fill-ins. Das ist sehr praktisch, übersichtlich und lässt Platz für eigene Interpretationen.

Wie schon beim ersten Band sind einige Stücke speziell für die kleine Trommel arrangiert, damit die jungen Schlagzeuger vor dem Christbaum etwas zum Besten geben können, ohne das ganze Drumset aus dem Keller holen zu müssen. Auch hier gibt es bei jedem Titel einen Open-Chart, sowie drei Schwierigkeitsstufen: easy, intermediate und difficult. So ist für jedes Niveau etwas dabei und es gibt auch hier genügend Freiraum, um seine eigene Kreativität einfliessen zu lassen.

Im Vorwort schreibt der Autor Gerwin Eisenhauer: «Ich bin der festen Überzeugung, dass es sehr sinnvoll ist (auch für ganz junge Schülerinnen und Schüler), sich mit Grooves ausserhalb des gängigen 4/4-Takts zu beschäftigen, um einen umfassenderen Blick auf unsere wunderbare rhythmische Welt zu bekommen.» Bei vielen der Songs liegt deshalb der Fokus auf den ungeraden Taktarten.

Die Songs sind aufwendig und qualitativ hochwertig eingespielt worden und können mit diversen Hör- und Play-along-Versionen als MP3 heruntergeladen werden.

Dieses Buch ist ein tolles musikalisches Weihnachtspaket für beginnende und fortgeschrittene Schlagzeuger. Es gibt genügend Material für die Unterrichtszeit von November bis Weihnachten, mit dem man Technik, Musikalität und verschiedene Feels üben kann und gleichzeitig etwas Weihnachtsstimmung in den Unterricht bringt.

Gerwin Eisenhauer: The Christmas Drum Book 2, D 420, mit Audio-Download, € 18.80, Dux, Manching

Generalbass: Aller Anfang ist leicht

Monika Mandelartz zeigt an Beispielen zumeist englischer Tanzmusik des Frühbarocks, wie man sich an die historische Improvisation herantastet.

Das Konzert. Ölbild von Aniello Falcone (1606–1656). Museo del Prado / wikimedia commons

Generalbassspiel auf Tasteninstrumenten setzt unterschiedliche Kompetenzen voraus: Spieltechnik, Harmonieverständnis, Lese- und Reaktionsfähigkeit im Begleiten und zudem improvisatorische Fantasie, da die allermeisten Töne ja nicht in den Noten stehen. Die grössten Anfangsschwierigkeiten bereitet das Spielen ohne präzise Notenvorgabe, was im Zusammenspiel mit anderen Stimmen aber wesentlich leichter ist, vorausgesetzt die Musik ist nicht zu anspruchsvoll.

Genau hier setzt Greensleeves and Pudding Pies an. Im Rahmen von Ensemblestücken mit einer oder optional zwei Oberstimmen aus der zumeist englischen Tanzmusik des Frühbarock, können Anfänger auf der niedrigsten Stufe (Level 1) ohne grosse Vorbereitung ihre ersten Schritte in der Continuo-Improvisation wagen: 1.) bei wiederholt angeschlagenen, gleichen Basstönen (und Akkorden), 2.) mit Pendelbässen, 3.) ersten Schrittfolgen, 4.) auf Orgelpunkten mit wechselnden Harmonien, wobei schon Ziffern zu lesen sind, bis hin zu 6.) Bassbewegungen bei ausgehaltenen Akkorden der «rechten Hand». Auf dieser einfachen Grundlage sind der Gestaltung der «Continuo-Beginner» keine Grenzen gesetzt: rhythmisch, harmonisch, figurativ, melodisch, ornamental usw. Dazu braucht man nur ein Instrument, eine Mitspielerin oder einen Mitspieler und natürlich das einladende Heft der Hamburger Cembalistin, Harfenistin und Blockflötistin Monika Mandelartz. Level 2 und 3 warten schon mit der Fortsetzung!

Monika Mandelartz: Greensleeves and Pudding Pies. Figured Bass and Historic Improvisation, 50 Pieces for 2 or more Instrumentalists, Level 1, EW 1220, € 26.50, Walhall, Magdeburg

Kontemplative Klangreise

Auf ihrem ersten gemeinsamen Werk widmen sich der Schweizer Schlagzeuger Marcol Savoy und der französische Pianist Alfio Origlio einem Musikdialog, der sich neugierig und nuancenreich zeigt.

Alfio Origlio (li) und Marcol Savoy. Foto: Anne Colliard

Oftmals bilden Drummer zusammen mit dem Bassisten die Rhythmusgruppe einer Band und damit deren Fundament. Aus Sicht des Schlagzeugers und Komponisten Marcol Savoy geht es aber auch ganz anders: Der an der Haute Ecole de Jazz de Lausanne und am Lausanner Konservatorium ausgebildete Musiker mag es durchaus, im klanglichen Mittelpunkt zu stehen und immer wieder neue Elemente in sein Spiel mit den Jazzdrums zu integrieren. Für sein neues Album Improspections hat er sich mit dem französischen Pianisten Alfio Origlio zusammengetan, der sich unter anderem dadurch auszeichnet, Merkmale des Chansons in sein jazziges Spiel einfliessen zu lassen. Wie dem Cover des Werkes zu entnehmen ist, handelt es sich bei den 17 Tracks samt und sonders um Improvisationen. Dem Background des Duos entsprechend sind die Stücke dabei nicht nur vom Jazz, sondern auch von Weltmusik und Klassik geprägt. Gemeinsam machen sich die zwei auf die Reise in eine kontemplative Klangwelt, bei der insbesondere die Resonanzen und die Stille im Fokus stehen. Keine der Kompositionen erreicht 4 Minuten, manche bleiben sogar unter 120 Sekunden, was sie wie Momentaufnahmen wirken lässt.

Während sich die Musik in Songes vorsichtig durch eine unbekannte Traumwelt tastet, zeigt sich das anschliessende Nuits nicht nur elegischer, sondern auch zunehmend selbstsicher. Man spürt förmlich, wie der Dialog zwischen Schlagzeug und Piano an Fahrt gewinnt, sich vertieft und bisweilen verschärft und schliesslich in Stücken wie dem subtil vorgetragenen Différé oder dem zunehmend polternden Sables mündet. Was besonders grossen Hörgenuss bereitet, ist der kontinuierliche Entwicklungsprozess der Musik, die sich nie auf ihren Lorbeeren ausruht und stets neugierig bleibt. Daraus ergeben sich immer wieder neue Stimmungen und Schattierungen, mal meditativ, mal schwirrend. Fazit: Wer sich auf Improspections einlässt, wird mit knapp vierzig Minuten nuancenreicher Tonkunst belohnt.

Improspections. Marcol Savoy, drums; Alfio Origlio, piano.marcolsavoy.com

 

 

Komplexe Entstehungsgeschichte

Das 2. Streichquartett von Béla Bartók ist in einer Neufassung erschienen, es ist die wohl wahrscheinlichste Version nach dem Willen des Komponisten.

Waldbauer-Quartett: Jenő Kerpely, Imre Waldbauer, Antal Molnár, János Temesváry, mit Béla Bartók (links sitzend) und Zoltán Kodály (rechts sitzend), 1910. Foto: Aladár Székely / wikimedia commons

Béla Bartóks eminent schwierige Streichquartette sind längst keine Schreckgespenster eines klassisch-romantisch orientierten Publikums mehr, sondern fester Bestandteil des Bühnenrepertoires und eine willkommene Herausforderung für professionelle Streichquartette. Die langwierige Entstehungs- und komplexe Verlagsgeschichte des 2. Streichquartetts op. 17, uraufgeführt am 3. März 1918 vom Waldbauer-Kerpely-Quartett in Budapest, erschwerte die vorliegende Neuausgabe bei G. Henle in Zusammenarbeit mit der Editio Musica Budapest  erheblich.

Erste Motive und Entwürfe einzelner Passagen entstanden bereits 1914. 1915 entwickelte Bartók das Stück weiter, bevor er pausierte und erst im Frühjahr 1917 in die Endphase des Komponierens eintrat. Anfang und Ende des Prozesses stimmen annähernd mit den Eckdaten des Ersten Weltkrieges überein, dessen Wirren grossen Einfluss auf die Entstehung hatten. Nicht Ungarns Folklore stand diesmal Pate, sondern Eindrücke einer vor dem Krieg durchgeführten Reise mit seiner Frau Márta nach Algerien. Überrumpelten «Landbewohnern» verschiedener Oasen setze Bartók damals den berühmten Sammel-Fonografen vor die Nase. Die Ausbeute der vorzeitig wegen unerträglicher Hitze und Gesundheitsproblemen des Komponisten abgebrochenen Forschungsreise findet ihren Niederschlag im zweiten Satz, der rhythmisch und melodisch arabisch geprägt ist. Im resignativ endenden letzten Satz, den sein Freund Zoltán Kodály mit der imaginären Überschrift «Leid» versah, könnte man einen Abgesang auf die versunkene Welt der österreichisch-ungarischen Monarchie oder gleich der europäischen Ordnung mittels eines sinnlos mörderischen Krieges mit zahllosen Opfern verstehen.

Das zunehmende Chaos im Verlauf des letzten Kriegsdrittels erschwerte die Kommunikation zwischen Bartók und der Universal Edition in Wien. Nicht alle im Prozess der Korrekturen entstandenen Druckgrundlagen haben überlebt. Selbst der Komponist konnte bis in sein Todesjahr 1945 nicht alle Diskrepanzen ausräumen, weswegen die Neuausgabe sich auf die wahrscheinlichste Endfassung nach Bartóks Willen stützt. Dennoch konnten einige Fehler der Universal-, später Boosey-&-Hawkes-Ausgabe eliminiert werden, und Interpreten dürfen sich über eine in allen Punkten überzeugende Revision freuen. Spannend sind auch die zugänglich gemachten Anmerkungen Kodálys zu Bartóks Werk, die dieser aus unerklärlichen Gründen in Gänze publizistisch ignoriert hatte.

Einen grossen, ungemein angenehmen Fortschritt hat man hinsichtlich der Entzerrung des Notenbilds gemacht. So wurde beispielsweise die Stimme der 1. Violine von bisher 11 Seiten auf 17 erweitert.

Béla Bartók: Streichquartett Nr. 2 op. 17, hg. von László Somfai; Stimmen: HN 1422, € 24.00; Studienpartitur: HN 7422, € 14.00; G. Henle, München

Reduzierter Sonnengesang

Urs Stäuble hat Hermann Suters Oratorium «Le Laudi» für Aufführungen mit kleinerer Besetzung eingerichtet.

Franz von Assisi, oberer Teil des ältesten Porträts, eines Wandgemäldes aus dem Kloster Sacro Speco in Subiaco. Quelle: Parzi / wikimedia commons

Das Oratorium Le Laudi nach Franz von Assisis Sonnengesang komponiert von Hermann Suter (1870–1926) wurde vor genau hundert Jahren in Basel uraufgeführt und machte ihn international berühmt. Das beliebte Stück wird zwar noch ab und zu aufgeführt, aber der grosse personelle und finanzielle Aufwand für solch einen spätromantischen «Schinken» übersteigt oftmals die Möglichkeiten kleiner werdender Chöre.

Urs Stäuble, der sich bereits mit anderen Reduktionen einen Namen gemacht hat, legt nun beim Musikverlag Hug in Zürich eine gekonnte Kammerfassung vor. Die originale Partitur reduziert er auf ein Streichquintett, das sich an der Grösse des Chores orientieren kann, einen Schlagzeugspieler und Orgel, die die relevanten Bläserstimmen übernimmt. Die Vokalstimmen bleiben unverändert, um den vorhandenen Klavierauszug (ebenfalls Hug) weiterverwenden zu können. Neben einem geeigneten Aufführungsort, bei dem sich eine gut disponierte Orgel in der Nähe der Ausführenden befinden muss, braucht man versierte Spieler für die teils sehr virtuosen Streicherpartien.

Eine sehr empfehlenswerte Kammerfassung, die dieses ergreifende Werk auch kleineren Chören zugänglich macht.

Hermann Suter: Le Laudi di San Francesco d’Assisi (Sonnengesang), Kammerfassung von Urs Stäuble, Partitur, Hug Musikverlage, Zürich

Eine Zauberflöte ohne Diskriminierung

Die Initiative «Critical Classics» hat sich zum Ziel gesetzt, die Libretti bekannter Bühnenwerke von rassistischen und sexistischen Stereotypen zu befreien.

Pamina, Sarastro und Monostatos in überkommenen Posen. Liebig’s Sammelbilder, 1909. Quelle: wikimedia commons

Geht man als junge Frau in die Oper, muss man sich allerhand ansehen und anhören: Frauen auf den Bühnen werden entführt, ermordet, in den Wahnsinn getrieben, bevormundet oder negativ dargestellt, regelrecht auf den Altären der Oper geopfert. In Mozarts Zauberflöte scheint Pamina nur ein Spielball zwischen der rachsüchtigen Königin der Nacht und Sarastro zu sein und fällt hinter ihrem männlichen Gegenpart Tamino zurück.

Was tun mit den Opern aus vergangen Jahrhunderten, in welchen Sexismus, Rassismus und Diskriminierung aller Art enthalten sind? Die Initiative Critical Classics, die von Theatermanager und Regisseur Berthold Schneider gegründet wurde und vom Landesmusikrat Nordrhein-Westfalen unterstützt wird, hat sich dieser Frage angenommen und es sich zur Aufgabe gemacht, Libretti aus früheren Jahrhunderten kritisch zu lesen und sie gemäss modernen Standards in Bezug auf nichtdiskriminierende Sprache und Darstellung zu überarbeiten. Das Critical-Classics-Team, bestehend aus Opern-, Musik-und Theaterschaffenden, Autoren sowie Diversitätsberatenden, hat eine Neuausgabe des Zauberflöten-Librettos erarbeitet, die nun online frei verfügbar ist.

Die meistgespielte Oper zuerst

Bei Mozarts und Schikaneders Zauberflöte anzusetzen, macht Sinn. Sie ist die wohl berühmteste Oper überhaupt und enthält viel Problematisches. Zum einen ist da die Rolle des Monostatos, dessen Hautfarbe und Herkunft durchwegs negativ gedeutet werden. Die Beschreibung als «böser Mohr» und seine Aussage «Und ich soll die Liebe meiden, weil ein Schwarzer hässlich ist!» sind auf rassistischen Stereotypen basierende Darstellungen, die nichts mehr auf der Opernbühne zu suchen haben. In der Neuausgabe von Critical Classics wird Monostatos zum bösen Knecht, der zugleich der uneheliche Sohn von Sarastro ist. Dieser will ihn nicht als Erbe anerkennen, woraus sich ein plausibler Konflikt ergibt, der nicht rassistisch motiviert ist.

In Schikaneders Libretto ist für Pamina, Papagena und die namenlose Königin der Nacht die Unterordnung unter Männer die grösste Pflicht. Diese Darstellung von Frauen, die durch Verallgemeinerungen wie «Ein Weib tut wenig, plaudert viel» unterstützt wird, weicht in der Neuausgabe einem positiveren, selbstbestimmten Frauenbild. So behauptet sich Papagena selbstbewusst und schlagfertig gegen Papageno, und das vormals «schüchterne Reh» Pamina erhält eine zusätzliche Arie im vierzehnten Auftritt des ersten Aktes. Mozarts Konzertarie Nehmt meinen Dank, Ihr holden Gönner, mit einem neuen Text versehen, verleiht Pamina die Möglichkeit, sich selbstreflexiv zu zeigen und das Geschehene kritisch zu hinterfragen.

Ressourcen für individuelle Lösungen

Die Neuausgabe überzeugt, weil sie trotz Änderungen dem Originaltext treu bleibt, gut durchdachte Alternativen bietet, Kontexte erklärt und ausnahmslos jede Änderung dokumentiert und begründet ist. Nicht ganz konsequent umgesetzt sind die Ersetzungen von «Weib» und «Mädchen» mit «Frau». Ausserdem ist in der Neufassung die Rede von der «reinen Abkunft» Sarastros, im Gegensatz zu Monostatos’ unehelicher Herkunft. Diese Formulierung müsste nochmals überdacht werden, da sie ebenfalls problematische Konnotationen mitbringt.

Die Neuausgabe soll laut Critical Classics nicht als absolute Version gelten, sondern als Vorschlag für Produktionen dienen, in welchen eigene Anpassungen möglich sind. Die Stärke von Critical Classics liegt genau darin: im Schaffen von Ressourcen für Aufführungen und im Entfachen von Debatten darüber, was genau Libretti aus früheren Zeiten transportieren und wie damit umgegangen werden soll. Die Neuausgabe der Zauberflöte zeigt auf, dass Operntexte nicht unantastbar sind, sondern sich verändern müssen, damit die Oper weiterbestehen kann.

Als Nächstes sollen Bachs Johannespassion, Bizets Carmen und Puccinis Madama Butterfly überarbeitet werden. Libretto und Klavierauszüge mit dem veränderten Zauberflöten-Text, Noten der eingefügten Arie sowie weitere Informationen unter:
criticalclassics.org

«Samson» nach über 170 Jahren uraufgeführt

Joachim Raffs Oper «Samson» kam zu seinem 200. Geburtstag erstmals auf die Bühne. Nun liegt das monumentale Werk auf CD vor.

Samson and Delilah. Gemälde von Anthonis van Dyck, 1628–1630. Kunsthistorisches Museum Wien/wikimedia commons

Erst vor zwei Jahren wurde die 1856 vollendete Oper Samson des 1822 in Lachen/SZ geborenen Komponisten Joachim Raff in Weimar uraufgeführt. Nun hat Graziella Contratto mit ihrem Label Schweizer Fonogramm das mehr als dreistündige Werk in einer aufwendigen, künstlerisch bemerkenswerten Studioproduktion (Aufnahmeleitung: Frédéric Angleraux) samt dreisprachigem Libretto und ausführlichem Einführungstext als Ersteinspielung in Zusammenarbeit mit den Bühnen Bern und der Joachim-Raff-Gesellschaft Lachen vorgelegt. Ob sich die Oper künftig auf der Bühne behaupten kann, mag bezweifelt werden – zu oratorisch ist Raffs Dramaturgie, zu langatmig geraten sind manche Szenen. Musikalisch ist dieses Werk aber auf alle Fälle lohnend mit seiner farbigen Instrumentation, dem direkten Nebeneinander von Klangmassen und Fragilität und den kantablen, anspruchsvollen Solopartien

Als Assistent von Franz Liszt erlebte Raff die Uraufführung von Wagners Lohengrin in Weimar aus nächster Nähe, was ihn zu seiner Oper Samson inspirierte. Den Lohengrin hört man nicht nur am Ende des ersten Aufzugs im Chor «Heil dem Helden von Dan», sondern auch in der anspruchsvollen, hoch liegenden Titelpartie. Magnus Vigilius verbindet lyrischen Schmelz mit grosser Strahlkraft. In einzelnen Passagen wie «So sind zerrissen» fehlt es ein wenig an Flexibilität. Olena Tokar ist eine vielschichtige Delilah, deren reiche Sopranstimme nur in der dramatischen Höhe etwas an Ausgewogenheit verliert. Mit Robin Adams als sich zwischen Selbstbewusstsein und Verzweiflung bewegendem Abimelech, Christian Immler als Oberpriester mit natürlicher Autorität und Michael Weinius als von Delilah verschmähtem Liebhaber Micha ist das gute Solistenensemble komplett.

Dirigent Philippe Bach arbeitet mit dem Berner Symphonieorchester viele lohnende Details heraus, etwa wenn die Klarinette Samson verspottet oder beim Kindertanz in den Flöten eine mendelssohnsche Leichtigkeit entsteht. Die Streicherbegleitung ist griffig, die Blechbläser sorgen für eindrucksvolle szenische Momente wie beim Auftritt des Oberpriesters. Der Chor der Bühnen Bern macht aus dem Volk eine klangschöne, jederzeit zur Eskalation bereite Gemeinschaft, vor der man sich auch fürchten kann.

Joachim Raff: Samson, Musikdrama in drei Abteilungen, Libretto vom Komponisten, Ersteinspielung. Magnus Vigilius, Olena Tokar, Robin Adams, Christian Immler, Michael Weinius, Berner Symphonieorchester, Chor der Bühnen Bern, musikalische Leitung Philippe Bach. 3 CDs, Schweizer Fonogramm.

Leicht und doch nicht so leicht

Die Klavierstücke und Tänze, die Josef Suk als «leicht» bezeichnet, haben es sowohl pianistisch wie atmosphärisch in sich.

Porträt von Josef Suk mit der Widmung «Für das liebe Fräulein Otilce Dvořákové», 1894. Fotograf unbekannt/wikimedia commons

Im Verlag Bärenreiter Prag sind in den letzten Jahren einige Werke von Josef Suk (und übrigens auch von seiner Frau Otilie, der Tochter Dvořáks) erschienen. Diese Ausgaben überzeugen allesamt durch ihre Sorgfalt und vermitteln interessantes Hintergrundwissen. Die jüngste dieser Publikationen umfasst «leichte Klavierstücke und Tänze».

Herausgeber Jonáš Hájek bemerkt zu diesem Titel aber treffend: «Die Bezeichnung ‹Leichte Klavierstücke› ist mit Vorsicht zu geniessen. Hiermit liegen eher weniger anspruchsvolle Stücke aus Suks Klavierschaffen vor, doch erfordern sie nicht nur ein gewisses Niveau an technischer Vorbereitung, sondern auch Flexibilität wegen der subtilen emotionalen Wechsel auf relativ kleinem Raum.» A propos «leicht»: Es mag eine besondere Begabung von Suk sein, sowohl das «Leichte» wie auch das «Tiefsinnig-Schwere» gleichermassen und manchmal sogar gleichzeitig vermitteln zu können.

Die Sammlung beginnt mit einer walzerartigen Humoreske, gefolgt von einem elegischen Albumblatt. Die dritte Nummer, ein expressives Adagio, ma non troppo, stammt aus den Klavierkompositionen op. 12 und ist der späteren Ehefrau Otilie gewidmet. Auch das folgende Andante stammt aus einer Sammlung, nämlich der Suite op. 21.

Die folgenden Dorfserenade und Menuett zeigen Suks Liebe zum Tänzerischen und Volkstümlichen. Auch Nr. 9 Liedchen und Nr. 11 Polka aus Vysoká gehören in diesen Bereich, wobei letztere nicht wirklich eine Komposition Suks ist. Die Polka wurde offenbar «vor 30 Jahren von Musikanten für Meister Dvořák gespielt». Suk schrieb sie dann aus dem Gedächtnis nieder und richtete sie für Klavier ein.

Nr. 7 ist ohne Titel und stammt aus dem Zyklus Der Frühling op. 22a. Ein kurzes, schwermütiges Stück, eindrucksvoll wie auch das folgende mit dem Titel Wie Mutter nachts ihrem kranken Kind vorsang (aus der Sammlung Vom Mütterchen op. 28). Suk schrieb diese für seinen Sohn in Erinnerung an die frühverstorbene Otilie.

Spanischer Ulk erscheint hier erstmals im Druck. Es ist ein scherzhafter Gruss an einen Freund, verschickt auf einer Ansichtskarte aus Madrid. Das kurze Stück beginnt mit rassigen spanischen Rhythmen und endet mit einem Zitat aus dem volkstümlichen Lied Wo ist meine Heimat, das später zum tschechischen Teil der tschechoslowakischen Hymne avancierte. Suk schrieb über das Zitat übrigens noch einen witzigen Kommentar, in dem er seine «Sehnsucht nach Knödeln» zum Ausdruck brachte.

Am Weihnachtsabend schliesslich zitiert wohl eine slowakische Melodie. Es ist eine erweiterte Fassung des Liedes Gruss an die Schüler in der Slowakei. Das stimmungsvolle Klavierstück ist die Perle des ganzen Heftes und wurde am 4. Januar 1924 veröffentlicht, exakt zum 50. Geburtstag des Komponisten. Und somit ist es gerade hundertjährig geworden …

Josef Suk: Leichte Klavierstücke und Tänze, hg. von Jonáš Hájek, BA 11575, € 14.95, Bärenreiter, Prag

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