Highmatt-Geschichte

Der Journalist und langjährige Vertraute Hanspeter Spörri hat eine reichhaltige Biografie des Appezeller Musikers und Multimedia-Künstlers Steff Signer geschrieben.

Highmatt-Dichter Steff Signer, 2008. Foto: Toni Schwitter / Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, Trogen

Steff Signer alias Infrasteff hat nie eine Hitparade geknackt noch gar Stadien gefüllt oder sonstwie die Kassen in Verzückung versetzt. Immerhin schaffte es seine Oper Später Nachmittag im Paradies ans Rossini-Opernfestival auf der Insel Rügen, wonach der Dirigent Wolfgang Danzmayr das Werk als «hinreissend schrägwitzig» zu rühmen wusste. Und einmal fand sich der im ausserrhodischen Hundwil geborene, heute 74 Jahre alte Experimentalrocker, -komponist, -dichter und -maler sogar in einer Schlüsselposition wieder: Von 1989 bis 1994 war er leitender Produzent für die vom Migros-Kulturprozent geführte Reihe «Musikszene Schweiz».

Gerade die unerwarteten (Seiten-)Sprünge sind es, welche die von Hanspeter Spörri, dem früheren Chefredaktor des Bund, einem Signer-Vertrauten seit der Schulzeit, verfasste Chronik zu einem so vergnüglichen und nahrhaften «Deepdive» in die Ostschweizer Musik- und Sozialgeschichte machen. Signers Archiv wird inzwischen von der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden gepflegt. «Als Zeitzeugnis dokumentieren die vielfältigen Materialien einen Zeitabschnitt appenzellischer Geschichte, der bisher in Museen, Archiven oder Bibliotheken nicht zugänglich war», schreibt die Bibliotheksleiterin Heidi Eisenhut. «Das Privatarchiv Signer ist Zeugnis einer Subkultur im Heimischen; von 1968 und Frank Zappa geprägt, ‹alternativ›, ‹freakig›, anders als Gewohntes und doch in vielen Referenzpunkten zutiefst mit Appenzellischem verbunden.»

Dank einer grosszügigen Auswahl an QR-Codes wird das Buch Signers multimedialem Werk vollauf gerecht. Die klingenden Beispiele beginnen mit jugendlichem «Piano-Jazz» und reichen über frühe «Beat»-Kombos, zappaeske Experimente (das Prädikat «Appenzeller Frank Zappa» wurde Signer nie mehr los), jazz-rockige Big Bands, Beschäftigungen mit Neuer Musik und einer Pop-Phase in den Achtzigerjahren bis hin zur satirisch-liebevollen Erforschung der Appenzeller Umgebung in jüngster Zeit. Ein exemplarisches Buch.

Hanspeter Spörri: Steff Signer. Die musikalische Biografie. Ein Stück Schweizer Rock-, Pop- und Highmatt-Geschichte, 400 S., Fr. 48.00, Appenzeller Verlag, Schwellbrunn 2024, ISBN 978-3-85882-888-0

Von der Uraufführung zur Drucklegung

Erst seit 2019 können Verdis erste Entwürfe für sein Streichquartett e-Moll eingesehen werden. Die Unterschiede zwischen Uraufführungs- und Druckversion sind enorm.

Giuseppe Verdi zwischen 1870 und 1880. Foto: Ferdinand Mulnier, Paris. Quelle: gallica.bnf.fr

Dass man bezüglich neuen, bisher wenig bekannten oder vergessenen Repertoires immer wieder überrascht werden kann, haben die letzten Jahre bewiesen. Eine Vielzahl an Streichquartetten kamen ans Licht, die zu Unrecht lange Zeit im Dunkeln lagen, wie beispielsweise diejenigen von Franz Xaver Richter, Peter Hänsel, Adalbert Gyrowetz oder Carl Czerny, um nur wenige zu nennen. Dass aber ein Quartett – und zwar das einzige – von einem weltberühmten Komponisten plötzlich in einer anderen Fassung zugänglich ist, die sich erheblich von dem viel gespielten Werk unterscheidet, ist hingegen höchst selten.

Verdi soll es langweilig gewesen sein; eine längere Probenpause soll ihn weg vom Gesang, hin zur reinen Instrumentalmusik getrieben haben, der er sich bekanntlich bis dahin nicht zugewandt hatte und dies danach auch für den Rest seines Lebens nicht mehr tun würde. Vom Erfolg des 1873 im kleinen Kreis uraufgeführten «Gelegenheitswerks» war Verdi selbst überrascht. Das Streichquartett als Gattung verortete er im deutschen Kulturkreis und empfand es als ein dem italienischen Gaumen fremdartiges Erzeugnis. Dennoch studierte er heimlich und sehr gründlich dessen DNA, was der veröffentlichte Erstdruck von 1876 eindrücklich beweist. Das Wesen und der Charakter des Quartetts sind originär südländischen Kolorits, die zugrunde gelegte Architektur hingegen basiert auf den Erzeugnissen der besten Meister der Zunft, die dem Italiener als Heiligtum galten.

Dass die uraufgeführte Version ein ganz anderes Stück war als die gedruckte, dürfte den wenigsten Kennern und Interpreten bewusst sein. Zu ihrer Entschuldigung sei gesagt, dass Verdis Manuskriptentwürfe aus der ersten Entstehungszeit – mithin 41 Seiten als Zeugen harter Arbeit – erst seit 2019 der Forschung zugänglich sind. Dem Drängen der ersten Zuhörer, den berühmten Opernkomponisten auch als Kammermusik-Meister öffentlich zu machen, schlug vom Urheber zunächst brüske Abwehr entgegen, bis er sich doch allmählich für diese Idee erwärmen konnte.

Was folgte, war ein Aufwand, den er wohl lieber vermieden hätte. Denn mit dem Gedanken der Gleichwertigkeit mit den Besten im Erschaffen eines Streichquartetts zu spielen, ist eine Sache, diese international auf den Prüfstand zu stellen, eine ganz andere. Dass es vor Häme in den Feuilletons nur so kochen würde, wenn er den Ansprüchen aus dem Norden nicht genügen sollte, stand ihm deutlich vor Augen. Der national geprägte Musikbegriff jener Zeit zeigte sich auch in Ausgrenzung und Herabsetzung anderer Tonschöpfer. Edvard Grieg konnte als norwegischer Streichquartett-Exot 1878 ein trauriges Lied davon singen, wie man ihn in «Fachkreisen» der groben Unfähigkeit beschimpfte. Vorsicht war also geboten für Verdi, der einen tadellosen Ruf zu verlieren hatte. So beschäftigte ihn seine Komposition, die er kokett «senza importanza» nannte, insgesamt sieben Jahre.

Es wäre allerdings unfair, dem Erstentwurf mangelnde Qualität zu unterstellen. Verdi geht dort weniger ausgeklügelt und methodisch vor, verlässt sich vor allem auf seine brillante Erfindungsgabe, die ein frisches und sehr ansprechendes Werk mit wacher Genialität zum Vorschein bringt. Etwas von dieser Respektlosigkeit könnte man im publizierten Quartett, das fast ein Drittel länger ist, vermissen, hätte man Gelegenheit, die beiden Stücke nebeneinander zu hören.

Für mich, der ich das Werk aus frühesten Ensembletagen kenne, ist es fast schon amüsant zu sehen, wie sich zwei der gefürchtetsten Stellen der zweiten Geige in der gesamten Streichquartettliteratur im Erstling in Luft auflösen: Das Thema im ersten Satz, etwas unangenehm auf der G-Saite zu spielen, intoniert nämlich die Primgeige, und den heiklen Scherzo-Fugenanfang im Finale, pianissimo leggerissimo zu artikulieren, gibt es überhaupt nicht. Wie übrigens gänzlich eine Fuge fehlt. Hochspannend das Ganze … In der Studienpartitur ist neben der Druckfassung auch die Uraufführungsfassung enthalten.

Ein grosses Lob für den G.-Henle -Verlag, den Werdegang des Glanzstücks Verdis so nachvollziehbar herauszuarbeiten!

Giuseppe Verdi: Streichquartett e-Moll, hg. von Anselm Gerhard; Stimmen: HN 1588, € 25.00; Studienpartitur: HN 7588, € 14.00; G. Henle, München

 

Pop in Tessiner Dialekt

Eine vom Aussterben bedrohte Sprache charakterisiert die Gesangstexte von Aris Bassettis Soloprojekt «Mortòri».

Foto: zVg

Aris Bassetti ist so etwas wie die Sonne des Tessiner Musikgeschehens. Vor zwanzig Jahren formierte er mit Barbara Lehnhoff die experimentell angehauchte Rockband Peter Kernel, die noch heute nichts von der ursprünglichen Abenteuerlust verloren hat. Das eigene Plattenlabel On the Camper Records folgte wenig später. Zum heutigen Umkreis gehören nebst Lehnhoffs Alter Ego Camilla Sparksss etwa die Harfenistin Kety Fusco, die psychedelische Band Monte Mai und die yé-yé-Archäologin Julie Meletta. Mit Mortòri wagt Bassetti nun sein Soloprojekt. Ein dringlich nötig gewordenes Unterfangen, die düsteren Gefühle zu erkunden, die mit «Liebe» eben auch verbunden seien, schreibt er und nennt als Einflüsse Ornella Vanoni, Gino Paoli, Südamerika, italienisch-schweizerische Volksmusik und «Arabic Music».

Die ersten, auf einer EP zusammengefassten Resultate verraten ihre italienischen Wurzeln vor allem in den Gesangsmelodien und den Texten, die Bassetti im vom Aussterben bedrohten Tessiner Dialekt verfasst hat. Das klingt so eigentümlich, dass man fast denken könnte, er habe diese Sprache erfunden. Bei der Instrumentierung lässt Bassetti seinen experimentellen Tendenzen freieren Lauf, ohne je den Blickkontakt mit süffiger Melodik zu verlieren. So wird O’l Amur von Vibrafon- und Bass-Riff, Querflöte und hyperaktiven Bongos vorwärtsgetrieben. Bei GDC haben wir es mit einer Art (elektronischer?) Holzbläser/Cello-Kombo zu tun und La Gata hätte in einer besseren Welt das San-Remo-Festival gewonnen. Wir freuen uns auf mehr!

Mortòri: A Mort l’Amur. On the Camper Records

Wiederentdeckte Schweizer Kunstlieder

Drei neue Alben machen deutlich, dass es in Sachen Klavierlieder von Schweizer Komponistinnen und Komponisten noch viel zu entdecken gibt, sei es im Dialekt oder auf Hochdeutsch.

Hans Thoma: Abend in der Schweiz II, 1916. Quelle: wikimedia commons

Mit ihrer aussergewöhnlichen CD Lieder der Heimat aus dem Jahre 2019 hatte die renommierte Luzerner Sopranistin Regula Mühlemann nicht nur Mut in der Repertoirewahl bewiesen, sie löste gleichsam einen neuen Trend aus (Rezension von Verena Naegele). Dieser widmet sich der sorgfältigen Sichtung und Wiederbelebung teils vergessener Werke von Schweizer Komponistinnen und Komponisten. So sind in letzter Zeit etliche Neueinspielungen erschienen, die sich solchen Vertonungen, zum Teil auch von Mundartgedichten, widmen und damit das Thema Heimat beleuchten.

Swiss Love

Das «Neujahrsstück» der Zentralbibliothek Zürich wurde für das Jahr 2025 von Franziska Heinzen (Sopran) und Benjamin Mead (Klavier) gestaltet. Unter dem Titel Swiss Love. Der Liebe Leid und Lust werden Liebesgeschichten aller Schattierungen in einem Programm vorgestellt, in dem das Duo teils erstmals eingespielte Lieder von Lothar Kempter, Johann Carl Eschmann, Yvonne Röthlisberger und Wilhelm Baumgartner kunstvoll mit neu arrangierten Volksliedern verwebt.

Hei cho

Die zweite Einspielung präsentiert unter dem Titel Hei cho Vertonungen von Gedichten Josef Reinharts, eines in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekannten Pädagogen und Schriftstellers aus der Region Solothurn. Komponiert haben sie Richard Flury, Ernst Honegger, Emil Adolf Hoffmann, Walter Lang, Friedrich Niggli, Heinrich Pestalozzi und Karl Schell. Die Sopranistin Stephanie Bühlmann – auch für sie ist es nicht die erste Mundart-Arbeit – hat für dieses Projekt den Tenor Daniel Behle sowie den Pianisten Benjamin Engeli gewinnen können, beide ausgewiesene Spezialisten.

 

Vergessene Lieder, vergessene Lieb

Die dritte CD dreht sich um das Schaffen von Willy Heinz Müller, einem aus Wien stammenden Geiger, Dirigenten und Komponisten, der bis in die 1970er-Jahre im Raum St.Gallen tätig war und ein internationales Kontaktnetz pflegte. Seine Lieder hingegen blieben für fast 100 Jahre unentdeckt, bis sich schliesslich die Sopranistin Mélanie Adami, seine Urenkelin, während der Corona-Krise die Zeit nahm, diese vergessenen Werke eingehend zu studieren. Von deren Qualität überzeugt, fand sie in der Pianistin Judith Polgar und im Bariton Äneas Humm ebenso neugierige Mitmusiker, um gemeinsam die Aufnahme mit dem Titel Vergessene Lieder, vergessene Lieb einzuspielen. Ergänzt wurden die Kompositionen durch Werke anderer Klangschöpfer, die Müller entweder sehr beeindruckt hatten oder zu denen er eine persönliche Beziehung unterhielt, etwa Ernst von Dohnányi, Franz Ries oder Carl Götze.

Das musikalische Niveau und die Aufnahmequalität ist auf allen drei Tonträgern dermassen hoch, dass man ab und zu vergisst, hier kein Standard- oder gar Meisterrepertoire zu hören. So ist beispielsweise auch der Umstand, dass Daniel Behle kein Dialektsprecher ist, nur zu Beginn auffällig. Insgesamt trägt auch dieses Merkmal eher zu einer gewissen Nobilitierung des Gesamtklangs bei. Und auch wenn vereinzelte Längen vorkommen, laden die drei Einspielungen dennoch zu einer inländischen Entdeckungsreise ein, die auch ein breiteres Publikum belohnen wird.

Swiss Love. Der Liebe Leid und Lust. Solo Musica SM 477

Hei cho. Mundartlieder auf Gedichte von Josef Reinhart. Solo Musica SM 464

Vergessene Lieder, vergessene Lieb. Forgotten Songs by Willy Heinz Müller. Prospero Classical PROSP 0087

Musik in der Fremde

Der Sammelband «Musik und Migration» liefert sowohl Begriffsklärungen wie längere Aufsätze aus diesem vielverzweigten Forschungsgebiet.

Foto: Anke van Wyk / depositphotos.com

Wird die vom Krieg geschüttelte Heimat zur Lebensbedrohung oder reicht das Geld zum Leben nicht mehr, dann ist Flucht oft die einzige Wahl. Doch was geschieht im anderen Land? Also dort, wo Flüchtlinge von ihrer eigenen Kultur abgeschnitten sind? Und wo sie im noch schlimmeren Fall nicht willkommen sind?

Es sind kulturpolitisch äusserst wichtige Fragen, die Musik und Migration behandelt. Musik ist seit je ein bestimmender Identitätsfaktor. Und daher verwundert es nicht, wenn Migranten oder Flüchtlinge Musik ihrer Heimat – seien es Volkslieder, Rap in der eigenen Sprache oder Pentatoniken aus dem eigenen Kulturraum – weiter hören und pflegen. Liest man die Aufsätze des umfangreichen Sammelbandes, kommt anderes hinzu: Musik lindert das Leid, auch dient sie der Traumaverarbeitung. Auf Seite 215 berichten Anna Papaeti und M. J. Grant von einem syrischen Geflüchteten. Bei seiner Bootsankunft in Griechenland stimmt er «eine Mischung aus Klagegesang und Gebeten» an, gerichtet an das Meer, das aufhören möge, «Kinder in seinen Wellen zu töten».

Solche drastischen Situationen sind nur ein Aspekt des hochkomplexen Themas Musik und Migration. Hinzu kommen Fragen und Probleme der «multikulturellen Gesellschaft», Aspekte der Kulturen-Aneignung inklusive das momentan seltsame Blüten treibende Feld Postkolonialismus. Die Herausgeber des dicken, 746-seitigen Sammelbands taten gut daran, «Schlüsselbegriffe» in Lexikon-Manier zu erklären, und zwar nicht nur «Postkolonialismus», sondern viele aus der Ethno- oder Soziologie entlehnte Termini wie «Agency», «Embodiment» oder «Liminalität». Grundsätzlich ist das Forschungsfeld auf interdisziplinäre Zusammenarbeit angewiesen, also tendenziell eher in den «Cultural Studies» zu verorten als in der gediegeneren Musikwissenschaft. Die Lektüre macht dies stellenweise schon fordernd. Zum einen aufgrund schwer zu fassender Probleme, zum anderen aufgrund kaum etablierter Forschungsmethoden.

Dennoch: Viel kann man mitnehmen nach dem Lesen. Unter anderem auch die Einsicht, dass musikalische Akkulturationsprozesse, also Durchdringungen verschiedener Kulturen, völlig normal sind. Begriffe vom «Eigenen» und «Fremden» sind nur Hilfskonstruktionen – und damit sind auch schon jene Patrioten, Nationalisten und zuweilen allzu selbstbewussten Europäer entlarvt, deren Rufe nach einer «Leitkultur» oder nach kultureller «Reinheit» bestenfalls blödsinnige Verkürzungen sind. Wie schreiben Katarzyna Grebosz-Haring und Magnus Gaul auf Seite 25? Schon Plato diskutiert das Phänomen der Akkulturation. Und das im 3. Jahrhundert vor Christus!

Musik und Migration, Band 3, ein Theorie- und Methodenbuch, hg. von Wolfgang Gratzer, Nils Grosch, Ulrike Präger und Susanne Scheiblhofer, 746 S., € 69.90, Waxmann, Münster 2023, ISBN 978-3-8309-4630-4, open access

Mozarts Werke thematisch geordnet

Die neuesten Ergebnisse der Mozart-Forschung sind in das neue Köchel-Verzeichnis eingeflossen: ein Meilenstein.

Autografe und gedruckte Noten im Mozarthaus Salzburg. Foto (Schnitt): Burkhard Mücke / wikimedia commons

Das neue Köchel-Verzeichnis (KV oder KV2024) repräsentiert das aktuelle Wissen zu Mozarts einzelnen Kompositionen und rechtfertigt in jeder Hinsicht seinen hohen Kaufpreis. Es bietet nicht nur aktuelle Forschungsergebnisse, sondern verweist kritisch auf die Angaben früherer Auflagen von 1862 (Köchel), 1905 (Waldersee), 1937 (Einstein), 1964 (Giegling u. a.).

Die Zählung von Mozarts Werken basiert auf der jeweils frühesten in jenen Ausgaben, z. B. 314, verzichtet aber auf die unbequemen Doppelnennungen, z. B. 314/285d, und nimmt dabei in Kauf, dass etwa zu 314 zwei Einträge nötig sind, nämlich für das Flöten- wie auch für das Oboenkonzert. Diese Vereinfachung führt dazu, dass die Nennung der Werke in der chronologischen Reihenfolge ihrer mutmasslichen Entstehung keine Rolle mehr spielt, diese aber in einer gesonderten, knappen Übersicht in grösstmöglicher Differenzierung erfolgt.

Die Notenbeispiele sind vereinfacht und liefern nicht einen Klavierauszug der ersten Takte, sondern nur die einstimmigen Anfangsthemen einzelner Sätze. Einen Gewinn stellen auch die Anhänge dar: Sie enthalten die unechten Werke, Mozarts Bearbeitungen fremder Kompositionen sowie die verstreut überlieferten Kadenzen und Auszierungen. Die Anleitung zur Benutzung des Verzeichnisses verweist sogar auf künftige Erweiterungen im Internet. Anders als das neue Bach-Werke-Verzeichnis geizt das Köchel-Verzeichnis nicht mit Literaturangaben, sondern listet die Herkünfte aller Erkenntnisse in einer übersichtlichen Bibliografie auf.

Mit dem Köchel-Verzeichnis ist den Herausgebern Neal Zaslaw und Ulrich Leisinger, ihren Hauptmitarbeiterinnen und einem Heer von Informanten und Helferinnen in jahrzehntelanger Arbeit ein Meilenstein gelungen, ein Ausgangpunkt künftiger Beschäftigung mit Mozarts Werk, hinter den kein Weg mehr zurückführt. Hoffentlich übersteht die zarte Rückenbindung dieses 1391 Seiten umfassenden Einzelbandes seinen häufigen Gebrauch.

Köchel-Verzeichnis, Thematisches Verzeichnis der musikalischen Werke von Wolfgang Amadé Mozart, Neuausgabe 2024, bearbeitet von Neal Zaslaw, vorgelegt von Ulrich Leisinger unter Mitwirkung von Miriam Pfadt und Ioana Geanta, BV 300, CXXV + 1263 S., € 499.00, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2024

Musikphilosophie mit offenerem Blick

Daniel Martin Feige schliesst in seinem neusten Buch an Adornos Ästhetik an und versucht, diese auch für Jazz und Popmusik fruchtbar zu machen.

Bild: Pixabay/Garik Barseghyan

Theodor W. Adorno, der grosse Musikphilosoph des 20. Jahrhunderts, war bekanntlich kein Fan von Jazz und Popmusik. Seine Äusserungen über sie zeugen eher von einer Abwehrhaltung denn von einer grundsätzlichen Offenheit gegenüber verschiedenen Musikkulturen. Adorno hatte seine Gründe (Stichwort «Kulturindustrie»). Doch die Musikphilosophie tut gut daran, die Skepsis in Bezug auf Jazz und Popmusik abzulegen und deren jeweilige ästhetische Potenziale eingehender zu durchleuchten.

Genau dies tut der Philosoph – und studierte Jazzpianist – Daniel Martin Feige in seinem neuen Buch Philosophie der Musik. Musikästhetik im Ausgang von Adorno. Über acht philosophische Grundkategorien plädiert er dafür, Begriffe wie «Komponieren», «Interpretieren» oder «Improvisieren» nicht als starre, aus der klassischen Musik erwachsene vordefinierte Messinstrumente zu verwenden, sondern diese von jedem musikalischen Werk aus neu zu denken – dialektische Begriffsarbeit, ganz im Sinne Adornos also.

Feige untersucht die ästhetischen Eigenheiten von westlicher Kunstmusik, Jazz und Popmusik mit viel philosophischem Theoriebezug, etwa den Aspekt der Jazzimprovisation mithilfe der Handlungstheorie G. E. M. Anscombes, sowie vor dem Hintergrund der Hermeneutik von Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer und John McDowell. Wenngleich die Gedanken dadurch meist auf abstrakter Ebene bleiben (näher behandelte Musikbeispiele kann man an einer Hand abzählen), kommt Feige zu einigen grundlegenden Erkenntnissen, insbesondere hinsichtlich des Jazz: zum Beispiel, dass der künstlerische Produktionsprozess in der Musik selbst bereits angelegt ist oder dass das Unkalkulierbare in der Improvisation miteinkalkuliert ist und sich der Sinn einer gesamten Performance erst rückwirkend und als Ganzes herstellen lässt. Die Popmusik thematisiert Feige vor allem über den Aspekt des Mediums, indem er ihr – im Gegensatz etwa zur «Kunstmusik» – vornehmlich eine Existenz als «nicht-dokumentarische[…] Aufnahmen» (S. 143) zuschreibt.

Insgesamt ist das Buch eine gelungene und erhellende Öffnung der Ästhetik Adornos hinsichtlich bislang vernachlässigter Musiktraditionen und bietet zahlreiche Anschlussmöglichkeiten – nicht zuletzt für Untersuchungen, die sich noch näher um den musikalischen Gegenstand bewegen.

Daniel Martin Feige: Philosophie der Musik. Musikästhetik im Ausgang von Adorno, 216 S., € 24.00, edition text+kritik, München 2024, ISBN 978-3-689-30028-9

Die Daumenlage auf dem Kontrabass

Mit Spielfreude überwindet das Heft von Charlotte Mohrs die Hemmschwelle zu den ganz hohen Tönen auf dem Kontrabass.

Foto: rubchikovaa/depositphotos.com

Der Band Daumenlage ist «eine systematische, progressiv aufgebaute Sammlung mit bekannten Liedern und Stücken sowie einfachen technischen Übungen für die hohen Lagen auf dem Kontrabass». Charlotte Mohrs fasst mit diesem ersten Satz im Einführungstext gelungen zusammen, was die Ausgabe zu bieten hat.

Das Heft ist klar gegliedert, enthält gut nachvollziehbare Erklärungen, übersichtliche Übungen und eingängige Melodien, die Kontrabassistinnen und Kontrabassisten dazu einladen, bereits früh die Daumenlage zu erkunden. Die Spielfreude steht stets im Mittelpunkt. Die abwechslungsreichen Literaturbeispiele stammen aus der Solo- und Orchesterliteratur. Neben Auszügen gibt es auch längere Spielstücke, die das Gelernte musikalisch zusammenfassen. Auf eine ausführliche Einführung folgen acht Kapitel inklusive Grafiken zu den Grundmustern der Fingerstellungen; eine Klavierbegleitung steht zum Download bereit. Die Texte sind in deutscher und englischer Sprache verfasst.

Besonders gelungen ist das dritte Kapitel, das die 2. Hochlage thematisiert. Die Stücke und Übungen sind dank zweier als Referenz dienender Flageoletttöne und weniger Vorzeichen leicht spielbar. Die Hemmschwelle, sich in dieser hohen Lage zu bewegen, wird spielerisch überwunden. Hervorzuheben ist auch das vierte Kapitel, welches sich ausführlich den Flageolettttönen widmet und Spielerinnen und Spielern meist Freude bereitet.

Bei einer Überarbeitung wäre es hilfreich, im Anhang ein Stichwortregister anzufügen. Der Band thematisiert zudem die Bogentechnik, welche in den hohen Lagen angepasst werden muss. Ein zusätzliches Kapitel mit einem Überblick dazu wäre wertvoll.

Dieses Heft gehört definitiv in den Unterricht von Kontrabasspädagoginnen und -pädagogen, und es ist zu hoffen, dass Daumenlage zukünftig ein Standardwerk der Kontrabassliteratur sein wird!

Charlotte Mohrs: Daumenlage. Übungen und Spielstücke zur Einführung in die Daumenlage auf dem Kontrabass, Klavierbegleitung zum Download, EC 23581, € 23.50, Schott, Mainz

Wo die elektronische Musik ausstrahlte

Ein fakten- und anekdotenreicher Band mit fünf CDs dokumentiert die Geschichte des Studios für Elektronische Musik des WDR.

Karlheinz Stockhausen im Oktober 1994 im Studio für Elektronische Musik des WDR, während der Produktion von «Freitag aus Licht». Foto: Kathinka Pasveer / wikimedia commons

Heinz Schütz: Der Name war mir bislang unbekannt. Er erscheint jedoch prominent in dieser Geschichte des Elektronischen Studios des WDR Köln. Morgenröte heisst sein kurzes, konzentriertes Tonbandstück von 1952. Momentweise weist es sogar schon auf Stockhausens epochemachenden Gesang der Jünglinge (1955/56) voraus. Bloss: Schütz sah sich nicht als Komponist, er war Techniker und hatte im Auftrag von Studiochef Herbert Eimert ein Demonstrationsstück ausgearbeitet. Mit viel Feeling jedoch.

Das Beispiel zeigt, wieviel kreatives Potenzial in jenem Studio vorhanden war, nicht nur bei den Komponisten, sondern auch in der Technik. Alle waren sie neugierig und in den Schaffensprozess involviert. Elektronische Musik, für viele Hörerinnen und Hörer damals noch unverständlich, war eine Terra incognita, die man im Team erkundete. Bis zur Auflösung des Studios 2001 entstanden dort zentrale Werke. Das Studio hatte eine Ausstrahlung, die es legendär machte – Miles Davis und die Beatles liessen sich davon inspirieren –, vor allem natürlich durch Stockhausen selber, der sich zeitweise zum Leiter aufschwang. Aber es gab daneben noch weitere Innovationen und hoch spannende Tendenzen.

Das wird immer wieder deutlich in dieser Publikation, die der Ex-WDR-Redakteur Harry Vogt und die Radioschaffende Martina Seeber herausgegeben haben. Es ist ein prägendes Stück Musikgeschichte, das hier in Aufsätzen verschiedener Autoren und Autorinnen dokumentiert und aufgearbeitet wird. Besonders wertvoll sind dazu die fünf beigelegten CDs mit mehr als sechseinhalb Stunden Musik. Darauf findet sich neben den Meisterwerken auch Vergessenes oder Nicht-mehr-Auffindbares. Aus helvetischer Sicht sind die Dialoge von 1977 zu erwähnen, in denen Thomas Kessler europäische und aussereuropäische Instrumente mit der Elektronik zusammenführte. Als er dort eingetroffen sei, erzählt der kürzlich verstorbene Kessler, habe Stockhausen gerade seinen galaktischen Sirius beendet gehabt. «Das fand ich interessanter als jede technische Einführung, denn ich konnte mir vorstellen, dass mein Körper schon bei der Berührung mit einem Gerät zur intergalaktischen Antenne werden könnte.» So entsteht ein reichhaltiges Kompendium, höchst informativ, leicht zu lesen, erfreulich anekdotengespickt.

Radio Cologne Sound. Das Studio für Elektronische Musik des WDR, hg. von Harry Vogt und Martina Seeber, 287 S., Deutsch/Englisch, ill., mit 5 CDs, € 39.00, Wolke, Hofheim 2024, ISBN 978-3-95593-259-6

Orgelmusik der Tudor-Zeit

Zwei qualitativ hervorragende Bände erschliessen ein bislang wenig bekanntes Repertoire.

Thomas Tallis auf einem Glasfenster der St Alfege Church in Greenwich, in deren mittelalterlichem Vorgängerbau der Komponist begraben wurde. Foto: Andy Scott / wikimedia commons

Während elisabethanische Musik für Tasteninstrumente von Komponisten wie Byrd, Gibbons, Farnaby oder Bull ihren Weg ins Konzertrepertoire gefunden hat, ist der umfangreiche Korpus an erhaltener Orgelmusik aus der Tudor-Zeit, entstanden ca. 1520–1560, hingegen kaum je zu hören. Mit zwei Bänden Early Tudor Organ Music hatten die Herausgeber John Caldwell (*1938) und Danis Stevens bereits 1966 in einer Pionierleistung die wesentlichen Quellen dafür – in erster Linie das in der British Library aufbewahrte MS 29996 – für die Praxis erschlossen. Fast 60 Jahre später ist nun, wiederum herausgegeben von Caldwell, eine prachtvolle zweibändige Neuausgabe dieses Repertoires erschienen, die in jeder Hinsicht den neuesten wissenschaftlichen Standards und dem aktuellen Stand der Wissenschaft entspricht.

Es handelt sich ausschliesslich um liturgische Musik, die in Verbindung mit der damals in England gemäss dem Sarum Use praktizierten Ausprägung der Gregorianik, aber auch mit mehrstimmigen «Faburdens» (von denen einige im Appendix abgedruckt sind) oder «auskomponierten» Vokalsätzen alternatim aufgeführt wurde: Versetten zu Hymnen, Antiphonen, für das Te Deum bzw. das Magnificat sowie für das Mess-Ordinarium. Ein umfangreiches Vorwort liefert eine Fülle von Informationen zur Aufführungspraxis, zum tudorianischen Orgelbau, über die Komponisten (am bekanntesten, neben vielen Anonymi, wohl Thomas Tallis, Thomas Preston oder John Redford) sowie zu editorischen und quellenkritischen Fragen.

Die über 100 Stücke – jeweils eingeleitet durch ausführliche kritische Berichte, Erläuterungen sowie Angabe der vokalen Vorlagen – geben einen Einblick in eine zunächst wohl etwas fremdartig anmutende Klangwelt, die sich durch einen strengen Satz und eine faszinierende rhythmische Komplexität auszeichnet. Wer sich über die klangliche Umsetzung informieren will, findet übrigens online einige neuere Tonaufnahmen (u. a. auf den wenigen bisher rekonstruierten Instrumenten dieser Epoche) sowie liturgie- und musikwissenschaftlich begleitete «Re-Enactments» von Gottesdiensten aus dieser Zeit, z. B. im Rahmen des Forschungsprojekts «Experience of Worship» der Bangor University.

Fazit: Wer sich mit diesem weitgehend unbekannten Repertoire grundlegend auseinandersetzen möchte, findet hier eine Publikation, die höchsten Ansprüchen genügt und deren hoher Preis durch die ausserordentlich sorgfältige Erarbeitung der beiden Bände gerechtfertigt wird.

Early Tudor Organ Music, Vol. 1 und 2, ed. by John Caldwell, (Early English Church Music Band 65/66), EECM65/EECM66, 246/210. S., £ 100/85, Stainer & Bell, London 2024

 

Spohrs Harfenfantasie: lang erwartete Neuausgabe

Louis Spohr schrieb die Harfenfantasie in c-Moll, heute ein überaus beliebtes Repertoirestück, für seine Frau Dorette.

Dorette Spohr, geborene Scheidler, (1787-1834) an der Harfe. Bild von Carl Gottlob Schmeidler / wikimedia commons

Wenn es ein Werk gibt, das alle Harfenistinnen und Harfenisten im Repertoire haben, manchmal geliebt, oft gefürchtet, ist es die Fantasie c-Moll von Louis Spohr. Im Jahre 1805 erlebte er seine zukünftige Frau Dorette Scheidler, Schülerin bei Johann Georg Heinrich Backofen, mit einem beeindruckenden Vortrag auf der Harfe. In seinen Lebenserinnerungen schreibt er, wie ergriffen und zu Tränen gerührt er nach diesem Konzert gewesen sei. Bald darauf hielt er um ihre Hand an. Das Paar heiratete 1806 und die Fantasie c-Moll komponierte er im darauffolgenden Jahr. Sie wurde schnell zu einer festen Grösse im Harfenrepertoire.

Harfentypen und Tonarten

Neben der strengen rhythmischen Einleitung und dem ebenso metrisch sehr genau notierten Allegretto-Teil gibt es freie Kadenzen ohne Taktstriche mit echoartigen Arpeggien und rezitativischem Charakter, die quasi improvisiert klingen sollen und frei zu gestalten sind. Es ist anzunehmen, dass Backofens Fantasie Spohr inspirierte. Dorette Scheidler führte beide Werke häufig in ihren Konzerten auf.

Sie spielte eine Einfachpedalharfe mit einem kleineren Saiten- und Tonartenumfang als unsere modernen Doppelpedalharfen. Obwohl Spohr 1820 noch in Erwägung zog, eines dieser neuen Instrumente für Dorette zu erwerben, ist dies letztlich nie geschehen. Die Einfachpedalharfe hat eine Grundstimmung in Es-Dur, somit ist die Paralleltonart c-Moll naheliegend. Trotz dieser harfentechnisch motivierten Tonartwahl passt das düstere und schwere c-Moll wunderbar zum Adagio-molto-Beginn mit grossen Akkorden, welche sich später in Melodien und Arpeggien fast bis zu geflüsterten Passagen wandeln.

Wissenschaftlich und praxisbezogen

Die Fantasie wurde 1816 bei Spohrs Verleger Simrock in Bonn erstmals herausgegeben– fast ein Jahrzehnt nach der Komposition, wohl um zu vermeiden, dass andere Harfenistinnen das Werk in der Öffentlichkeit aufführten. Zahlreiche Neuausgaben erschienen nach Spohrs Tod, wobei in vielen der originale Notentext modifiziert wurde. Leider sind die autografischen Quellen verschollen. Die heute am weitesten verbreitete Ausgabe wurde von Hans Joachim Zingel für die Doppelpedalharfe ediert (mit zugefügten Noten, veränderten Dynamikangaben u. v. m.) und erschien 1954 im Bärenreiter-Verlag.

Die Neuausgabe durch die Harfenistin und Musikwissenschaftlerin Masumi Nagasawa, ebenfalls bei Bärenreiter, besticht durch fundierte Recherchen, genaue Bezeichnungen und ein klares Notenbild. Schön ist, dass die Einleitung (en/dt) auf viele wichtige Fragen wie Spieltechniken und Harfenangaben eingeht und somit nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch sehr praktische Grundlage bietet. Die Ausgabe beinhaltet ebenso Fingersatz-Vorschläge und historisch informierte Ausführungsbezeichnungen. Angaben und Kommentare zu Stil, Tempo, Arpeggio, Fingersätzen, Staccato, Ornamenten und Bindebögen sind detailliert und informativ (nur auf Englisch). Auch die oft wiederkehrende Frage der Triller, bzw. wie diese umgesetzt werden sollen, wird angesprochen, ohne dogmatisch zu sein. Es ist eben auch der Freiheit des Interpreten überlassen, der dank den vielen Erläuterungen fundiert entscheiden kann. Begrüssenswert ist ebenfalls, dass keine Pedalangaben gedruckt wurden, denn jeder Harfenist hat eine individuelle Pedaltechnik und -bezeichnung.

Ein sehr schöner Bonus: Die Fantasie von Backofen ist vollumfänglich im Anhang enthalten: eine freie Einleitung, ein kleiner, metrisch notierter Teil und dann freie Arpeggien und Akkorde – ganz der freien Interpretation der Spielerin überlassen.

Louis Spohr: Fantasie in c-Moll für Harfe op. 35, Anhang: Fantasie von Johann Georg Heinrich Backofen, hg. von Masumi Nagasawa, BA 10954, € 19.95, Bärenreiter, Kassel

Konzert für einen Elefanten

Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 3 zeigt ein kunstvolles Beziehungsgeflecht von Themen und Melodien, und es stellt höchste Anforderungen an die Ausführenden.

Rachmaninow 1910 auf dem Landgut Iwanowka mit den Korrekturfahnen des 3. Klavierkonzerts. Fotograf unbekannt / wikimedia commons (Ausschnitt)

Sergei Rachmaninow komponierte sein 3. Klavierkonzert im Sommer 1909 im Hinblick auf seine erste Konzertreise nach Amerika. Viel Zeit zum Üben blieb ihm nicht, und so half er sich während der Überfahrt mit einer stummen Tastatur. Die Uraufführung fand nämlich bereits am 28. November desselben Jahres in New York statt. Das New York Symphony Orchestra spielte unter der Leitung von Walter Damrosch. Kurz darauf wurde das Werk erneut in New York gegeben, diesmal unter dem Dirigat von Gustav Mahler. Da wäre wohl mancher gerne dabei gewesen …

Die enormen Anforderungen des Soloparts sollen Rachmaninow zur Äusserung bewogen haben, es sei ein «Konzert für einen Elefanten». Vielen gilt es auch als das Klavierkonzert mit den «meisten Noten». (Da wäre dasjenige von Busoni allerdings ein ernsthafter Konkurrent.)

Angesichts all dieser Superlative geht manchmal vergessen, wie ökonomisch und kunstvoll dieses Opus 30 gebaut ist. Fast alle Themen und Melodien lassen sich auf ein paar wenige Kernmotive zurückführen. Das gilt nicht nur für den Klavierpart, sondern auch für das Orchester, das eng mit der Solostimme verwoben ist. Deshalb wohl verwandte Mahler bei den Proben zu der erwähnten Aufführung sehr viel Zeit darauf, was Rachmaninow offenbar sehr beeindruckte.

Kunstvoll gemacht ist auch das Beziehungsgeflecht, das alle drei Sätze zusammenschweisst. Zum Beispiel im Finale, wo mittendrin auf eindrucksvolle Weise wieder das erste Thema des Kopfsatzes auftaucht. Die Verbindung vom ersten zum zweiten Satz gelingt zudem mit Hilfe eines komplexen Modulationsteils, der von d-Moll nach des-Dur führt. In ähnlicher Weise verfährt Rachmaninow übrigens auch in seinen anderen Klavierkonzerten.

Dominik Rahmer hat nun dieses 3. Klavierkonzert beim Verlag G. Henle neu herausgebracht, und das Resultat ist mehr als zufriedenstellend. Der Druck ist klar und gut lesbar und gibt den vielen Noten deutlich mehr Platz als etwa jener in der alten Ausgabe von Boosey & Hawkes. Die Fingersätze von Marc-André Hamelin sind vernünftig und klugerweise sparsam angebracht. Der Orchesterpart (Klavier II) wurde nach dem Original von Rachmaninow übernommen und von Johannes Umbreit zur besseren Spielbarkeit nur leicht modifiziert.

Nach Rachmaninow haben zunächst nur wenige Pianisten sich an dieses gewaltige Werk gewagt. Darunter in erster Linie Vladimir Horowitz, der es geradezu vom Komponisten «erbte». Heutzutage gehört es zum festen Bestandteil des Konzertrepertoires, auch wenn die Anforderungen dadurch natürlich nicht geringer geworden sind. Einer, der sich sowohl als Pianist wie auch als Dirigent sehr oft mit diesem Konzert beschäftigt hat, ist Vladimir Ashkenazy. Von ihm existieren gleich mehrere Aufnahmen, darunter als wohl bemerkenswerteste jene mit dem Concertgebouw-Orchester unter der Leitung von Bernard Haitink (Decca). Eine Einspielung, die vielleicht auch Rachmaninow-Verächter bekehren könnte …

Sergei Rachmaninow: Klavierkonzert Nr. 3 d-Moll op. 30, hg. von Dominik Rahmer, Klavierauszug von Johannes Umbreit, HN 1452, € 29.00, G. Henle, München

Sensibles Debüt mit seltener Musik

Drei junge Musikerinnen präsentieren sich mit Werken von Emmy Frensel Wegener, Miriam Hyde und Tania León, den Rahmen bildet Regers erstes Streichtrio.

Streichtrio Triologie: Elodie Théry, Cello; Meredith Kuliew, Viola; Nevena Tochev, Violine. Foto: zVg

Der Anfang der CD ist etwas seltsam, als Intro das Einstimmen der Streichinstrumente, und erst recht dann das Programm: Max Regers erstes Streichtrio von 1904 erklingt zwischen den Werken dreier späterer Komponistinnen. Besonders schlüssig erscheint das nicht, eher aufgesetzt, aber schliesslich handelt es sich um ein Plattendebüt, und da wollten die Musikerinnen über die stilistische Vielseitigkeit hinaus wohl auch ihre eigene musikalische präsentieren – was ihnen aufs Schönste gelingt. Die drei vom Triologie-Streichtrio lernten sich 2019 beim Masterstudium an der Luzerner Hochschule kennen und treten seither gemeinsam auf.

Auf der CD gibt es nun einiges zu entdecken, nicht nur Regers Trio, sondern auch zwei Komponistinnen der frühen Moderne: Emmy Frensel Wegener (1901–1973) aus den Niederlanden komponierte vor allem in den 20er- und 30er-Jahren, musste es dann aber krankheitshalber aufgeben. Ihr fünfsätziges, kurzweiliges Werk von 1925 ist von einer wunderbaren Leichtigkeit und wird von Triologie behende dargeboten, ebenso wie das charmante Streichtrio der Australierin Miriam Hyde (1913–2003). Neunzehn Jahre alt war sie, als sie es schrieb. So steht es am Anfang eines reichen kompositorischen und übrigens auch literarischen Schaffens, für das Hyde mehrfach geehrt wurde. Das Hauptwerk der CD ist jedoch das einsätzige Stück A tres voces der 1943 geborenen Kubanerin Tania León. 2010 entstanden, vereinigt es Elemente aus der Neuen Musik mit afroamerikanischen Rhythmen. Das keineswegs in einer plakativen Crossover-Manier. Der Drive ist untergründig, trägt aber die Spannung, die Musik reflektiert, geht Abwege, durchbricht den Fluss durch solistische Einlagen und hält stets Überraschungen bereit. Und auch dieser hier als Weltersteinspielung vorliegenden Musik werden die drei Musikerinnen mit ihrer genauen, sensiblen und äusserst transparenten Spielweise gerecht. Das kommt auf den Punkt.

A tres voces. Triologie String Trio (Elodie Théry, Cello; Meredith Kuliew, Viola; Nevena Tochev, Violin). Prospero PROSP0101

Irische Westernmusik

Im Soundtrack für den Film «In the Land of Saints & Sinners» verwebt das schweizerisch-australische Komponistentrio Diego, Nora und Lionel Baldenweg gekonnt Westernklänge mit irischer Musik. Ein epischer Hörgenuss!

v. li.: Nora und Diego Baldenweg, Dirigent Dirk Brossé und Lionel Baldenweg bei den Orchesteraufnahmen zu «In the Land of Saints and Sinners». Foto: zVg

Das nordirische Küstengebiet bringt ähnlich raue Typen hervor wie die amerikanische Prärie. Schreitet Liam Neeson im Film In the Land of Saints & Sinners mit seiner Knarre durch die Weiten der irischen Landschaft, erinnert dies stark an Clint Eastwood, der einst als Solitär in Spaghetti-Western durch den imaginären Wilden Westen streifte.

Da verwundert es kaum, dass der Soundtrack, komponiert von den schweizerisch-australischen Geschwistern Diego, Nora und Lionel Baldenweg, viele typische Westernmusik-Elemente aufgreift. Der musikalische Kosmos von Ennio Morricone stand dabei bei gefühlt jeder zweiten Note Pate. Da darf auch eine Mundharmonika (sinnlich gespielt von Pfuri Baldenweg) nicht fehlen. Wie ein roter Faden zieht sich dieses Instrument durch den von Leitmotivik geprägten Score. Und dennoch: Nicht nur Westernklänge spielen eine wichtige Rolle in der Tonspur des Films von Regisseur Robert Lorenz, auch eigens komponierte irische Volksmusik ist subtil in das Klanggefüge integriert.

Grosser Ideenreichtum

Das Komponistentrio greift bei der Vertonung des Films, der in den Wirren des Nordirlandkonflikts spielt, mit grossem Ideenreichtum in die Filmmusik-Trickkiste: Rhythmisch vorwärtsdrängende Klangballungen (The Grand Showdown), wie man sie ähnlich aus Hans Zimmers Komponierfabrik kennt, wechseln sich gekonnt mit lyrischen Themen (Finbar’s Theme) und süffigem irischem Westernsound (Irish Western Ballad) ab.

Der meisterhaft von Diego Baldenweg orchestrierte Score wurde in den belgischen Galaxy-Studios unter der Leitung von Dirk Brossé klangschön eingespielt. Das Galaxy Symphonic Orchestra, zusammengesetzt mit Musikerinnen und Musikern aus verschiedenen Ländern Zentraleuropas, erhielt dabei von Mitgliedern des Vlaams Radiokoor stimmlich Unterstützung. Episch, wie dabei die herbe irische Landschaft musikalisch eingefangen wurde. Grosses Kino für die Ohren!

In the Land of Saints & Sinners. Music Composed by Diego Baldenweg with Nora Baldenweg & Lionel Baldenweg. Galaxy Symphonic Orchestra, Conducted by Dirk Brossé; Feat. Pfuri Baldenweg. Caldera Records C 6058

Aus der Zeit gefallen

Ein Sammelband porträtiert den Komponisten, Musikwissenschaftler, Publizisten und Dozenten Peter Benary.

Peter Benary 1991. Foto: Max Kellenberger / Schwabe-Verlag

Ganz offenbar war Peter Benary (1931–2015) nicht das, was man unter einem «einfachen Menschen» versteht. In seinen Seminaren an der Hochschule Luzern äusserte er sich schon mal spöttisch-sarkastisch gegenüber seinen Studenten. Von einer «schwierigen Freundschaft» spricht in diesem neu erschienenen Sammelband der langjährige Freund und Dirigent Peter Gülke. Und dann wären da noch die Kritiken, die Peter Benary für die NZZ schrieb. Sie waren manchmal bissig, denn das Engagement für die Musik konnte ins Verletzende kippen – gerade dann, wenn es eben nicht seine Musik war.

Seine Musik – da sind sich sämtliche 17 Autoren des Bandes einig – war nicht die der Avantgarde nach 1950. Es fallen die Namen von Benarys Fixsternen Wolfgang Amadeus Mozart, Anton Bruckner oder Paul Hindemith. Michel Roth, Komponist und Professor an der Hochschule für Musik Basel, erwähnt Benarys Aufsatz Die Ablehnung neuer Musik, wo «ein pervertiertes Technik-Verständnis» kritisiert wird und Benary einen «Sprachverlust der Musik» bemängelt, der darauf zurückzuführen sei, dass «Technik» an die Stelle von «Gehalt, Sprachsinn, Ausdruck» getreten sei (S. 116).

Als Komponist war Benary mässig erfolgreich. Seine Werke wurden im Rahmen von Neue Musik Festivals so gut wie gar nicht gespielt; er selbst klagte einmal, «nicht mehr für die Schublade» komponieren zu wollen. Nichtsdestotrotz entstand ein doch umfangreiches Œuvre mit vielen Chorwerken, drei Sinfonien, vier Streichquartetten und beachtlich viel Kammermusik. (Der Sammelband schliesst mit dem Werkverzeichnis, erstellt von David Koch, S. 212 ff.) Produktiv war Benary auch als Musikpublizist, sei es als Kritiker der NZZ oder als Autor für die Schweizer Musikzeitung und die Schweizer musikpädagogischen Blätter. Viele musikwissenschaftliche Aufsätze zeugen von einem breiten Horizont: Grundlegende ästhetische Betrachtungen stehen neben Gedanken zur Interpretation und spezifischen Auseinandersetzungen mit einzelnen Werken und Komponisten der Musikgeschichte.

Nach der Lektüre des 2024 im Basler Schwabe Verlag erschienenen Buches bleibt trotz des Schaffensdranges das Gefühl, dass Benary irgendwie aus seiner Zeit gefallen sei. Seine Zeit als Essayist und Programmheft-Autor für das Lucerne Festival endete im Jahr 2007, weil sich der Autor schlicht weigerte, mit dem Computer zu schreiben und auf der guten alten Schreibmaschine bestand. Haikus, Lyrik und Aphorismen schrieb der Komponist, Musikwissenschaftler, Publizist und Dozent übrigens auch. Darunter der munter-lustige Sinnspruch: «Eine Fliege geht über das Notenpapier bis zur Fermate.»

Peter Benary, Komponist, Musikwissenschaftler, Publizist und Dozent, hg. von Niccolò Raselli und Hans Niklas Kuhn, 229 S., Fr. 46.00, Schwabe, Basel 2024, ISBN 978-3-7965-5109-3

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