Hommage an sich selbst

In seinem «Guitar Book» beschenkt Altmeister Sigi Schwab Spielerinnen und Spieler mit den Stücken, die für ihn bedeutend sind.

Sigi Schwab am Tollwood-Festival 2010. Foto: Dieter Vaterrodt/wikimedia commons

Das Guitar Book von Sigi Schwab hebt sich von üblichen Notenausgaben in vielerlei Hinsicht ab. 100 Seiten festes Papier in einem Grossformat von rund 26 x 37 Zentimetern mit Spiralbindung; jedes der 30 Stücke auf je genau einer Doppelseite und, ebenso benutzerfreundlich, neben den blitzsauber gesetzten Noten sind die Akkordangaben in roter, die Fingersätze und übrigen spieltechnischen Angaben in grün gedruckter Handschrift gehalten. Dies ergibt ein informatives, differenziertes, aber trotzdem nicht überladenes Notenbild.

Warum aber 100 Seiten für die 30 Stücke? Weil der mittlerweile 72-jährige, vielseitige Studiomusiker, dieser Jazz-, Klassik- und World-Gitarrist, ausgiebig Kommentare sowie Bilder und Geschichten aus seinem Leben einstreut. Sigi Schwab zelebriert sich auf sympathische Weise selbst, indem er bestrebt ist, seine Begeisterung für polyfones Gitarrenspiel weiterzugeben. Er plädiert für grösstmögliche Offenheit sowohl in stilistischer Hinsicht als auch im Bereich der Interpretation. Seine Stücke und Arrangements sollen variiert, es soll auch darüber improvisiert werden. Er meint: «Beckmesserisches Einreden einer selbsternannten Geschmackspolizei höre ich an und denke nach. Als kreativer Künstler muss ich meinen eigenen Weg gehen.»

Der erste Teil des Notenbuchs besteht aus Bearbeitungen von Jazzstandards wie zum Beispiel Lullaby of Birdland oder Take Five, mit immer wieder ausgesprochen klangvollen Harmoniefolgen. Jeder Ton ist ausgeschrieben – wer gut Noten lesen kann, ist im Vorteil. Wer im Jazz zu Hause ist, kann über die Akkorde auch improvisieren. Trotzdem sei empfohlen, sich intensiv mit den angegebenen Fingersätzen auseinanderzusetzen, um Schwabs Intentionen nachzuvollziehen. Oft bewegen sich die Finger auf allen Saiten in hohen Lagen. Dies gilt auch für die Popnummern im zweiten, mittleren Teil, der vorwiegend Songs von den Beatles und von Michael Jackson enthält.

Schliesslich beschert uns Sigi Schwab Stücke «aus meiner eigenen musikalischen Welt»: zumeist Eigenkompositionen, aber auch Gospels und ein Bach-Präludium. Die selbst geschriebenen Nummern sind irgendwo zwischen Jazz und Weltmusik anzusiedeln, zum Teil mit indischen, aber auch afrikanischen Einflüssen. Sie sind eher etwas einfacher zu spielen als die Arrangements der anderen Titel. So lässt uns Sigi Schwab teilhaben an einigen Stationen seiner jahrzehntelangen Laufbahn – mit der grosszügig gestalteten Ausgabe einer Auswahl von Stücken, die für ihn bedeutend waren.

Sigi Schwab: Guitar Book, 30 Arrangements from Classical Music to Jazz, ED 23369, € 35.00, Schott, Mainz

 

Den Orchesterfarben auf der Spur

Gelungene Übertragung des Orchesterwerks «Tapiola» von Jean Sibelius für Klavier zu vier Händen.

Jean Sibelius‘ Wohnhaus Ainola mit dem Komponisten, seiner Frau und drei ihrer Töchter, 1915. Foto: Wikimedia commons

Die symphonische Dichtung Tapiola op. 112 ist das letzte grosse Werk, das Sibelius vollenden und veröffentlichen konnte. Es entstand als Auftragskomposition für die New York Symphony Society und wurde 1926 dort uraufgeführt. Nach der finnischen Mythologie ist der nordische Wald von Göttern und Göttinnen bewohnt, über die Tapio als König des Waldes herrscht. Sein tief im Wald verstecktes Heim wird «Tapiola» genannt.

In seinem Werk entfaltet Sibelius seine Vision des Waldes in unglaublich suggestiven Ostinati und delikaten Klangzaubereien. Wer diese Orchesterfarben etwas im Ohr hat, kann sich wohl kaum vorstellen, dass eine Wiedergabe auf dem Klavier da irgendwie mithalten kann. All diese langen Orgelpunkte, die vielen Streichertremoli und satten Klänge der Bläser … Wie soll das auf ein Tasteninstrument übertragen werden? Peter Lönnqvist hat sich dieser mutigen Aufgabe gestellt und Tapiola für Klavier zu vier Händen (bzw. für zwei Klaviere) bearbeitet. Diese Version, die 2021 bei Breitkopf und Härtel erschienen ist, basiert laut dem Herausgeber auf einer früheren Partiturabschrift von Einar Englund (1916–1999), der selber ein produktiver Komponist war und unter anderem sieben Sinfonien schrieb – genau wie Sibelius.

Das Resultat ist erstaunlich: Die Übertragung auf das Klavier funktioniert viel besser als gedacht. Dabei bleibt natürlich einiges dem Spieler und seiner Imagination überlassen, wie denn Lönnqvist im Vorwort auch schreibt: «Die Interpreten sollten die Balance zwischen Klaviernotation und Orchesterklang finden, indem sie die Orchesterpartitur studieren und das Werk in seiner ursprünglichen Form hören.» Das gilt es vor allem am Schluss zu bedenken, wo Sibelius seine Tapiola in zartestem H-Dur des mehrfach unterteilten Streicherkörpers ausklingen lässt. Die hier im Klavier vorgeschlagenen Tremoli werden diesen Klang wohl kaum suggerieren können. Vielleicht wären da durchgehende ruhige Arpeggien passender, wie sie etwa Liszt am Schluss seiner Bearbeitung von «Isoldes Liebestod» vorschlägt.

Abgesehen davon aber stellt Lönnqvists Transkription eine gelungene Version dar und ist sicherlich eine Bereicherung für all jene, die dieses faszinierende Orchesterwerk am Klavier noch besser kennenlernen oder es im Rahmen eines Kammermusikkonzertes aufführen möchten. Und sie wäre nicht zuletzt auch eine dankbare Aufgabe für Dirigierklassen …

Jean Sibelius: Tapiola für Orchester, transkribiert von Einar Englund, bearb. für Klavier zu vier Händen von Peter Lönnqvist, EB 9390, € 32.90, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

Saxofon-Sounds

Auf den aktuellen Alben der Berner Formation Klapparat oder des Komponisten Thomas K. J. Mejer präsentiert sich das Instrument zwischen Improvisation und Grenzbereichen.

Die Saxofonistinnen von «Uneven Same». Foto: zVg

Seinen Siegeszug begann das 1846 patentierte, vom Belgier Adolphe Sax erfundene Saxofon erst mit dem Aufkeimen des Jazz in der US-amerikanischen Musikmetropole New Orleans. In der Folge betitelte es der deutsche Musikkritiker Alfred Baresel bereits 1929 als «wichtigstes Melodie-Instrument des Genres». Zwei neue Veröffentlichungen belegen, dass es längst auch in anderen Bereichen zentral ist.

Die Spur führt zunächst zu Klapparat, die sich 2021 umformiert haben und seither nicht mehr als Sextett, sondern als Quintett mit vier Saxofonen und Schlagzeug unterwegs sind. Ihr aktuelles Album Orbit zeigt auf, dass sich die mehrheitlich aus Bern stammende Formation nicht nur umbesetzt, sondern auch neu ausgerichtet hat: Zwar haben es Klapparat schon früher verstanden, sich mit findigen Improvisationen und grollendem Streetjazz hervorzutun. Jetzt sind sie mit ihrem Schaffen jedoch auf einem neuen Level angelangt. Nicht zuletzt, weil es sich als kluger Schachzug erwiesen hat, ihren Sound mittels eines Tubax – ein Basssaxofon – anzureichern. Dieses sorgt für besonders tiefe Töne, und zwar solche, die knarren und brummen. Das Resultat sind Tracks wie Lydische Leiden, das sich zwischen Elegischem und Vertracktem austobt, oder auch wie Abendlicht, das sich nach und nach als Drama zu erkennen gibt. Zu den weiteren Highlights zählen das freimütig swingende Part 3 und Fields – eine feinschichtige Nummer, die mit kontinuierlich variierenden Stimmungsbildern aufzutrumpfen weiss. Songs wie die genannten verdeutlichen, dass Klapparat mit Orbit ein verspieltes, dynamisches und zugleich innovatives Werk gelungen ist.

Klapparat. Foto: Stefan Marthaler

Im Vergleich dazu präsentieren sich die aus der Feder von Thomas K. J. Mejer stammenden Saxofonquartette als schnörkellos und geradezu spröde. Dessen elf Stücke, dargeboten von den vier Saxofonistinnen Silke Strahl, Vera Wahl, Eva-Maria Karbacher und Manuela Villiger, sind kantig und setzen auf Klänge, die rhythmisch komplex und herausfordernd sind. Während Sulpizianische Bilderwelt I–IV mit Einwürfen kokettiert, die sich als leichtfüssig, lustvoll und kapriziös erweisen, setzt das nachfolgende Dark Snow Falls upon the Bagpipers auf vier identische Altsaxofone. Aus ihrem Zusammenspiel ergibt sich jedoch nicht etwa Konformes, sondern ein Kaleidoskop an filigranen Geräuschen, welche die Fantasie anregen und diverse Bilder zu evozieren vermögen. Mal erinnern diese an klappernde Schreibmaschinen, mal an Alphörner im Morgengrauen. Die dargebotenen Sounds, die sich im Grenzbereich zwischen Neuer Musik und Jazz tummeln, schmiegen sich nicht unbedingt ins Ohr, doch sie bescheren vertiefte Einblicke in eine zerklüftete Klangwelt. Wer sich gebührend Zeit für diese Musik nimmt, wird unweigerlich zum Schluss gelangen, dass sich eine Auseinandersetzung lohnt, denn: Hier lebt und lodert die Kreativität.

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Saxofonquartette von Thomas K. J. Mejer: Uneven Same. Manuela Villiger, Eva-Maria Karbacher, Vera Wahl, Silke Strahl, Saxofone. Wide Ear Records WER065

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Klapparat (Daniel Zumofen, Charlotte Lang, Ivo Prato, Matthias Wenger, Saxofone; Philipp Leibundgut, Drums): Orbit. www.klapparat.ch

 

Ein Hoch auf die Gefühlswelt

Zusammengefunden haben Stefanie Tornow und Beat Baumli durch die Pandemie. Ihr gemeinsames Debüt fusst auf Jazzklassikern, die sie auf ihre ganz individuelle Art prägen

Stefanie Tornow und Beat Baumli. Foto: zvg

Corona hat manches verhindert, bisweilen jedoch auch Neues begünstigt: Während dem Lockdown suchte die Münchner Sängerin Stefanie Tornow nach Möglichkeiten, ihre Projekte zu proben und landete dabei auf JamKazam, einer Internet-Plattform für Jamsessions. Dort tummelte sich auch Beat Baumli – ein an der Swiss Jazz School und am Berklee College of Music ausgebildeter Gitarrist. Nachdem sich die beiden im Rahmen einer Onlinesession kennengelernt hatten, beschlossen sie alsbald, gemeinsame Sache zu machen, und mittlerweile liegt ihr Debüt The Night Has A Thousand Eyes vor. Auf diesem Album gilt ihr Fokus insbesondere dem Great American Songbook, aber auch Bossa-nova-Klassikern wie «Berimbau». Das schweizerisch-deutsche Duo ist nicht etwa darauf aus, das Rad neu zu erfinden, was das Klangspektrum angeht, sondern, die insgesamt 16 Songs mit möglichst persönlicher Note zu versehen – dies mit einem Sound, der sich zugleich ruhig, entspannt und beschwingt präsentiert.

Während sich der Titeltrack in der 1964er-Version von John Coltrane noch dicht und dringlich zeigte, wirkt dieser in der Bearbeitung von Tornow und Baumli anschmiegsam, leichtfüssig und als Hohelied auf die turbulente Welt der Gefühle. Die Eigenkomposition Chasin’ Wes entpuppt sich derweil als fingerflinke Hommage an den Gitarristen Wes Montgomery, der zu Baumlis Vorbildern zählt. Und Moon River von Henry Mancini, ein weiteres Cover, wird durch das Duo von jeglicher Sentimentalität befreit, wodurch die Melancholie der Melodie an Kontur gewinnt.

Geprägt wird das Album von der samtgleichen Stimme der Sängerin und dem einfühlsamen Gitarrenspiel ihres Kompagnons. Dass sich auf der Platte nur ein einziges, wenngleich überaus gekonntes und stilvolles Stück aus ihrer Feder findet, mag ein kleines Manko sein. Zugleich lässt das Werk jedoch spüren, dass in dieser Zusammenarbeit noch viel Potenzial steckt. Entsprechend gespannt darf man sein, was das Duo zukünftig an gemeinsamen Liedern austüfteln wird.

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Stefanie Tornow & Beat Baumli: The Night Has A Thousand Eyes, All Jazz Records AllJazzCD2101

Wie klingt das Pfleger-Regal von 1644?

Von Orgelbauer Johannes Christophorus Pfleger sind nur zwei Instrumente erhalten. Dank der vorliegenden CD sind sie erstmals zusammen auf Tonträger dokumentiert.

In Willisau zu sehen: das Regal von Johannes Christophorus Pfleger. Foto: zvg

Der rührige Leiter der Musikinstrumentensammlung Willisau, Adrian Steger, und der Organist Zeno Bianchini haben einen Tonträger erarbeitet, der sich unscheinbar präsentiert, aber für Organologen und Musikhistoriker ein Kleinod sein dürfte. Bianchini ist in Stockach (Baden-Württemberg) tätig. In der dortigen Loreto-Kapelle befindet sich ein Positiv von Johannes Christophorus Pfleger (1602–1674). Diese Orgel ist zusammen mit dem Pfleger-Regal von 1644, das heute in Willisau zu sehen ist, das einzige überlieferte Instrument des bedeutenden Orgelmachers aus Radolfzell (Bodensee) und Thann (Elsass).

Zungenpfeife des Pfleger-Regals. Foto: zVg

Das original erhaltene Regal wurde für das Kloster Frauenthal (Kanton Zug) erbaut und laut einer Notiz von 1688 im Tagebuch der Äbtissin Verena Mattmann zur Begleitung des gregorianischen Chorals verwendet. Der Luzerner Instrumentensammler Heinrich Schumacher (1858–1923) kaufte das Pfleger-Regal von den Zisterzienserinnen und stellte es mit anderen Musikinstrumenten in Hotelhallen aus. Später kam die Sammlung Schumacher ins Richard-Wagner-Museum nach Tribschen und 2010 nach Willisau. Erstmals wurde dieses spielbare Zungeninstrument aus dem 17. Jahrhundert nun auf einem Tonträger dokumentiert. Bianchini spielt abwechselnd auf beiden Instrumenten Werke von Frescobaldi, Ferrini, Froberger, Buxtehude und anderen italienischen und deutschen Komponisten des 17. Jahrhunderts.

Das Regal war vor vierhundert Jahren in Haus und Kirche beliebt. Unsere Ohren aber müssen sich an den speziellen Klang zuerst gewöhnen. Er erweitert unsere Vorstellung von vorbarocker Musik.

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«Qui pulchrè hanc calluit artem» – der die Kunst vortrefflich versteht. Klangporträt der zwei erhaltenen Orgelinstrumente von Johannes Christophorus Pfleger (1602–1674) aus Radolfzell. Zeno Bianchini, Orgel und Regal. Bezugsquelle: info@musikinstrumentensammlung.ch

Lakonischer Witz, feister Groove

Das jüngste Album von Simon Hari, alias King Pepe, ist verspielt, verschroben und auch tief ernst. Seine Daheim-Entstehung hört man ihm überhaupt nicht an.

king pepe & the queens. Foto: zVg

Keinen Synthi-Piep lang käme der Verdacht auf, dass to hell with ewigkeit wie so viele andere Alben der letzten Monate ein ferngesteuertes Lockdown-Opus ist. Im Gegenteil, die Rhythmen fahren ins Bein wie der Rote Pfeil und die lakonischen Gesänge von himself, dem King Pepe, sind kein bisschen weniger lakonisch, melancholisch und träf geraten als diejenigen auf seinen früheren Werken. Das Album entstand praktisch ganz im Distance-Recording-Verfahren. «Also Spuren aufnehmen und einander schicken und wieder zurückschicken etc.», schreibt Simon Hari, die fleischliche Manifestation der exzentrischen Musenfigur King Pepe, per E-Mail. «Später wäre dann der gemeinsame Gang ins Studio möglich gewesen, aber wir fanden die Distance-Aufnahmen toll und sagten: Komm, das machen wir jetzt so fertig!» Zuvor hätten die Abläufe mehr Zeit beansprucht. «Normalerweise würde mä im Studio sagen: Hei, lass uns dieses Chörli noch mal anders probieren, so chli cheesy, so chli abglöschter oder was weiss ich. Hier erfolgte diese Rückmeldung dann per Mail oder Telefon, und es dauerte halt wieder zehn Tage, bis eine neue Version vorhanden war.»

Ironischerweise hatte Hari sein letztes Album Karma OK ganz im Computer zusammengebastelt, um es danach mit dem Co-Produzenten Rico Baumann in mühsamer Kleinarbeit «zum Leben zu erwecken». Diesmal waren nebst Baumann (Schlagzeug, Tasten) auch Sibill Urweider (Tasten, Stimme), Jeremias Keller (Bass, Stimme), Giulin Stäubli (Drums) und Tontechniker Sander Wartmann zugegen, allerdings eben in ihren «jeweiligen Daheims» (wie es auf dem von Haris neunjährigem Sohn gezeichneten Cover heisst). Hari selber hat zusätzlich zu seinen oft lapidaren, aber mit allerhand Doppel- und Triple-Böden gespickten berndeutschen Texten Gitarre, Klavier, Trompete und Piccolo beigesteuert. «Ich fand es eindrücklich», berichtet er, «wie easy bei echt gespielter Musik Leben hineinkommt. Da kriegst du gratis das volle Leben. Durch all die Veler, die komischen Sachen! Das ist schön! Selbst wenn es nicht im selben Raum aufgenommen wird!»

To hell with ewigkeit beginnt mit einem Knüller, nämlich dem Titelstück. Da blubbert und sirrt der Synthi fast wie in den Achtzigerjahren, Perkussion und Drums galoppieren daher wie Pferde. Derweil beklagt King Pepe sein tannhäuserhaftes Schicksal: Umgeben von ätherisch tanzenden Engeln, die ständig nur doof lächeln, sitzt er im Himmel und langweilt sich tödlich. Das Neonlicht blendet endlos und die Engelsmusik kommt ausschliesslich in C-Dur daher. Mit seinem psychedelisch variierten Giorgio-Moroder-Groove gemahnt auch das sardonische Geit scho an frühere Epochen und schreit förmlich nach einer elfminütigen «Extended Disco Mix»-Maxi-Single. Hei Mond ist eine fernwehhafte Ode an den kränkelnden Himmelskörper: «Mier geits mängisch äänlich, nimm’s bitte nid so schwär.» Fingiguet ist eine minimalistische Hymne ans allgemeine «Gutfinden» und Stoubsuger ein träumerisch gecroontes Liebeslied mit fulminanter Klimax. Verspielt, vielseitig, ironisch, ein bisschen verschroben, aber auch von tiefem Ernst beseelt – grandios.

king pepe & the queens,to hell with ewigkeit, Big Money Records

Plädoyer für einen Antizykliker

Ein Doppelquintett des Orchestre de chambre de Lausanne stellt die unterhaltsame Bläsermusik von Jean Françaix vor.

Orchestre de chambre de Lausanne. Foto: Federal studio

Seine Musik hat Witz, lebt von sprudelndem Einfallsreichtum und rhythmischer Raffinesse: Die Rede ist von Jean Françaix, einem Unikum des 20. Jahrhunderts. Der 1912 in Le Mans geborene französische Komponist war alles andere als ein Avantgardist, seine Musik orientiert sich an Strawinskys Neoklassizismus, verinnerlicht aber auch die Eleganz und Finesse eines Francis Poulenc und generell der Groupe des Six. Bis zu seinem Tod 1997 in Paris blieb Françaix seiner Linie treu.

Schaffte er den internationalen Durchbruch 1936 in Baden-Baden auch mit einem Concertino für Klavier und Orchester, so zeichnet ihn besonders sein umfangreiches Œuvre für Bläser aus. Einer weiten Verbreitung seiner unterhaltenden Bläsermusik steht wohl vor allem ihre ungewöhnliche Besetzung entgegen. Exemplarisch seien hier seine an sich bekannten Neuf pièces caractéristiques genannt, die für zehn Blasinstrumente komponiert und daher kaum im Konzertsaal zu hören sind.

Dem schafft nun die Bläsergruppe des Orchestre de chambre de Lausanne unter der Leitung von Nicolas Chalvin wenigstens auf CD Abhilfe. Da staunt man über die rhythmische Akkuratesse im motorischen Ablauf des einleitenden Presto und die Tiefgründigkeit des nachfolgenden, elegisch-charmanten Amoroso. Es ist ein starkes Plädoyer für eine beim Publikum wenig bekannte Musik.

Klug aufgebaut ist die Programmabfolge, die sinnigerweise mit einer Musique pour faire plaisir von Poulenc-Françaix beginnt, womit man sich gleich mittendrin in diesem raren, witzig-eloquenten «Musikidiom» mit je zwei Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotten und Hörnern befindet. Viele der vorgestellten Stücke sind Bearbeitungen, wie drei Écossaisen von Chopin oder der Cortège burlesque von Chabrier.

Die Einspielung endet mit Trois marches militaires von Schubert-Françaix, die zuweilen an Bläserserenaden der Frühklassik erinnern, aber auch etwas langfädig wirken, obwohl das Ensemble sich stilsicher für die Stücke einsetzt. Als Vorbehalt sei angemerkt, dass für ein nicht ausschliesslich bläseraffines Publikum die meist nicht länger als zwei Minuten dauernden «Miniaturen» ermüdend wirken können.

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Jean Françaix: Works for winds. Orchestre de chambre de Lausanne; Leitung Nicolas Chalvin. Claves CD 50-3032

Abenteuergeschichten, mal haarig, mal atlantisch

Zwei gelungene CDs für Kinder: «Struwwelpeter – eine (haarige) Geschichte» interpretiert von einem Quartett des Kammerorchesters Basel sowie «Rubato und das wilde Schiffsorchester» von Musique Simili.

Zeichnung von Juliette Du Pasquier aus «Rubato und das wilde Schiffsorchester»

Eltern müssen ja sein, sind aber nicht immer die besten Ratgeber. Da gibt es Helikopter-Väter und -Mütter, da gibt es Bedenkenträger und Sorgenmacher, die ihren Kindern schon mal eigene Erfahrungsräume nehmen. So etwas fällt einem ein, wenn man die wunderbare CD Struwwelpeter – eine (haarige) Geschichte hört. Geschichte und Musik haben vier Mitglieder des Kammerorchesters Basel schon oft in Klassenzimmern gespielt.

1845 kam das Kinderbuch Struwwelpeter des Psychologen Heinrich Hoffmann auf den Markt. Ursprünglich dachte Hoffmann an ein Weihnachtsgeschenk für seinen dreijährigen Sohn. Doch siehe da: Schon bis zum Tod des Autors verkaufte sich das Buch 950 000 Mal und wurde zu einem Evergreen. Wer kennt sie nicht, die teils grausamen Geschichten vom Suppenkasper, vom Hanns Guck-in-die-Luft oder vom Daumenlutscher?

Eva Miribung (Violine), Georg Dettweiler (Violoncello), Konstantin Timokhine (Horn) und Jan Wollmann (Trompete) erzählen nicht nur. Geschmackssicher wählen und spielen sie auch die Musik: Zur Geschichte vom bösen Friederich tönen Ausschnitte des düsteren Cellokonzerts von Dmitri Schostakowitsch. Die Geschichte von den schwarzen Buben begleiten augenzwinkernde Reggae- und Ska-Rhythmen. Zum Zappel-Philipp intoniert das Quartett kammermusikalisch bearbeitete Passagen aus Richard Strauss‘ Till Eulenspiegels lustige Streiche.

Eltern und ihre Ermahnungen kommen auf der CD gar schlecht weg. Da guckt der Hanns zwar in die Luft, aber die Eltern – auch nicht besser – stur auf ihre Handys. Zumindest sagen das die Kinder, die auch zu Wort kommen. Ihre erfrischenden Kommentare zeigen, dass die Eltern sich mal keine Sorgen zu machen brauchen über potenzielle Grausamkeit der Geschichten. Einem Vierjährigen sollten sie sie vielleicht nicht zum Einschlafen auflegen. Aber für alle Kinder von der ersten bis vierten Klasse ist es eine tolle, vor allem auch musikalisch lehrreiche CD. «Unheimlich, aber aufregend», kommentiert ein Mädchen Die gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug.

Ein Quartett des Kammerorchesters Basel singt und spielt Struwwelpeter, eine (haarige) Geschichte. Solo Musica SM 355

Rubato ist ein dehnbarer Begriff. Diesmal ist es keine Aufführungsvorschrift, sondern der Name jenes Jungen, der sich als blinder Passagier auf die Santa Helena begibt – auf jenes Schiff, das auslaufen wird nach Buenos Aires. Als Akkordeonspieler, der Rubato ist, kann er sich natürlich kaum einen attraktiveren Ort vorstellen als die argentinische Hauptstadt, «wo der Tanz aller Tänze getanzt wird».

Der Tango steht also im Mittelpunkt. Aber es gibt nicht nur einen Tastentango oder einen Tango finale, sondern einen bunten Strauss mit Walzer- oder Csárdás-Elementen oder mit Lied-Beigaben Franz Schuberts. All das Musikalische ist schön verwoben in die von Stella Hänsenberger erzählte Geschichte, die der Zürcher Poet Rainer Frei erdachte. Rubato lernt Sordina kennen, die Geigerin des wilden Schiffsorchesters. Nach allen Querelen mit Capitano Spavento darf Rubato schliesslich im wilden Schiffsorchester mitspielen – und es kommt sogar noch besser …

Eine tolle Kinder-CD inklusive schön kartoniertem und illustriertem Einband präsentiert die in Erlach ansässige Edition Simili. Die anvisierten Kleinen von etwa vier bis sieben Jahren werden mit den abgebildeten Noten in der Regel noch nicht so viel anfangen können. Aber vielleicht können die Eltern ja noch eine kleine Gutenacht-Zugabe spielen?

Rubato und das wilde Schiffsorchester. Geschichte Rainer Frei; Zeichungen Juliette Du Pasquier; Musik Marc Hänsenberger; Musique Simili. Hörbuch mit oder ohne CD. Edition Simili

Von hoch bis kontra-tief

Werke für verschiedene Klarinetteninstrumente und Klavier von August Walter, Othmar Schoeck, Jean-Luc Darbellay und David Philip Hefti.

Ausschnitt aus dem Cover

Drei Klarinettisten und ein Pianist haben im vergangenen Jahr aus der Corona-Not eine Tugend gemacht und ein Konzert mit Werken von vier Schweizer Komponisten aus der Romantik bis in die Gegenwart auf CD eingespielt. Das ist ausserordentlich unterhaltsam und anregend zu hören, weil sie sechs verschiedene Instrumente der Klarinettenfamilie benutzen, hinzu kommt in drei Stücken noch ein Klavier. Und: Alle Musiker sind Meister ihres Fachs.

Schon das erste Werk, Fantasie und Capriccio op. 13 für Klarinette und Klavier des vergessenen Romantikers August Walter, nimmt gefangen: Die Fantasie erinnert an Carl Maria von Weber, das Capriccio an Schumann. In dieser Erstaufnahme werden sie vorgestellt durch Bernhard Röthlisberger (Klarinette) und Benjamin Engeli (Klavier).

Röthlisberger spielt auch den wunderschönen Canto für Bassklarinette (2012) von David Philip Hefti (*1975), wo Mehrklänge erscheinen, die an mittelalterliche Mehrstimmigkeit erinnern. Wie Hefti gekonnt barocke Elemente mit zeitgenössischen verbindet, zeigt sein verinnerlichtes Trio Counterpoints on Come, Sweet Death (2000, nach Bachs Choral Komm, süsser Tod), sensibel interpretiert von Röthlisberger, Nils Kohler und Ernesto Molinari. Zwei Bassklarinetten im Dialog lassen Röthlisberger und Kohler in Heftis (T)raum-Ze(n)it (2008) erklingen, dessen komplex verschachtelter Titel schon andeutet, worum es dem Komponisten hier geht: um die Verbindungen von Raum und Zeit, die bis zu irrealen Traumbildern führen können.

Othmar Schoecks Andante Es-Dur WoO 35 für Klarinette und Klavier stellen Röthlisberger und Engeli als Erstaufnahme vor. Erstaunlich, dass ein solch faszinierendes Werk von 1916 so lange warten musste, bis es eingespielt wurde. Zum Repertoire gehört dagegen Schoecks Sonata op. 41 für dieselbe Besetzung aus dem Grenzbereich zwischen Spätromantik und erweiterter Tonalität, vorzüglich interpretiert.

Der Berner Komponist Jean-Luc Darbellay (*1946) ist mit zwei charakteristischen Werken vertreten: Sentences, 2009 als Pflichtstück für den Concours National d’Exécution Musicale de Riddes entstanden und 2020 für Bassettklarinette bearbeitet, neun teilweise sehr kurze Stücke, die zum Nachhören und Nachdenken über Musik anregen. Das Gleiche gilt für Darbellays Chant d’adieux (1998), den er als Klarinettist mit seiner Frau Elisabeth auf der Wartburg bei Eisenach uraufführte: wunderbar ruhige, zarte Musik, die man gerne immer wieder hören möchte.

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Swiss Clarinet Music: August Walter, Othmar Schoeck, Jean-Luc Darbellay, David Philip Hefti. Bernhard Röthlisberger, Nils Kohler, Ernesto Molinari, Klarinetten; Benjamin Engeli, Klavier. Naxos Musiques Suisses NXMS 7002

Kultur ist die Quintessenz

Zusammen mit seinem Trio hat der Jazzgeiger Tim Kliphuis im Lockdown ein Album geschaffen, das den Umgang mit unserem Planeten reflektiert.

Tim Kliphuis (Mitte), Nigel Clark (li) und Roy Percy (re). Foto: zVg

«Never waste a good crisis» – mit diesem Churchill-Zitat antwortete einer der mitwirkenden Musiker, als der holländische Jazzgeiger Tim Kliphuis ihn für diese Produktion mit seinem Trio (mit Nigel Clark, Gitarre, und Roy Percy, Kontrabass) anfragte. Das Projekt entstand während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020, als sich die Agenden der Musiker leerten und alle ihre Auftritte abgesagt wurden. Produziert wurde das Album in Studios in den Niederlanden, Irland und Schottland, weitgehend im Playback-Verfahren. The Five Elements ist eine Reflexion über den Umgang mit unserem Planeten und ein Ausdruck der Hoffnung, die Erde für uns und unsere Nachkommen als Lebensraum erhalten zu können. Das fünfte Element, die «Quintessenz», steht für die Kultur, hier vor allem die Musik, welche unser Innerstes erreicht und uns lehrt, in Harmonie mit unserer verletzlichen Umwelt zu leben.

Wer dieses Programm als esoterischen Kram abtut, verkennt das ehrliche Engagement der beteiligten Musiker und ihre hohe Professionalität. Mit dem Vokabular des Jazz, der Minimal Music und klassischen Elementen ist eine Musik entstanden, welche die Hörer über ihre ganze Dauer fesselt. Ostinate Tutti-Stellen stehen im Wechsel mit fantasievollen Solos und fetzigen Riffs. Tim Kliphuis, in der Schweiz auch als begeisternder Pädagoge bekannt durch seine Workshops bei ESTA, ZHdK, Konsi Bern und Swiss International Music Academy, bewegt sich in diesem Crossover-Bereich sehr gekonnt und entdeckt immer wieder neue Wege, Klassik, Jazz und World Music zu anregenden Kompositionen zu verbinden. Dass er ein virtuoser Geiger ist und sich mit ebenso hervorragenden Musikern umgibt, bringt seine musikalische Botschaft erst recht über die Rampe. Das Stück Threnody (Klagelied) ist eine Improvisation über Bachs Chaconne mit Streichquartett, die dem Original im Wesentlichen folgt und es immer wieder neu reflektiert, dies in einem mehrheitlich barocken Stil. Auch hier wird virtuos und blitzsauber gespielt.

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The Five Elements. Tim Kliphuis Trio and Ensemble. Lowland Records, auch auf www.timkliphuis.com

Joseph Laubers Sinfonien

Beim Label Schweizer Fonogramm ist der erste von drei Tonträgern mit diesen Werken erschienen. Das Sinfonieorchester Biel Solothurn steht unter der Leitung von Kaspar Zehnder.

Joseph Lauber. Ausschnitt aus dem CD-Cover

«Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.» – Ein Zitat, das neben Thomas Morus auch Gustav Mahler zugeschrieben wird. Auf dem Coverbild der Ersteinspielung von Joseph Laubers Sinfonien Nr. 1 und 2 ist der Schweizer Komponist abgebildet, wie er mit einer Heugabel Zweige auf ein Feuer nachlegt. Dirigent Kaspar Zehnder hat Laubers sinfonisches Werk in der Universitätsbibliothek Lausanne entdeckt und nun mit seinem Sinfonieorchester Biel Solothurn eine auch technisch vorbildliche Aufnahme (Tonmeister: Frédéric Angleraux) beim neuen Label Schweizer Fonogramm vorgelegt. Im Laufe des Jahres werden noch zwei weitere Alben mit den Sinfonien Nr. 3 bis 6 folgen. Keine Asche wird hier ausgegraben, sondern lodernde Glut. Joseph Lauber (1864–1952) zeigt sich in den 1895/96 entstanden Sinfonien zwar nicht als Erneuerer, aber sein Umgang mit der Tradition hat durchaus eine eigene Ausprägung.

Musikalisch orientiert an seinen Lehrern Joseph Rheinberger und Jules Massenet, verbindet er deutsche Spätromantik mit französischem Raffinement in der Farbgestaltung. Eleganz, feine Differenzierung und eine eher flächige Anlage kennzeichnen seine Sinfonik. Und gelegentlich auch Schweizer Lokalkolorit, wenn er die erste Sinfonie mit einer zweistimmigen Alphornmelodie in den Hörnern beginnen lässt, die zwei Flöten als Echo wiederholen und sinfonisch weiterführen. Viele lyrische Ruhepunkte entfaltet die erste Sinfonie, der es an echter Dramatik fehlt. Der warme Streicherklang des Sinfonieorchesters Biel Solothurn wie im feinen Unisono-Beginn des Andante espressivo ist die Grundlage von Zehnders schlüssiger Interpretation. Agogische Flexibilität und dynamische Nuancierung sind weitere Qualitätsmerkmale. In den schnellen Repetitionen wie im Finale schaut auch Felix Mendelssohn um die Ecke. Die zweite Sinfonie in a-Moll verbindet zauberhafte Themen, etwa im Kopfsatz, mit grösseren dramatischen Entwicklungen. Das Andantino, quasi Allegretto erinnert in seiner süsslichen Melancholie an Antonín Dvořák. Böhmen in der Schweiz – auch das ist in Joseph Laubers Musik zu entdecken.

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Joseph Lauber: Sinfonien Nr. 1 und 2. Sinfonie Orchester Biel Solothurn, Leitung Kaspar Zehnder. Schweizer Fonogramm

Büchel frisch ergründet

Balthasar Streiff und Yannick Wey haben Klang und Repertoire dieses alten Instruments gründliche erkundet. Nun legen sie eine beeindruckende Sammlung an Stücken in Ton und Schrift vor.

Balthasar Streiff und Yannick Wey. Foto: Büchelbox

Der Büchel ist quasi die handliche Version des Alphorns. Der Name ist abgeleitet vom Wort «beugen» und rührt daher, dass der Klangkörper zwei Mal gefaltet und entsprechend kürzer ist. Der Büchel wird den Blechblasinstrumenten zugeordnet, ist mit Birkenrinde überzogen und gleicht im Klang auch der Barocktrompete. Wie diese und das Alphorn verfügt er weder über Löcher noch Ventile, so dass die Töne ausschliesslich mittels Luftdruck und Ansatz erzeugt werden müssen. Dass der Büchel auch heute, wo das Alphorn in den verschiedensten musikalischen Kontexten eine Hausse geniesse, ein eher mauerblümchenhaftes Dasein friste, sei wohl darauf zurückzuführen, dass er so schwierig zu spielen sei, erklärt Balthasar Streiff in einem Interview auf der Online-Plattform Open Planet of Sound. «Weil alles kleiner ist als beim Alphorn, ist es heikler, diffiziler und braucht einen besseren Ansatz.»

Ursprünglich von der Bildhauerei herkommend, fand Streiff den Weg zur Musik über Land-Art und das Konzept, «Space» klanglich zu erschliessen. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit den Sounds des Alphorns und vieler anderer Naturblasinstrumente aus aller Welt. Er machte sich nicht zuletzt mit dem Experimentalduo Stimmhorn einen Namen, das fünf Alben veröffentlicht und den Schweizer Kleinkunstpreis gewonnen hat. Yannick Wey ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Luzern und spielt in diversen Formationen und solo Trompete und Büchel.

Mit der Büchelbox und dem gleichzeitig veröffentlichten Notenbuch, denen eine einjährige, intensive Forschungsarbeit zugrunde liegt, präsentieren die beiden Musiker die erste stilistisch, historisch und geografisch umfassende Sammlung von Büchelstücken. Der zeitliche Bogen reicht von den italienischen beziehungsweise österreichischen Barock-Komponisten Bartolomeo Bismantova und Romanus Weichlein über anonyme und «traditionelle» Stücke, die unter anderem vom deutschen Musikwissenschaftler Christian Kaden transkribiert wurden, bis hin zu Kompositionen des 2009 verstorbenen Schwyzers Alois Bucher alias Büchel-Wisi und Balthasar Streiff selber. Viele Beiträge sind mit dem Muotatal verbunden, der Schweizer Hochburg der Büchel, und beschwören nur schon aus Gewohnheit Bilder von schönen Bergwelten herauf. Die stilistische Vielfalt der 47 vignettenhaft kurzen Stücke ist bemerkenswert. So gemahnen die Hirtensignale aus Thüringen an die Frage-und-Antwort-Spiele im Gospel, während die drei anonymen, im 18. Jahrhundert datierten Duette aus Ungarn eine höhere Tonlage anschlagen und richtiggehend spukhaft klingen. Dass die Töne naturgemäss manchmal abgleiten und die Tonskala eh nicht zur konventionellen Radiomusik unserer Zeit passt, schlägt einen faszinierenden Bogen zwischen zeitloser Tradition und experimenteller Moderne.

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Büchelbox. Balthasar Streiff und Yannick Wey. Zytglogge, EAN 7611698043694

Das Notenbuch zur CD ist beim Müllrad-Verlag in Altdorf erschienen (Art.Nr. 1064, Fr. 34.00).

Locker aus dem Ärmel

Das Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Ivor Bolton hat eine Doppel-CD mit Bearbeitungen von Luciano Berio eingespielt: Bach, Boccherini, Brahms, Mahler, De Falla und Lennon/McCartney undogmatisch anders.

Sinfonieorchester Basel mit Ivor Bolton. Foto: Matthias Willi

Luciano Berio war ein Ausnahmekomponist. Schon in den 1960er-Jahren machte er Furore mit seiner «offenen Ästhetik», die zu solch einem Schlüsselwerk wie der Zitatkomposition Sinfonia (1968/69) führte. «Ich leihe mir Zitate aus dem Museum», sagte er einmal, «und vermische sie mit meiner eigenen Musik.» Die vom Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Ivor Bolton eingespielte CD mit dem schlichten Titel Transformation bietet nun besondere Einblicke. In der Tat ist Berio «offen» – offen für Johann Sebastian Bach, für Gustav Mahler, aber auch für Beatles-Klassiker wie Michelle, Ticket to Ride oder Yesterday.

Lange könnte man streiten über die Begriffe Bearbeitung, Orchestrierung oder Instrumentation. Berio jedenfalls betreibt keine Avantgarde-typische Dekonstruktion bei seinen Umgestaltungen. Bachs Contrapunctus XIX aus der Kunst der Fuge bettet er in ein warmes Holzbläser-Arrangement. Elegant kommen die Stimmen nun daher, nicht in jener «Röntgenblickshärte», die der strukturell orientierten Schönberg-Schule noch am Herzen lag. Berio zeigt sich auch in anderen Adaptionen von einer undogmatischen, ganz lustvoll-musikalischen Seite. Das feurige Spanien spiegeln die Transkriptionen von Manuel de Fallas Siete Canciones populares Españolas wider. Ungeheuer klangsensibel orchestriert er die zuweilen forschen, manchmal auch sehr intimen Lieder, wobei er die Partie des Mezzosoprans unberührt lässt.

Wie locker aus dem Ärmel geschüttelt klingt die Sonate op. 120 No. 1 für Klarinette (oder Viola) und Klavier, 1894 geschrieben von Johannes Brahms. 1986 orchestrierte Berio die fünfsätzige Kammermusik zu einer veritablen romantischen Sinfonie. Als schräg-lustige Gelegenheitswerkchen muss man wohl die Beatles-Adaptionen einordnen. Einen schönen Zirkelschluss jedoch bilden die seltsam barocken, ganz im Sinne der Brandenburgischen Konzerte gedachten Beatles-Klassiker. Es ist wohl mehr Privatsache als ein besonderer Beitrag zur hehren Musikgeschichte. Cathy Berberian, die amerikanische Sängerin und damalige Frau von Luciano Berio, war «crazy about the Beatles» – warum also kein barocker Liebesgruss mit «I love you, I love you, I love you» aus Michelle? Nun, alles in allem eine erfreuliche Doppel-CD, die übrigens auch beim Kochen schmeckt.

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Transformation. Bearbeitungen von Luciano Berio. Sophia Burgos, Sopran; Benjamin Appl, Bariton; Daniel Ottensamer, Klarinette; Sinfonieorchester Basel; Leitung, Ivor Bolton. Sony classical 190759820728 (2 CDs)

Expressiver Kontrapunkt

Das Casal-Quartett und Razvan Popovici holen die zupackende Kammermusik von Paul Müller-Zürich aus dem Vergessen.

Casal-Quartett. Foto: David Guyot

Als Theorie- und Kompositionslehrer prägte er mehrere Musikergenerationen der Schweiz, als Autor von Chorwerken hat er Bleibendes geschaffen; seine nicht minder eigenständige Kammermusik muss erst wieder entdeckt werden: Paul Müller-Zürich (1898–1993) war ein begnadeter Pädagoge und als Komponist ein Meister des Kontrapunkts. Davon zeugen bereits seine Frühwerke für Streichinstrumente.

In Zürich, Paris und Berlin u. a. von Philipp Jarnach und Volkmar Andreae ausgebildet und mit der Musik seiner Zeitgenossen vertraut, distanzierte er sich von der Avantgarde, um sich lieber an Brahms und Reger als an Schönberg oder Webern zu orientieren. Weit brachte es Paul Müller-Zürich als Berater und Organisator, trat er doch 1957 dem Stiftungsrat der Pro Helvetia bei, bevor er 1960 zum Präsidenten des Schweizerischen Tonkünstlervereins ernannt wurde.

Wie ausdrucksvoll die Anfänge des 1953 mit dem Musikpreis der Stadt Zürich ausgezeichneten Komponisten sind, gibt das Casal-Quartett mit dem Zuzüger Razvan Popovici (Viola) in drei verschieden besetzten Werken höchst eindrücklich zu verstehen. Das Streichquintett op. 2 in F-Dur (1919) springt den Hörer schon im ersten Takt an, wenn sich an einen Fortissimo-Akkord ein erstes Ostinato-Motiv pianissimo anschliesst und das spannungsvoll in die Höhe schnellende Hauptthema erklingt. Verstörend sirrende Presto-Einschübe trüben im dritten Satz, einem lieblich beginnenden Intermezzo, den sanften Fluss der leicht melancholischen Musik. Ostinati prägen auch das durch Fugato-Einschübe verdichtete, abrupt in d-Moll endende Finale.

Im Streichquartett Es-Dur op. 4 (1921) herrscht ebenfalls hochexpressives Drängen und Stürmen vor, wobei die Chromatismen im Adagio den grössten Gegensatz zur weniger komplizierten Harmonik im volkstanzartigen Rondo-Finale bilden.

Beruhigt gibt sich das um 1950 entstandene Streichtrio op. 46 von Anfang an, dessen lyrischer Kopfsatz von c-Moll zu C-Dur führt. Mit viel Klangintensität und musikantischem Esprit laden die Mitglieder des Casal-Quartetts das kräftig zupackende Finale auf.

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Paul Müller-Zürich: Streichquartett op. 4, Streichtrio op. 46, Streichquintett op. 2. CasalQuartett (Felix Froschhammer, Rachel Späth, Markus Fleck, Andreas Fleck), Razvan Popovici, Viola. Solo Musica SM 287

Ein sensibler Kosmopolit

Auf seiner zweiten Solo-CD reanimiert Christian Erny die Klaviermusik des Russen Arthur Lourié.

Christian Erny. Foto: zVg

Die melancholische Melodie des Eröffnungs-Préludes auf dieser CD mutet fast wie eine minimalistische Filmmusik an. Ein Walzer deutet auf Chopin hin, ist aber auch von einer ganz anderen, eigenwilligen Farbe durchtränkt. Ebenso wirkt das spätere impressionistische Farbenspiel in Deux estampes von einem bisher kaum bekannten, sehr individuellen Personalstil durchdrungen …

Der Schweizer Pianist Christian Erny stiess während seines Studiums in den USA auf das Œuvre von Arthur Lourié, dessen Name so «un-russisch» wie seine Musik klingt. Ist Lourié, der 1891 im heutigen Weissrussland geboren wurde, längere Zeit in Paris und später in den USA lebte, wo er 1966 starb, gerade deswegen weitgehend in der Versenkung verschwunden?

Christian Ernys Spielweise nimmt sich auf seiner zweiten Solo-CD denkbar unaufgeregt dieser Klang- und Gedankenwelt an. Erny weiss die Register und Farben subtil zu mischen, als wären es menschliche Stimmen. Das ist kein Zufall, da Erny ja sehr ambitioniert als Leiter seiner Zurich Chamber Singers zu Werke geht, und dies nach eigenem Bekunden viele Synergieeffekte für die pianistische Gestaltung mit sich bringe.

So entfalten sich gewisse neoklassizistische Züge in Louriés Musik betont schwerelos und detailscharf zugleich, wie auch ein meditatives Intermezzo und später ein getragenes Nocturno tief berühren. Aber Lourié und sein engagierter heutiger Interpret können auch ganz anders: Eine furiose Gigue wird zur entfesselten Rhythmus- und Klangstudie, die viel eher an einen rebellischen Strawinsky und gar nicht an barocke Vorbilder erinnert. Für die Doppelbödigkeit von Louriés Zeitumständen steht ein Lullaby, also ein Wiegenlied: Zwar noch tief in der Romantik gründend, nimmt eine Sekundreibung den Anfang der Moderne unmissverständlich vorweg.

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Christian Erny plays Arthur Lourié: Piano works (Cinq préludes fragiles, Deux estampes). ARS Produktion 38 248 (SACD)

 

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