Kultur ist die Quintessenz

Zusammen mit seinem Trio hat der Jazzgeiger Tim Kliphuis im Lockdown ein Album geschaffen, das den Umgang mit unserem Planeten reflektiert.

Tim Kliphuis (Mitte), Nigel Clark (li) und Roy Percy (re). Foto: zVg

«Never waste a good crisis» – mit diesem Churchill-Zitat antwortete einer der mitwirkenden Musiker, als der holländische Jazzgeiger Tim Kliphuis ihn für diese Produktion mit seinem Trio (mit Nigel Clark, Gitarre, und Roy Percy, Kontrabass) anfragte. Das Projekt entstand während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020, als sich die Agenden der Musiker leerten und alle ihre Auftritte abgesagt wurden. Produziert wurde das Album in Studios in den Niederlanden, Irland und Schottland, weitgehend im Playback-Verfahren. The Five Elements ist eine Reflexion über den Umgang mit unserem Planeten und ein Ausdruck der Hoffnung, die Erde für uns und unsere Nachkommen als Lebensraum erhalten zu können. Das fünfte Element, die «Quintessenz», steht für die Kultur, hier vor allem die Musik, welche unser Innerstes erreicht und uns lehrt, in Harmonie mit unserer verletzlichen Umwelt zu leben.

Wer dieses Programm als esoterischen Kram abtut, verkennt das ehrliche Engagement der beteiligten Musiker und ihre hohe Professionalität. Mit dem Vokabular des Jazz, der Minimal Music und klassischen Elementen ist eine Musik entstanden, welche die Hörer über ihre ganze Dauer fesselt. Ostinate Tutti-Stellen stehen im Wechsel mit fantasievollen Solos und fetzigen Riffs. Tim Kliphuis, in der Schweiz auch als begeisternder Pädagoge bekannt durch seine Workshops bei ESTA, ZHdK, Konsi Bern und Swiss International Music Academy, bewegt sich in diesem Crossover-Bereich sehr gekonnt und entdeckt immer wieder neue Wege, Klassik, Jazz und World Music zu anregenden Kompositionen zu verbinden. Dass er ein virtuoser Geiger ist und sich mit ebenso hervorragenden Musikern umgibt, bringt seine musikalische Botschaft erst recht über die Rampe. Das Stück Threnody (Klagelied) ist eine Improvisation über Bachs Chaconne mit Streichquartett, die dem Original im Wesentlichen folgt und es immer wieder neu reflektiert, dies in einem mehrheitlich barocken Stil. Auch hier wird virtuos und blitzsauber gespielt.

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The Five Elements. Tim Kliphuis Trio and Ensemble. Lowland Records, auch auf www.timkliphuis.com

Joseph Laubers Sinfonien

Beim Label Schweizer Fonogramm ist der erste von drei Tonträgern mit diesen Werken erschienen. Das Sinfonieorchester Biel Solothurn steht unter der Leitung von Kaspar Zehnder.

Joseph Lauber. Ausschnitt aus dem CD-Cover

«Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.» – Ein Zitat, das neben Thomas Morus auch Gustav Mahler zugeschrieben wird. Auf dem Coverbild der Ersteinspielung von Joseph Laubers Sinfonien Nr. 1 und 2 ist der Schweizer Komponist abgebildet, wie er mit einer Heugabel Zweige auf ein Feuer nachlegt. Dirigent Kaspar Zehnder hat Laubers sinfonisches Werk in der Universitätsbibliothek Lausanne entdeckt und nun mit seinem Sinfonieorchester Biel Solothurn eine auch technisch vorbildliche Aufnahme (Tonmeister: Frédéric Angleraux) beim neuen Label Schweizer Fonogramm vorgelegt. Im Laufe des Jahres werden noch zwei weitere Alben mit den Sinfonien Nr. 3 bis 6 folgen. Keine Asche wird hier ausgegraben, sondern lodernde Glut. Joseph Lauber (1864–1952) zeigt sich in den 1895/96 entstanden Sinfonien zwar nicht als Erneuerer, aber sein Umgang mit der Tradition hat durchaus eine eigene Ausprägung.

Musikalisch orientiert an seinen Lehrern Joseph Rheinberger und Jules Massenet, verbindet er deutsche Spätromantik mit französischem Raffinement in der Farbgestaltung. Eleganz, feine Differenzierung und eine eher flächige Anlage kennzeichnen seine Sinfonik. Und gelegentlich auch Schweizer Lokalkolorit, wenn er die erste Sinfonie mit einer zweistimmigen Alphornmelodie in den Hörnern beginnen lässt, die zwei Flöten als Echo wiederholen und sinfonisch weiterführen. Viele lyrische Ruhepunkte entfaltet die erste Sinfonie, der es an echter Dramatik fehlt. Der warme Streicherklang des Sinfonieorchesters Biel Solothurn wie im feinen Unisono-Beginn des Andante espressivo ist die Grundlage von Zehnders schlüssiger Interpretation. Agogische Flexibilität und dynamische Nuancierung sind weitere Qualitätsmerkmale. In den schnellen Repetitionen wie im Finale schaut auch Felix Mendelssohn um die Ecke. Die zweite Sinfonie in a-Moll verbindet zauberhafte Themen, etwa im Kopfsatz, mit grösseren dramatischen Entwicklungen. Das Andantino, quasi Allegretto erinnert in seiner süsslichen Melancholie an Antonín Dvořák. Böhmen in der Schweiz – auch das ist in Joseph Laubers Musik zu entdecken.

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Joseph Lauber: Sinfonien Nr. 1 und 2. Sinfonie Orchester Biel Solothurn, Leitung Kaspar Zehnder. Schweizer Fonogramm

Büchel frisch ergründet

Balthasar Streiff und Yannick Wey haben Klang und Repertoire dieses alten Instruments gründliche erkundet. Nun legen sie eine beeindruckende Sammlung an Stücken in Ton und Schrift vor.

Balthasar Streiff und Yannick Wey. Foto: Büchelbox

Der Büchel ist quasi die handliche Version des Alphorns. Der Name ist abgeleitet vom Wort «beugen» und rührt daher, dass der Klangkörper zwei Mal gefaltet und entsprechend kürzer ist. Der Büchel wird den Blechblasinstrumenten zugeordnet, ist mit Birkenrinde überzogen und gleicht im Klang auch der Barocktrompete. Wie diese und das Alphorn verfügt er weder über Löcher noch Ventile, so dass die Töne ausschliesslich mittels Luftdruck und Ansatz erzeugt werden müssen. Dass der Büchel auch heute, wo das Alphorn in den verschiedensten musikalischen Kontexten eine Hausse geniesse, ein eher mauerblümchenhaftes Dasein friste, sei wohl darauf zurückzuführen, dass er so schwierig zu spielen sei, erklärt Balthasar Streiff in einem Interview auf der Online-Plattform Open Planet of Sound. «Weil alles kleiner ist als beim Alphorn, ist es heikler, diffiziler und braucht einen besseren Ansatz.»

Ursprünglich von der Bildhauerei herkommend, fand Streiff den Weg zur Musik über Land-Art und das Konzept, «Space» klanglich zu erschliessen. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit den Sounds des Alphorns und vieler anderer Naturblasinstrumente aus aller Welt. Er machte sich nicht zuletzt mit dem Experimentalduo Stimmhorn einen Namen, das fünf Alben veröffentlicht und den Schweizer Kleinkunstpreis gewonnen hat. Yannick Wey ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Luzern und spielt in diversen Formationen und solo Trompete und Büchel.

Mit der Büchelbox und dem gleichzeitig veröffentlichten Notenbuch, denen eine einjährige, intensive Forschungsarbeit zugrunde liegt, präsentieren die beiden Musiker die erste stilistisch, historisch und geografisch umfassende Sammlung von Büchelstücken. Der zeitliche Bogen reicht von den italienischen beziehungsweise österreichischen Barock-Komponisten Bartolomeo Bismantova und Romanus Weichlein über anonyme und «traditionelle» Stücke, die unter anderem vom deutschen Musikwissenschaftler Christian Kaden transkribiert wurden, bis hin zu Kompositionen des 2009 verstorbenen Schwyzers Alois Bucher alias Büchel-Wisi und Balthasar Streiff selber. Viele Beiträge sind mit dem Muotatal verbunden, der Schweizer Hochburg der Büchel, und beschwören nur schon aus Gewohnheit Bilder von schönen Bergwelten herauf. Die stilistische Vielfalt der 47 vignettenhaft kurzen Stücke ist bemerkenswert. So gemahnen die Hirtensignale aus Thüringen an die Frage-und-Antwort-Spiele im Gospel, während die drei anonymen, im 18. Jahrhundert datierten Duette aus Ungarn eine höhere Tonlage anschlagen und richtiggehend spukhaft klingen. Dass die Töne naturgemäss manchmal abgleiten und die Tonskala eh nicht zur konventionellen Radiomusik unserer Zeit passt, schlägt einen faszinierenden Bogen zwischen zeitloser Tradition und experimenteller Moderne.

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Büchelbox. Balthasar Streiff und Yannick Wey. Zytglogge, EAN 7611698043694

Das Notenbuch zur CD ist beim Müllrad-Verlag in Altdorf erschienen (Art.Nr. 1064, Fr. 34.00).

Locker aus dem Ärmel

Das Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Ivor Bolton hat eine Doppel-CD mit Bearbeitungen von Luciano Berio eingespielt: Bach, Boccherini, Brahms, Mahler, De Falla und Lennon/McCartney undogmatisch anders.

Sinfonieorchester Basel mit Ivor Bolton. Foto: Matthias Willi

Luciano Berio war ein Ausnahmekomponist. Schon in den 1960er-Jahren machte er Furore mit seiner «offenen Ästhetik», die zu solch einem Schlüsselwerk wie der Zitatkomposition Sinfonia (1968/69) führte. «Ich leihe mir Zitate aus dem Museum», sagte er einmal, «und vermische sie mit meiner eigenen Musik.» Die vom Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Ivor Bolton eingespielte CD mit dem schlichten Titel Transformation bietet nun besondere Einblicke. In der Tat ist Berio «offen» – offen für Johann Sebastian Bach, für Gustav Mahler, aber auch für Beatles-Klassiker wie Michelle, Ticket to Ride oder Yesterday.

Lange könnte man streiten über die Begriffe Bearbeitung, Orchestrierung oder Instrumentation. Berio jedenfalls betreibt keine Avantgarde-typische Dekonstruktion bei seinen Umgestaltungen. Bachs Contrapunctus XIX aus der Kunst der Fuge bettet er in ein warmes Holzbläser-Arrangement. Elegant kommen die Stimmen nun daher, nicht in jener «Röntgenblickshärte», die der strukturell orientierten Schönberg-Schule noch am Herzen lag. Berio zeigt sich auch in anderen Adaptionen von einer undogmatischen, ganz lustvoll-musikalischen Seite. Das feurige Spanien spiegeln die Transkriptionen von Manuel de Fallas Siete Canciones populares Españolas wider. Ungeheuer klangsensibel orchestriert er die zuweilen forschen, manchmal auch sehr intimen Lieder, wobei er die Partie des Mezzosoprans unberührt lässt.

Wie locker aus dem Ärmel geschüttelt klingt die Sonate op. 120 No. 1 für Klarinette (oder Viola) und Klavier, 1894 geschrieben von Johannes Brahms. 1986 orchestrierte Berio die fünfsätzige Kammermusik zu einer veritablen romantischen Sinfonie. Als schräg-lustige Gelegenheitswerkchen muss man wohl die Beatles-Adaptionen einordnen. Einen schönen Zirkelschluss jedoch bilden die seltsam barocken, ganz im Sinne der Brandenburgischen Konzerte gedachten Beatles-Klassiker. Es ist wohl mehr Privatsache als ein besonderer Beitrag zur hehren Musikgeschichte. Cathy Berberian, die amerikanische Sängerin und damalige Frau von Luciano Berio, war «crazy about the Beatles» – warum also kein barocker Liebesgruss mit «I love you, I love you, I love you» aus Michelle? Nun, alles in allem eine erfreuliche Doppel-CD, die übrigens auch beim Kochen schmeckt.

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Transformation. Bearbeitungen von Luciano Berio. Sophia Burgos, Sopran; Benjamin Appl, Bariton; Daniel Ottensamer, Klarinette; Sinfonieorchester Basel; Leitung, Ivor Bolton. Sony classical 190759820728 (2 CDs)

Expressiver Kontrapunkt

Das Casal-Quartett und Razvan Popovici holen die zupackende Kammermusik von Paul Müller-Zürich aus dem Vergessen.

Casal-Quartett. Foto: David Guyot

Als Theorie- und Kompositionslehrer prägte er mehrere Musikergenerationen der Schweiz, als Autor von Chorwerken hat er Bleibendes geschaffen; seine nicht minder eigenständige Kammermusik muss erst wieder entdeckt werden: Paul Müller-Zürich (1898–1993) war ein begnadeter Pädagoge und als Komponist ein Meister des Kontrapunkts. Davon zeugen bereits seine Frühwerke für Streichinstrumente.

In Zürich, Paris und Berlin u. a. von Philipp Jarnach und Volkmar Andreae ausgebildet und mit der Musik seiner Zeitgenossen vertraut, distanzierte er sich von der Avantgarde, um sich lieber an Brahms und Reger als an Schönberg oder Webern zu orientieren. Weit brachte es Paul Müller-Zürich als Berater und Organisator, trat er doch 1957 dem Stiftungsrat der Pro Helvetia bei, bevor er 1960 zum Präsidenten des Schweizerischen Tonkünstlervereins ernannt wurde.

Wie ausdrucksvoll die Anfänge des 1953 mit dem Musikpreis der Stadt Zürich ausgezeichneten Komponisten sind, gibt das Casal-Quartett mit dem Zuzüger Razvan Popovici (Viola) in drei verschieden besetzten Werken höchst eindrücklich zu verstehen. Das Streichquintett op. 2 in F-Dur (1919) springt den Hörer schon im ersten Takt an, wenn sich an einen Fortissimo-Akkord ein erstes Ostinato-Motiv pianissimo anschliesst und das spannungsvoll in die Höhe schnellende Hauptthema erklingt. Verstörend sirrende Presto-Einschübe trüben im dritten Satz, einem lieblich beginnenden Intermezzo, den sanften Fluss der leicht melancholischen Musik. Ostinati prägen auch das durch Fugato-Einschübe verdichtete, abrupt in d-Moll endende Finale.

Im Streichquartett Es-Dur op. 4 (1921) herrscht ebenfalls hochexpressives Drängen und Stürmen vor, wobei die Chromatismen im Adagio den grössten Gegensatz zur weniger komplizierten Harmonik im volkstanzartigen Rondo-Finale bilden.

Beruhigt gibt sich das um 1950 entstandene Streichtrio op. 46 von Anfang an, dessen lyrischer Kopfsatz von c-Moll zu C-Dur führt. Mit viel Klangintensität und musikantischem Esprit laden die Mitglieder des Casal-Quartetts das kräftig zupackende Finale auf.

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Paul Müller-Zürich: Streichquartett op. 4, Streichtrio op. 46, Streichquintett op. 2. CasalQuartett (Felix Froschhammer, Rachel Späth, Markus Fleck, Andreas Fleck), Razvan Popovici, Viola. Solo Musica SM 287

Ein sensibler Kosmopolit

Auf seiner zweiten Solo-CD reanimiert Christian Erny die Klaviermusik des Russen Arthur Lourié.

Christian Erny. Foto: zVg

Die melancholische Melodie des Eröffnungs-Préludes auf dieser CD mutet fast wie eine minimalistische Filmmusik an. Ein Walzer deutet auf Chopin hin, ist aber auch von einer ganz anderen, eigenwilligen Farbe durchtränkt. Ebenso wirkt das spätere impressionistische Farbenspiel in Deux estampes von einem bisher kaum bekannten, sehr individuellen Personalstil durchdrungen …

Der Schweizer Pianist Christian Erny stiess während seines Studiums in den USA auf das Œuvre von Arthur Lourié, dessen Name so «un-russisch» wie seine Musik klingt. Ist Lourié, der 1891 im heutigen Weissrussland geboren wurde, längere Zeit in Paris und später in den USA lebte, wo er 1966 starb, gerade deswegen weitgehend in der Versenkung verschwunden?

Christian Ernys Spielweise nimmt sich auf seiner zweiten Solo-CD denkbar unaufgeregt dieser Klang- und Gedankenwelt an. Erny weiss die Register und Farben subtil zu mischen, als wären es menschliche Stimmen. Das ist kein Zufall, da Erny ja sehr ambitioniert als Leiter seiner Zurich Chamber Singers zu Werke geht, und dies nach eigenem Bekunden viele Synergieeffekte für die pianistische Gestaltung mit sich bringe.

So entfalten sich gewisse neoklassizistische Züge in Louriés Musik betont schwerelos und detailscharf zugleich, wie auch ein meditatives Intermezzo und später ein getragenes Nocturno tief berühren. Aber Lourié und sein engagierter heutiger Interpret können auch ganz anders: Eine furiose Gigue wird zur entfesselten Rhythmus- und Klangstudie, die viel eher an einen rebellischen Strawinsky und gar nicht an barocke Vorbilder erinnert. Für die Doppelbödigkeit von Louriés Zeitumständen steht ein Lullaby, also ein Wiegenlied: Zwar noch tief in der Romantik gründend, nimmt eine Sekundreibung den Anfang der Moderne unmissverständlich vorweg.

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Christian Erny plays Arthur Lourié: Piano works (Cinq préludes fragiles, Deux estampes). ARS Produktion 38 248 (SACD)

 

Prächtig, leicht, humorvoll

Leichtfüssig spielt das Musikkollegium Winterthur unter der Leitung von Roberto González-Monjas Mozarts Haffner-Serenade. In Othmar Schoecks Opus 1 lässt es Schalk aufblitzen.

Musikkollegium Winterthur. Foto: Paolo Dutto

Er ist der Komet am Winterthurer Klassikhimmel: Roberto González-Monjas, seit der Saison 2013/2014 Konzertmeister des dortigen Musikkollegiums, der auch als Dirigent auftritt. Daneben ist er in gleicher Funktion in Rom beim Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia und als Professor im Fach Violine an der Guildhall School of Music and Drama in London tätig. Ein Hansdampf in allen Gassen, der seit seinem Amtsantritt in der allzu oft im Schatten Zürichs stehenden Eulachstadt das Konzertleben gehörig aufmischt.

Nun legt er mit dem Musikkollegium beim Schweizer Label Claves eine CD vor, die vor Elan und Leichtigkeit nur so sprüht. Eingespielt sind die berühmte Haffner-Serenade KV 250 von Mozart und die Serenade op. 1 von Othmar Schoeck, wobei González-Monjas sowohl als Dirigent als auch als Sologeiger fungiert. Erstaunlich, wie leicht und akzentsicher das Orchester, das unter dem ehemaligen Chefdirigenten Douglas Boyd zuweilen recht behäbig wirkte, nun zu spielen vermag.

Die achtsätzige Haffner-Serenade ist Meisterwerk und Abschluss von Mozarts Serenadenschaffen zugleich. Prächtig in der Besetzung (mit dem gesamten Bläserregister) und damit in der Farbigkeit verbindet es den sinfonischen Anspruch mit der unterhaltenden Leichtigkeit dieser Gattung. Als raffinierte Besonderheit hat Mozart die Sätze zwei bis vier als veritables Geigenkonzert voller Liedhaftigkeit und Virtuosität gestaltet, ein «gefundenes Fressen» für den Violinkünstler González-Monjas. Mit seiner filigranen Art und seinem wunderbar singenden Geigenklang dominiert er die Serenade denn auch über weite Strecken, wobei Tonmeister Andreas Werner seine Kunst noch mehr herausstellt. Das ist etwas schade, denn das Orchester hat sehr viel zu bieten, wie die witzige Schoeck-Serenade zeigt. Einst als Abschlussarbeit in Zürich komponiert und in Leipzig überarbeitet, gefällt das Werk durch handwerkliches Geschick, Humor und Klangsinnlichkeit: vom tänzerischen Anfang bis zum prächtigen Mittelteil ein überzeugendes Plädoyer für dieses gut achtminütige Kleinod.

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Mozart & Schoeck: Serenaden. Musikkollegium Winterthur, Leitung Roberto González-Monjas. Claves 50-1710

Ein Meister, meisterlich gespielt

Els Biesemans (Fortepiano) und Meret Lüthi (Violine) machen mit ihren subtilen Interpretationen deutlich, wie erfindungsreich und ausgefeilt die Kammermusik von Franz Xaver Sterkel ist.

Franz Xaver Sterkel, Radierung von Heinrich Eduard Winter 1816. Quelle: Source gallica.bnf.fr / BnF

Auch noch 14 Jahre nach der Gründung des Labels Ramée ist jede CD ein Fest für Auge und Ohr. Spezialisiert auf Alte Musik (in diesem Fall definiert als bis knapp über die Wende zum 19. Jahrhundert) setzt Ramée nicht auf Masse, sondern fördert in durchwegs herausragenden Interpretationen vielfach Rares aus den Tiefen der Musikgeschichte zu Tage, das man dann mit anhaltender Begeisterung wieder und wieder auflegt.

Zu diesen Schätzen gehört auch die Kammermusik von Franz Xaver Sterkel (1750–1817) – einem Komponisten, der zu Lebzeiten als Pianist weithin bekannt war, mit seinen zahlreichen Sonaten und Klaviertrios bei Liebhabern hoch im Ansehen stand und doch (wie so viele seiner Generation) mit dem Aufkommen der musikalischen Romantik viel zu rasch vergessen wurde. Neben einer Kunstreise durch Italien waren freilich nicht Wien, Berlin, Paris oder London die Stationen seines Wirkens, sondern vielmehr Mainz, Regensburg, Aschaffenburg und Würzburg – Orte, an denen Sterkel massgeblich an der Etablierung eines regen Musiklebens Anteil hatte, wo er sich aber auch über den stilistischen Wandel hinweg, den er sehr wohl wahrnahm, treu blieb: So verachtete Sterkel die vermeintlich «unwürdigen Künsteleien», suchte vielmehr «edle Simplicität», «reinen Rhythmus» sowie «Harmonie und Melodie» (1808).

Dass ihm dies in einer bemerkenswert eigenen Sprache auch gelang, davon zeugt die vorliegende Auswahl von Sonaten, die zwischen 1785 und 1817 im Druck erschienen. Sie vereinen erfrischende Erfindungsgabe mit einem ausgeprägten Sinn für kammermusikalische Dramaturgie (klanglich wie harmonisch). Wie gross dabei der gestalterische Spielraum ist, zeigen Els Biesemans (Fortepiano) und Meret Lüthi (Violine) in ihrer vollendet ausgehörten Interpretation. Sie machen auf faszinierende Weise deutlich, was in Sterkels Werken wirklich steckt.

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Johann Franz Xaver Sterkel: Sonatas for Fortepiano and Violin. Els Biesemans (Fortepiano), Meret Lüthi (Violine). Ramée RAM 1701

In Musik gefasste Nachdenklichkeit

Obschon Lisette Spinnler bereits seit vier Jahren mit ihrer aktuellen Formation unterwegs ist, kam es nie zu einem Album. Jetzt ist dieses Manko behoben worden, endlich.

Lisette Spinnler. Foto: Anne Day

Der Titel von Lisette Spinnlers aktueller CD, Sounds Between Falling Leaves, scheint eine klare Reminiszenz an den Herbst zu sein. Wozu auch die melancholische Grundstimmung der sieben Songs passen würde. In einem Interview mit der Badischen Zeitung hat die Jazzsängerin allerdings durchblicken lassen, dass sich der Plattentitel auf anderes beziehe – auf eine Periode des Suchens und des In-die-Stille-Gehens: «Eigentlich ist der Albumtitel eine Metapher für die Zeit, in der ich dieses geschrieben habe», erklärte sie.

Wer sich durch die CD hört, begegnet dem bislang introvertiertesten Werk der Baselbieterin. Die Lieder klingen wie in Musik gefasste Nachdenklichkeit, entpuppen sich zum Teil aber auch als Naturbetrachtungen. Dies gilt nicht zuletzt für The Sun Has Set, basierend auf einem Gedicht von Emily Brontë (1818–1848), bei dem etwa vom verträumt im Abendwind wiegenden Gras die Rede ist. Die 41-Jährige nutzt diese Vorlage, um ihre Stimme zwar nur sparsam, dafür sehr effektiv einzusetzen. Sie zerdehnt ihre Gesangspartien, tendiert zum Wispern und versteht es, den Worten mit ihrer Nuancierung zusätzliches Gewicht zu verleihen.

Auch Stücke wie The Night Is Darkening Around Me oder Silent Dream wirken gefasst, fast durchwegs sanft und still. Nur das aus der Feder von Mongo Santamaria stammende Afro Blue, das einzige Cover der Platte, ritzt mit fein gesponnenen Rhythmen aus dem Latin Jazz an der vorherrschenden Besinnlichkeit. Die verspielten Melodien, eines von Spinnlers Markenzeichen, zeigen sich denn auch nicht mehr ganz so dominant wie früher. Stattdessen frönen die Musikerin und ihre drei Begleiter an Piano, Bass und Schlagzeug jetzt einem Sound, der darauf abzielt, virtuos und ausgewogen zu sein. Das gelingt und macht, dass sich Sounds Between Falling Leaves nicht bloss improvisationsfreudig, sondern geradezu kunstvoll präsentiert.

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Lisette Spinnler: Sounds Between Falling Leaves. Stefan Aeby, Klavier; Patrice Moret, Bass; Michi Stulz, Schlagzeug. Neuklang NCD4171

Die Stimme – physiologisch betrachtet

Filmische Annäherungen an zahlreiche physiologische Vorgänge, die mit der Stimmproduktion verbunden sind.

Foto: S. Hofschlaeger/pixelio.de

Das Freiburger Institut für Musikmedizin hat eine äusserst informative DVD-ROM herausgegeben. Nicht nur der eigentliche Stimmapparat wird in anschaulichen und gut gegliederten Kurzpräsentationen unter die Lupe genommen, sondern viele damit verbundene Details werden übersichtlich in kurzen Filmsequenzen dargestellt. Die Vorgänge beim Atmen, Singen und Sprechen filmisch dargestellt zu sehen, ist um Vieles anschaulicher und leichter verständlich als das Studieren physiologischer Zeichnungen und Abbildungen, die das komplexe, weil dreidimensionale Modell des Atem- und Kehlraums nur begrenzt und vor allem nicht in seiner Funktion darstellen können.

Die DVD-ROM ist im Wesentlichen in drei Grossabschnitte gegliedert: Der Erste beschäftigt sich mit dem «Instrument Stimme». Hier gibt es Unterabschnitte über die Atmung, den Kehlkopf, den Vokaltrakt. Jeder dieser Abschnitte ist wieder in mehrere Unterkapitel aufgeteilt. Mit kernspintomografischen Aufnahmen und animierten 3-D-Modellen werden alle relevanten Vorgänge detailliert und anschaulich dargestellt. So können wir Sänger beim Singen beobachten, während begleitend verschiedene Aspekte kommentiert und erläutert werden, wir erfahren Details über Konsonanten- und Vokalbildung wie auch deren Schallausbreitung im Raum. Auch werden Informationen über Sprech-und Singatmung, messa die voce, subglottischen Druck und viele weitere interessante Details, die mit der Stimmproduktion verbunden sind, realitätsnah vermittelt.

Ein nächstes Kapitel widmet sich «stimmlichen Ausdrucksformen». Hier erfahren wir Näheres über die Prosodie (die musikalischen Elemente der Sprache), verschiedene Stimmgattungen und unterschiedliche Gesangsstile von Jodel über Kunstlied bis Pop und Musicalgesang. Wir finden Unterkapitel über Kinder- und Chorgesang, wie auch über Stimmäusserungen beim Lachen oder Weinen.
In einem letzten Kapitel kommt die Stimmwissenschaft zu Wort: Es stellt Untersuchungsmethoden, Vorgänge bei der Stimmmessung und Computerprogramme vor.

Für interessierte Sänger und Laien wie auch Gesangslehrer und Fachdidaktikstudierende ist diese DVD-ROM ein hilfreiches Tool, das wahlweise auf Deutsch oder Englisch in 160 Minuten umfassend und übersichtlich informiert!

Die Stimme. Einblicke in die physiologischen Vorgänge beim Singen und Sprechen, Freiburger Institut für Musikermedizin (Bernhard Richter, Matthias Echternach, Louisa Traser, Michael Burdumy, Claudia Spahn), DVD-ROM, 160 Min., Fr. 45.40, Helbling, Esslingen, ISBN 978-3-86227-258-7

Was zum Kuckuck ist «altfrentsch»?

Eine Notensammlung aus dem 18. Jahrhundert und Tonaufnahmen von Alpstubeten lieferten die Vorlagen für diese Tänze, gespielt von der Landstreichmusik.

Landstreichmusik. Foto: zVg

Der Begriff «altfrentsch» bezeichnet eine volksmusikalische Besetzung: das Trio von Violine, Hackbrett und Bassett (Streichinstrument zwischen Cello und Kontrabass). Der Berner Kleinkünstler Franz Niklaus König hat dieses Ensemble 1826 als Vignette in der «Sammlung von Schweizer=Kühreihen und Volksliedern» dargestellt. In derselben Sammlung finden sich auch zwei Appenzeller Tänze für eben diese Besetzung. «Altfrentsch» bedeutet sinngemäss «altmodisch» und stammt wörtlich vom Ausdruck «altfränkisch».

In Gonten (Appenzell Innerrhoden) wurde 1998 eine Handschrift mit 54 Tänzen aus dem späten 18. Jahrhundert entdeckt, die das Zentrum für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik 2008 unter dem Titel Altfrentsch publizierte. Diese mittlerweile durch eine Neuausgabe zugängliche Tanzsammlung enthält auch ausländische Melodien, die zweifellos von Wandergeigern und andern fahrenden Musikanten eingebracht worden sind.

Auf dem neuen Album Altfrentsch unterwegs haben die sechs Musikanten der Landstreichmusik unter der Leitung des Geigers Matthias Lincke nur die Hälfte der 16 eingespielten Tanzmelodien aus der erwähnten Handschrift gewählt. Die übrigen Stücke sind Tonaufzeichnungen von Alpstubeten abgehört, die auf Schellackplatten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhalten geblieben sind. Dabei wurden nicht nur alte Stücke, sondern auch die historischen Spielweisen (Besetzung, Tempi, Stimmführung, Tongebung, Phrasierung und Schlusswendungen) übernommen. Das Resultat wirkt verblüffend vital und unterscheidet sich von einstimmig vorliegenden, eigens mehrstimmig arrangierten älteren Schweizer Volkstänzen, wie sie in der Neuen Volksmusik Mode geworden sind.

Man hört dem empfehlenswerten Tonträger aber auch gerne zu, weil Dide Marfurt die Melodien mit der Maultrommel und anderen historische Musikinstrumenten aufmischt, Christine Lauterburg Geigenspiel und Stimme einbringt und der österreichische Volksmusikant Matthias Härtel (Kontrabass), Elias Menzl (Hackbrett) und Simon Dettwiler (Schwyzerörgeli) zur Atmosphäre beitragen.

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Landstreichmusik. Altfrentsch unterwegs, Musiques suisses MGB-NV 34

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Altfrentsch. Tanzmusik aus dem Appenzellerland. Spätes 18. Jahrhundert, Schriftenreihe der Stiftung Roothuus Gonten 001.1, Fr. 30.00, Zentrum für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik, Gonten 2017 (Neuausgabe)

Jüdisches Sonatenneuland

Bedeutenden Repertoirezuwachs erfährt die Bratschenliteratur durch lauter Ersteinspielungen von Werken jüdischer Komponisten.

Hana Gubenko. Foto: zvg

Dem bekanntermassen entdeckungsfreudigen Schweizer Pianisten Timon Altwegg und der in Moskau geborenen Bratschistin Hana Gubenko ist eine Neuerscheinung zu verdanken, die ausschliesslich mit unbekannten Werken jüdischer Komponisten überrascht. Vom undatierten Sephardic Poem von Aaron Yalom (1918–2002) abgesehen, sind sie alle in dem geringen Zeitraum von 1972 bis 2012 entstanden und auf sehr unterschiedliche Weise der Sonatenform verpflichtet.

Die jüngsten beiden Kompositionen, die 2. Sonate von Frank Ezra Levy (geboren 1930) und die Sonata ebraica von Graham Waterhouse (geboren 1962), tragen Widmungen an die beiden Interpreten, denen nachzurühmen ist, dass sie sich für alle Stücke mit derselben Hingabe und Überzeugungskraft einsetzen.

Schon das in diesem Jahr von der Edition Kunzelmann veröffentlichte Eröffnungsstück der CD, Sephardic Poem von Yalom, hat grosses Überraschungspotential. Der Komponist, der als Sohn polnisch-jüdischer Immigranten in der Nähe von Genf geboren wurde und in New York starb, schuf damit ein auf einem lyrischen Thema basierendes, mit viel pianistischer Brillanz angereichertes Bravourstück von starker Eigenart. Eine solche weist auch die klanglich herbe 1. Bratschensonate des aus Basel stammenden Komponisten, Pianisten und Pädagogen Ernst Levy auf, fehlen doch verbale Tempoangaben und Vortragsbezeichnungen in allen vier Sätzen.

In der Sonata ebraica von Waterhouse, die der CD den Namen gibt, stellt das im kaddischartigen Mittelsatz zitierte jiddische Volkslied Oyfn Pripetshik den am deutlichsten hörbaren jüdischen Bezug zum Werktitel her.

Als besonders dankbare Repertoirebereicherungen erweisen sich die beiden Kompositionen von Ernst Levys Sohn Frank Ezra. Von der einsätzigen Sonata Ricercare mit ihrem häufigen Taktwechsel unterscheidet sich die 2. Sonate durch eine französisch anmutende Eleganz, geschmeidigen Fluss der eingänglicheren Melodik und grössere Kontraste: Sonore Orgelpunkte und unerbittliche Martellato-Attacken wechseln mit wunderbar zarten Tonrepetitionen der Bratsche und mit witzig eingeblendeten Jazzrhythmen effektvoll ab.

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Sonata ebraica (Kompositionen von Aaron Yalom, Ernst Levy, Frank Levy, Graham Waterhouse). Hana Gubenko, Viola; Timon Altwegg, Klavier. Guild GMCD 7419

Ein Vielkönner

Der Basler Komponist Martin Jaggi mit Orchester- und Ensemblewerken auf einer Porträt-CD der Grammont-Reihe.

Martin Jaggi. Foto: © Christoph Bösch

Kaum auf einen Nenner bringen lässt sich diese Musik. Martin Jaggi komponiert impulsiv, ja manisch bis explosiv, dann wieder dezent, meditativ-introvertiert. Der Vielfältigkeit entspricht ein ungeheurer Reichtum der Mittel. Jaggi nimmt, was hilft und nützt – seien es harmonisch-tonale Klänge, sei es das dissonant-komplexe Vokabular des 20. und 21. Jahrhunderts, sei es die Wiederholung, die der 1978 in Basel Geborene aus dem Minimalismus oder vom Rock und Pop her kennt.

Die chamäleonartige Verwandlung verträgt sich schlecht mit den Forderungen nach einem markanten Personalstil. Aber wer kann das noch fordern? Heute, wo die Welt ähnlich komplex ist wie dieses Girga, das Jaggi 2014 für das Luzerner Sinfonieorchester schrieb. Dominant ist das Schlagzeug, während sich die rauen Blechbläser verquirlen mit den Streicherattacken. Immer wieder kommen abgrundtiefe Zäsuren – just an jenen Punkten, wo das Material nicht mehr viel hergibt. Kein Zweifel: Jaggi hat Sinn für Form.

Sechs Werke gibt es auf dieser aussergewöhnlich kurzweiligen Porträt-CD aus dem Hause Musiques Suisses. Neben zwei fulminanten Orchesterwerken zeigt Jaggi seine kammermusikalische Seite in vier Ensemblestücken, die zwischen 2006 und 2013 entstanden. Plod on für Violine, Viola, Cello und Klavier (2007) präsentiert das Mondrian Ensemble, in dem Jaggi als Cellist selbst spielt. Wie Michael Kunkel im Booklet beschreibt, gibt es einen «melancholischen Grundtonus». Tatsächlich scheint das Verlöschen Thema zu sein. Immer wieder bündelt die Musik Kräfte, nur um resignativ in sich zusammenzufallen. Jaggi zeigt sich wieder als Verwandlungskünstler, durchaus auch als musikalischer Vielkönner. Zum Düsteren, Rabiaten, Brutalen wie Dezenten kommt noch etwas: das Virtuose – seitens der Interpreten wie des Komponisten.

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Porträt Martin Jaggi; Musiques Suisses (Grammont Portrait), CTS-M 146

Urformen

Quellen der Alphornmelodik, zuerst in Buchform veröffentlicht, sind nun auch als Videodokument erlebbar.

Foto: Alphornvereinigung Pilatus/flickr commons

Hans-Jürg Sommer unterrichtete rund vierzig Jahre lang als professioneller Musikpädagoge Gitarre, ist aber als Alphornbläser, Komponist von über 500 Werken für Alphorn – unter ihnen der berühmte Moos-Ruef –, Kursleiter und Musikschriftsteller bekannt. 2002 wurde er für seine musikalischen Verdienste mit dem Goldenen Violinschlüssel, 2006 für seine kulturelle Leistung mit dem Musikpreis des Kantons Solothurn ausgezeichnet.

2010 publizierte Sommer ein 154 Seiten umfassende Dokumentation unter dem Titel Eine Auswertung und Interpretation historischer Quellen zur Alphornmelodik (Eigenverlag Oensingen). Es ging ihm darum, alte Stücke nicht aus der Sicht eines Ethnomusikologen, sondern als Spieler auf der Suche nach traditionellen Melodien zu edieren. Er sammelte alte Notationen von Kühreihen aus der Reiseliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts, wie sie bereits in Alfred Leonz Gassmanns Alphornbüechli von 1938 und in anderen Publikationen vorliegen, ergänzte sie aber durch alte Tonaufnahmen, die seit den 1930er-Jahren greifbar und nun transkribiert sind.

Der Autor erreichte mit diesem wichtigen Sammelwerk aber lange nicht alle der rund 5000 Alphornbläser der Schweiz, weil sich viele unter ihnen Melodien nur durchs Gehör aneignen können. Diese Erkenntnis brachte Hans-Jürg Sommer und einen seinen Alphornpartner, Thomas Juchli, auf die Idee, die Kühreihen-Melodien aus der vorliegenden Sammlung einzuspielen und in sorgfältig ausgewählten Berglandschaften der Schweiz anzusiedeln. Dabei ging es dem Musikpädagogen nicht einfach darum, den bekannten Zusammenhang von Landschaft, Musik und Milchwirtschaft im Film zu visualisieren, sondern einzelne Teile von sechs immer wiederkehrenden Kühreihen aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert in ihrer ursprünglichen Funktion darzustellen. Vorerst sind die Invokationsmotive in aufsteigenden Melodien zu hören. Nach diesen Einleitungen zeigen Lock- und Reihenteile, dass ihnen noch heute auf Alpen weidende Kühe in althergebrachter Selbstverständlichkeit folgen. Die Diskussion um die Bedeutung des Begriffs Kühreihen wird durch dieses natürliche Phänomen abgeschlossen: wenn das Alphorn oder auch andere Musik erklingt, stellen sich die Kühe eine nach der anderen in einer langen Reihe ein. Jedermann erkennt in weiteren Sequenzen, die Sommer Zäsuren nennt, ruhige Musikpassagen, während denen der Alphirte vor dem Stall auf die Kühe zu warten pflegte. Nach weitern Lock- und Reihenteilen enden die Kühreihen mit der Wiederholung der Einleitung und einem Jauchzer.

Was in einem verblüffend einfachen Kommentar, wahlweise auf Deutsch, Französisch oder Englisch, leicht verständlich scheint und sich zudem auch sehr schön präsentiert, ist das Resultat einer jahrelangen, aufwändigen Arbeit, die ein allgemeines Publikum und vor allem auch Schulkinder erreichen möge.

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Hans-Jürg Sommer und Thomas Juchli, Die Mundart des Alphorns (dt/frz/eng), DVD Nr. 802, alphornmusik.ch

Mehr als nur lose Blätter

Rund 140 Jahre nach seinem Tod erscheint erstmals eine Gesamteinspielung der Klaviersolowerke von Hermann Goetz.

Hermann Goetz. Undatiertes Foto. Wikimedia commons

An der hauptsächlich aus Deutschland importierten Romantik in der Schweiz scheinen einheimische Interpreten nicht sehr interessiert zu sein, ebenso wie am Schaffen der hier geborenen Spätromantiker. Theodor Kirchners Klavierwerke aus der Schweizer Zeit wurden von Irene Barbuceanu eingespielt; für den in Lachen (SZ) geborenen Sinfoniker Joachim Raff setzten sich die Bamberger Symphoniker ein. Die orchestralen Hauptwerke von Hans Huber wurden von den Stuttgarter Philharmonikern aufgenommen, diejenigen von Fritz Brun liegen in Einspielungen mit dem Moskauer Sinfonieorchester vor. Die erste Gesamteinspielung der drei Streichquartette von Hermann Suter ist dem in Bonn gegründeten Beethoven-Quartett zu verdanken. Wen wundert es da, dass es ein deutscher Pianist war, Christof Keymer, der mit der ersten Gesamteinspielung der mehrheitlich in Winterthur und Zürich entstandenen Klaviersolowerke von Hermann Goetz (1840-1876) hervortrat?

Beim deutschen Label cpo sind seine Interpretationen umso besser aufgehoben, als sie gut in das oft ausgefallene Repertoire dieses entdeckungsfreudigen Produzenten passen. Es handelt sich tatsächlich um Entdeckungen, finden sich doch neben den Losen Blättern op. 7 und den beiden Sonatinen op. 8, die gelegentlich an Vortragsübungen erklingen, gleich mehrere Raritäten auf den beiden CDs. Die Notenausgaben von vier Stücken aus dem Nachlass hatte Christof Keymer schon 2013 im Erstdruck beim Amadeus-Verlag in Winterthur vorgelegt: die frühe Alwinen-Polka aus der Königsberger Studienzeit, eine stürmische Fantasie in d-Moll, ein mit Staccati gespicktes Scherzo in F-Dur und das in Sonatensatzform stehende Waldmärchen in h-Moll (BP 1497).

Besonderes Interesse verdient das dreiteilige Scherzo. Das noch während des Studiums bei Hans von Bülow 1862 in Berlin komponierte Stück lässt die Vermutung aufkommen, Goetz habe die nur einen Ton tiefer notierte Etüde aus den Vingt exercices et préludes der polnischen Chopin-Vorläuferin Maria Szymanowska-Wołowska (1789–1831) gekannt.

Alle diese Werke, einen Sonatensatz in G-Dur und kleinere Stücke gestaltet Keymer mit viel Liebe zu klanglichen Details, um in den lyrischen Partien der Losen Blätter mit warmem Espressivo und wunderbarer Gelassenheit besonders zu beeindrucken.

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Hermann Goetz: Complete Piano Works. Christof Keymer, Klavier. cpo 777 879-2 (2 CDs)

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