«Missklänge» für die Zeitgenossen

Früher begegnete man Liszts späten Klavierstücken mit Unverständnis. Das ändert sich nun langsam.

Franz Liszt im März 1886, fotografiert von Nadar. Quelle: Sotheby’s/wikimedia commons

«Wie Sie wissen, trage ich eine tiefe Trauer in meinem Herzen; sie muss hie und da in Noten ertönend ausbrechen.» Mit diesen Worten lieferte Franz Liszt in einem Brief 1883 selber den Schlüssel zum Verständnis seiner späten Klavierwerke, die auf jeden virtuosen Flitter verzichten und dafür die Grenzen der Tonalität ausloten. Bei seinen Zeitgenossen erntete er dafür nur Kopfschütteln und Ablehnung. Selbst Richard Wagner sprach von «keimendem Wahnsinn» und «Missklängen», denen er nichts abgewinnen könne. Und noch 1976 hielt Klaus Wolters in seinem umfassenden Handbuch der Klavierliteratur fest, dass diese Musik weder für den Unterricht noch fürs Konzert geeignet sei: «Nichts mehr vom genialen Feuerkopf, nur noch trübe, freudlose, schemenhafte Gebilde …» Diese Bewertung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gewandelt. Heutzutage werden diese Werke für ihre radikale Einfachheit und kühne Harmonik durchaus bewundert und finden auch immer häufiger den Weg aufs Podium.

Der Bärenreiter-Verlag hat nun einige dieser Klavierstücke aus den Jahren 1880 bis 1885 in einem Sammelheft herausgegeben. Darunter das unglaublich düstere Unstern!, die rätselhaften Nuages gris sowie Am Grabe Richard Wagners, ein Werk, das auch in einer kammermusikalischen Bearbeitung existiert. Weiter enthalten sind die beiden Fassungen der selten gespielten Romance oubliée und – last but not least – Die Trauer-Gondel, ebenfalls in beiden Versionen. Die zweite Fassung des letzteren gehört mit zu den wenigen umfangreicheren Werken und besticht durch einen subtilen Aufbau, der in einem dramatischen Ausbruch kulminiert. Gerade dieses Stück lässt sich in einem Rezital wunderbar mit früheren Werken Liszts, etwa der Sonate in h-Moll, kombinieren.

Im Vorwort zu dieser Neuausgabe erfährt man von Herausgeber Michael Kube viel Wissenswertes über die Entstehung der einzelnen Stücke. Und in den ausführlichen Hinweisen zur Interpretation äussert sich mit Steffen Schleiermacher ein Pianist, dem diese Musik offensichtlich ans Herz gewachsen ist. Seine Anweisungen mögen manchmal etwas stark persönlich gefärbt sein. Als Anregungen sind sie aber sicher willkommen.

Einer der ersten, der Liszts späte Werke wirklich ernst nahm und schätzte, war übrigens Béla Bartók. Überhaupt war er der Überzeugung, «dass die Bedeutung Liszts für die Weiterentwicklung der Musik grösser ist als die Wagners».

Franz Liszt: Klavierstücke aus den Jahren 1880–1885, hg. von Michael Kube, BA 10871, € 20.95, Bärenreiter, Kassel  

Eine bunte Harfenschule für Kinder

Die pädagogisch breit abgestützte «Harfenschule Regenbogen» von Franziska Brunner und Sabine Moser bekommt demnächst eine Fortsetzung.

Ausschnitt aus dem Cover. Zeichung von Ruth Cortinas

Vor mir liegt eine schön illustrierte Mappe, gefüllt mit sechs farbigen, humorvoll gezeichneten Heften, welche dazu einladen, von Kindern entdeckt zu werden. Die zwei Harfenistinnen Franziska Brunner und Sabine Moser sind erfahrene Pädagoginnen. Ihre Schule regt zu aktivem Erkunden der Harfe an und lässt eine Verbindung von Musik und Leben entstehen. Es ist den Autorinnen gelungen, einen äusserst durchdachten Aufbau von Grund auf zu gestalten, d. h. nicht nur Harfentechnik einzuführen, sondern gleichzeitig alle Aspekte der Musik einzubauen. Es gibt Improvisationsanregungen, Bilder inspirieren dazu, Geschichten zu erzählen, Übungen werden mit Assoziationen verbunden, die Musiktheorie wird sehr spielerisch eingeführt, der Fantasie wird viel Raum gegeben und schliesslich finden sich sorgfältig ausgesuchte schöne Lieder. Ein Lehrmittel voller speziellen Ideen – ein Regenbogen an Möglichkeiten.

Das Kind und seine Erlebniswelt im Fokus zu haben, führte auch zur Idee, die Harfenschule dem Jahreszyklus anzugleichen. Jedes Heft, eingeteilt in Lerneinheiten von sechs bis acht Wochen, hat einen saisonalen Schwerpunkt, was sich in den Improvisationen und der Liederauswahl spiegelt. Fängt ein Kind im neuen Schuljahr an, Harfe zu spielen, durchlebt es Sommer, Herbst, Winter und Frühling und dürfte die ersten vier bis fünf Hefte innerhalb eines Jahres meistern können. Die Hefte sind nur acht Seiten dick und daher recht schnell zu bewältigen. Auf die Kinder wirkt dies sehr motivierend, denn sie haben den Eindruck, schnell vorwärts zu kommen.

Auffallend finde ich, wie luftig die Seiten gestaltet sind, keineswegs überfüllt und doch findet alles Essenzielle darin Platz.

Den Lehrkräften dient dieses Lehrmittel als variationsreiche Inspirationsquelle für freieren Unterricht, zugleich entspricht es den Zielen des Lehrplans 21. Da die Musiktheorie fortwährend eingebunden wird, ist sie auch Ausgangspunkt für Spiele, Entdeckungen und Gestaltung. Bewusst wurde darauf verzichtet, das Lehrmittel mit vielen Stücken zu füllen. So haben Kinder und Lehrkräfte die Möglichkeit, nach Bedarf selber Lieder einzufügen oder zu ersetzen. Falls das Konzept der Saisonhefte bei langsameren Kindern hinderlich wäre, müsste die Lehrperson natürlich freier mit der Schule umgehen. Die Schule wendet sich vornehmlich an Kinder zwischen der ersten und vierten Klasse.

Sehr erfreulich ist, dass nach dem riesigen Echo auf den ersten Band, nun eine Fortsetzung mit weiteren sieben Heften bald zur Veröffentlichung gelangt. Wiederum wurde der Entwurf von Harfenpädagoginnen im Unterricht während längerer Zeit erprobt, wurden Änderungen und Anregungen aufgenommen. Auch dieses künftige Lehrmittel ist eine Gemeinschaftsarbeit in vielerlei Hinsicht mit folgenden Inhalten: tolle Lieder, Intervalle und Dreiklänge samt ihren Umkehrungen, Arpeggi, Tonleitern, Flageolette, Triolen und Sechzehntel, Improvisieren über Tonika und Dominante, erweitertes Notenlesen, Tonarten und Stimmen.

Die Harfenschule Regenbogen ist eine zeitgemässe, pädagogische Bereicherung, die ich nur empfehlen kann.

Franziska Brunner und Sabine Moser: Harfenschule Regenbogen, Heft 1–6, illustriert von Ruth Cortinas, 80 S., Zusatzmaterial online, Fr. 34.80, kontakt@cordialharfenspiel.ch, ISBN 978-3-7252-1045-9

Schoecks Freund und Librettist Rüeger

Drei Opernlibretti hat Armin Rüeger für Othmar Schoeck geschrieben. Trotzdem ist der Apotheker, Dichter und Grafiker weitgehend unbekannt geblieben.

Othmar Schoeck (li) und Armin Rüeger 1922. Foto: Nachlass Armin Rüeger/Othmar-Schoeck-Festival, Brunnen

Die Wiederbelebung von Othmar Schoecks letzter Oper Das Schloss Dürande am Stadttheater Bern durch den Dirigenten Mario Venzago und den Musikwissenschafter Thomas Gartmann hat wieder einmal in Erinnerung gerufen, dass die Schweizer Musikszene ihren gewichtigsten Opernkomponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts doch vermehrt pflegen könnte – oder sollte. Leider hatte aber nicht Armin Rüeger den Eichendorff-Text in ein Libretto verwandelt, sondern, nach dessen Absage, der nazi-treudeutsche Hermann Burte. Rüegers drei Libretti für Schoeck, Don Ranudo, Venus und Massimilla Doni, boten eine verlässliche Grundlage für die Vertonung, auch wenn der Komponist manche Passage aus dem Konzept schon «im Topf» hatte und bitten musste, den Text dazu schleunigst zu liefern.

Durch Briefausschnitte von Rüeger und Schoeck, aber auch aus Beiträgen von Autorinnen und Autoren der nachfolgenden Generation werden die Konturen des auch grafisch aktiven Apothekers aus Bischofszell und die Freundschaft mit dem Komponisten, die über fünfzig Jahre dauerte, deutlicher und ergänzen die grosse Schoeck-Biografie von Chris Walton (Atlantis 1994) im privaten Bereich auf sympathische Weise. Attraktiv illustriert mit Skizzen, Gemälden und Fotos könnte dies, zusammen mit dem Begleitbuch zum Festival 2021, der Start zu einer sinnvollen Schriftenreihe zum Thema Othmar Schoeck werden.

Drama und Oper. Armin Rüeger – Librettist und Freund von Othmar Schoeck, Begleitbuch zum Othmar Schoeck Festival 2022, hg. von Alvaro Schoeck und Chris Walton, 156 S., Fr. 15.00, Müsigricht, Steinen 2022, ISBN 978-3-9525658-0-3

 

Raff und der aufkommende Tourismus

Das neueste Schwyzer Heft enthält unveröffentlichte Briefe, die Joachim Raff auf Reisen im Alpenraum geschrieben hat, Hinweise auf Werke mit Titelbezügen zur Schweiz und Fakten zum damaligen Tourismus.

Rigi Kulm, Ölskizze von Johann Heinrich Müller, 1825-1894. wikimedia commons

Das Schwyzer Heft 113 verfolgt verschiedene Ziele: Kernstück ist die kommentierte Edition von zehn Briefen, welche Joseph Joachim Raffs Berichte von zwei Reisen in die Schweiz (1867) bzw. in die süddeutschen Alpen (1873) enthalten. So konnten die Schwyzer Hefte mit der Raff-Gesellschaft – aus Anlass des 200. Geburtstags von deren Namengeber – kooperieren, ohne auf ein Mindestmaß an Lokalkolorit verzichten zu müssen. Gleichzeitig ergab sich dadurch eine Plattform für die Veröffentlichung eines bislang unbekannten Teilbestandes der umfangreichen Raff-Korrespondenz, welche in der Bayerischen Staatsbibliothek München aufbewahrt wird. Darüber hinaus nehmen die zwei Editoren und die Editorin Gelegenheiten wahr, auf jene Werke Raffs hinzuweisen, welche Schweizerisches im Titel tragen.

Bei alledem bleibt unklar, ob der Komponist mit solch geografischen Titeln nicht vielmehr die Verkäuflichkeit seiner Werke dadurch erleichtert hat, dass er in Zeiten des zunehmenden Schweiz-Tourismus Profit aus seinem eher zufälligen Geburtsort zu ziehen verstand. Denn eine als Kontextualisierung gedachte Übersicht über die Entwicklung des Alpenlandes Schweiz als Tourismusdestination aus der Feder des Historikers Joseph Jung entpuppt sich als Brennpunkt der gesamten Publikation, zu dem Raff mit seinem Schweiz-Bezug in Briefen und Kompositionen nicht mehr als ein Fallbeispiel, wenn auch ein besonders vielschichtiges, abgibt.

Obwohl der reich bebilderte und informative Band – mehr als bloss ein «Heft» – ein kritisches Lektorat verdient hätte, stellt er einen weiteren Meilenstein im Aufbau der Erforschung von Joachim Raff, dem für das Verständnis der Musik des 19. Jahrhunderts so wichtigen Komponisten, dar.

Severin Kolb, Franziska Gallusser, Lion Gallusser, Joseph Jung, Heinrich Aerni: Unterwegs mit Joachim Raff im Alpenraum, Schwyzer Heft Band 113, 137 S., Fr. 25.00, Kulturkommission Kanton Schwyz, 2022, ISBN 978-3-909102-75-4

 

Klavier und Harfe in Balance

Auf der Neueinspielung «Signature» des Duos Praxedis sind Kompositionen von Schweizer Zeitgenossen kombiniert mit wenig bekannten Werken aus dem 19. Jahrhundert.

Duo Praxedis. Foto: zVg

Das Duo Praxedis hat Bestand. Die Harfenistin Praxedis Hug-Rütti und ihre Tochter, die Pianistin Praxedis Geneviève Hug, konzertieren seit Jahren zusammen und überraschen immer wieder mit originellen Einspielungen. Man denke nur an die Piazzolla-Doppel-CD oder an grand duet mit Originalwerken für Harfe und Klavier, auch das ein Doppelalbum.

Tatsächlich hat die Harfe als Instrument immer wieder Blütezeiten erlebt, so an Fürstenhöfen und in den Salons des 19. Jahrhunderts. Oder dann bei den Franzosen, als Claude Debussy und Maurice Ravel zu neuartigen, «befreiten» Klangwelten aufbrachen. Die Duo-Besetzung Harfe und Klavier wurde auch im Konzertsaal zelebriert, etwa mit dem Pianisten Carl Czerny (1791–1857) und dem Harfenisten Elias Parish Alvars (1808–1849), der für Berlioz der «Liszt der Harfe» war.

Nach interessanter, aber vergessener Literatur für ihr Duo zu forschen, gehört für die beiden leidenschaftlichen Musikerinnen dazu. Auf ihrer aktuellen CD kann man zum Beispiel ein Grand Duo du Couronnement von Henri Herz (1806–1888) hören oder die Six Nocturnes von Charles Oberthür (1819–1895) entdecken. Bei diesen Trouvaillen weiss sich die Pianistin klanglich subtil zurückzunehmen, um der Harfe ihren akustischen Raum zu lassen.

Dokumentiert werden auf dieser CD aber auch drei der Auftragswerke, die das Duo Praxedis regelmässig renommierten Schweizer Komponisten gibt. Der stilistisch sehr versierte und vielseitige Rudolf Lutz hat 2018 La Folia für das Duo komponiert, wobei er nach eigenen Worten «durch die verschiedensten stilistischen Länder mäandert». Dramaturgisch geschickt reiht Lutz  Renaissance-Elemente, romantische Klänge, Tango- und Jazz-Variationen zu einem abwechslungsreichen, in sich aber stimmigen Stück.

Coucher du soleil (2016) heisst das Werk, das Rolf Urs Ringger noch in hohem Alter dem Duo Praxedis widmete. Er liess sich dafür von Marc Chagalls Gemälde Sonnenuntergang inspirieren. In keinem andern Stück dieser CD wird das Dialogische zwischen Klavier und Harfe so meisterhaft ausgelotet wie hier. Besonders auffällig ist Ringgers Umgang mit dem pedalisierten Bassregister des Flügels, das der grazilen Harfe eine originelle Klangaura verleiht.

Auch Xavier Dayer, der jüngste Komponist im Bunde, ist für sein subtiles Klangempfinden bekannt. Er hat für das Duo Praxedis eine Melodie aus den populären polyfonen Gesängen der französischen Provinz Béarn variiert. Hier offenbaren die beiden Musikerinnen ihre perfektionierte Klangbalance, ihr subtiles Gehör füreinander und ihre filigrane Virtuosität.

Duo Praxedis: Signature. Praxedis Hug-Rütti, harp; Praxedis Geneviève Hug, piano. Ars Produktion ARS 38 628

 

Harfen-Trouvaillen

Sarah O’Brien hat zum Teil kaum bekannte Impromptus für Harfe gesucht und gefunden. Es sind lohnende Stücke, die die klanglichen Eigenheiten des Instruments zur Geltung bringen.

Sarah O’Brien. Foto: zVg

Die Basler Harfenistin Sarah O’Brien legt mit Impromptu ihr zweites Solo-Album vor. Sie nutzte die schwierige Corona-Pause, um ihren lange gehegten Wunsch zu verwirklichen. Auf ihrer ständigen Suche nach originalen Harfenstücken, die zum Teil noch in Archiven schlummern, ist sie fündig geworden. Man staunt, wie viele der hier versammelten man so gut wie nie im Konzertsaal hört. Sich in diese originell zusammengestellte CD reinzuhören, lohnt sich unbedingt.

Impromptus passen ausgezeichnet zur Harfe, es sind Charakterstücke, haben aber auch etwas Improvisatorisches. Etwa das Impromptu para arpa von Joaquín Rodrigo (1901–1999), von dem man vor allem das Gitarrenkonzert kennt. Oder dann das klangschöne Impromptu von Joseph Guy Marie Ropartz (1864–1955), der ja mit César Franck befreundet war, den man als Komponisten aber kaum kennt. Einige Stücke sind von der bekannten italienischen Harfenistin Clelia Gatti Aldrovandi (1901–1989) inspiriert. Sie arbeitete – wie dies auch Sarah O’Brien tut – mit mehreren Komponisten zusammen, um neue Werke für ihr Instrument zu bekommen. So hat nicht nur Paul Hindemith seine Harfensonate in enger Zusammenarbeit mit Gatti Aldrovandi geschrieben. Auch Nino Rota (1911–1979) und Virgilio Mortari (1902–1993) liessen sich von ihr zu Harfenkompositionen motivieren, in denen sie auf alte Tänze wie Sarabande oder Gaillarde zurückgriffen.

Man hört diesen Werken gut an, dass sie ausgesprochen harfengerecht geschrieben sind. Sie bringen viele Facetten des Instruments zur Geltung, ohne effekthascherisch zu sein. Sarah O’Brien weiss diese raffiniert auszukosten. So kommen etwa in Hindemiths Sonate die ruhig ausgebreiteten klangfarblichen Eigenarten wunderbar zum Tragen.

O’Brien war über 20 Jahre Solo-Harfenistin im Concertgebouw-Orchester Amsterdam und bei den Münchner Philharmonikern, bevor sie Professorin an den Musikhochschulen in Zürich und Basel wurde. Mehrere ihrer Studentinnen und Studenten sind Preisträger internationaler Wettbewerbe. Als Solistin trat sie unter Bernhard Haitink, Hans Vock und Hartmut Haenchen auf, aber auch mit dem Orchestre de la Suisse Romande unter Fabio Luisi und Árpád Gérecz. Zu erleben war sie zudem mit dem Basler Sinfonieorchester und den Kammerorchestern von Basel und Zürich.

Ihre reiche künstlerische Erfahrung kommt nicht nur in den interpretatorischen Qualitäten dieser neuen CD-Einspielung zur Geltung, sondern auch in der dramaturgischen Zusammenstellung der Stücke. Sie ist kontrast- und abwechslungsreich. Die Kompositionen aus dem französischen Barock hat O’Brien selber arrangiert. Es sind zwei lautmalerische Stücke von Jean-Philippe Rameau mit den Titeln Le rappel des oiseaux und La poule, dazu kommt das humorvolle Le Tic-Toc- Choc von François Couperin.

All diese Kostbarkeiten rahmt O‘Brien mit den beiden gewichtigsten und noch am ehesten bekannten Stücken ein: dem Impromptu-caprice op. 9 von Gabriel Pierné (1863–1937) und dem Impromptu Des-Dur op. 86 von Gabriel Fauré (1845–1924). Man muss nicht Harfenfan sein, um diese CD mit Genuss zu hören.

Sarah O’Brien: Impromptu. Audite 97.807

 

Ensemble Astera in Kopenhagen ausgezeichnet

Das Ensemble gewinnt den ersten Preis sowie den Sonderpreis für die beste Interpretation der Uraufführung beim renommierten Internationalen Carl-Nielsen-Kammermusikwettbewerb.

Das Bläserquintett Astera bei der Preisverleihung. Foto: Agnete Schlichtkrull

Das schweizerisch-französische Bläserensemble Astera besteht aus Coline Richard (Flöte), Yann Thenet (Oboe), Gabriel Potier (Horn), Moritz Roelcke (Klarinette) und Jeremy Bager (Fagott), die alle ehemalige Studentinnen und Studenten der Haute Ecole de Musique de Lausanne sind. Gleich nach ihrem Studium fanden sie sich aus ganz Europa zusammen, um dieses Ensemble zu gründen und ihre gemeinsame Leidenschaft für die Kammermusik zu pflegen. Ihre unterschiedlichen persönlichen Erfahrungen haben ihren Zusammenhalt, ihren Klang und ihre musikalische Affinität innerhalb des Bläserquintetts bereichert.

Sie sind Mitglieder oder arbeiten mit renommierten Orchestern wie dem Tonhalle Orchester Zürich, dem Orchestre National de Lille, dem Orchestre de Chambre de Lausanne, dem Gewandhausorchester Leipzig oder dem Orchestre de la Suisse Romande zusammen.

Laut Andreas Sundén, Vorsitzender der Jury und Soloklarinettist des Schwedischen Rundfunkorchesters ist «der Klang dieses Ensembles raffiniert und präzis. In einer ausgewogenen Energie, sowohl in der Gruppe als auch einzeln überzeugend, ist ihr Spiel von Reflexion und einem tiefen Ausdruck für den Komponisten geprägt.“

Der alle vier Jahre stattfindende Carl-Nielsen-Kammermusikwettbewerb richtet sich an junge Streichquartette und Bläserquintette. Nach einer Video-Vorauswahl geht er über drei Runden; aus einem grossen Repertoire präsentieren die Ensembles auch ein Auftragswerk, das speziell für den Wettbewerb komponiert wurde.

Hinreissend für Streichorchester

Die neue Fassung von Antonín Dvořáks «Nocturne» für Streichorchester H-Dur op. 40 bezieht eine kürzlich aufgetauchte Quelle mit ein.

Antonín Dvořák 1870. Foto: wikimedia commons

Es ist ein Stück wundervoller Musik, das heute und noch immer in gleich mehrfacher Weise überrascht. Zunächst klingt dieses Nocturne überhaupt nicht nach dem Dvořák, den man aus seiner allzu präsenten amerikanischen Periode zu kennen glaubt. Schon die Entstehungsgeschichte macht neugierig. Denn der Satz entstammt ursprünglich einem frühen Streichquartett e-Moll (1869/70). Er ging dann (mit erweiterter Instrumentation) in das Streichquintett G-Dur op. 77 ein (hier bereits mit Kontrabass), wurde wieder ausgeschieden – und erlangte schliesslich mit einem nochmals überarbeiteten zweiten Teil ein Eigenleben als Nocturne H-Dur.

Ferner lässt der Satz viel Spielraum für die Interpreten. Schon eine erste Übersicht der verfügbaren Einspielungen ergibt ein verblüffendes Resultat: Man kann das Nachtstück mit seinen insgesamt 51 Takten sehr zügig und flüssig in unter sechs Minuten spielen oder es in über neun Minuten fast stehend zelebrieren. Die Wahrheit liegt wie immer in der Mitte, wobei der Fluss des 12/8-Takts gewahrt werden sollte. Auch wenn das Violoncello eine gefühlte Ewigkeit auf der Quinte fis verharrt: Dieser Satz hat es in sich, ist herausfordernd und wird das Auditorium ins Schwelgen bringen, ob nun in einfacher kammermusikalischer Besetzung oder süffiger mit einem chorischen Ensemble. Die fünf Kreuze mögen zunächst abschreckend sein, sorgen indes für eine Klangwirkung von bezaubernder Leuchtkraft.

Die aktuelle Bärenreiter-Ausgabe kann auf eine neu aufgetauchte Stichvorlage des Stückes zurückgreifen und berichtigt somit einige Lesarten. Vor allem aber ist die Ausgabe (Partitur und ein Streichersatz 4-4-3-2-1) sehr sauber, übersichtlich und schön gesetzt. Eine lohnenswerte Erweiterung des Repertoires.

Antonín Dvořák: Nocturne für Streichorchester H-Dur op. 40, hg. von Jonáš Hájek, Partitur und Stimmensatz BA 11564, € 29.50, Bärenreiter, Prag  

Hebräisch a cappella

Etliche Klassiker in hebräischer Sprache liegen im zweibändigen «Hebräischen Chorbuch» erstmals als Chorarrangements vor.

Dreidel und Kerzen, wie sie an Chanukka verwendet werden. Foto: Tetiana Shyshkina/unsplash.com

Die jüdische Musik hat eine reiche, über 3000-jährige Geschichte. Sie wurde massgeblich geprägt von der Diaspora, dem Leben als religiöse Minderheit in unterschiedlichen Ländern, und dem daraus resultierenden Einbezug verschiedenster nationaler Musikstile und Praktiken.

Mit dem Hebräischen Chorbuch legt nun der in Berlin lebende Chorleiter und Arrangeur Ohad Stolarz beim Verlag Breitkopf und Härtel eine beachtenswerte Sammlung mit hohem Repertoirewert vor. In zwei Bänden präsentiert er geistliche, paraliturgische und weltliche Klassiker des Kernrepertoires israelischer Kulturgeschichte. Seine farbigen Arrangements für Chor a cappella sind gut ausführbar und treffen hervorragend die Stimmung der Lieder. Ein informatives Vorwort, singbare Transliterationen der hebräischen Texte, Übersetzungen, Aussprachehilfen und ausführliche Werkeinführungen im Anhang machen das Hebräische Chorbuch zu einer echten Empfehlung.

Hebräisches Chorbuch für gemischten Chor a cappella, hg. von Ohad Stolarz; Band 1: Geistliches Repertoire, ChB 5375; Band 2: Weltliches Repertoire, ChB 5376, je € 19.90; Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2022

Ein filigranes «Rach 3»

Zusammen mit dem Sinfonieorchester Basel interpretiert Irina Georgieva neben dem 3. Klavierkonzert auch die Paganini-Variationen von Rachmaninow.

Sinfonieorchester Basel. Foto: Pia Clodi Peaches & Mint

Es ist Rachmaninow-Zeit, denn überall wird dessen 150. Geburtstag gefeiert. Etliche Jahre seiner Exilzeit hat der russische Komponist am Vierwaldstättersee in der Villa Senar verbracht, die im Moment saniert und danach der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Ein Grund mehr für das Sinfonieorchester Basel, zwei seiner bedeutenden Werke auf CD zu präsentieren.

Möglich macht dies auch das von Martin Korn mit Erfolg betriebene Schweizer Label Prospero. Aufgenommen wurden die Rhapsodie auf ein Thema von Paganini op. 43 und das Klavierkonzert Nr. 3 op. 30 im Stadtcasino Basel. Eine Schweizer Produktion also, die es in sich hat, auch dank der exzellenten Pianistin Irina Georgieva. Die Rumänin ist seit Jahren eng mit Basel verbunden, hat sie doch hier bei Rudolf Buchbinder studiert. Ihr Klavierspiel ist phänomenal, filigran, stets wunderbar durchhörbar und niemals «dick», auch nicht in Rachmaninows Akkordwucht. Diese Visitenkarte zeigt sie schon in den Paganini-Variationen, die sie kammermusikalisch, mit sanftem Anschlag und wunderbarer Phrasierung, durchgestaltet. Das Sinfonieorchester Basel unter Sascha Goetzel begleitet aufmerksam und zurückhaltend. Es beginnt schon bei der Vorstellung des Themas durch das Orchester mit kurzen, weichen Akzenten, eine ideale Vorbereitung der Interpretationsweise der Pianistin. So wird man schon von Anfang an auf das 3. Klavierkonzert eingestimmt, das als zweites Werk auf dem CD-Programm steht.

Irina Georgieva. Foto: zVg

Rachmaninow ist bei diesem Klavierkonzert vielfältiger in der Instrumentation, abwechslungsreicher und weniger auf reinen Effekt aus als noch beim zweiten. Und gerade hier staunt man, was das Sinfonieorchester Basel, diesmal unter der Leitung von Pablo Gonzáles, zu bieten hat an Durchhörbarkeit, subtiler Klanglichkeit und Finesse. Ein roter Teppich für Irina Georgieva, welche den ausserordentlich schwierigen Klavierpart meistert, als wäre es das Leichteste der Welt. Einzig beim spektakulären Finale würde man sich etwas mehr Mut zur grossen, weitgespannten Geste wünschen.

Sergei Rachmaninoff: Piano Concerto No. 3, Rhapsody on a Theme of Paganini.  Irina Georgieva, Sinfonieorchester Basel, Sascha Goetzel/Pablo Gonzáles. Prospero Records Prosp0025

Das Herz klopft und der Atem stockt

Das Lampenfieber in den Griff bekommen? Der Ratgeber von Renate Publig hilft vor allem mit praktischen Übungen.

Rampenlicht kann einschüchternd wirken. Foto: LENblR/depositphotos.com

Gross geschrieben steht es auf dem Umschlag: Lampenfieber. Der volle Titel lautet: Meistere dein Lampenfieber – Mit Mentaltraining zu einem gelungenen Auftritt. Das ist gleich auch die kürzestmögliche Zusammenfassung dieses praktischen und vergnüglich zu lesenden Buches von Renate Publig. Sie schreibt leicht und klar, grafische Elemente und Zeichnungen bringen vieles zusätzlich auf den Punkt und motivieren, das Problem hoffnungsvoll anzugehen.

Theoretisches bleibt meist im Hintergrund, im Zentrum stehen praktische Übungen von A wie Affirmationen bis Z wie Zehen berühren und atmen, allesamt abschliessend übersichtlich zusammengestellt in einem Register. Einerseits sind das Anleitungen zu «Akutinterventionen», wenn das Lampenfieber die Kehle unmittelbar vor dem Auftritt oder gar auf der Bühne zuschnürt. Andererseits helfen «Langzeitinterventionen», systematisch über eine ausgedehnte Phase einen positiven Umgang mit dem Lampenfieber einzuüben. Der Leitfaden eignet sich bestens zur Selbsttherapie. Wer jedoch über längere Zeit von Panikattacken geplagt wird, sollte, anstatt zu Betablockern zu greifen, Hilfe bei einer Fachperson suchen. Ein «Mittendrinwort des Schauspielers Max Müller» gleich zu Beginn und ein Schlusswort von José Cura bilden den stimmigen Rahmen.

 

Renate Publig: Meistere dein Lampenfieber. Mit Mentaltrainig zu einem gelungenen Auftritt. Gesang, Sprache, Schauspiel, 197 S., € 29.80, Doblinger, Wien 2021, ISBN 978-3-902667-84-7

 

 

Mebu – ein neuer Kunstraum im Goms

Eröffnung des «Münster Earports», eines Orts für zeitgenössische Musik in den Walliser Alpen.

Simone Conforti (IRCAM Paris) beim Einrichten des Mebu-Akusmoniums in Münster (Goms). Foto: zVg

Mitten im historischen Zentrum von Münster (Goms), unweit von Rhonegletscher und Finsteraarhorn, geht mit dem «Mebu» ein Kunstraum für zeitgenössische Musik auf. Der Name ist die Abkürzung für «Münster Earport by UMS ´n JIP» und verweist augenzwinkernd auf den benachbarten Flugplatz, den Münster Airport. Er macht aber auch klar, dass im Mebu das Spielen und Hören von Musik im Zentrum stehen. Gegründet und geführt wird er vom Neue-Musik-Duo UMS ´n JIP (Ulrike Mayer-Spohn und Javier Hagen), das als Folge der Pandemie – Probe- und Arbeitsstätten waren während der Lockdowns nicht mehr gegeben – in Münster seine Zelte aufgeschlagen und dort eine permanente Produktions- und Spielstätte eingerichtet hat.

Einmalig sind im Mebu ein dauerhaft installiertes 16-Kanal-Akusmonium zur Wiedergabe elektroakustischer (akusmatischer) Musik – eines der wenigen öffentlich zugänglichen seiner Art in ganz Europa – sowie eine bemerkenswerte Sammlung historischer Tasteninstrumente zur historisch informierten Wiedergabe von Alter Musik. UMS ´n JIP gehören zu den aktivsten Ensembles für Neue Musik der Gegenwart, mit Gastspielen an der Biennale Venedig, am Liceu Barcelona, am Colón Buenos Aires oder der Shanghai New Music Week und wurden mit über 30 internationalen Preisen ausgezeichnet.

Am Mebu gewähren sie als Nächstes den Konzerten der Ars Electronica Forum Wallis Selection 2022/23 mit akusmatischer Musik Gastrecht: am 10., 11. und 12. März 2023 im Rahmen des Festivals für Neue Musik Forum Wallis.

Cello allein und zu zweit

Kompositionen von Roland Moser, gespielt von seiner Partnerin Käthi Gohl Moser ergeben eine unprätentiöse, «atmende» CD.

Roland Moser. Foto: Louis Moser

Wann habe ich zuletzt eine derart intime Musik gehört?! Das liebevolle Miteinander ist gleichsam die Voraussetzung für die meisten Stücke auf dieser CD, denn der Komponist komponiert hier häufig für die Cellistin, mit der er schon seit Langem das Leben teilt, Roland Moser schreibt für Käthi Gohl Moser.

Das allerdings hat nichts Repräsentatives oder Repräsentabel-sein-Wollendes an sich, kein Klangfotoalbum. Vielmehr gewähren uns da zwei Einblick, Einhorch in ihren musikalischen Dialog. Gern zweistimmig, wodurch das Cellosolo zum Duo wird. Hier zusammen mit der Violine von Helena Winkelman, dort zusammen mit dem Blockflötisten Conrad Steinmann, dem Oboisten Matthias Arter oder dem Pianisten Anton Kernjak. Es gibt auch kurze Selbstgespräche, in denen Gohl zum Cello singt und summt. Darum herum finden sich noch weitere Gäste ein, Komponisten wie Schubert oder Offenbach, Dichter wie James Joyce, Paul Éluard oder Arthur Rimbaud, manchmal gut versteckt, manchmal offensichtlich. Denn Mosers Musik liebt die Allusion, sie geht gerne mit Worten um, bedächtig und sorgfältig, ohne Hast. Subtil beginnt sie immer wieder mal zu singen, mit romantischem Sentiment, ja fein sehnsüchtiger Hingabe. Und in … wie ein Walzer auf Glas … tanzt das Cello in den Flageoletttönen «vertrackt einfach», wie Roman Brotbeck in seinem schönen Booklettext schreibt. Andere Stücke führen auf die Grenzpfade der Mikrotöne.

So kurz die meisten Stücke sind, so hat jedes doch sein eigenes Gepräge. Grösseres Gewicht erhält hier nur eine Komposition von 1998, die gleich in zwei Versionen erklingt: zunächst in der neueren für Violine und Cello, am Schluss in der urspünglichen mit Oboe d’amore und Cello. … e torna l’aria della sera… basiert auf einer unhörbaren Ballata von Pier Paolo Pasolini und wandelt mit der Besetzung auch leicht den Charakter. Mal klingt dieser Abendgesang arkadisch, mal fast tristanhaft. Er bewegt sich frei und beharrlich, doch ohne Sturheit, und er entgeht dabei jedem allzu gängigen Innovationszwang. Die Musik atmet in diesen Interpretationen ganz selbstverständlich.

Roland Moser: Violoncello solo e in duo. Käthi Gohl Moser, Cello; Anton Kernjak, Klavier; Helena Winkelman, Violine; Conrad Steinmann, Flöte, Aulos; Matthias Arter, Oboe d’amore. Olinard Records

Das neue BWV3

Die dritte, erweiterte Neuausgabe des Bach-Werke-Verzeichnisses bezieht die Forschung der letzten 30 Jahre ein und schlägt eine neue Art der Differenzierung vor.

Foto: belchonock/depositphotos.com

Dass die BWV-Zahlen, mit denen Bachs Kompositionen identifiziert werden, aus dem Bach-Jahr 1950 stammen, ist selbst vielen professionellen Musikerinnen und Musikern nicht bewusst. Wolfgang Schmieder klassifizierte damals Johann Sebastian Bachs Schaffen nach Gattungen und vergab die Zahlen entlang der Reihenfolge der einzelnen Stücke in der alten Bach-Ausgabe (1851–1899). Schmieders epochemachende Leistung erfuhr 1990 eine aktualisierte Neuauflage. Schon 1998 legten die Bach-Forscher Alfred Dürr und Yoshitake Kobayashi ihre verknappte Alternative vor.

Seither ist viel passiert in der Bach-Forschung: Neue Quellen sind aufgetaucht, Echtheitszweifel wurden erhoben oder beseitigt, Datierungen bestätigt oder korrigiert usw. Die Bach-Literatur ist ins Unermessliche angewachsen, und das Internet gewährt Volltexte, Bibliografien und sogar Originaldrucke und -handschriften. Ein neuerlich revidiertes und auf den aktuellen Stand gebrachtes BWV konnte nicht mehr von einem Einzelnen geleistet werden, ein ganzes Institut, das Bach-Archiv Leipzig, stand hinter den drei Hauptautoren, und die Arbeiten zogen sich über mehr als zehn Jahre hin. Daraus entstand ein 880 Seiten starker Band, der immer noch Schmieders Gattungskategorien folgt, die längst eingebürgerten Zahlen übernimmt und neu aufgefundene Werke in fortlaufender Zählung dort einreiht, wo sie ihrer Funktion und Besetzung nach hingehören. Neu sind auch eine systematische, nicht konsequent den BWV-Zahlen folgende Übersicht über Bachs gesamtes Schaffen und diverse Konkordanzen und Kataloge, etwa von Bachs (rekonstruierbarer) Notenbibliothek. Neu an diesem Verzeichnis ist die Aufspaltung in verschiedene Fassungen eines einzelnen Werkes. So gliedert sich die Werkgeschichte der Kantate Schwingt freudig euch empor in die Stadien 36.1 bis 36.5, und die beiden Fassungen der Kantate 82 für Bass bzw. Sopran sind als 82.1 und 82.2 ausgewiesen. Damit soll dem Wildwuchs der Ergänzung von BWV-Zahlen um a-, b- bzw. r-Bezeichnungen Einhalt geboten werden.

An seine Grenzen stösst dieses Verfahren, wenn gewisse reinschriftliche «Brandenburgische» Konzerte beispielsweise als BWV 1046.2 zu bezeichnen sind, weil zu ihnen eine Frühfassung 1046.1 besteht, während für andere schlicht eine vierstellige Zahl gilt, etwa BWV 1047. Was gänzlich entfallen ist, sind die Literaturhinweise zu einzelnen Werken, da hier nun die Online-Kataloge einzuspringen vermögen. Dennoch geht auch ohnedies die Verknappung der wissenswerten Erläuterungen so weit, dass es in komplizierteren und deswegen auch interessanteren Fällen detailreicher Kenntnis bedarf, um sie überhaupt einigermassen nachvollziehen zu können. Ob damit in Sachen Benutzerfreundlichkeit Fortschritte erreicht worden sind, darf bezweifelt werden. Wie die in der Verlagswerbung angekündigte «Verschränkung mit den einschlägigen Online-Datenbanken» verwirklicht ist, wird nicht ersichtlich.

So bleibt auch dieses BWV3 angesichts seines Kaufpreises wohl eher Sache weniger Spezialistinnen, während für Praktiker heute die einfache Identifikation der Werke durch die allgemein üblichen Zahlen getrost mit Hilfe des Internets oder der gängigen Werkausgaben erfolgen kann.

Christine Blanken, Christoph Wolff, Peter Wollny: Bach-Werke-Verzeichnis. Dritte, erweiterte Neuausgabe (BWV3), XLIV + 835 S., € 459.00, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2022, ISBN 978-3-7651-0400-8

 

 

Nägeli, der Sängervater – welch ein Irrtum!

Miriam Roner zeigt in ihrem Buch, dass das landläufige Bild dem vielseitigen Hans Georg Nägeli nur unzureichend gerecht wird.

Hans Georg Nägeli, Stich nach Georg Balder um 1830. Quelle: Gallica

Hans Georg Nägeli (1773–1836) gilt als der Schweizer Sängervater. Mit dieser Vorstellung ist die Musikwelt seit fast zwei Jahrhunderten konfrontiert. Das zweifelhaft vaterländische Attribut hatten ihm die Schweizer Sängervereine verpasst und damit ein Bild des umtriebigen Nägeli kreiert, das keiner seriösen Betrachtung standhält. So wartet man seit vielen Jahren auf eine Biografie, auf ein Korrigendum dieser einseitigen, wahrheitswidrigen Darstellung des «Pioniers in allen Gassen».

Im Rahmen eines Nationalfondsprojekts hat sich die junge Musikwissenschaftlerin Miriam Roner der schier unlösbaren Aufgabe angenommen, Licht ins Dunkel zu bringen. Die bereits 2016 an der Universität Bern als Dissertation angenommene Arbeit hat sie nun gründlich überarbeitet, um sie als über vierhundert Seiten starkes Buch zu veröffentlichen. Schon nach kurzer Lektüre wird klar, welche Mammutarbeit dahintersteckt, denn ausser einigen lexikalischen Artikeln und Festschriften existiert nichts Umfassendes zu Nägeli.

Roner legt keine Biografie vor, aber sie zeigt eindrücklich, auf wie vielen Hochzeiten Nägeli getanzt hat: Er war Verleger, führte eine Noten(leih)bibliothek, komponierte Gebrauchsmusik, gründete und leitete ein Singinstitut, das nach pestalozzischen Regeln zur Bildung beitragen sollte und liess dabei auch Mädchen und Frauen zum Zug kommen.

Nur schon diese Vielfalt zeigt, wie umfassend Nägeli dachte. Roner versucht in diesem Dickicht aufzuschlüsseln, wie das «System Nägeli» funktionierte. Es gab um 1800 keine Vertriebskanäle, keine Banken, über die Zahlungen abgewickelt werden konnten. So entwickelte Nägeli verschiedene Vorgehensweisen, er vertrieb Noten von französischen oder deutschen Verlagen als Gegengeschäft für die Annahme seiner eigenen Werke, er bestellte Partituren zum Kauf, als Kommissionsverlag oder auf Leihbasis, um sie an Bürger weiterzuverleihen.

Nägeli hat nie eine umfassende Ausbildung als Musiker, Komponist oder Geschäftsmann genossen. Wohl war es neben den napoleonischen Kriegen diesem Umstand geschuldet, dass er viel anregte, aber auch scheiterte – sein Verlag ging Konkurs und er verkaufte an Adolf Hug. Der Hug-Verlag war geboren.

Trotzdem hat der Pionier Nägeli Eindrückliches geleistet, wie Roner aufzeigt. Im pädagogischen Bereich hat er die Jugend, bei der er auch die unteren Volksschichten berücksichtigte, systematisch mit klug aufgebauten Lehrbüchern an die Musik herangeführt. Oft vergessen wird auch, dass Nägeli den Frauen genauso viel Aufmerksamkeit schenkte, wie den Männern.

Am interessantesten in Roners Recherchen sind der zweite Teil, der «Nägeli als Musikalienhändler und Musikverleger» gewidmet ist, und der dritte Teil zum «Sing-Institut». Wertvoll ist der ausgedehnte Anhang mit einer ausführlichen Chronik und einem umfassenden Quellenregister. Die Grundlagen für eine weitere Erforschung und Belebung dieses Pioniers sind gelegt.

Miriam Roner: Autonome Kunst als gesellschaftliche Praxis. Hans Georg Nägelis Theorie der Musik, 427 S., € 73.00, Franz-Steiner-Verlag, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-515-12701-1

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