Swingende Originalkomposition

Fünf bis sieben Stimmen und Varianten für mehr oder weniger geübte Spielerinnen und Spieler hat Raphael Benjamin Meier in seinem Stück für Blockflötenensemble vorgesehen.

Raphael Benjamin Meyer. Foto: zVg

Raphael Benjamin Meyer ist in erster Linie als Filmkomponist bekannt (z. B. Der Bestatter), er ist aber auch Blockflötist mit Studium an der Schola Cantorum Basiliensis und Leiter dreier Blockflötenorchester. The Swing Thing ist eine Auftragskomposition, in der er seine Berufe, Erfahrungen und Leidenschaften in kongenialer Art und Weise verknüpfen kann.

The Swing Thing funktioniert sowohl in Einzel- wie in chorischer Besetzung. Die zweiteilige Komposition ist im Prinzip fünfstimmig (SATTB) mit zusätzlichen optionalen C-Bass- und Subbass-Stimmen. Diese Zusatzstimmen verdoppeln aber nicht einfach die tiefsten Stimmen des Satzes, sondern bilden fallweise interessante Gegenstimmen, die der swingenden, grösstenteils ternär gespielten Komposition einen zusätzlichen Groove verleihen. Auch bei der formalen Anlage hatte der Komponist wohl die unterschiedlichen Niveaus und Realitäten von Blockflötenensembles im Hinterkopf: Nach einer kurzen Introduktion folgt ein längerer Swing-Teil in moderatem Tempo, der in eine metrisch kompliziertere Stretta mit deutlich höherem Schwierigkeitsgrad mündet. Diese ist erneut optional; die Komposition darf auch bei dem in Klammern notierten Fine am Ende des ersten Teils beendet werden.

The Swing Thing bereichert das Repertoire um eine genuine Komposition, die von den Qualitäten des Instruments ausgeht und nicht eine bereits vorhandene Komposition für Blockflöten zurechtbiegen muss. Allerdings beweist Raphael Benjamin Meyer in Bearbeitungen (wie beispielsweise von Mozarts berühmter Motette Ave verum corpus, Heinrichshofen & Noetzel N2687), dass er auch dieses Handwerk sehr gut beherrscht und sowohl die Vorzüge des Instruments wie auch die Struktur und Klangschönheit der Komposition angemessen berücksichtigt.

Raphael Benjamin Meyer: The Swing Thing, für 5 bis 7 Blockflöten; Partitur: N2890, € 10.00; Stimmen einzeln erhältlich; Heinrichshofen & Noetzel, Wilhelmshaven

Erlesene Kammermusik aus Basel

Elisa Urrestarazu, Saxofon, und Cornelia Lenzin, Klavier, spielen Werke von Jost Meier, Balz Trümpy, Jacques Wildberger und Marcelo Nisinman.

Elisa Urrestarazu (li) und Cornelia Lenzin. Foto: zVg

Das Duo Elisa Urrestarazu (Saxofon) und Cornelia Lenzin (Klavier) brachte das Programm der vorliegenden Aufnahme im Herbst 2021 in der Konzertreihe «Basel komponiert» im Museum Klingental zur Aufführung. Mit dem kürzlich verstorbenen Komponisten Jost Meier wie auch mit Balz Trümpy und Marcelo Nisinman verbindet Lenzin eine langjährige Zusammenarbeit. Zu Meiers 80. Geburtstag organisierte sie 2019 ein Konzert mit Kammermusik des Jubilars. Daraufhin schrieb Meier für Lenzin und Urrestarazu die Sonata (2020) für Altsaxofon und Klavier, ein Stück, das sich zu hören lohnt. Es eröffnet die vorliegende CD. Es folgen Meiers kurze, dichte 4 Images für Piano solo (2009) als Ersteinspielungen. Balz Trümpy schrieb für Elisa Urrestarazu seine Introduktion und Aria, ursprünglich für Klarinette (2002–03), für Altsaxofon um. Die Interpretin bringt ihre Klasse voll zur Geltung. Träumerisch schliesst sich Trümpys Lied für Sopransaxophon und Klavier (2020) an. Auch in Jacques Wildbergers anforderungsreichen 4 Pezzi per Pianoforte (1950) und den Prismes für Altsaxophon solo (1975) präsentieren sich die Musikerinnen souverän. Als Kontrapunkt liess sich das Duo von Marcelo Nisinman Samuel der Weise für Sopransaxofon und Klavier schreiben – ein lustbetontes Hörerlebnis.

Basel komponiert. Musik für Saxophon und Klavier 1951–2021. Jost Meier, Balz Trümpy, Jacques Wildberger, Marcelo Nisinman. Elisa Urrestarazu, saxophone; Cornelia Lenzin, piano. Pianoversal PV115

«dass ich auch leicht zu schreiben vermag»

Stefan Kägi und Severin Kolb haben Joachim Raffs «Six Morceaux» für Geige und Klavier mit grosser Sorgfalt neu herausgegeben.

Deckblatt der Erstausgabe im Verlag Fr. Kistner, Leipzig. Quelle: IMSPL

Schon zu Raffs Lebzeiten und bis in die Gegenwart war die Nummer 3 der Six Morceaux, Cavatina, ein beliebtes Encorestück. Es hat sich gelohnt, auch die fünf weiteren Kompositionen auf Grund der Erstausgabe von 1862 als Urtext bekannt zu machen, dies mit Hilfe des Joachim-Raff-Archivs in Lachen, das von Severin Kolb geleitet wird. Raff lernte als Assistent Franz Liszts viele berühmte Musiker kennen, denen er seine anspruchsvollen Kammermusikwerke widmete. Das Manuskript der Six Morceaux sandte er 1861 an den Verleger mit den Worten, «(…) dass man um so eher nach diesen Stücken greifen werde, als ich daran beweise, dass ich auch leicht zu schreiben vermag (…)»

Die sechs «Salonstücke» sind musikalisch aussergewöhnlich gehaltvoll mit harmonischen und rhythmischen Überraschungen: ein lieblicher «Kinder»-Marsch, eine poetisch weiche Pastorale, die bewährte Cavatina, ein beschwingtes Scherzino im 2/4-Takt, eine emotionale Canzona und ein Presto-Tarantella-Rondo mit italienischer Verve. Sie gesellen sich in die Nähe der Romanzen von Robert und Clara Schumann. Die spärlichen Fingersätze – teilweise von Raff, auf die damalige Spielpraxis hinweisend – sind ergänzungsbedürftig. Ein ausführliches Vorwort schildert die Entstehungsgeschichte und die vielen Bearbeitungen und Aufführungen durch berühmte Geiger. Der Kritische Bericht beweist die minutiöse Sorgfalt dieser Ausgabe und gibt den Interpretierenden hilfreiche Hinweise.

Joachim Raff: Six Morceaux für Violine und Klavier op. 85, hg. von Stefan Kägi und Severin Kolb, EB 9407, € 28.50, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

Melodien des Lebens

Ingrid Lukas legt nach langer Pause ein Album vor, das ihren persönlichen Weg reflektiert und geheimnisvoll schimmernde Musik bietet.

Ingrid Lukas. Foto: zVg

Der Titel des ersten Albums seit acht Jahren, das die schweizerisch-estnische Sängerin, Songschreiberin und Pianistin Ingrid Lukas eingespielt hat, ist Programm. Elumeloodia ist Estnisch und heisst so viel wie «Lebensmelodie». Die lange Wartezeit ist – es wird angesichts des Titels nicht überraschen – mit den Veränderungen verbunden, welche die Künstlerin in den vergangenen Jahren teils unfreiwillig, teils freiwillig erlebt hat. Die Schaffenspause begann damit, dass der langjährige musikalische Partner Patrik Zosso schwer erkrankte – er ist unterdessen vollständig genesen und gehört mit dem Keyboarder Ephrem Lüchinger und dem Bassisten Manu Rindlisbacher zum Kernpersonal von Elumeloodia. Am Anfang der Zwangspause arbeitete Lukas in einer Schule für schulisch benachteiligte Jugendliche und beobachtete dabei, welch positive Wirkung eine musikalische Betätigung auslösen kann. Die Einsicht regte das Bedürfnis an, sich intensiver mit Musiktherapie zu beschäftigen. So absolvierte sie in Berlin ein Masters-Studium in diesem Fach und ist heute in der Aarauer Rehaklinik Barmelweid beschäftigt. Diese Arbeit wiederum zeigte ihr eine neue Perspektive zu ihren eigenen Bedürfnissen auf. «Früher habe ich einfach Musik gemacht, weil es mir in die Wiege gelegt worden war», sagt sie. «Erst in diesen acht Jahren habe ich herausgefunden, dass ich das machen muss. Warum es meine Lebensmelodie ist. Dass sonst ein Teil von mir nicht lebt.»

Ungefähr die Hälfte der Elumeloodia-Lieder haben estnische Texte, ein paar andere sind englisch, eines trägt sie in einer improvisierten Lautsprache vor. Die Wahl der Sprache ist im gleichen Sinn spontan (sie schliesst schweizerdeutsche Texte in Zukunft nicht aus), wie sich Lukas heute bemüht, ihre Musik möglichst un-kopflastig anzugehen. Dank der souveränen gesanglichen und kompositorischen Abgeklärtheit, zu der sie während ihrer In-sich-Gekehrtheit durchgefunden hat, gönnt sie sich dabei ganz neue stilistische und technische Freiheiten. Die Lieder wurden im Studio mit den oben genannten Musikern zum Teil improvisationsmässig er-spielt und danach mit allerhand digitalen Tricks bearbeitet. So ist eine geheimnisvoll schimmernde Musik entstanden, wo analog aufgenommene, elektronisch bearbeitete Klänge und Gesang in meditativer Intensität nahtlos ineinandergreifen. Die Stimmungen reichen vom perkussiv ritualistischen Rainspell über die ambiente Improvisation von Beginning bis hin zum herrlichen, nordisch-gospeligen Titelstück. Ein ausserordentlich packendes Album, das in jeder Hinsicht resolut seine eigenen stilistischen Wege geht.

Ingrid Lukas: Elumeloodia. Ronin Rhythm Records RON 032

Interdisziplinäre musiktherapeutische Ansätze

Referate und Workshops brachten den Teilnehmenden einer Tagung in Basel fachübergreifende Methoden in der Kunst- und Musiktherapie näher.

Mireille Lesslauer an der Fachtagung Musiktherapie vom 21. April 2023. Foto: Wolfgang Werder

Die Integration in den Klinikalltag hat wesentlich mitgeholfen, die Musiktherapie vom eher belächelten Wellness-Angebot zur medizinisch anerkannten Therapie zu entwickeln. Kaum mehr wegzudenken ist sie in Neonatologie, Palliativmedizin, Onkologie, Neurorehabilitation und weiteren Abteilungen. In der Schweiz hat in dieser Hinsicht der Instrumentenbauer und Musiktherapeut Joachim Marz an der Rehaklinik Bellikon längere Zeit Pionierarbeit geleistet, gemeinsam mit der Fachkollegin Susanne Bossert. Seit letztem Jahr führt er die in Bellikon zur Tradition gewordenen, stark praxisorientierten Fachtagungen an der Rehab Basel weiter, nun zusammen mit der dort tätigen Musiktherapeutin Mireille Lesslauer. Thema heuer: «Die Bedeutung und die Wirkungen von interdisziplinären Methoden der Kunst- und Musiktherapie», und damit die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Musiktherapie und Kunsttherapie der Neurorehabilitation.

Im Alltag einer Rehaklinik kann die Musiktherapie auf zwei Ebenen ihre Stärken ausspielen. Zum einen kann sie psychologische Prozesse begleiten oder mitgestalten, die unabdingbar sind, wenn Betroffene nach Unfällen oder gesundheitlichen Schicksalsschlägen wieder ins Leben zurückfinden müssen. Zum andern kann sie Retrainings von Körperfunktionen in ganz praktischer Art unterstützen, etwa wenn es darum geht, nach einem Schlaganfall Körpersymmetrien wiederherzustellen.

Zeitgeist und körperlicher Erfahrung

Dass die Musikpsychologie sich dabei den gegenwärtigen, auch ideologisch geprägten Auseinandersetzungen in der Emotionspsychologie nicht ganz entziehen kann, zeigten an der Basler Tagung Diskussionen darüber, wie weit Emotionen biologisch vorgeprägt seien. Analog der Ablehnung biologisch festgelegter Geschlechtsidentitäten in der Genderforschung verfechten jüngere Forscherinnen Vorstellungen einer ausschliesslich kulturell geformten Emotionalität. Im Vortrag der Hamburger Kunsttherapeutin Judith Revers wurde dabei der Wille deutlich, die Komplexität interkultureller Kommunikationsprozesse zu respektieren, zum Beispiel in der Musiktherapie mit Flüchtlingen. Allerdings droht dabei ein Rückfall in überwunden geglaubte Vorstellungen vom grundsätzlichen exotischen Anderssein fremder Kulturen. Da treffen dann radikal linke Konzeptionen auf nationalistische Vorstellungen.

Im einem der Workshops wurde das Liegemonochord ausprobiert. Foto: Joachim Marz

Die Tagung in Basel zeigte allerdings auch, dass sich die Musiktherapie auf einem anderen Gebiet in eine Richtung bewegt, die glücklicherweise völlig konträr zum Zeitgeist scheint: Während sich die aktuelle Musikproduktion mit digitaler Produktion und dem Aufkommen von Instrumenten der künstlichen Intelligenz immer weiter entkörperlicht, so offeriert die Therapieform genau das Gegenteil: spezielle Instrumente, die Klang und Musik leibhaftig erfahrbar machen. Spür- und hörbar war das in Basel in einem Workshop mit Monochorden, auf die man sich legen kann oder die auf den Köper gelegt werden können. Schwingungen werden dabei nicht bloss gehört, sondern über die Körperresonanz direkt wahrgenommen.

Hören als Brückenfunktion

Der Hörsinn ist der erste, den heranwachsende Menschen entwickeln, und es ist der letzte, der in den Randregionen des Todes zerfällt. Besondere Stärken hat die Musiktherapie deshalb nicht zuletzt in der Behandlung von Wachkomapatienten. Ein Akzent der Tagung lag denn auch auf Forschungen in diesem Gebiet. Die an der Rehab Basel tätige Physiotherapeutin Katharina Braune untersucht in Zusammenarbeit mit der Musiktherapie und der Pflege im Rahmen einer Masterarbeit in mehreren Einzelfallstudien den Einfluss des Liegemonochords auf das Bewusstsein von Patienten, die sich als Folge schwerer Hirnverletzungen im Zustand des reaktionslosen respektive geminderten Bewusstseins befinden.

Dorothea Dülberg, Lehrmusiktherapeutin der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft wiederum zeigte auf, wie «intermediale Quergänge als fliessende Wechsel von Methoden und Medien Wandlungsprozesse stimulieren und unterstützen können». In ihrem Workshop verband sie Musik, Malerei, Poesie und Bewegung im Raum zum multidimensionalen Nachspüren innerer Stimmen.

 

Tagungsprogramm

 

Bedeutende Erstausgabe für Cello

Das zweite Konzert von Carl Friedrich Abel ist eine wertvolle Ergänzung des klassischen Violoncello-Repertoires, auf Augenhöhe mit den Werken von C. P. E. Bach, Haydn oder Boccherini.

Carl Friedrich Abel, Ölgemälde von Thomas Gainsborough, 1777. Quelle: The Huntington Library/wikimedia commons

Vor 300 Jahren wurde der Komponist Carl Friedrich Abel in Köthen geboren (gestorben 1787 in London). Sein Vater war Geiger und Gambist. Für die Laufbahn des Sohnes wurde letzteres Instrument entscheidend. Nach einem Engagement am Dresdner Hof sind Abels Lebensumstände ab 1755 unklar. Wohl wegen der Wirren des Siebenjährigen Krieges verliess er Sachsen und gelangte über Frankreich nach London, wo er ab 1759 als Gambenvirtuose grosse Erfolge feierte. Mit Johann Sebastian Bachs jüngstem Sohn, Johann Christian, begründete er die erfolgreichen Bach-Abel-Concerts. 1782 hielt er sich länger am Königshof in Potsdam auf. Kronprinz Friedrich Wilhelm, der Neffe Friedrichs des Grossen, war wie sein Onkel ein begeisterter Musikliebhaber, spielte selber Cello und war u. a. Schüler von Jean-Pierre Duport. Wolfgang Amadeus Mozart komponierte für ihn die Preussischen Streichquartette KV 575, 589 und 590.

Das dreisätzige, etwa 20-minütige, 1782 komponierte Cellokonzert Nr. 2 in C-Dur hat Abel vermutlich für Friedrich Wilhelm geschrieben. Eine Aufführung durch diesen ist jedoch nicht nachzuweisen. Die Orchesterbesetzung entspricht mit zwei Oboen, zwei Hörnern und Streichern ganz dem klassischen Modell. Der erste Satz (Allegro maestoso) ist von der Anlage her (Sonatenform) der konventionellste. Überraschungen bieten dagegen der zweite und dritte Satz: Im Adagio ma non troppo (F-Dur) erreicht der Komponist mit dem solistischen Einsatz der Hörner einen verblüffenden Klangeffekt. Vom dritten Satz sind zwei unterschiedliche Varianten überliefert. Ein Allegro im 6/8-Takt wurde durch ein Rondeau – Tempo di Minuetto ersetzt. Dies war möglicherweise dem etwas konservativen Geschmack am Berliner Hof geschuldet. Zusätzlich sind zwei originale Kadenzen Abels handschriftlich erhalten geblieben.

Abels zweites Cellokonzert steht den bekannteren Werken von Carl Philipp Emanuel Bach, Joseph Haydn oder Luigi Boccherini in keiner Weise nach und darf als bedeutende Bereicherung der klassischen Violoncello-Literatur betrachtet werden. Mit einem Stimmenumfang von C bis g2 kostet Abel die Möglichkeiten des Instruments gekonnt aus und bietet den Ausführenden eine reiche Palette an virtuosen und lyrischen Ausdrucksmöglichkeiten.

Bruno Delepelaire, Solocellist der Berliner Philharmoniker, hat dieses Werk mit den Berliner Barock-Solisten beim Label Hänssler classic meisterhaft eingespielt. Sehr erfreulich, dass dabei beide Varianten des dritten Satzes zu hören sind. Die Notenausgabe von Markus Möllenbeck enthält ein ausführliches Vorwort zur Entstehungsgeschichte des Konzerts sowie aufführungspraktische Hinweise. Den Klavierauszug verfasste Ulrich Lüdering.

Carl Friedrich Abel: Cellokonzert Nr. 2 C-Dur, WKO 60, hg.von Markus Möllenbeck, Klavierauszug, EW1112, € 24.80, Edition Walhall, Magdeburg

Was Lieder mit uns machen

Das vierte Lied-Basel-Festival bot unter dem Motto «gefährlich leben» Konzerte, Meisterkurse – und Nachrichten von einer Nordpolexpedition.

Sich von Liedern überwältigen lassen: Angelika Kirchschlager mit Katrīna Paula Felsberga am Meisterkurs. Fotos: Benno Hunziker/Lied Basel

Im Jahr 2016 sammelten die Mezzosopranistin Silke Gäng und ihr Mann, der Musik- und Theaterwissenschaftler Ludovic Allenspach, Ideen zu einem in ihren Augen idealen und zeitgemässen Liedfestival. Mit Meike Olbrich (Geschäftsführerin und Hobbysängerin), Alain Claude Sulzer (Schriftsteller) und Tobias Schabenberger (Pianist) holten sie Freundinnen und Freunde an Bord und gründeten die Stiftung Lied Basel. Jedes Mitglied deckte sozusagen einen Aspekt des Liedes ab. Dank einiger Mäzene, verschiedener Stiftungen und kantonaler Unterstützungsfonds konnte das Vorhaben auf eine solide Basis gestellt werden.

Nach 2019, 2021 und 2022 (2020 fiel aus bekannten Gründen aus) fand Lied Basel am 19. bis 23. April zum vierten Mal statt. Zum zweiten Mal wurden die grosszügigen Räumlichkeiten des Musik- und Kulturzentrums Don Bosco genutzt. Im Zentrum des Festivals stehen Meisterkurse, genannt Lied-Academy. 65 Duos aus ganz Europa hatten sich für dieses Jahr in einem mehrstufigen Prozess um die ausgeschriebenen Stipendien beworben. 5 erhielten schlussendlich den Zuschlag. Es handelt sich um junge Musikerinnen und Musiker, die am Anfang ihrer Berufslaufbahn stehen. Jedes Duo bekam vier Mal eine Stunde hochkompetenten Unterricht beim sogenannten «Duo in Residence», bestehend aus der international erfolgreichen Mezzosopranistin Angelika Kirchschlager und dem renommierten Pianisten und Begleiter Malcolm Martineau. An einem Tag besuchten die Stipendiaten einen Schauspielworkshop bei Klaus Brömmelmeier. Ausserdem bekamen sie Hinweise zu Karrierefragen von Aimée Paret, die schon geraume Zeit als Künstlerberaterin tätig ist.

Das vielseitige musikalische Festivalprogramm bestand aus insgesamt acht Konzerten. Dazu gehörten unter anderem die Uraufführung der Lied-Basel-Auftragskomposition von Stephanie Haensler und ein Familienkonzert. Den Auftakt bildete ein musikalisches Gesprächskonzert, und am Sonntag war das Schlusskonzert der Stipendiaten zu erleben.

Familienkonzert mit den Erlkings

Gefährliches Wasser, gefährliches Eis, gefährliches Singen

Das Motto «gefährlich leben» wurde in einem bunten Rahmenprogramm aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Eva Gesine Baur stellte ihre brandneue Biografie über Maria Callas, Die Stimme der Leidenschaft, vor. Die Gesangslegende des 20. Jahrhunderts lebte gefährlich, sie ging in jeder Phase ihres Lebens volle Risiken ein. Die «gefährlichen Berufe» Apnoetauchen und Singen wurden einander im Lied-Labor gegenübergestellt.

Auf die Fragen, was «gefährlich leben» für sie bedeute und ob sie mutig sei, antwortete Angelika Kirchschlager am Eröffnungsanlass: «Jeder, der auf die Bühne geht, lebt gefährlich». Augenzwinkernd fuhr sie fort: «Und Mut heisst für mich, selbst zu singen, nachdem man den Schülern erklärt hat, wie es geht.» Das Duo in Residence war am Donnerstagabend in einem Recital zu geniessen. Mit gestalterischer Intensität trug Kirchschlager Lieder mit Schwerpunkt deutsche Romantik bis hin zu Mahler, Strauss und Poulenc vor. Malcolm Martineau begleitete präzis und äusserst differenziert.

Am Samstagabend führte der Bariton Benjamin Appl mit dem Pianisten James Baillieu Schuberts Winterreise auf. Appls Biografie ist zu entnehmen, dass er viel vom Unterricht bei Dietrich Fischer-Dieskau profitiert habe, dessen letzter Schüler er war. Er verfügt über eine warme und kräftige Stimme und scheute sich nicht vor dynamischen Extremen und ungewohnten agogischen Wendungen. Er bewies auch Standfestigkeit, denn das Konzert dauerte über zwei Stunden. Der Schauspieler Harald Krassnitzer las zwischen den Liedern aus Tagebüchern und Logbüchern der gescheiterten österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition in den Jahren 1872–1874. Auf den ersten Blick hatten die Erzählungen der zwei Jahre in Todesangst lebenden Schiffbrüchigen mit Schuberts, rund ein halbes Jahrhundert zuvor erschienenem Liederzyklus nicht viel gemeinsam, doch dann stellten sich immer wieder bewegende Berührungspunkte ein.

Etwas Mut braucht es, wenn man an einem Klassikfestival Schubertlieder in poppiger und jazziger Form präsentiert. Die Band The Erlkings tat genau dies und stiess beim Basler Publikum auf einhellige Begeisterung.

Im Rahmen des im letzten Jahr begonnenen Lied-Basel-Spendenprojekts «Song Recitals in Times of War» konnten vier Musikerinnen und Musiker aus der Ukraine kurzfristig für ein Konzert nach Basel geholt werden. Der Zusammenhang mit dem Thema Lebensgefahr liegt auf der Hand. (Bericht in der Schweizer Musikzeitung über Liederabende in der Ukraine)

 

«Don’t show me, but let me know»

Es gibt viele Beispiele von Meisterkursen mit renommierten Künstlerinnen und Künstlern, die den Voyeurismus des Publikums befördern. Dass dies bei Kirchschlager und Martineau nicht der Fall war, ist ihnen hoch anzurechnen. Der Ton war kollegial und die Hinweise praxisbezogen und konkret. Wenn jemand mit einem gut einstudierten Lied ankommt und in kurzer Zeit verschiedene Anweisungen dazu bekommt, was stimmlich und interpretatorisch zu ändern sei, kann das schon mal überfordern. Die Stipendiaten reagierten aber meist sehr gelassen und professionell und konnten vieles direkt umsetzen. «Das Lied muss etwas mit uns machen, nicht wir etwas mit dem Lied», so formulierte Kirchschlager einen ihrer Grundsätze.

Applaus für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Akademy nach dem Schlusskonzert (v. li.): Anton Kirchhoff (Bariton), Jou-an Chen (Klavier), Artūrs Oskars Mitrevics (Klavier), Pierre-Nicolas Colombat (Klavier), Kathrin Hottiger (Sopran), Katrīna Paula Felsberga (Sopran), Chia-Yun Hsieh (Klavier), Han-Lin Yun (Klavier), Anna Graf (Sopran), Wencong Xue (Bariton)

Bei der Interpretation schiessen manche übers Ziel hinaus und heben zum Beispiel lautmalerisch einzelne Worte hervor. Es gelte aber, die Aussage und nicht einzelne Worte zu interpretieren und das gehe nur über die Textverständlichkeit: «Ohne Text, kein Ausdruck», wiederholte sie mehrmals nachdrücklich. Malcolm Martineau hob einen spannenden Aspekt hervor: «Die Formung des anlautenden Konsonanten sagt immer, welche Bedeutung man dem jeweiligen Wort geben will.» Ein verführerisches «Sing along» sei zu vermeiden: «Du musst dich mit dem Text den Harmonien widersetzen», sagte Kirchschlager. Die Haltung des Singenden sei entscheidend. Persönliche Betroffenheit und Selbstmitleid wolle man beim Interpreten nicht sehen: «Don’t show me, but let me know», brachte es die Dozentin auf den Punkt. Man dürfe sich nicht zu sehr von Stimmungen leiten lassen und sich nicht zu viele Freiheiten nehmen: «Interpretation heisst nicht, jeden Tag so zu singen, wie man sich gerade fühlt.»

Die Teilnehmenden dürften mit einem gefüllten Rucksack an Erfahrungen von dieser Woche heimgekehrt sein und ihre künstlerische Entwicklung durch mehrere Puzzleteile ergänzt haben.

 

Schweizer Klaviermusik von Frauen

Das Swiss Female Composers Festival hat eine «Piano Collection» mit zehn Stücken herausgegeben. Eine Sammlung für Violine und Klavier soll folgen.

Einige der Komponistinnen, deren Werke in der «Piano Collection» enthalten sind. Foto: zVg

Vor mehreren Jahren hat die Pianistin und Komponistin Katharina Nohl die Plattform Swiss Female Composers Festival gegründet. Sie initiiert und organisiert Konzerte mit den dem Netzwerk angeschlossenen Musikerinnen. Nun ist auch die erste Publikation auf dem Markt, die Piano Collection Vol. 1.

Etliche in der Schweiz lebende Komponistinnen haben ihre Kompositionen für Klavier solo eingereicht, zehn davon wurden ausgewählt und sind nun als Sammlung bei der Universal Edition Wien veröffentlicht. Stücke folgender Komponistinnen sind enthalten: Bijayashree Samal, Anastasiia Kuznetsov, Lea Gasser, Aglaia Graf, Sandra Avilova, Catherine Fearns, Ilona Raad, Olga Ponomareva, Dora Fratrić und Katharina Nohl, die auch als Herausgeberin fungiert. Die Idee dieser Piano Collection ist es, Musik für ein breites Publikum erreichbar zu machen, das heisst, das Klavier wird auf traditionelle Art gespielt.

Alle Autorinnen der Collection wurden mit einem Scodo-Voucher belohnt. Scodo ist ein neues Publishing Tool der Universal Edition, über das Komponistinnen und Komponisten ihre Werke veröffentlichen können und dabei 70 Prozent des Verkaufspreises bekommen statt der üblichen 30 Prozent.

Die Publikationsreihe soll noch in diesem Jahr mit einem neuerlichen Call for Scores weitergeführt werden. Diesmal sind Kompositionen für Violine und Klavier gefragt.

Ein Best-Edition-Preis geht nach Liestal

Auf der Leipziger Buchmesse wurden zehn herausragende Publikationen mit dem Musikeditionspreis Best Edition ausgezeichnet.

Die Autoren von «Caboomba»: Rolf Grillo und Andreas Gerber. Foto: Felix Groteloh

Der Deutsche Musikverleger-Verband e. V. hat zum 31. Mal editorische Höchstleistungen gewürdigt. Den Best-Edition-Preis 2023 erhielten:

  • Alban Berg: Violinkonzert, Kritischer Bericht, hg. von Douglas Jarman und Regina Busch, Universal Edition, Wien
  • Felix Mendelssohn-Bartholdy: Elias op. 70, MWV A 25, Kritischer Bericht, hg. von Christian Martin Schmidt, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden
  • Die Perlen der Cleopatra, Notentitelblätter von 1894 bis 1937 als Spiegel der Gesellschaft, Evelyn Förster (Autorin und Herausgeberin), Gestaltung und Satz: Peter-Nils Dorén
  • Gideon Klein: Sonate für Klavier / Landschaft, Spielpartitur, Urtextausgabe, hg. von Ondrej Pivoda, Bärenreiter-Verlag, Kassel
  • Gustav Mahler: 4. Sinfonie, Universal Edition, Wien
  • Deutsch-Jüdisches Liederbuch, Projekt 2025 – Arche Musica, Schott Music, Mainz
  • Oliver Rathkolb: Carl Orff und der Nationalsozialismus, hg. von Thomas Rösch, Bd. II/2, Schott Music, Mainz
  • Caboomba – Vom Körper zum Instrument, Spielstücke und Songs für Bodypercussion und Rhythmus-Ensemble, Andreas Gerber, Rolf Grillo, Helbling Verlag
  • Luigi Nono: Il canto sospeso. Faksimile des Partiturautographs, hg. und mit einem Vorwort versehen von Christoph Flamm, engl. Übersetzung von Margit McCorkle, Schott Music, Mainz 2022

Der Sonderpreis der Jury geht in diesem Jahr an das Ipipapa-Projekt, das Musiknoten mit einer weltweit lesbaren Lautschrift ergänzt und Audiomaterialien sowie weitere Hilfestellungen anbiete

 

Caboomba

Aus Schweizer Sicht ist die Auszeichnung des Lehrmittels von Andreas Gerber, Rhythmuspädagoge in Liestal, und Rolf Grillo besonders erwähnenswert. Caboomba ist ein praxiserprobtes Konzept für bewegten Musik- und Rhythmusunterricht mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Die Jury begründet ihren Entscheid folgendermassen: «Das Buch Caboomba  aus dem Helbing Verlag ist eine tolle Mischung aus Bauanleitung für Percussion-Instrumente, Bodypercussion und praktischen Anwendungen der verschiedenen Komponenten. Es bietet für Einsteiger eine einfache Möglichkeit, schnell zu einem musikalischen Erfolgserlebnis zu kommen. In der Kombination mit den Inhalten der dazugehörigen App findet sich jeder Musikbegeisterte schnell zurecht.»

«Missklänge» für die Zeitgenossen

Früher begegnete man Liszts späten Klavierstücken mit Unverständnis. Das ändert sich nun langsam.

Franz Liszt im März 1886, fotografiert von Nadar. Quelle: Sotheby’s/wikimedia commons

«Wie Sie wissen, trage ich eine tiefe Trauer in meinem Herzen; sie muss hie und da in Noten ertönend ausbrechen.» Mit diesen Worten lieferte Franz Liszt in einem Brief 1883 selber den Schlüssel zum Verständnis seiner späten Klavierwerke, die auf jeden virtuosen Flitter verzichten und dafür die Grenzen der Tonalität ausloten. Bei seinen Zeitgenossen erntete er dafür nur Kopfschütteln und Ablehnung. Selbst Richard Wagner sprach von «keimendem Wahnsinn» und «Missklängen», denen er nichts abgewinnen könne. Und noch 1976 hielt Klaus Wolters in seinem umfassenden Handbuch der Klavierliteratur fest, dass diese Musik weder für den Unterricht noch fürs Konzert geeignet sei: «Nichts mehr vom genialen Feuerkopf, nur noch trübe, freudlose, schemenhafte Gebilde …» Diese Bewertung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gewandelt. Heutzutage werden diese Werke für ihre radikale Einfachheit und kühne Harmonik durchaus bewundert und finden auch immer häufiger den Weg aufs Podium.

Der Bärenreiter-Verlag hat nun einige dieser Klavierstücke aus den Jahren 1880 bis 1885 in einem Sammelheft herausgegeben. Darunter das unglaublich düstere Unstern!, die rätselhaften Nuages gris sowie Am Grabe Richard Wagners, ein Werk, das auch in einer kammermusikalischen Bearbeitung existiert. Weiter enthalten sind die beiden Fassungen der selten gespielten Romance oubliée und – last but not least – Die Trauer-Gondel, ebenfalls in beiden Versionen. Die zweite Fassung des letzteren gehört mit zu den wenigen umfangreicheren Werken und besticht durch einen subtilen Aufbau, der in einem dramatischen Ausbruch kulminiert. Gerade dieses Stück lässt sich in einem Rezital wunderbar mit früheren Werken Liszts, etwa der Sonate in h-Moll, kombinieren.

Im Vorwort zu dieser Neuausgabe erfährt man von Herausgeber Michael Kube viel Wissenswertes über die Entstehung der einzelnen Stücke. Und in den ausführlichen Hinweisen zur Interpretation äussert sich mit Steffen Schleiermacher ein Pianist, dem diese Musik offensichtlich ans Herz gewachsen ist. Seine Anweisungen mögen manchmal etwas stark persönlich gefärbt sein. Als Anregungen sind sie aber sicher willkommen.

Einer der ersten, der Liszts späte Werke wirklich ernst nahm und schätzte, war übrigens Béla Bartók. Überhaupt war er der Überzeugung, «dass die Bedeutung Liszts für die Weiterentwicklung der Musik grösser ist als die Wagners».

Franz Liszt: Klavierstücke aus den Jahren 1880–1885, hg. von Michael Kube, BA 10871, € 20.95, Bärenreiter, Kassel  

Eine bunte Harfenschule für Kinder

Die pädagogisch breit abgestützte «Harfenschule Regenbogen» von Franziska Brunner und Sabine Moser bekommt demnächst eine Fortsetzung.

Ausschnitt aus dem Cover. Zeichung von Ruth Cortinas

Vor mir liegt eine schön illustrierte Mappe, gefüllt mit sechs farbigen, humorvoll gezeichneten Heften, welche dazu einladen, von Kindern entdeckt zu werden. Die zwei Harfenistinnen Franziska Brunner und Sabine Moser sind erfahrene Pädagoginnen. Ihre Schule regt zu aktivem Erkunden der Harfe an und lässt eine Verbindung von Musik und Leben entstehen. Es ist den Autorinnen gelungen, einen äusserst durchdachten Aufbau von Grund auf zu gestalten, d. h. nicht nur Harfentechnik einzuführen, sondern gleichzeitig alle Aspekte der Musik einzubauen. Es gibt Improvisationsanregungen, Bilder inspirieren dazu, Geschichten zu erzählen, Übungen werden mit Assoziationen verbunden, die Musiktheorie wird sehr spielerisch eingeführt, der Fantasie wird viel Raum gegeben und schliesslich finden sich sorgfältig ausgesuchte schöne Lieder. Ein Lehrmittel voller speziellen Ideen – ein Regenbogen an Möglichkeiten.

Das Kind und seine Erlebniswelt im Fokus zu haben, führte auch zur Idee, die Harfenschule dem Jahreszyklus anzugleichen. Jedes Heft, eingeteilt in Lerneinheiten von sechs bis acht Wochen, hat einen saisonalen Schwerpunkt, was sich in den Improvisationen und der Liederauswahl spiegelt. Fängt ein Kind im neuen Schuljahr an, Harfe zu spielen, durchlebt es Sommer, Herbst, Winter und Frühling und dürfte die ersten vier bis fünf Hefte innerhalb eines Jahres meistern können. Die Hefte sind nur acht Seiten dick und daher recht schnell zu bewältigen. Auf die Kinder wirkt dies sehr motivierend, denn sie haben den Eindruck, schnell vorwärts zu kommen.

Auffallend finde ich, wie luftig die Seiten gestaltet sind, keineswegs überfüllt und doch findet alles Essenzielle darin Platz.

Den Lehrkräften dient dieses Lehrmittel als variationsreiche Inspirationsquelle für freieren Unterricht, zugleich entspricht es den Zielen des Lehrplans 21. Da die Musiktheorie fortwährend eingebunden wird, ist sie auch Ausgangspunkt für Spiele, Entdeckungen und Gestaltung. Bewusst wurde darauf verzichtet, das Lehrmittel mit vielen Stücken zu füllen. So haben Kinder und Lehrkräfte die Möglichkeit, nach Bedarf selber Lieder einzufügen oder zu ersetzen. Falls das Konzept der Saisonhefte bei langsameren Kindern hinderlich wäre, müsste die Lehrperson natürlich freier mit der Schule umgehen. Die Schule wendet sich vornehmlich an Kinder zwischen der ersten und vierten Klasse.

Sehr erfreulich ist, dass nach dem riesigen Echo auf den ersten Band, nun eine Fortsetzung mit weiteren sieben Heften bald zur Veröffentlichung gelangt. Wiederum wurde der Entwurf von Harfenpädagoginnen im Unterricht während längerer Zeit erprobt, wurden Änderungen und Anregungen aufgenommen. Auch dieses künftige Lehrmittel ist eine Gemeinschaftsarbeit in vielerlei Hinsicht mit folgenden Inhalten: tolle Lieder, Intervalle und Dreiklänge samt ihren Umkehrungen, Arpeggi, Tonleitern, Flageolette, Triolen und Sechzehntel, Improvisieren über Tonika und Dominante, erweitertes Notenlesen, Tonarten und Stimmen.

Die Harfenschule Regenbogen ist eine zeitgemässe, pädagogische Bereicherung, die ich nur empfehlen kann.

Franziska Brunner und Sabine Moser: Harfenschule Regenbogen, Heft 1–6, illustriert von Ruth Cortinas, 80 S., Zusatzmaterial online, Fr. 34.80, kontakt@cordialharfenspiel.ch, ISBN 978-3-7252-1045-9

Schoecks Freund und Librettist Rüeger

Drei Opernlibretti hat Armin Rüeger für Othmar Schoeck geschrieben. Trotzdem ist der Apotheker, Dichter und Grafiker weitgehend unbekannt geblieben.

Othmar Schoeck (li) und Armin Rüeger 1922. Foto: Nachlass Armin Rüeger/Othmar-Schoeck-Festival, Brunnen

Die Wiederbelebung von Othmar Schoecks letzter Oper Das Schloss Dürande am Stadttheater Bern durch den Dirigenten Mario Venzago und den Musikwissenschafter Thomas Gartmann hat wieder einmal in Erinnerung gerufen, dass die Schweizer Musikszene ihren gewichtigsten Opernkomponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts doch vermehrt pflegen könnte – oder sollte. Leider hatte aber nicht Armin Rüeger den Eichendorff-Text in ein Libretto verwandelt, sondern, nach dessen Absage, der nazi-treudeutsche Hermann Burte. Rüegers drei Libretti für Schoeck, Don Ranudo, Venus und Massimilla Doni, boten eine verlässliche Grundlage für die Vertonung, auch wenn der Komponist manche Passage aus dem Konzept schon «im Topf» hatte und bitten musste, den Text dazu schleunigst zu liefern.

Durch Briefausschnitte von Rüeger und Schoeck, aber auch aus Beiträgen von Autorinnen und Autoren der nachfolgenden Generation werden die Konturen des auch grafisch aktiven Apothekers aus Bischofszell und die Freundschaft mit dem Komponisten, die über fünfzig Jahre dauerte, deutlicher und ergänzen die grosse Schoeck-Biografie von Chris Walton (Atlantis 1994) im privaten Bereich auf sympathische Weise. Attraktiv illustriert mit Skizzen, Gemälden und Fotos könnte dies, zusammen mit dem Begleitbuch zum Festival 2021, der Start zu einer sinnvollen Schriftenreihe zum Thema Othmar Schoeck werden.

Drama und Oper. Armin Rüeger – Librettist und Freund von Othmar Schoeck, Begleitbuch zum Othmar Schoeck Festival 2022, hg. von Alvaro Schoeck und Chris Walton, 156 S., Fr. 15.00, Müsigricht, Steinen 2022, ISBN 978-3-9525658-0-3

 

Raff und der aufkommende Tourismus

Das neueste Schwyzer Heft enthält unveröffentlichte Briefe, die Joachim Raff auf Reisen im Alpenraum geschrieben hat, Hinweise auf Werke mit Titelbezügen zur Schweiz und Fakten zum damaligen Tourismus.

Rigi Kulm, Ölskizze von Johann Heinrich Müller, 1825-1894. wikimedia commons

Das Schwyzer Heft 113 verfolgt verschiedene Ziele: Kernstück ist die kommentierte Edition von zehn Briefen, welche Joseph Joachim Raffs Berichte von zwei Reisen in die Schweiz (1867) bzw. in die süddeutschen Alpen (1873) enthalten. So konnten die Schwyzer Hefte mit der Raff-Gesellschaft – aus Anlass des 200. Geburtstags von deren Namengeber – kooperieren, ohne auf ein Mindestmaß an Lokalkolorit verzichten zu müssen. Gleichzeitig ergab sich dadurch eine Plattform für die Veröffentlichung eines bislang unbekannten Teilbestandes der umfangreichen Raff-Korrespondenz, welche in der Bayerischen Staatsbibliothek München aufbewahrt wird. Darüber hinaus nehmen die zwei Editoren und die Editorin Gelegenheiten wahr, auf jene Werke Raffs hinzuweisen, welche Schweizerisches im Titel tragen.

Bei alledem bleibt unklar, ob der Komponist mit solch geografischen Titeln nicht vielmehr die Verkäuflichkeit seiner Werke dadurch erleichtert hat, dass er in Zeiten des zunehmenden Schweiz-Tourismus Profit aus seinem eher zufälligen Geburtsort zu ziehen verstand. Denn eine als Kontextualisierung gedachte Übersicht über die Entwicklung des Alpenlandes Schweiz als Tourismusdestination aus der Feder des Historikers Joseph Jung entpuppt sich als Brennpunkt der gesamten Publikation, zu dem Raff mit seinem Schweiz-Bezug in Briefen und Kompositionen nicht mehr als ein Fallbeispiel, wenn auch ein besonders vielschichtiges, abgibt.

Obwohl der reich bebilderte und informative Band – mehr als bloss ein «Heft» – ein kritisches Lektorat verdient hätte, stellt er einen weiteren Meilenstein im Aufbau der Erforschung von Joachim Raff, dem für das Verständnis der Musik des 19. Jahrhunderts so wichtigen Komponisten, dar.

Severin Kolb, Franziska Gallusser, Lion Gallusser, Joseph Jung, Heinrich Aerni: Unterwegs mit Joachim Raff im Alpenraum, Schwyzer Heft Band 113, 137 S., Fr. 25.00, Kulturkommission Kanton Schwyz, 2022, ISBN 978-3-909102-75-4

 

Klavier und Harfe in Balance

Auf der Neueinspielung «Signature» des Duos Praxedis sind Kompositionen von Schweizer Zeitgenossen kombiniert mit wenig bekannten Werken aus dem 19. Jahrhundert.

Duo Praxedis. Foto: zVg

Das Duo Praxedis hat Bestand. Die Harfenistin Praxedis Hug-Rütti und ihre Tochter, die Pianistin Praxedis Geneviève Hug, konzertieren seit Jahren zusammen und überraschen immer wieder mit originellen Einspielungen. Man denke nur an die Piazzolla-Doppel-CD oder an grand duet mit Originalwerken für Harfe und Klavier, auch das ein Doppelalbum.

Tatsächlich hat die Harfe als Instrument immer wieder Blütezeiten erlebt, so an Fürstenhöfen und in den Salons des 19. Jahrhunderts. Oder dann bei den Franzosen, als Claude Debussy und Maurice Ravel zu neuartigen, «befreiten» Klangwelten aufbrachen. Die Duo-Besetzung Harfe und Klavier wurde auch im Konzertsaal zelebriert, etwa mit dem Pianisten Carl Czerny (1791–1857) und dem Harfenisten Elias Parish Alvars (1808–1849), der für Berlioz der «Liszt der Harfe» war.

Nach interessanter, aber vergessener Literatur für ihr Duo zu forschen, gehört für die beiden leidenschaftlichen Musikerinnen dazu. Auf ihrer aktuellen CD kann man zum Beispiel ein Grand Duo du Couronnement von Henri Herz (1806–1888) hören oder die Six Nocturnes von Charles Oberthür (1819–1895) entdecken. Bei diesen Trouvaillen weiss sich die Pianistin klanglich subtil zurückzunehmen, um der Harfe ihren akustischen Raum zu lassen.

Dokumentiert werden auf dieser CD aber auch drei der Auftragswerke, die das Duo Praxedis regelmässig renommierten Schweizer Komponisten gibt. Der stilistisch sehr versierte und vielseitige Rudolf Lutz hat 2018 La Folia für das Duo komponiert, wobei er nach eigenen Worten «durch die verschiedensten stilistischen Länder mäandert». Dramaturgisch geschickt reiht Lutz  Renaissance-Elemente, romantische Klänge, Tango- und Jazz-Variationen zu einem abwechslungsreichen, in sich aber stimmigen Stück.

Coucher du soleil (2016) heisst das Werk, das Rolf Urs Ringger noch in hohem Alter dem Duo Praxedis widmete. Er liess sich dafür von Marc Chagalls Gemälde Sonnenuntergang inspirieren. In keinem andern Stück dieser CD wird das Dialogische zwischen Klavier und Harfe so meisterhaft ausgelotet wie hier. Besonders auffällig ist Ringgers Umgang mit dem pedalisierten Bassregister des Flügels, das der grazilen Harfe eine originelle Klangaura verleiht.

Auch Xavier Dayer, der jüngste Komponist im Bunde, ist für sein subtiles Klangempfinden bekannt. Er hat für das Duo Praxedis eine Melodie aus den populären polyfonen Gesängen der französischen Provinz Béarn variiert. Hier offenbaren die beiden Musikerinnen ihre perfektionierte Klangbalance, ihr subtiles Gehör füreinander und ihre filigrane Virtuosität.

Duo Praxedis: Signature. Praxedis Hug-Rütti, harp; Praxedis Geneviève Hug, piano. Ars Produktion ARS 38 628

 

Harfen-Trouvaillen

Sarah O’Brien hat zum Teil kaum bekannte Impromptus für Harfe gesucht und gefunden. Es sind lohnende Stücke, die die klanglichen Eigenheiten des Instruments zur Geltung bringen.

Sarah O’Brien. Foto: zVg

Die Basler Harfenistin Sarah O’Brien legt mit Impromptu ihr zweites Solo-Album vor. Sie nutzte die schwierige Corona-Pause, um ihren lange gehegten Wunsch zu verwirklichen. Auf ihrer ständigen Suche nach originalen Harfenstücken, die zum Teil noch in Archiven schlummern, ist sie fündig geworden. Man staunt, wie viele der hier versammelten man so gut wie nie im Konzertsaal hört. Sich in diese originell zusammengestellte CD reinzuhören, lohnt sich unbedingt.

Impromptus passen ausgezeichnet zur Harfe, es sind Charakterstücke, haben aber auch etwas Improvisatorisches. Etwa das Impromptu para arpa von Joaquín Rodrigo (1901–1999), von dem man vor allem das Gitarrenkonzert kennt. Oder dann das klangschöne Impromptu von Joseph Guy Marie Ropartz (1864–1955), der ja mit César Franck befreundet war, den man als Komponisten aber kaum kennt. Einige Stücke sind von der bekannten italienischen Harfenistin Clelia Gatti Aldrovandi (1901–1989) inspiriert. Sie arbeitete – wie dies auch Sarah O’Brien tut – mit mehreren Komponisten zusammen, um neue Werke für ihr Instrument zu bekommen. So hat nicht nur Paul Hindemith seine Harfensonate in enger Zusammenarbeit mit Gatti Aldrovandi geschrieben. Auch Nino Rota (1911–1979) und Virgilio Mortari (1902–1993) liessen sich von ihr zu Harfenkompositionen motivieren, in denen sie auf alte Tänze wie Sarabande oder Gaillarde zurückgriffen.

Man hört diesen Werken gut an, dass sie ausgesprochen harfengerecht geschrieben sind. Sie bringen viele Facetten des Instruments zur Geltung, ohne effekthascherisch zu sein. Sarah O’Brien weiss diese raffiniert auszukosten. So kommen etwa in Hindemiths Sonate die ruhig ausgebreiteten klangfarblichen Eigenarten wunderbar zum Tragen.

O’Brien war über 20 Jahre Solo-Harfenistin im Concertgebouw-Orchester Amsterdam und bei den Münchner Philharmonikern, bevor sie Professorin an den Musikhochschulen in Zürich und Basel wurde. Mehrere ihrer Studentinnen und Studenten sind Preisträger internationaler Wettbewerbe. Als Solistin trat sie unter Bernhard Haitink, Hans Vock und Hartmut Haenchen auf, aber auch mit dem Orchestre de la Suisse Romande unter Fabio Luisi und Árpád Gérecz. Zu erleben war sie zudem mit dem Basler Sinfonieorchester und den Kammerorchestern von Basel und Zürich.

Ihre reiche künstlerische Erfahrung kommt nicht nur in den interpretatorischen Qualitäten dieser neuen CD-Einspielung zur Geltung, sondern auch in der dramaturgischen Zusammenstellung der Stücke. Sie ist kontrast- und abwechslungsreich. Die Kompositionen aus dem französischen Barock hat O’Brien selber arrangiert. Es sind zwei lautmalerische Stücke von Jean-Philippe Rameau mit den Titeln Le rappel des oiseaux und La poule, dazu kommt das humorvolle Le Tic-Toc- Choc von François Couperin.

All diese Kostbarkeiten rahmt O‘Brien mit den beiden gewichtigsten und noch am ehesten bekannten Stücken ein: dem Impromptu-caprice op. 9 von Gabriel Pierné (1863–1937) und dem Impromptu Des-Dur op. 86 von Gabriel Fauré (1845–1924). Man muss nicht Harfenfan sein, um diese CD mit Genuss zu hören.

Sarah O’Brien: Impromptu. Audite 97.807

 

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