Rekonstruiert, erstmals ediert oder ganz neu

Konzerte für Oboe oder Englischhorn von Gustave Vogt, Domenico Cimarosa und Pēteris Vasks.

Oboenblaetter. Foto: Vivasis/depositphotos.com

In einer Liste der bedeutendsten Oboistinnen und Oboisten der Musikgeschichte dürfte neben Leuten wie den Gebrüdern Plà, Carlo Yvon, Antonio Pasculli, Léon Goossens, Evelyn Rothwell oder Heinz Holliger auch der Name Gustave Vogt (1781–1870) nicht fehlen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete er während knapp 50 Jahren zwei Generationen von Spielerinnen und Spielern aus und prägte die Pariser Oboenschule fundamental. Von einem dreisätzigen Konzert für Englischhorn und Orchester ist nur der 2. Satz im Original überliefert. In einer transponierten Version erscheint dieselbe Musik in seinem 2. Oboenkonzert, was den Oboisten und Herausgeber Michel Rosset darauf gebracht hat, nun analog auch den 1. und 3. Satz für das Englischhorn zu übertragen. Seine verdienstvolle Rekonstruktion überzeugt in hohem Masse.

Die drei direkt aneinander anschliessenden Sätze folgen einem romantischen Gestus, und der opernhafte Ton erinnert gelegentlich an die knapp 20 Jahre ältere Scène für Englischhorn und Orchester von Antoine Reicha. Die hohe Virtuosität liegt gut in der Hand, die gesanglichen Passagen sind immer fein und reichhaltig ausgeziert, und auch formal überzeugt die gut viertelstündige Komposition aufs Schönste.

Beim selben Verlag ist erstmals Domenico Cimarosas originelles C-Dur-Konzert erschienen. Es entstand 1781, also 3 Jahre nach Mozarts berühmtem Beitrag zu dieser Gattung. Wiewohl es durchaus Anklänge an das grosse Vorbild gibt, sind die beiden Konzerte nicht vergleichbar. Cimarosa komponiert viel knapper – er schafft es beispielsweise im 3. Satz in gerade einmal 2 Minuten ein veritables Rondo zu schreiben – und verbindet die Sätze mit «Attacca»-Vorschriften. Das Herzstück des Konzerts ist ein gesangliches Andante sostenuto in a-Moll: Hier beweist sich Cimarosa als inspirierter Opernkomponist.

Ein ganz neues Konzert hat Pēteris Vasks‘ soeben veröffentlicht. Sein Englischhornkonzert (1989) hat bereits grosse Beliebtheit erlangt, vermutlich wegen der unverholenen stilistischen Nähe zu Jean Sibelius‘ Schwan von Tuonela. Auch sein nun (als Klavierauszug mit Solostimme) erschienenes Oboenkonzert wird vermutlich den Weg in die Konzertsäle finden, da seine einfach gehaltene modale Tonsprache dem Musikgeschmack der Abonnementspublika entgegenkommt. Zwei melodische Pastoralsätze (Morgen- und Abendpastorale) umrahmen einen lebendigen Mittelsatz, in dem sich verschiedene Tänze und ein Arioso ein Stelldichein geben und eine ausführliche Solokadenz umrahmen. Der spröde Klavierauszug dürfte für eine Aufführung nicht befriedigen, sondern dient lediglich als Vorbereitung für eine Einstudierung mit Orchester.

Gustave Vogt: Solo de Concert pour le Cor anglais, für Englischhorn und grosses Orchester, Erstausgabe und Rekonstruktion von Michel Rosset; Partitur: EW 1216, € 32.50; Klavierauszug: EW 1208, € 18.50; Edition Walhall, Magdeburg

Domenico Cimarosa: Konzert C-Dur für Solo-Oboe, 2 Hörner, 2 Violinen, Viola und Basso, Erstausgabe von Sandro Caldini; Partitur: EW 1200, € 23.50; Klavierauszug: EW 1194, € 14.90; Edition Walhall, Magdeburg

Pēteris Vasks: Konzert für Oboe und Orchester, Klavierauszug von Claus-Dieter Ludwig, ED 23365, Druckausgabe € 32.00, Schott, Mainz

 

 

Gesang im 20. und 21. Jahrhundert

Im Handbuch «Stimmen – Körper – Medien» stehen die Anforderungen aktueller Musikstile an die Stimme und pädagogische Aspekte im Zentrum.

Nelly Melba singt 1920 in ein Mikrofon. Foto: Library of Congress

Ein Foto der legendären Nelly Melba bei einer Radioaufnahme 1920 ziert als Titelbild den zweiten Band des «Handbuchs des Gesangs» aus dem Laaber-Verlag. Dieses Foto hält einen grossen und entscheidenden Moment fest, der der Entwicklung der Gesangskunst und ihrer Rezeptionsgeschichte eine neue Bahn öffnete.

Einer der Herausgeber dieses Buches, Thomas Seedorf, legte erst 2019 ein Handbuch der Aufführungspraxis Sologesang vor, das eine Fülle von Informationen für das Singen Alter und Neuer Musik enthält (Bärenreiter). Es widmet sich der Vokalpraxis von 1600 bis zur Gegenwart, Stimmtypen, Gesangsästhetik, Ornamentik und Deklamation, setzt aber seine Schwerpunkte im 17., 18. und 19. Jahrhundert. Die Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts werden eher am Rand mit einem Kapitel über Neue Musik und moderne Notation gestreift.

So schliesst das neue Handbuch mit dem Titel Stimmen – Körper – Medien, Gesang im 20. und 21. Jahrhundert inhaltlich an die bereits vorliegende Arbeit an. Es öffnet einen neuen Blickwinkel auf Stimme und Körper auf der Bühne, und zwar in Song und Chanson des populären Musiktheaters wie auch auf der Opernbühne, widmet sich dem Singen als kultureller Praxis, dem Chorgesang als globalem Phänomen. Nicht mehr wegzudenken ist die Auseinandersetzung mit modernen Medien, mit Transformationen der Gesangsstimme durch Tonträger, Studiotechnik und Digitalisierung. Die Ästhetik populären Gesangs im 20. und 21. Jahrhundert stellt andere und neue Anforderungen an eine Gesangsstimme, wo Sprechen, Rufen und Schreien in Pop- und Jazzgesang nicht nur erlaubt sind, sondern dem vokalen Ausdruck von Gefühlen dienen, wo ihre Mitspieler Mikrofone und Toningenieure sind.

Ein grosses Kapitel widmet sich den Fragen der Pädagogik und Therapie. Nie war die Vielfalt von Klangästhetik und stilistischer Erweiterung grösser als heute. Man denke an Pop, Rock, Soul, Jazz und Musicalgesang, an Tango und Indie -Gruppen, an Obertonsingen und Jodel, an experimentelle Geräuschhaftigkeit und Klangkreationen der Neuen Musik – neben dem Ideal des klassischen Gesangs, der offensichtlich nichts an Attraktivität eingebüsst hat; man schaue sich die Anmeldezahlen an den Hochschulen an …

Das Kaleidoskop stimmlicher Vielfalt spiegelt sich in einem äusserst pluralistischen Angebot von Gesangsunterricht, das im Buch thematisiert wird, reichend von chorischer Stimmbildung über funktionale Stimmarbeit, über verschiedenste Pop-Gesangsschulen und sogenannter Belcantotechnik hin zu Stimmarbeit verbunden mit Körper- und Atemschulung. Methodenvielfalt wird zu einem attraktiven Qualitätsmerkmal gesangstechnischer Unterweisung, Vernetzung statt Abgrenzung heisst das Zauberwort.

Das Handbuch endet philosophisch: Macht Singen glücklich? «Ja», lautet die Antwort! Die Frage ist, warum… Weshalb wirkt das Tönen, das Erschallenlassen der eigenen Stimme, das ungehinderte Sich-Entfalten derselben, euphorisierend?

Stimmen – Körper – Medien: Gesang im 20. und 21. Jahrhundert, hg. von Nils Grosch und Thomas Seedorf, (= Handbuch des Gesangs 2), 396 S., € 98.00, Laaber, Lilienthal 2021, ISBN 978-3-89007-906-6

 

Frisch von der Leber weg

Auf dem zweiten Album «Inner Smile» bleibt die Zürcher Band Annie Taylor ihrem spritzigen Rock treu, serviert ihn aber variationsreicher.

Annie Taylor. Foto: Fabio Martin

Schweizer Bands haben sich traditionellerweise schwergetan damit, draufloszurocken und dabei nebst mitreissender Dynamik auch noch knackige Ohrwürmer zu produzieren. Das Zürcher Quartett Annie Taylor – benamst nach der 63-jährigen Lehrerin, die 1901 als erste in einem Fass die Niagara-Fälle hinunterstürzte und das Abenteuer überlebte – hat keine Probleme dieser Art. Von der instrumentellen Expertise her könnten Gini Jungi (Gesang, Gitarre), Tobias Arn (Gitarre), Michael Mutter (Bass) und der unlängst von den Winterthurer Post-Krautrockern Klaus Johann Grobe dazugestossene Drummer Daniel Bachmann bestimmt auch virtuosen Neo-Progressive-Rock kredenzen. Gottseidank wollen sie dies nicht. Vielmehr sind sie auch auf ihrem zweiten Album der organischen Melange aus Post-Grunge-, Garage- und Pop-Rock treu geblieben, die ihr Debut vor drei Jahren so spritzig machte. Sweet Mortality kratzte damals an den Schweizer Album-Charts und trug der Band eine lange Reihe von nationalen und internationalen Festivalauftritten ein. Das auf diese Weise gewonnene Selbstvertrauen schwitzt aus jeder Rille von Inner Smile.

Für die Aufnahmen verlegte man sich nach Bristol, wo man die Tage im Studio von Produzent Ali Chant verbrachte, der sich auch schon mit PJ Harvey, Yard Act, Katy J Pearson (eine Favoritin von Jungi) und Aldous Harding beschäftigt hat. Nachts zog man sich in die Villa zurück und feilte an den Einfällen der vergangenen Stunden. Der Sound ist dabei deutlich vielseitiger geworden. Ausgelassen rumpelnden Pop-Punk-Nummern (Schoolgirl) stehen eingängige Songs gegenüber, in denen die von den Pixies erschlossene Laut/Leise-Dynamik gekonnte Anwendung findet (Push Me). Ride High ist sozusagen kalifornischer «Sunshine-Pop», selbst Fucking Upset findet Platz für ein paar nachdenkliche Momente, und Sister lebt nicht zuletzt vom gloriosen Bassriff. Dabei beherrscht die begnadete Sängerin, Songschreiberin und Frontfrau Jungi das Geschehen souverän. Fazit: eine grandiose Live-Band, mit Geschick auf Vinyl konserviert.

Annie Taylor: Inner Smile. Taxi Gauche Records TGR 037 (Vinyl)

Pianistischer Einstieg in die Ländlermusik

Zwei Notenhefte für Klavier erschliessen Grundlagen der Schweizer Volksmusik auf unterhaltsame Art.

Marion Suter. Foto: zVg

Kinder reagieren oft erstaunlich positiv auf Ländlermusik. Umso bedauerlicher ist es, dass kaum Anfängerliteratur für den Unterricht vorhanden ist. Diesem Umstand will der Müliradverlag in Altdorf abhelfen mit einer neuen Reihe, die mit zwei Heften eröffnet wird. Marion Suter und Claudio Gmür, zwei Koryphäen des Ländlerklaviers aus zwei verschiedenen Generationen – Suter war lange Zeit Schülerin von Gmür –, legen je ein Heft mit 16 einfachen Tanzstücken vor. Bei Suter sind es Eigenkompositionen, bei Gmür hälftig eigene Stücke und Bearbeitungen von Klassikern des Genres.

Die Stücke sind leicht und vergnüglich zu spielen und vermitteln gleichzeitig auch die formalen und harmonischen Grundlagen der Schweizer Volkstanzmusik. Die Neukompositionen folgen den traditionellen Mustern und Abläufen und sind doch originell und witzig. Es ist deutlich erkennbar, dass der Autor und die Autorin bestens vertraut sind mit der Materie. Die wichtigsten Formen – Ländler, Walzer, Polka, Schottisch sowie bei Suter eine Mazurka und bei Gmür ein Ländlerfox – werden in einfacher Art exemplarisch vermittelt.

Wem das zu simpel ist, der kann sich auf der Grundlage der beiden Hefte an die Variations- und Verzierungspraxis der Ländlermusik heranwagen und ganz im Sinn der alten Tradition die Stücke nach eigenem Gusto verändern und erweitern. So sind die Hefte nicht nur für Anfänger*innen, sondern auch für versiertere Interessierte aus anderen Sparten ein lohnender Einstieg in die Schweizer Volksmusik.

Schweizer Ländlermusik für Klavier,

Vol. 1: 16 neue Kompositionen von Marion Suter, Nr.1211;

Vol. 2: Eine Tasten-Bike-Tour, 16 neue und traditionelle Tänze komponiert und bearbeitet von Claudio Gmür, Nr. 1212;

je Fr. 25.00, Mülirad, Altdorf 2021

 

Musiklernen mit Techniken aus dem Sport

In Bestform beim Üben! Das «Methoden-Navi» überträgt sportliche Praktiken und Begriffe auf das instrumentale Üben.

Musik ist nicht Sport, aber gewisse Techniken aus dem Training können das Üben beflügeln. Foto: Paha_L/depositphotos.com

Wer wie eine Trainerin, ein Trainer Musik unterrichtet, hat Erfolg. Das will nicht heissen, dass Musik Sport ist, aber in Ulrich Menkes Methoden-Navi verhelfen sportmedizinische und sportpsychologische Aspekte zu rascheren positiven Resultaten. Der Begriff des Übens wird ergänzt durch den Begriff des Trainings. Durch die abwechselnde Verwendung aller Sinne läuft das Gehirn zu wahrer Form auf: Kurzweil lässt die «Übzeit» vergessen und führt zum Flow. Die Lehrperson geht mehr mit Fragen als mit Kritik auf die Schülerinnen und Schüler ein und hilft so zu selbständigerer Arbeitskompetenz.

In 18 Kapiteln illustriert mit instruktiven Notenbeispielen aus der Violinliteratur erhält man eine breite Palette von Aufträgen, um die Schwierigkeiten aufzufächern. Hier eine Auswahl:

1. Warm-up, begonnen beim Körper: Haltung, Muskel- und Fingerspitzengefühl, Selbstbeobachtung im Spiegel.

2. Dank Slow Motion ein neues Stück von Anfang an fehlerlos trainieren; erst vorstellen, dann spielen.

3. Looping: In schwierige Sequenzen Atempausen einbauen und die Sequenzteile wiederholen; grosse Sprünge vereinfachen als Tonschaukel und diese hören und fühlen; bei Doppelgriffen den Führungsfinger bestimmen, dessen Weg am leichtesten auszuführen und zu merken ist; Fehlerauslöser isolieren und mit Loop festigen.

4. Time-out: Schnelle Passagen mit punktierten Rhythmen oder Tonwiederholungen verlängern.

5. Supervision: Sich selber beim Spiel reihum mit verschiedenen Sinnen beobachten.

7. Rhythm is it! Rhythmisch schwierige Passage zuerst nur auf einem Ton oder auf einer Skala spielen; Saitenwechsel-Bewegung des Bogens einer mehrsaitigen Stelle zuerst auf den leeren Saiten spielen; bei gebundenen Passagen die optimale Bogenhandkurve suchen.

8. Akzente setzen: In eine gleichmässig ablaufende Passage z. B. in Sechzehntel-Vierergruppen Akzente auf die zweite und in den Wiederholungen auf die dritte und vierte Gruppen-Note setzen oder sogar auf jede dritte Note (gegen das Metrum) der Passage. So kommt jeder Ton einmal in den Fokus.

9. Selbst-Coaching: Du schaust wie ein Reporter auf das Spiel deiner «inneren Mannschaft» und beurteilst, was zu verbessern ist. Fokus auf einen Finger, der zu schwach, auf einen Ton, der nicht ausdrucksvoll ist, einen Lagenwechsel, der zu spät geschieht; «Blick auf die szenische Anlage von Spielsituationen».

10. Auswärtsspiel. Sicherheit erwerben: Passage auf anderen Saiten, in anderen Lagen, im Gehen, im Ensemble Rücken an Rücken spielen.

11. Mischpult. Ausprobieren von verschiedenen dynamischen Varianten einer Stelle (Suche mit Crescendo und Decrescendo nach der richtigen Betonung) führt zu bewussterem Verständnis der Komposition.

12. Happy End. Wenn man auf einem Problemton eine Fermate setzt und ihn bewusster erlebt, verliert er den Aspekt der «Angststelle».

13. Call – Recall: Singen einer Stelle – mit Spielen wiederholen. Call – Response: Singen einer musikalischen Frage – Spielen der Antwort. So wird schneller klar, wie eine Passage musikalisch zu gestalten ist.

Schlussendlich 18. Auftritt! Hier wird erklärt, wie Lampenfieber, Angst vor Versagen vermieden, aber auch musischer Fluss gefördert werden kann.

In einem abschliessenden Erläuterungsteil wird die Bedeutung der Achtsamkeit, des geschickten Coachings, des mentalen Trainings, eines neuen Verhältnisses zwischen Lehrenden und Lernenden und des Trainingsplatzes als Wohlfühlort ausführlich erläutert. Insgesamt ein wertvolles Ideen-Schatzkästchen!

 

Ulrich Menke: Das Methoden-Navi, Routenplaner zu einem erfolgreichen Instrumental- und Ensembleunterricht, 192 S., € 22.95, Schott, Mainz 2023, ISBN 978-3-7957-3092-5

Klingende Nebenwege durchs Gebüsch

Das Festival Rümlingen fand diesmal im Tessin statt. Vom 28. Juli bis 1. August schmiegte sich Neue Musik für ein kleines Publikum in die südliche Landschaft.

Nunzia Tirelli in der Installation «Grazien» von Lukas Berchtold. Foto: Max Nyffeler

Rümlingen war Ende Juli wieder auf Wanderschaft. Nach dem Unterengadin 2019 und dem Appenzell 2021 erkundete das Festival nun einen besonders attraktiven Teil des Tessins. Ausgangspunkt war das einstige Aussteigerparadies Monte Verità oberhalb von Ascona. Danach ging es mit einer Wanderung ins kleine Arkadien der Deutschschweizer Kulturbürger, das Valle Onsernone, und per Schiff auf die subtropischen Brissago-Inseln, immer mit sorgsam an die Landschaft angepassten Kompositionen, Klanginstallationen und sonstigen akustischen Darbietungen im Gepäck – mal als durchstrukturiertes Konzert, mal in Wundertütenmanier zur tönenden Erquickung des Wanderpublikums.

Der seit 1990 bestehende Verein Neue Musik Rümlingen geht mit seinen sommerlichen Festivals konsequent einen Nebenweg durchs Gebüsch, das den avantgardistischen Mainstream säumt. Die Handvoll Medienleute, Komponisten und Musikvermittler aus Deutschland und der Schweiz ist in beiden Ländern musikalisch gut vernetzt und kann auch auf das Interesse freundlicher Sponsoren bauen. Eine geschickte institutionelle Kooperation ermöglicht es, die Kosten niedrig zu halten. Lokale Partner im Tessin waren nun die Associazione Olocene (benannt nach der von Max Frisch im Onsernonetal geschriebenen Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän) und das Teatro del Tempo. Der Komponist und Festivalgründer Daniel Ott verfügt als echter Eidgenosse zudem über gute landeskundliche Kenntnisse und ein Gespür für das Randständige.

Das Tessin, Ende der Welt?

«Finisterre», Ende der Welt, lautete das assoziationsreiche Motto der fünftägigen Veranstaltung. Als Ausdruck einer romantischen Natursehnsucht machte das durchaus Sinn, und zum abgelegenen, von Abwanderung gezeichneten Onsernone passte das auch. Doch die Wahrnehmungsgrenze, das «Weltende», fällt bekanntlich immer mit dem eigenen Horizont zusammen. Und dieser reichte nun offenbar gerade noch bis zum Lago Maggiore. Die Touristenhotspots Ascona und Brissago und überhaupt das industrialisierte Tessin mit seinen täglich über achtzigtausend italienischen Pendlern mit der Idee eines Endes der Welt in Verbindung zu bringen, ist dann doch etwas naiv. Im Programmbuch unternahmen die Veranstalter allerlei weltanschauliche Klimmzüge, offenbar inspiriert durch den Genius Loci des Monte Verità. Wolkige Spekulation über andere Wirklichkeiten verband sich mit touristischen Sehnsüchten aus nordischer Sicht und einem Hauch von kulturellem Kolonialismus nach dem Motto «Jetzt exportieren wir unsere Avantgarde in den musikalisch brachliegenden Süden».

Abgesehen von solchen konzeptionellen Widersprüchen war das Unternehmen durchaus ein Erfolg. Alle waren zufrieden, die angereisten Künstler, die Veranstalter, das Publikum. Dieses bestand aus einer Schar treuer Festivalanhänger, die ein paar Tage Erlebnisferien machten, neugierigen Tagestouristen und ein paar Betriebsprofis; Einheimische waren wenige vertreten. Man war eine grosse Familie, überliess sich der Magie der Landschaft und folgte neugierig den darin platzierten Klangaktionen. Ohne Eigenleistung ging das freilich nicht ab. Für den Onsernone-Tag waren zum Beispiel drei Stunden Wanderung eingeplant, und wer nicht gut zu Fuss war, musste eben passen. Dank dem gesicherten Finanzpolster kann sich das Festival den Luxus kleiner Teilnehmerzahlen erlauben. Das Konzert auf der Brissago-Insel unterstand dem Numerus clausus, bedingt durch die geringe Passagierzahl auf dem Schiff.

Brennpunkt Monte Verità

«Rümlingen» ist ein Erlebnisfestival, es geht weniger um die künstlerische Exzellenz des Gebotenen als vielmehr um dessen unkonventionelle Wahrnehmung und auch um eine intensivere Selbstwahrnehmung. So bei der Gruppe Trickster-p, die keine Klänge, sondern nur Losröllchen anbot, in denen zum Beispiel die Aufforderung stand: «Wähle einen Ton, den du in deinem Kopf spielst. Spiele ihn mit der folgenden Begleitung: Wald im Frühling um 5.00 Uhr morgens.» Der konzeptualistische Gag war Teil des Eröffnungstags auf dem Monte Verità. Ein ähnliches Stummfilmerlebnis gewährte die Installation Grazien von Lukas Berchtold, in der eine Tänzerin zu sanft sich aus der Höhe entrollenden Papiergirlanden ihre Kreise zog.

Eine Intervention mit kulturkritischer Pointe gab es im Elisarium zu sehen. Die Innenseite dieses tempelähnlichen Rundbaus ist rundum mit nackten Buben bevölkert, die der baltische Adlige Elisar von Kupffer in den 1930er-Jahren in paradiesischer Pose auf die Wand pinselte. Der Norweger Trond Reinholdtsen – ein begnadeter Ironiker, der 2014 in Darmstadt mit dem schönen Ausspruch «O alte kranke Europa, ich liebe dich!» auffiel – setzte zu dieser leicht abgestandenen Homoerotik einen knalligen Kontrapunkt mit einem Video, in dem er seine hinlänglich bekannten, grellfarbenen Trolle herumkriechen lässt und dazu fröhlichen pseudophilosophischen Nonsense deklamiert.

Der Wald winkt den Lauschenden

In dem weitläufig-hügeligen Gelände konnte man einen Tag lang Unbekanntes, Überraschendes und manchmal auch ziemlich Beiläufiges erwandern. Auf dem Walkürefelsen – eine Bezeichnung der Monte Verità-Gründer – beschallte eine Sängerin, unterstützt von Elektronik, die Umgebung mit einem Laurie-Anderson-Verschnitt. Irgendwo im Gebüsch stand ein einsames Vibrafon, auf dem Notenständer «Der kranke Mond» aus Schönbergs Pierrot lunaire.

Vokalperformance auf dem Walkürefelsen mit Stephanie Pan. Foto: Max Nyffeler

In einer Waldlichtung standen einige Liegestühle herum, auf denen die Spaziergänger sich niederlassen konnten. Dann kam zu einer bestimmten Uhrzeit plötzlich Leben in die Szene. Studierende des Conservatorio Lugano stellten sich mit ihren Instrumenten hinter die entspannt Liegenden und verpassten ihnen mit leisen Tönen und Geräuschen eine sanfte Klangmassage. Und wenn dann auf heimliches Kommando die Zweige der umstehenden Bäume zu schaukeln begannen und dazu noch ein fernes Glockengeläut erklang, war es, als winke der verwunschene Wald den Menschen friedlich zu. Die von Manos Tsangaris im Timing genau ausgedachte, feinsinnige Klangsituation gehörte zum Besten an diesem Tag.

Freunde beidseits des Eisernen Vorhangs

Meinhard Saremba zeichnet in seinem Buch die Künstlerfreundschaft von Britten und Schostakowitsch nach.

Berliner Mauer am Bethaniendamm in Berlin-Kreuzberg 1986. Foto: Thierry Noir/Wikimedia commons CC BY-SA 3.0 unported

Das Wagnis hat sich gelohnt, die beiden Komponisten aus dem Schatten der Politik zu holen, den englischen, Benjamin Britten (1913–1976), in der Zeit des Niedergangs eines Weltreiches, und den russischen, Dmitri Schostakowitsch (1906–1975), in der schreckenerregenden Sowjetzeit. Die 1960 eher zufällig sich ergebende Bekanntschaft, welche sich über die schier unüberwindliche Grenze des Kalten Krieges hinweg zur Freundschaft entwickelte, wird in den verschiedensten Facetten von künstlerischen und menschlichen Bezügen dargestellt. Allen Widerwärtigkeiten zum Trotz konnten sie sich sechs Mal treffen, sowohl in Aldeburgh wie in Moskau und auf der gemeinsamen Reise in Armenien (Sommer 1965).

Dabei bemüht sich der Autor, politische Grossereignisse wie die Kubakrise 1962, den Einmarsch der Warschaupakt-Staaten in die Tschechoslowakei 1968 und die hitzige Diskussion in Grossbritannien um das Festival sowjetischer Musik 1972 in die Auseinandersetzungen um die Entwicklung der Neuen Musik einzubauen, ohne den Fokus auf die beiden Künstler als bedrohte Existenzen zu vernachlässigen. Denn unter diesem Aspekt wurden sie vor und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Komponisten völlig kontrovers beurteilt, und die Diskussionen in Ost und West setzen sich heute unvermindert fort, da beide kaum je der Avantgarde zugezählt werden konnten und ihre Werke deshalb oft unter ihrem Wert be- und abgeurteilt wurden.

Zitate in Überfülle aus englischen und russischen Quellen – in weit über tausend Anmerkungen ausgewiesen – ersetzen oft eine vom Autor erwartete Stellungnahme. Primär aber geht es ihm nicht darum, die Werke neu zu beurteilen, sondern er beleuchtet die teilweise vergleichbaren schwierigen Umstände, unter denen die Werke entstanden sind, neu. Da sich beide Komponisten mit den politischen Ereignissen beschäftigen mussten und dadurch oft, aber nicht immer, ungewollt zu Mitbeteiligten wurden, erforderte dies umfangreiche Recherchen im privaten Umfeld. Der «Bedeutungswandel von Werten und Worten» oder Details zum Kulturaustausch-Abkommen zwischen Grossbritannien und der UdSSR im Jahr 1959 führen weit darüber hinaus, eröffnen aber oft Einblick in schon vergessene Vorkommnisse in der Zeit des Kalten Krieges.

Solche Überblicksbetrachtungen bergen allerdings die Gefahr, dass die geopolitischen Aspekte, aus der eingeengt kulturellen Perspektive begriffen, einer gesamthistorischen Beurteilung nicht immer standhalten. Hingegen ist es verdienstvoll, dass der Autor versucht, auch die problematischen Seiten der in Aussenseiterrollen gedrängten Individualisten zu beleuchten.


Meinhard Saremba: Keeping the cultural door open. Britten und Schostakowitsch. Eine Künstlerfreundschaft im Schatten der Politik, 518 S., € 28.00, Osburg-Verlag Hamburg, Eimsbüttel 2022, ISBN 978-3-95510-295-1

Übersicht und Detailreichtum

Elisabeth Schmierer trägt in ihrer Darstellung «Die Musik des 18. Jahrhunderts» eine Fülle an Material zusammen.

Opernprobe. Ölgemälde von Marco Ricci, um 1709 (aufgehellt). Yale Center for British Art/Wikimedia commons

Eine Epoche wie das 18. Jahrhundert, die eigentlich gar keine Epoche ist, in einem Buch zusammenzufassen, scheint schier unmöglich. Zu weit ist der politische, ideengeschichtliche, künstlerische und auch musikalische Bogen, den es spannt. Die Darstellung von Elisabeth Schmierer – sie forscht und lehrt an der Folkwang-Universität der Künste in Essen – fokussiert deshalb nicht auf einzelne Persönlichkeiten, sondern folgt durchaus schlüssig den Entwicklungen verschiedener Gattungen, die sie wiederum vor dem jeweiligen gesellschaftlichen Hintergrund beleuchtet. Wie entwickelt sich die Kirchenmusik in Zeiten der Aufklärung und des aufkommenden Konzertbetriebs. Wie erscheint das Lied vor dem «Spiegel bürgerlicher Musikkultur»? Vor allem immer wieder: Wo steht das Musiktheater? Das ist höchst informativ, weil Schmierer auch zu Seitenbereichen wie etwa der Ballettpantomime oder der Programmmusik reichlich Material zusammenträgt.

Manchmal fast etwas zu reichlich, so dass man beim Lesen den Überblick zu verlieren droht. Der Verzicht auf Fussnoten (stattdessen gibt’s viele Klammern) macht den Text noch etwas weniger flüssig lesbar. Bilder und Notenbeispiele fehlen fast gänzlich. Ein Glossar erklärt zwar im Anhang die wichtigsten Begriffe, aber das verhindert nicht, dass das Buch letztlich recht wenig anschaulich ist.

Ich greife ein Lieblingsbeispiel heraus, die Passionsdichtung des Hamburger Schriftstellers und Stadtrats Barthold Heinrich Brockes, die von einigen der wichtigsten Komponisten wie Händel, Telemann oder Stölzel vertont wurde und bei der sich auch Bach bediente. Diese Namen und einige mehr werden erwähnt, ausserdem dass Brockes den Evangelistentext wieder ins Passionsoratorium eingeführt hat, allerdings mit einigen Reimen. Und das ist’s auch schon. Nichts darüber, zu welch höchst individuellen und spannenden Lösungen der hochexpressive Text die Musiker anregte. Nein, es geht rasant im Aufzählen weiter.

Schliesslich zementiert der Band, auf dessen Titelseite doch drei musizierende Frauen zu sehen sind, unter der Hand den Eindruck, dass weibliches Komponieren in jenem Zeitalter überhaupt keine Rolle gespielt habe. Einzig Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre taucht als Komponistin auf. Eine Juliane Reichardt fehlt ebenso wie die Madame de Montgéroult, die zu den ersten Lehrerinnen am Pariser Conservatoire gehörte. Trotz solcher Leerstellen vermittelt der Band eine gute Übersicht und ist gewiss all jenen nützlich, die Musikgeschichte unterrichten und sie in einem weiteren Rahmen vernetzen möchten.
Elisabeth Schmierer: Die Musik des 18. Jahrhunderts, 345 S., € 32.80, Laaber, Lilienthal 2022, ISBN 978-3-89007-858-8

Der Vielseitigkeit auf der Spur

Gespräche mit Musikerinnen und Musikern, die inner- und ausserhalb der Musik verschiedenste Tätigkeiten verfolgen.

«x-stimmig», eine Gesprächsreihe zur Vielseitigkeit in der Musik. Foto: Mishchenko

Der Autor dieses Podcasts, Matthias Droll, ist selber vielseitig unterwegs: Nach einem Studium in klassischem Schlagwerk und Elementarer Musikpädagogik absolviert er einen Jazz-Master und spielt in einem Trio, das elektronische Musik macht. Daneben klettert er. Auch sein künftiges Berufsleben möchte er vielseitig gestalten. Darum versucht er die Vielseitigkeit zu ergründen. Als Bestandteil seiner Masterthesis an der Hochschule der Künste Bern hat er nun eine Reihe von akustischen Porträts gestaltet, die online nachzuhören sind. In x-stimmig führt er Gespräche mit Musikerinnen und Musikern, die mit mehreren Instrumenten, in mehreren Genres, in mehreren Rollen, von Interpret bis Hochschuldozentin, unterwegs sind, die zudem oft im Sport oder in Organisationen aktiv sind. Er befragt sie, wie sie zu dieser Vielzahl von Tätigkeiten gekommen seien, beginnt in der Kindheit, will wissen, ob sie jemals Interessensgebiete hätten aufgeben, sich entscheiden müssen, wie sie alles unter einen Hut brächten und wie sie in dieser Vielfalt zu kreativen Phasen kämen.

Beim Zuhören der zwischen 39 Minuten und knapp über einer Stunde langen Beiträge ergibt sich eine angenehme Spannung zwischen dem ruhig geführten Gespräch, das auch Zeit für Nachfragen und längere Ausführungen hat, und der manchmal schwindelerregenden Menge an Beschäftigungen, denen sich die Befragten widmen. Ob dieses geduldige und sorgfältige Herangehen schon eine der Antworten ist? Es geht aber nicht eigentlich darum, wie verschiedenste Tätigkeiten nebeneinander bewältigt werden können, sondern ob und wie sie sich gegenseitig befruchten.

Wer sich Fragen stellt zur eigenen Vielseitigkeit oder einfach Einblicke in das Leben inspirierender Musiker und Musikerinnen haben möchte (wobei man dazu – ganz der Vielseitigkeit verpflichtet – noch Gemüse rüsten oder abwaschen kann), sollte reinhören. Bislang gibt es neun Folgen, weitere sollen im Herbst folgen.

x-stimmig – (nicht) nur Musik

 

 

 

Vom Bündnerland in die Welt und zurück

Corin Curschellas feiert ihr 50-jähriges Bühnenjubiläum mit einer speziellen Box: vier CDs und zwei Bücher.

Corin Curschellas. Foto: Daniel Infanger

Corin Curschellas ist trotz ihrer langen und erfolgreichen internationalen Karriere in der Schweiz erstaunlich unbekannt geblieben; für den einheimischen Massengeschmack war sie wohl immer zu eigenwillig und sperrig. Zudem hat sie selber die öffentliche Aufmerksamkeit nie gesucht, die Musik war ihr stets wichtiger als der Erfolg. Die Grande Dame der Schweizer Musikszene feiert nun ihre 50-jährige Bühnentätigkeit mit einer Box, die nicht nur für alte Fans, sondern auch für ein neues Publikum interessant ist. Compact Discs sind zwar inzwischen bereits ein historisches Format, das schön gestaltete Kartonetui mit vier CDs und zwei Büchern fasziniert aber als Objekt über die Musik hinaus. So machen CDs durchaus noch Sinn, weil die Box viel lesenswerte Information beinhaltet: alle Songtexte, die rätoromanischen sogar mit Übersetzung, beteiligte Interpretinnen und Texter, eine vollständige Diskografie und kurze Texte von Corin, Weggefährtinnen und Weggefährten, die stimmige Impressionen zur Person und zum Werk liefern. Die Bücher sind grafisch überaus ansprechend gestaltet und ergänzt mit reichem Fotomaterial. Dieses allein lohnt schon die Anschaffung.

Die sechzig Stücke auf den vier CDs stammen aus Curschellas Soloalben aus den Jahren 1990 bis 2010, ergänzt durch neue Aufnahmen von 2022. Erfreulicherweise wurden nicht einfach alte Alben neu aufgelegt, sondern die Songs sehr sorgfältig ausgewählt und in neuer Reihenfolge zusammengestellt. So erscheinen sie in einem anderen Kontext und man hört sie, auch wenn man sie schon kennt, plötzlich wieder ganz neu. Dabei kommen zwei Dinge deutlich zum Vorschein: Einerseits die sprachliche und musikalische Vielseitigkeit der Schöpferin. Die Texte sind in Rumantsch, Mundart, Deutsch, Englisch und Französisch verfasst und Corin beherrscht das Singen in allen Sprachen. Auf der anderen Seite zeichnet sich ihr Lebensweg sehr schön ab in den Aufnahmeorten: vom Bündnerland nach Zürich, Berlin, Wien, Paris, London bis nach New York und wieder zurück in die Surselva.

Ein weiteres Merkmal von Curschellas Schaffen ist ihre Gabe, sich mit den besten Leuten zu vernetzen, sei es für die Texte oder auch für die Aufnahmen. Die Liste der Texterinnen und Musiker ist beeindruckend: in der Schweiz – unter vielen anderen – Heiri Känzig, Christy Doran, Max Lässer oder Co Streiff, in Wien das Vienna Art Orchestra mit Mathias Rüegg, in Paris Noël Akchoté und Steve Argüelles, in New York Marc Ribot, Robert Quine, J. T. Lewis oder Greg Cohen, alles renommierte Grössen ihres Fachs. Stilistisch pendeln die Stücke zwischen Jazz, Experimental, Worldmusic bis hin zum Chanson. Curschellas verliert sich in dieser unglaublichen Vielseitigkeit aber nicht in Beliebigkeit, sondern schafft es immer, ihren Songs eine ganz eigene und persönliche Note zu geben.

In den letzten 15 Jahren hat sich Corin vor allem mit dem rätoromanischen Volkslied befasst, was bei Publikum und Presse sehr gut angekommen ist. Darob ging etwas vergessen, dass sie auch eine grosse internationale Karriere gemacht und die Schweiz in die Welt getragen hat – und die Welt zurück in die Schweiz. Die wunderbare Box führt es deutlich vor Augen.Corin Curschellas: Collecziuns 1990–2010 + 2022 Her Songs, Tourbo Music TOURBO068

Quintett-Raritäten aus der Schweiz

Kaum bekannte Werke für Streichquartett mit Klavier oder Streichquintett von Gustave Doret, Fritz Bach und Frank Martin, entstanden um 1920.

Gustave Doret, im Buch «Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert, hg. von schweizerischen Schriftstellern unter Leitung von P. Seippel», 1899. Quelle: British Library/Wikimedia commons

Es ist immer erfreulich, auf CDs mit Kompositionen zu stossen, von deren Existenz man höchstens aus Werkverzeichnissen oder Lexika Kenntnis hatte. Eine solche Aufnahme ist Quintettes suisses mit zwei Weltpremieren von Gustave Doret und Fritz Bach für Klavier und Streichquartett sowie einem Werk für Streichquintett des jungen Frank Martin, die sich Liebhaber von opulenter spätromantischer Kammermusik mit Vergnügen anhören werden. Gespielt werden diese Stücke vom Melos-Ensemble Wien und dem italienischen, in der Westschweiz tätigen Pianisten Adalberto Maria Riva. Ein Cellist des Wiener Ensembles ist Christophe Pantillon, der einer bekannten Schweizer Musikerfamilie entstammt. Die Interpretationen aller drei Werke sind hervorragend, inspiriert, temperamentvoll und klangschön. Ein besonderes Lob gebührt dem Pianisten, dem in den zwei Klavierquintetten eine überaus prominente und anspruchsvolle Rolle zukommt.

Adalberto Maria Riva. Foto: zVg

Dorets Quintett ist 1925 auf Anregung des berühmten polnischen Pianisten, Komponisten und Politikers Ignacy Paderewski entstanden. Gustave Doret (1866–1943) ist zwar kein unbekannter Komponist, sein Ruhm beruht aber eher auf seinen Bühnenmusiken für das Théâtre du Jorat im waadtländischen Mézières, der Musik zu zwei Fêtes des Vignerons sowie seinem reichen Liedschaffen. In Aigle geboren, studierte Doret zunächst bei Joseph Joachim in Berlin, anschliessend in Paris bei Jules Massenet und Théodore Dubois. Als Dirigent hob er 1894 Debussys frühes Meisterwerk Prélude à l’après-midi d’un faune aus der Taufe. Seine eigene Musik ist aber eher von Fauré als vom Impressionismus beeinflusst.

Etwas früher komponiert, nämlich 1918, wurde das Poème von Fritz Bach (1881–1930), eigentlich Frédéric Henri Bach, der in Paris geboren wurde, seine Schulzeit und ein Theologiestudium in Lausanne absolvierte, ehe er in der französischen Hauptstadt bei Charles Widor und Vincent d’Indy Komposition und bei Alexandre Guilmant und Louis Vierne Orgel studierte. Zurück in der Schweiz unterrichtete er in mehreren Städten am Genfersee und komponierte hauptsächlich geistliche Musik. In gewisser Weise könnte man sogar sein fast 40-minütiges Klavierquintett dazu zählen: In fünf Sätzen (Jeunesse; Amour; Bonheur; Douleurs, Tristesses; Luttes) wird ein ganzes Menschenleben mit Höhen und Tiefen geschildert. Im letzten Satz tritt zuerst der Psalm 130 in Erscheinung (Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir), bevor der Choral Was Gott tut, das ist wohlgetan dem Leben einen versöhnlichen Ausklang beschert. Musikalisch wird all dies mit relativ einfachen, aber überzeugenden Mitteln umgesetzt, die stilistisch von der französischen Spätromantik beeinflusst sind.

Wie Jacques Tchamkerten in seinem kenntnisreichen Booklettext zu Recht bemerkt, ist Frank Martins Pavane couleur du temps (1920) von Ravels Ma Mère l’Oye und von der Begeisterung für das Frankreich von Louis XIV inspiriert. Der Titel bezieht sich auf Charles Perraults Märchen Peau d’âne, das wir als Allerleirauh kennen. Noch ist wenig oder nichts von Martins Reifestil zu erkennen, aber eine erste Talentprobe, die sehr gut zu den beiden Klavierquintetten passt, ist es allemal.

Quintettes suisses. Œuvres de Gustave Doret, Frank Martin, Fritz Bach. Melos Ensemble de Vienne; Adalberto Maria Riva, piano. Harmonia Helvetica, Cascavelle VEL 1677

Klavierkonzerte und exotische Vögel

Francesco Piemontesi und das Orchestre de la Suisse Romande spielen Schönberg, Messiaen und Ravel.

Das Orchestre de la Suisse Romande in der Victoira Hall, Genf. Foto: Niels Ackermann/OSR

Das Orchestre de la Suisse Romande präsentiert auf seiner jüngsten CD bei Pentatone eine gelungene Zusammenstellung von Werken der klassischen Moderne, wobei nicht nur die Auswahl, sondern auch die Reihenfolge der Einspielung überzeugt. Zuerst ist da Maurice Ravels berühmtes Klavierkonzert G-Dur von 1931, gefolgt von Olivier Messiaens Oiseaux exotiques von 1956. Den Abschluss der «Trilogie» macht Schönbergs Klavierkonzert op. 42 von 1942.

Unter der Leitung seines Chefdirigenten Jonathan Nott spielt das Orchester höchst präzise und mit grosser Wandlungsfähigkeit. Bei Schönbergs Klavierkonzert mit seinem versteckten autobiografischen Programm werden die vier Teile des formal einsätzigen Werks deutlich hörbar: Als Beispiel mag die expressive Gestik des zweiten Abschnitts genannt werden, die unvermittelt und anrührend in den düster-tragischen dritten Abschnitt mündet, einer Art Trauermarsch. An seiner Seite weiss das Orchester aber auch einen Pianisten der Extraklasse, Francesco Piemontesi, der in Anschlagstechnik und Interpretation Schönbergs Tonsprache bestens beherrscht.

Etwas weniger überzeugend sind die Oiseaux exotiques geraten. Da «zwitschert» das Orchester zuweilen etwas gar pompös, was schon zu Beginn mit den ersten beiden Hornrufen des indischen Maina angekündigt wird und im grossen Tutti des Hauptteils seinen Höhepunkt findet. Piemontesi sorgt allerdings für Auflockerung und Finesse.

Sind die Werke von Schönberg und Messiaen ganz auf Jonathan Notts Interpretationsweise zugeschnitten, so ergeben sich bei Ravels witzigem und abwechslungsreichem Klavierkonzert ein paar Fragezeichen. Dem ersten Satz mit seinen Jazzanklängen fehlt etwas der zündende Esprit und dem zweiten die französische Leichtigkeit. Das Presto ist dagegen höchst prägnant und virtuos gespielt von Piemontesi, ein idealer Wurf hinführend zu Messiaens exotischen Vögeln.

Schoenberg, Messiaen, Ravel. Francesco Piemontesi, Orchestre de la Suisse Romande, Jonathan Nott. Pentatone PTC 5186 949

Fröhliche und virtuose Ragtimes

Das Heft «Three Ragtimes» umfasst Stücke von Euday Bowman und George Botsford. Heinz Bethmann hat sie für Klarinette und Klavier arrangiert.

Ausschnitt aus einer frühen Ausgabe des «12th Street Rag» von J. W. Jenkins‘ Sons Music Co., Kansas City, Missouri (1915). Wikimedia commons

Der deutsche Musiker und Komponist Heinz Bethmann hat für diese Ausgabe aus dem Verlag Uetz drei Ragtimes aus den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts für Klarinette und Klavier arrangiert. Der berühmteste, 12th Street Rag, stammt von Euday Bowman (1886–1949), dem Nachkommen einer deutschen Immigrantenfamilie namens Baumann, welcher in Texas lebte. Sein Geld verdiente Bowman vor allem als Pianist in Bars und Nachtclubs. Der 12th Street Rag war seine mit Abstand erfolgreichste Komposition und wurde von vielen Bands und Musikern aufgegriffen, so unter anderen von Duke Ellington und Louis Armstrong.

Das Stück besteht im ersten Teil aus einem repetierten 3-Ton-Motiv mit rhythmischen Verschiebungen. Im zweiten Teil gilt es in der Solostimme viele Sprünge zu bewältigen, und der dritte Teil besteht wieder aus einem 3-Ton-Motiv, diesmal chromatisch geführt. Das Klavier spielt eine typische Stride-Piano-Begleitung, hier allerdings aufgeteilt in linke und rechte Hand, da die Melodie von der Klarinette übernommen wird.

Bei den anderen beiden Stücken, Black and White Rag sowie Texas Steer Rag, wird in der Klarinettenstimme ebenfalls Euday Bowman als Komponist genannt. Diese beiden Titel stammen aber aus der Feder von George Botsford (1874–1949), einem Zeitgenossen Bowmans, wie es in der Klavierstimme richtig angegeben ist.

Der Black and White Rag besteht in der Melodie fast durchgehend aus Akkordbrechungen unterschiedlicher Dreiklänge. Das setzt entweder schon eine sichere Beherrschung der Technik voraus oder bietet sonst eine gute Gelegenheit zum Training von Dreiklängen. Die Klavierbegleitung ist derweil geprägt von lustigen Durchgängen bei den Harmoniewechseln.

Texas Steer schliesslich kombiniert in der Melodie chromatische Leit- und Durchgangstöne mit Sprüngen und synkopierten Rhythmen, was beim Spielen auf der Klarinette auch eine gewisse Fingerfertigkeit und rhythmische Grundsicherheit erfordert. Die Stücke richten sich an Schülerinnen und Schüler, welche das Anfängerstadium hinter sich gelassen und Lust auf fröhliche und virtuose Musik haben.Euday Bowman: Three Ragtimes for Clarinet and Piano, arrangiert von Heinz Bethmann, BU 6244, € 15.00, Bruno Uetz Musikverlag, Halberstadt

 

Isaac Makhdoomi als Komponist und Interpret

Ein Blockflötenstück im barocken Stil und ein zeitgenössiches Solowerk aus seiner Feder sind kürzlich erschienen. Zudem ist er auf der CD «Vivaldi Concerti per flauto e Arie» zu hören.

Isaac Makhdoomi. Foto: zVg

Aus einer indisch-schweizerischen Familie stammend trägt der Blockflötist Isaac Makhdoomi nicht nur zwei Kulturen im Herzen, sondern ist auch als Musiker und Komponist in den unterschiedlichsten Stilen heimisch. Seine Sonata per Flauto dolce entstand aus dem Bedürfnis, die Solowerke des Barocks um ein Stück zu erweitern und dabei die Umsetzbarkeit mit Blockflöte, also deren instrumentenspezifische Vorzüge und Grenzen, zu beachten. Entstanden ist ein viersätziges Werk, das melodisch an Telemann, auch an Corelli und harmonisch fallweise an Bach erinnert, in dem aber auch kleine französische und englische Verzierungen anzutreffen sind – eine reizvolle multikulturelle Barocksonate oder -suite sozusagen.Makhdoomis Catching Moments hingegen ist eine zeitgenössische, traditionell notierte Komposition, die sich in drei Abschnitte gliedert und mit «mystisch, frei» überschrieben ist. Beginn und Ende haben einen improvisatorischen Charakter und erinnern an indische Flötenmusik. Immer wieder verweilt die Musik auf längeren Tönen, um sich in kurzen schnellen Läufen oder rhythmischen Sequenzen zu einer Pause oder dem nächsten langen Ton hinzubewegen. Der rhythmische, schnellere Mittelteil ist rhetorisch gedacht, beginnt mit geräuschvollen und genau notierten Silben, die in die Flöte gesprochen werden sollen und entlädt sich danach in Multiphonics und hörbarem Fingerklappern.Auch als Interpret lässt sich Isaac Makhdoomi nicht einfach in eine Schublade stecken. Dem Fernsehpublikum ist er seit seinem Auftritt bei den «Grössten Schweizer Talenten» als Teil der Band Sangit Saathi bekannt, bei dem er der Blockflöte funkige Klänge entlockte und die Zuhörer begeisterte. Seine neu erschienene CD mit den Concerti von Antonio Vivaldi zeigt wiederum eine ganz andere Seite des Musikers. Das klug konzipierte und aussergewöhnlich schön abgemischte Album, in dem Makhdoomi den bekannten Concerti zwei Arien-Juwelen gegenüberstellt, überzeugt nicht nur durch kraftvolle Virtuosität, klar konturierte Dynamik, eine spannende Instrumentation im Continuo oder improvisatorische Momente, sondern vor allem durch eine grosse Individualität und Klangsehnsucht in den lyrischen und reich verzierten langsamen Sätzen.

Isaac Makhdoomi: Sonata per Flauto dolce, für Altblockflöte solo, N 2462, € 11.90, Heinrichshofen & Noetzel, Wilhelmshaven

Isaac Makhdoomi: Catching Moments, für Altblockflöte, EFT 3131, € 9.00, Edition Tre Fontane, Münster  

Vivaldi Concerti per flauto e Arie. Isaac Makhdoomi, recorder; Ensemble Piccante; Arnaud Gluck, countertenor. Prospero PROSP0064

Strauss-Lieder nach Opus-Zahlen

In neuen, schön-schlichten Heften finden sich je nach Werkgruppe zwei, vier, sechs Lieder von Richard Strauss.

Strauss-Karikatur von Major, 1911. Wikimedia commons

Richard Strauss’ Liederalben sind in vier Bänden bei der Universal Edition erschienen. Jeweils für hohe, mittlere und tiefe Stimme. Soweit lässt das keine Wünsche offen. Dennoch hat man sich im Verlag entschlossen, die Lieder zusätzlich in kleinen, dünnen und benutzerfreundlichen Heften, die jeweils die Werke einer Opuszahl zusammenfassen, herauszugeben (op. 10, 19, 21, 26, 27, 29 und 32). Sie folgen dem Text der Kritischen Werkausgabe. Ahnt man da einen Ersatz für Tablet & Co?

Die Hefte sind leicht, handlich, einfach zu transportieren, Zusammengehöriges steht zusammen. Einziger Nachteil: Im Regal sieht alles gleich aus. Die Titel stehen nicht auf dem kartonierten, weissen, schlichten Einband, sondern nur die Opuszahl (deshalb sieht es ja auch so schön aus). Man muss also wissen: Aha, Opus 32, das war doch O süsser Mai, oder Opus 29, stimmt: Traum durch die Dämmerung. Ansonsten eine gute, ästhetische, ansprechende Sache und damit auch durchaus bühnentauglich.

Die Hefte enthalten englische Übersetzungen und sind zu kleinem Preis erhältlich.

Richard Strauss: Vier Lieder für mittlere Stimme mit Klavierbegleitung op. 27, UE 37987, € 19.95, Universal Edition, Wien (Beispiel)

 

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