Vom Bündnerland in die Welt und zurück

Corin Curschellas feiert ihr 50-jähriges Bühnenjubiläum mit einer speziellen Box: vier CDs und zwei Bücher.

Corin Curschellas. Foto: Daniel Infanger

Corin Curschellas ist trotz ihrer langen und erfolgreichen internationalen Karriere in der Schweiz erstaunlich unbekannt geblieben; für den einheimischen Massengeschmack war sie wohl immer zu eigenwillig und sperrig. Zudem hat sie selber die öffentliche Aufmerksamkeit nie gesucht, die Musik war ihr stets wichtiger als der Erfolg. Die Grande Dame der Schweizer Musikszene feiert nun ihre 50-jährige Bühnentätigkeit mit einer Box, die nicht nur für alte Fans, sondern auch für ein neues Publikum interessant ist. Compact Discs sind zwar inzwischen bereits ein historisches Format, das schön gestaltete Kartonetui mit vier CDs und zwei Büchern fasziniert aber als Objekt über die Musik hinaus. So machen CDs durchaus noch Sinn, weil die Box viel lesenswerte Information beinhaltet: alle Songtexte, die rätoromanischen sogar mit Übersetzung, beteiligte Interpretinnen und Texter, eine vollständige Diskografie und kurze Texte von Corin, Weggefährtinnen und Weggefährten, die stimmige Impressionen zur Person und zum Werk liefern. Die Bücher sind grafisch überaus ansprechend gestaltet und ergänzt mit reichem Fotomaterial. Dieses allein lohnt schon die Anschaffung.

Die sechzig Stücke auf den vier CDs stammen aus Curschellas Soloalben aus den Jahren 1990 bis 2010, ergänzt durch neue Aufnahmen von 2022. Erfreulicherweise wurden nicht einfach alte Alben neu aufgelegt, sondern die Songs sehr sorgfältig ausgewählt und in neuer Reihenfolge zusammengestellt. So erscheinen sie in einem anderen Kontext und man hört sie, auch wenn man sie schon kennt, plötzlich wieder ganz neu. Dabei kommen zwei Dinge deutlich zum Vorschein: Einerseits die sprachliche und musikalische Vielseitigkeit der Schöpferin. Die Texte sind in Rumantsch, Mundart, Deutsch, Englisch und Französisch verfasst und Corin beherrscht das Singen in allen Sprachen. Auf der anderen Seite zeichnet sich ihr Lebensweg sehr schön ab in den Aufnahmeorten: vom Bündnerland nach Zürich, Berlin, Wien, Paris, London bis nach New York und wieder zurück in die Surselva.

Ein weiteres Merkmal von Curschellas Schaffen ist ihre Gabe, sich mit den besten Leuten zu vernetzen, sei es für die Texte oder auch für die Aufnahmen. Die Liste der Texterinnen und Musiker ist beeindruckend: in der Schweiz – unter vielen anderen – Heiri Känzig, Christy Doran, Max Lässer oder Co Streiff, in Wien das Vienna Art Orchestra mit Mathias Rüegg, in Paris Noël Akchoté und Steve Argüelles, in New York Marc Ribot, Robert Quine, J. T. Lewis oder Greg Cohen, alles renommierte Grössen ihres Fachs. Stilistisch pendeln die Stücke zwischen Jazz, Experimental, Worldmusic bis hin zum Chanson. Curschellas verliert sich in dieser unglaublichen Vielseitigkeit aber nicht in Beliebigkeit, sondern schafft es immer, ihren Songs eine ganz eigene und persönliche Note zu geben.

In den letzten 15 Jahren hat sich Corin vor allem mit dem rätoromanischen Volkslied befasst, was bei Publikum und Presse sehr gut angekommen ist. Darob ging etwas vergessen, dass sie auch eine grosse internationale Karriere gemacht und die Schweiz in die Welt getragen hat – und die Welt zurück in die Schweiz. Die wunderbare Box führt es deutlich vor Augen.Corin Curschellas: Collecziuns 1990–2010 + 2022 Her Songs, Tourbo Music TOURBO068

Quintett-Raritäten aus der Schweiz

Kaum bekannte Werke für Streichquartett mit Klavier oder Streichquintett von Gustave Doret, Fritz Bach und Frank Martin, entstanden um 1920.

Gustave Doret, im Buch «Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert, hg. von schweizerischen Schriftstellern unter Leitung von P. Seippel», 1899. Quelle: British Library/Wikimedia commons

Es ist immer erfreulich, auf CDs mit Kompositionen zu stossen, von deren Existenz man höchstens aus Werkverzeichnissen oder Lexika Kenntnis hatte. Eine solche Aufnahme ist Quintettes suisses mit zwei Weltpremieren von Gustave Doret und Fritz Bach für Klavier und Streichquartett sowie einem Werk für Streichquintett des jungen Frank Martin, die sich Liebhaber von opulenter spätromantischer Kammermusik mit Vergnügen anhören werden. Gespielt werden diese Stücke vom Melos-Ensemble Wien und dem italienischen, in der Westschweiz tätigen Pianisten Adalberto Maria Riva. Ein Cellist des Wiener Ensembles ist Christophe Pantillon, der einer bekannten Schweizer Musikerfamilie entstammt. Die Interpretationen aller drei Werke sind hervorragend, inspiriert, temperamentvoll und klangschön. Ein besonderes Lob gebührt dem Pianisten, dem in den zwei Klavierquintetten eine überaus prominente und anspruchsvolle Rolle zukommt.

Adalberto Maria Riva. Foto: zVg

Dorets Quintett ist 1925 auf Anregung des berühmten polnischen Pianisten, Komponisten und Politikers Ignacy Paderewski entstanden. Gustave Doret (1866–1943) ist zwar kein unbekannter Komponist, sein Ruhm beruht aber eher auf seinen Bühnenmusiken für das Théâtre du Jorat im waadtländischen Mézières, der Musik zu zwei Fêtes des Vignerons sowie seinem reichen Liedschaffen. In Aigle geboren, studierte Doret zunächst bei Joseph Joachim in Berlin, anschliessend in Paris bei Jules Massenet und Théodore Dubois. Als Dirigent hob er 1894 Debussys frühes Meisterwerk Prélude à l’après-midi d’un faune aus der Taufe. Seine eigene Musik ist aber eher von Fauré als vom Impressionismus beeinflusst.

Etwas früher komponiert, nämlich 1918, wurde das Poème von Fritz Bach (1881–1930), eigentlich Frédéric Henri Bach, der in Paris geboren wurde, seine Schulzeit und ein Theologiestudium in Lausanne absolvierte, ehe er in der französischen Hauptstadt bei Charles Widor und Vincent d’Indy Komposition und bei Alexandre Guilmant und Louis Vierne Orgel studierte. Zurück in der Schweiz unterrichtete er in mehreren Städten am Genfersee und komponierte hauptsächlich geistliche Musik. In gewisser Weise könnte man sogar sein fast 40-minütiges Klavierquintett dazu zählen: In fünf Sätzen (Jeunesse; Amour; Bonheur; Douleurs, Tristesses; Luttes) wird ein ganzes Menschenleben mit Höhen und Tiefen geschildert. Im letzten Satz tritt zuerst der Psalm 130 in Erscheinung (Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir), bevor der Choral Was Gott tut, das ist wohlgetan dem Leben einen versöhnlichen Ausklang beschert. Musikalisch wird all dies mit relativ einfachen, aber überzeugenden Mitteln umgesetzt, die stilistisch von der französischen Spätromantik beeinflusst sind.

Wie Jacques Tchamkerten in seinem kenntnisreichen Booklettext zu Recht bemerkt, ist Frank Martins Pavane couleur du temps (1920) von Ravels Ma Mère l’Oye und von der Begeisterung für das Frankreich von Louis XIV inspiriert. Der Titel bezieht sich auf Charles Perraults Märchen Peau d’âne, das wir als Allerleirauh kennen. Noch ist wenig oder nichts von Martins Reifestil zu erkennen, aber eine erste Talentprobe, die sehr gut zu den beiden Klavierquintetten passt, ist es allemal.

Quintettes suisses. Œuvres de Gustave Doret, Frank Martin, Fritz Bach. Melos Ensemble de Vienne; Adalberto Maria Riva, piano. Harmonia Helvetica, Cascavelle VEL 1677

Klavierkonzerte und exotische Vögel

Francesco Piemontesi und das Orchestre de la Suisse Romande spielen Schönberg, Messiaen und Ravel.

Das Orchestre de la Suisse Romande in der Victoira Hall, Genf. Foto: Niels Ackermann/OSR

Das Orchestre de la Suisse Romande präsentiert auf seiner jüngsten CD bei Pentatone eine gelungene Zusammenstellung von Werken der klassischen Moderne, wobei nicht nur die Auswahl, sondern auch die Reihenfolge der Einspielung überzeugt. Zuerst ist da Maurice Ravels berühmtes Klavierkonzert G-Dur von 1931, gefolgt von Olivier Messiaens Oiseaux exotiques von 1956. Den Abschluss der «Trilogie» macht Schönbergs Klavierkonzert op. 42 von 1942.

Unter der Leitung seines Chefdirigenten Jonathan Nott spielt das Orchester höchst präzise und mit grosser Wandlungsfähigkeit. Bei Schönbergs Klavierkonzert mit seinem versteckten autobiografischen Programm werden die vier Teile des formal einsätzigen Werks deutlich hörbar: Als Beispiel mag die expressive Gestik des zweiten Abschnitts genannt werden, die unvermittelt und anrührend in den düster-tragischen dritten Abschnitt mündet, einer Art Trauermarsch. An seiner Seite weiss das Orchester aber auch einen Pianisten der Extraklasse, Francesco Piemontesi, der in Anschlagstechnik und Interpretation Schönbergs Tonsprache bestens beherrscht.

Etwas weniger überzeugend sind die Oiseaux exotiques geraten. Da «zwitschert» das Orchester zuweilen etwas gar pompös, was schon zu Beginn mit den ersten beiden Hornrufen des indischen Maina angekündigt wird und im grossen Tutti des Hauptteils seinen Höhepunkt findet. Piemontesi sorgt allerdings für Auflockerung und Finesse.

Sind die Werke von Schönberg und Messiaen ganz auf Jonathan Notts Interpretationsweise zugeschnitten, so ergeben sich bei Ravels witzigem und abwechslungsreichem Klavierkonzert ein paar Fragezeichen. Dem ersten Satz mit seinen Jazzanklängen fehlt etwas der zündende Esprit und dem zweiten die französische Leichtigkeit. Das Presto ist dagegen höchst prägnant und virtuos gespielt von Piemontesi, ein idealer Wurf hinführend zu Messiaens exotischen Vögeln.

Schoenberg, Messiaen, Ravel. Francesco Piemontesi, Orchestre de la Suisse Romande, Jonathan Nott. Pentatone PTC 5186 949

Fröhliche und virtuose Ragtimes

Das Heft «Three Ragtimes» umfasst Stücke von Euday Bowman und George Botsford. Heinz Bethmann hat sie für Klarinette und Klavier arrangiert.

Ausschnitt aus einer frühen Ausgabe des «12th Street Rag» von J. W. Jenkins‘ Sons Music Co., Kansas City, Missouri (1915). Wikimedia commons

Der deutsche Musiker und Komponist Heinz Bethmann hat für diese Ausgabe aus dem Verlag Uetz drei Ragtimes aus den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts für Klarinette und Klavier arrangiert. Der berühmteste, 12th Street Rag, stammt von Euday Bowman (1886–1949), dem Nachkommen einer deutschen Immigrantenfamilie namens Baumann, welcher in Texas lebte. Sein Geld verdiente Bowman vor allem als Pianist in Bars und Nachtclubs. Der 12th Street Rag war seine mit Abstand erfolgreichste Komposition und wurde von vielen Bands und Musikern aufgegriffen, so unter anderen von Duke Ellington und Louis Armstrong.

Das Stück besteht im ersten Teil aus einem repetierten 3-Ton-Motiv mit rhythmischen Verschiebungen. Im zweiten Teil gilt es in der Solostimme viele Sprünge zu bewältigen, und der dritte Teil besteht wieder aus einem 3-Ton-Motiv, diesmal chromatisch geführt. Das Klavier spielt eine typische Stride-Piano-Begleitung, hier allerdings aufgeteilt in linke und rechte Hand, da die Melodie von der Klarinette übernommen wird.

Bei den anderen beiden Stücken, Black and White Rag sowie Texas Steer Rag, wird in der Klarinettenstimme ebenfalls Euday Bowman als Komponist genannt. Diese beiden Titel stammen aber aus der Feder von George Botsford (1874–1949), einem Zeitgenossen Bowmans, wie es in der Klavierstimme richtig angegeben ist.

Der Black and White Rag besteht in der Melodie fast durchgehend aus Akkordbrechungen unterschiedlicher Dreiklänge. Das setzt entweder schon eine sichere Beherrschung der Technik voraus oder bietet sonst eine gute Gelegenheit zum Training von Dreiklängen. Die Klavierbegleitung ist derweil geprägt von lustigen Durchgängen bei den Harmoniewechseln.

Texas Steer schliesslich kombiniert in der Melodie chromatische Leit- und Durchgangstöne mit Sprüngen und synkopierten Rhythmen, was beim Spielen auf der Klarinette auch eine gewisse Fingerfertigkeit und rhythmische Grundsicherheit erfordert. Die Stücke richten sich an Schülerinnen und Schüler, welche das Anfängerstadium hinter sich gelassen und Lust auf fröhliche und virtuose Musik haben.Euday Bowman: Three Ragtimes for Clarinet and Piano, arrangiert von Heinz Bethmann, BU 6244, € 15.00, Bruno Uetz Musikverlag, Halberstadt

 

Isaac Makhdoomi als Komponist und Interpret

Ein Blockflötenstück im barocken Stil und ein zeitgenössiches Solowerk aus seiner Feder sind kürzlich erschienen. Zudem ist er auf der CD «Vivaldi Concerti per flauto e Arie» zu hören.

Isaac Makhdoomi. Foto: zVg

Aus einer indisch-schweizerischen Familie stammend trägt der Blockflötist Isaac Makhdoomi nicht nur zwei Kulturen im Herzen, sondern ist auch als Musiker und Komponist in den unterschiedlichsten Stilen heimisch. Seine Sonata per Flauto dolce entstand aus dem Bedürfnis, die Solowerke des Barocks um ein Stück zu erweitern und dabei die Umsetzbarkeit mit Blockflöte, also deren instrumentenspezifische Vorzüge und Grenzen, zu beachten. Entstanden ist ein viersätziges Werk, das melodisch an Telemann, auch an Corelli und harmonisch fallweise an Bach erinnert, in dem aber auch kleine französische und englische Verzierungen anzutreffen sind – eine reizvolle multikulturelle Barocksonate oder -suite sozusagen.Makhdoomis Catching Moments hingegen ist eine zeitgenössische, traditionell notierte Komposition, die sich in drei Abschnitte gliedert und mit «mystisch, frei» überschrieben ist. Beginn und Ende haben einen improvisatorischen Charakter und erinnern an indische Flötenmusik. Immer wieder verweilt die Musik auf längeren Tönen, um sich in kurzen schnellen Läufen oder rhythmischen Sequenzen zu einer Pause oder dem nächsten langen Ton hinzubewegen. Der rhythmische, schnellere Mittelteil ist rhetorisch gedacht, beginnt mit geräuschvollen und genau notierten Silben, die in die Flöte gesprochen werden sollen und entlädt sich danach in Multiphonics und hörbarem Fingerklappern.Auch als Interpret lässt sich Isaac Makhdoomi nicht einfach in eine Schublade stecken. Dem Fernsehpublikum ist er seit seinem Auftritt bei den «Grössten Schweizer Talenten» als Teil der Band Sangit Saathi bekannt, bei dem er der Blockflöte funkige Klänge entlockte und die Zuhörer begeisterte. Seine neu erschienene CD mit den Concerti von Antonio Vivaldi zeigt wiederum eine ganz andere Seite des Musikers. Das klug konzipierte und aussergewöhnlich schön abgemischte Album, in dem Makhdoomi den bekannten Concerti zwei Arien-Juwelen gegenüberstellt, überzeugt nicht nur durch kraftvolle Virtuosität, klar konturierte Dynamik, eine spannende Instrumentation im Continuo oder improvisatorische Momente, sondern vor allem durch eine grosse Individualität und Klangsehnsucht in den lyrischen und reich verzierten langsamen Sätzen.

Isaac Makhdoomi: Sonata per Flauto dolce, für Altblockflöte solo, N 2462, € 11.90, Heinrichshofen & Noetzel, Wilhelmshaven

Isaac Makhdoomi: Catching Moments, für Altblockflöte, EFT 3131, € 9.00, Edition Tre Fontane, Münster  

Vivaldi Concerti per flauto e Arie. Isaac Makhdoomi, recorder; Ensemble Piccante; Arnaud Gluck, countertenor. Prospero PROSP0064

Strauss-Lieder nach Opus-Zahlen

In neuen, schön-schlichten Heften finden sich je nach Werkgruppe zwei, vier, sechs Lieder von Richard Strauss.

Strauss-Karikatur von Major, 1911. Wikimedia commons

Richard Strauss’ Liederalben sind in vier Bänden bei der Universal Edition erschienen. Jeweils für hohe, mittlere und tiefe Stimme. Soweit lässt das keine Wünsche offen. Dennoch hat man sich im Verlag entschlossen, die Lieder zusätzlich in kleinen, dünnen und benutzerfreundlichen Heften, die jeweils die Werke einer Opuszahl zusammenfassen, herauszugeben (op. 10, 19, 21, 26, 27, 29 und 32). Sie folgen dem Text der Kritischen Werkausgabe. Ahnt man da einen Ersatz für Tablet & Co?

Die Hefte sind leicht, handlich, einfach zu transportieren, Zusammengehöriges steht zusammen. Einziger Nachteil: Im Regal sieht alles gleich aus. Die Titel stehen nicht auf dem kartonierten, weissen, schlichten Einband, sondern nur die Opuszahl (deshalb sieht es ja auch so schön aus). Man muss also wissen: Aha, Opus 32, das war doch O süsser Mai, oder Opus 29, stimmt: Traum durch die Dämmerung. Ansonsten eine gute, ästhetische, ansprechende Sache und damit auch durchaus bühnentauglich.

Die Hefte enthalten englische Übersetzungen und sind zu kleinem Preis erhältlich.

Richard Strauss: Vier Lieder für mittlere Stimme mit Klavierbegleitung op. 27, UE 37987, € 19.95, Universal Edition, Wien (Beispiel)

 

Swingende Originalkomposition

Fünf bis sieben Stimmen und Varianten für mehr oder weniger geübte Spielerinnen und Spieler hat Raphael Benjamin Meier in seinem Stück für Blockflötenensemble vorgesehen.

Raphael Benjamin Meyer. Foto: zVg

Raphael Benjamin Meyer ist in erster Linie als Filmkomponist bekannt (z. B. Der Bestatter), er ist aber auch Blockflötist mit Studium an der Schola Cantorum Basiliensis und Leiter dreier Blockflötenorchester. The Swing Thing ist eine Auftragskomposition, in der er seine Berufe, Erfahrungen und Leidenschaften in kongenialer Art und Weise verknüpfen kann.

The Swing Thing funktioniert sowohl in Einzel- wie in chorischer Besetzung. Die zweiteilige Komposition ist im Prinzip fünfstimmig (SATTB) mit zusätzlichen optionalen C-Bass- und Subbass-Stimmen. Diese Zusatzstimmen verdoppeln aber nicht einfach die tiefsten Stimmen des Satzes, sondern bilden fallweise interessante Gegenstimmen, die der swingenden, grösstenteils ternär gespielten Komposition einen zusätzlichen Groove verleihen. Auch bei der formalen Anlage hatte der Komponist wohl die unterschiedlichen Niveaus und Realitäten von Blockflötenensembles im Hinterkopf: Nach einer kurzen Introduktion folgt ein längerer Swing-Teil in moderatem Tempo, der in eine metrisch kompliziertere Stretta mit deutlich höherem Schwierigkeitsgrad mündet. Diese ist erneut optional; die Komposition darf auch bei dem in Klammern notierten Fine am Ende des ersten Teils beendet werden.

The Swing Thing bereichert das Repertoire um eine genuine Komposition, die von den Qualitäten des Instruments ausgeht und nicht eine bereits vorhandene Komposition für Blockflöten zurechtbiegen muss. Allerdings beweist Raphael Benjamin Meyer in Bearbeitungen (wie beispielsweise von Mozarts berühmter Motette Ave verum corpus, Heinrichshofen & Noetzel N2687), dass er auch dieses Handwerk sehr gut beherrscht und sowohl die Vorzüge des Instruments wie auch die Struktur und Klangschönheit der Komposition angemessen berücksichtigt.

Raphael Benjamin Meyer: The Swing Thing, für 5 bis 7 Blockflöten; Partitur: N2890, € 10.00; Stimmen einzeln erhältlich; Heinrichshofen & Noetzel, Wilhelmshaven

Erlesene Kammermusik aus Basel

Elisa Urrestarazu, Saxofon, und Cornelia Lenzin, Klavier, spielen Werke von Jost Meier, Balz Trümpy, Jacques Wildberger und Marcelo Nisinman.

Elisa Urrestarazu (li) und Cornelia Lenzin. Foto: zVg

Das Duo Elisa Urrestarazu (Saxofon) und Cornelia Lenzin (Klavier) brachte das Programm der vorliegenden Aufnahme im Herbst 2021 in der Konzertreihe «Basel komponiert» im Museum Klingental zur Aufführung. Mit dem kürzlich verstorbenen Komponisten Jost Meier wie auch mit Balz Trümpy und Marcelo Nisinman verbindet Lenzin eine langjährige Zusammenarbeit. Zu Meiers 80. Geburtstag organisierte sie 2019 ein Konzert mit Kammermusik des Jubilars. Daraufhin schrieb Meier für Lenzin und Urrestarazu die Sonata (2020) für Altsaxofon und Klavier, ein Stück, das sich zu hören lohnt. Es eröffnet die vorliegende CD. Es folgen Meiers kurze, dichte 4 Images für Piano solo (2009) als Ersteinspielungen. Balz Trümpy schrieb für Elisa Urrestarazu seine Introduktion und Aria, ursprünglich für Klarinette (2002–03), für Altsaxofon um. Die Interpretin bringt ihre Klasse voll zur Geltung. Träumerisch schliesst sich Trümpys Lied für Sopransaxophon und Klavier (2020) an. Auch in Jacques Wildbergers anforderungsreichen 4 Pezzi per Pianoforte (1950) und den Prismes für Altsaxophon solo (1975) präsentieren sich die Musikerinnen souverän. Als Kontrapunkt liess sich das Duo von Marcelo Nisinman Samuel der Weise für Sopransaxofon und Klavier schreiben – ein lustbetontes Hörerlebnis.

Basel komponiert. Musik für Saxophon und Klavier 1951–2021. Jost Meier, Balz Trümpy, Jacques Wildberger, Marcelo Nisinman. Elisa Urrestarazu, saxophone; Cornelia Lenzin, piano. Pianoversal PV115

«dass ich auch leicht zu schreiben vermag»

Stefan Kägi und Severin Kolb haben Joachim Raffs «Six Morceaux» für Geige und Klavier mit grosser Sorgfalt neu herausgegeben.

Deckblatt der Erstausgabe im Verlag Fr. Kistner, Leipzig. Quelle: IMSPL

Schon zu Raffs Lebzeiten und bis in die Gegenwart war die Nummer 3 der Six Morceaux, Cavatina, ein beliebtes Encorestück. Es hat sich gelohnt, auch die fünf weiteren Kompositionen auf Grund der Erstausgabe von 1862 als Urtext bekannt zu machen, dies mit Hilfe des Joachim-Raff-Archivs in Lachen, das von Severin Kolb geleitet wird. Raff lernte als Assistent Franz Liszts viele berühmte Musiker kennen, denen er seine anspruchsvollen Kammermusikwerke widmete. Das Manuskript der Six Morceaux sandte er 1861 an den Verleger mit den Worten, «(…) dass man um so eher nach diesen Stücken greifen werde, als ich daran beweise, dass ich auch leicht zu schreiben vermag (…)»

Die sechs «Salonstücke» sind musikalisch aussergewöhnlich gehaltvoll mit harmonischen und rhythmischen Überraschungen: ein lieblicher «Kinder»-Marsch, eine poetisch weiche Pastorale, die bewährte Cavatina, ein beschwingtes Scherzino im 2/4-Takt, eine emotionale Canzona und ein Presto-Tarantella-Rondo mit italienischer Verve. Sie gesellen sich in die Nähe der Romanzen von Robert und Clara Schumann. Die spärlichen Fingersätze – teilweise von Raff, auf die damalige Spielpraxis hinweisend – sind ergänzungsbedürftig. Ein ausführliches Vorwort schildert die Entstehungsgeschichte und die vielen Bearbeitungen und Aufführungen durch berühmte Geiger. Der Kritische Bericht beweist die minutiöse Sorgfalt dieser Ausgabe und gibt den Interpretierenden hilfreiche Hinweise.

Joachim Raff: Six Morceaux für Violine und Klavier op. 85, hg. von Stefan Kägi und Severin Kolb, EB 9407, € 28.50, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

Melodien des Lebens

Ingrid Lukas legt nach langer Pause ein Album vor, das ihren persönlichen Weg reflektiert und geheimnisvoll schimmernde Musik bietet.

Ingrid Lukas. Foto: zVg

Der Titel des ersten Albums seit acht Jahren, das die schweizerisch-estnische Sängerin, Songschreiberin und Pianistin Ingrid Lukas eingespielt hat, ist Programm. Elumeloodia ist Estnisch und heisst so viel wie «Lebensmelodie». Die lange Wartezeit ist – es wird angesichts des Titels nicht überraschen – mit den Veränderungen verbunden, welche die Künstlerin in den vergangenen Jahren teils unfreiwillig, teils freiwillig erlebt hat. Die Schaffenspause begann damit, dass der langjährige musikalische Partner Patrik Zosso schwer erkrankte – er ist unterdessen vollständig genesen und gehört mit dem Keyboarder Ephrem Lüchinger und dem Bassisten Manu Rindlisbacher zum Kernpersonal von Elumeloodia. Am Anfang der Zwangspause arbeitete Lukas in einer Schule für schulisch benachteiligte Jugendliche und beobachtete dabei, welch positive Wirkung eine musikalische Betätigung auslösen kann. Die Einsicht regte das Bedürfnis an, sich intensiver mit Musiktherapie zu beschäftigen. So absolvierte sie in Berlin ein Masters-Studium in diesem Fach und ist heute in der Aarauer Rehaklinik Barmelweid beschäftigt. Diese Arbeit wiederum zeigte ihr eine neue Perspektive zu ihren eigenen Bedürfnissen auf. «Früher habe ich einfach Musik gemacht, weil es mir in die Wiege gelegt worden war», sagt sie. «Erst in diesen acht Jahren habe ich herausgefunden, dass ich das machen muss. Warum es meine Lebensmelodie ist. Dass sonst ein Teil von mir nicht lebt.»

Ungefähr die Hälfte der Elumeloodia-Lieder haben estnische Texte, ein paar andere sind englisch, eines trägt sie in einer improvisierten Lautsprache vor. Die Wahl der Sprache ist im gleichen Sinn spontan (sie schliesst schweizerdeutsche Texte in Zukunft nicht aus), wie sich Lukas heute bemüht, ihre Musik möglichst un-kopflastig anzugehen. Dank der souveränen gesanglichen und kompositorischen Abgeklärtheit, zu der sie während ihrer In-sich-Gekehrtheit durchgefunden hat, gönnt sie sich dabei ganz neue stilistische und technische Freiheiten. Die Lieder wurden im Studio mit den oben genannten Musikern zum Teil improvisationsmässig er-spielt und danach mit allerhand digitalen Tricks bearbeitet. So ist eine geheimnisvoll schimmernde Musik entstanden, wo analog aufgenommene, elektronisch bearbeitete Klänge und Gesang in meditativer Intensität nahtlos ineinandergreifen. Die Stimmungen reichen vom perkussiv ritualistischen Rainspell über die ambiente Improvisation von Beginning bis hin zum herrlichen, nordisch-gospeligen Titelstück. Ein ausserordentlich packendes Album, das in jeder Hinsicht resolut seine eigenen stilistischen Wege geht.

Ingrid Lukas: Elumeloodia. Ronin Rhythm Records RON 032

Interdisziplinäre musiktherapeutische Ansätze

Referate und Workshops brachten den Teilnehmenden einer Tagung in Basel fachübergreifende Methoden in der Kunst- und Musiktherapie näher.

Mireille Lesslauer an der Fachtagung Musiktherapie vom 21. April 2023. Foto: Wolfgang Werder

Die Integration in den Klinikalltag hat wesentlich mitgeholfen, die Musiktherapie vom eher belächelten Wellness-Angebot zur medizinisch anerkannten Therapie zu entwickeln. Kaum mehr wegzudenken ist sie in Neonatologie, Palliativmedizin, Onkologie, Neurorehabilitation und weiteren Abteilungen. In der Schweiz hat in dieser Hinsicht der Instrumentenbauer und Musiktherapeut Joachim Marz an der Rehaklinik Bellikon längere Zeit Pionierarbeit geleistet, gemeinsam mit der Fachkollegin Susanne Bossert. Seit letztem Jahr führt er die in Bellikon zur Tradition gewordenen, stark praxisorientierten Fachtagungen an der Rehab Basel weiter, nun zusammen mit der dort tätigen Musiktherapeutin Mireille Lesslauer. Thema heuer: «Die Bedeutung und die Wirkungen von interdisziplinären Methoden der Kunst- und Musiktherapie», und damit die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Musiktherapie und Kunsttherapie der Neurorehabilitation.

Im Alltag einer Rehaklinik kann die Musiktherapie auf zwei Ebenen ihre Stärken ausspielen. Zum einen kann sie psychologische Prozesse begleiten oder mitgestalten, die unabdingbar sind, wenn Betroffene nach Unfällen oder gesundheitlichen Schicksalsschlägen wieder ins Leben zurückfinden müssen. Zum andern kann sie Retrainings von Körperfunktionen in ganz praktischer Art unterstützen, etwa wenn es darum geht, nach einem Schlaganfall Körpersymmetrien wiederherzustellen.

Zeitgeist und körperlicher Erfahrung

Dass die Musikpsychologie sich dabei den gegenwärtigen, auch ideologisch geprägten Auseinandersetzungen in der Emotionspsychologie nicht ganz entziehen kann, zeigten an der Basler Tagung Diskussionen darüber, wie weit Emotionen biologisch vorgeprägt seien. Analog der Ablehnung biologisch festgelegter Geschlechtsidentitäten in der Genderforschung verfechten jüngere Forscherinnen Vorstellungen einer ausschliesslich kulturell geformten Emotionalität. Im Vortrag der Hamburger Kunsttherapeutin Judith Revers wurde dabei der Wille deutlich, die Komplexität interkultureller Kommunikationsprozesse zu respektieren, zum Beispiel in der Musiktherapie mit Flüchtlingen. Allerdings droht dabei ein Rückfall in überwunden geglaubte Vorstellungen vom grundsätzlichen exotischen Anderssein fremder Kulturen. Da treffen dann radikal linke Konzeptionen auf nationalistische Vorstellungen.

Im einem der Workshops wurde das Liegemonochord ausprobiert. Foto: Joachim Marz

Die Tagung in Basel zeigte allerdings auch, dass sich die Musiktherapie auf einem anderen Gebiet in eine Richtung bewegt, die glücklicherweise völlig konträr zum Zeitgeist scheint: Während sich die aktuelle Musikproduktion mit digitaler Produktion und dem Aufkommen von Instrumenten der künstlichen Intelligenz immer weiter entkörperlicht, so offeriert die Therapieform genau das Gegenteil: spezielle Instrumente, die Klang und Musik leibhaftig erfahrbar machen. Spür- und hörbar war das in Basel in einem Workshop mit Monochorden, auf die man sich legen kann oder die auf den Köper gelegt werden können. Schwingungen werden dabei nicht bloss gehört, sondern über die Körperresonanz direkt wahrgenommen.

Hören als Brückenfunktion

Der Hörsinn ist der erste, den heranwachsende Menschen entwickeln, und es ist der letzte, der in den Randregionen des Todes zerfällt. Besondere Stärken hat die Musiktherapie deshalb nicht zuletzt in der Behandlung von Wachkomapatienten. Ein Akzent der Tagung lag denn auch auf Forschungen in diesem Gebiet. Die an der Rehab Basel tätige Physiotherapeutin Katharina Braune untersucht in Zusammenarbeit mit der Musiktherapie und der Pflege im Rahmen einer Masterarbeit in mehreren Einzelfallstudien den Einfluss des Liegemonochords auf das Bewusstsein von Patienten, die sich als Folge schwerer Hirnverletzungen im Zustand des reaktionslosen respektive geminderten Bewusstseins befinden.

Dorothea Dülberg, Lehrmusiktherapeutin der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft wiederum zeigte auf, wie «intermediale Quergänge als fliessende Wechsel von Methoden und Medien Wandlungsprozesse stimulieren und unterstützen können». In ihrem Workshop verband sie Musik, Malerei, Poesie und Bewegung im Raum zum multidimensionalen Nachspüren innerer Stimmen.

 

Tagungsprogramm

 

Bedeutende Erstausgabe für Cello

Das zweite Konzert von Carl Friedrich Abel ist eine wertvolle Ergänzung des klassischen Violoncello-Repertoires, auf Augenhöhe mit den Werken von C. P. E. Bach, Haydn oder Boccherini.

Carl Friedrich Abel, Ölgemälde von Thomas Gainsborough, 1777. Quelle: The Huntington Library/wikimedia commons

Vor 300 Jahren wurde der Komponist Carl Friedrich Abel in Köthen geboren (gestorben 1787 in London). Sein Vater war Geiger und Gambist. Für die Laufbahn des Sohnes wurde letzteres Instrument entscheidend. Nach einem Engagement am Dresdner Hof sind Abels Lebensumstände ab 1755 unklar. Wohl wegen der Wirren des Siebenjährigen Krieges verliess er Sachsen und gelangte über Frankreich nach London, wo er ab 1759 als Gambenvirtuose grosse Erfolge feierte. Mit Johann Sebastian Bachs jüngstem Sohn, Johann Christian, begründete er die erfolgreichen Bach-Abel-Concerts. 1782 hielt er sich länger am Königshof in Potsdam auf. Kronprinz Friedrich Wilhelm, der Neffe Friedrichs des Grossen, war wie sein Onkel ein begeisterter Musikliebhaber, spielte selber Cello und war u. a. Schüler von Jean-Pierre Duport. Wolfgang Amadeus Mozart komponierte für ihn die Preussischen Streichquartette KV 575, 589 und 590.

Das dreisätzige, etwa 20-minütige, 1782 komponierte Cellokonzert Nr. 2 in C-Dur hat Abel vermutlich für Friedrich Wilhelm geschrieben. Eine Aufführung durch diesen ist jedoch nicht nachzuweisen. Die Orchesterbesetzung entspricht mit zwei Oboen, zwei Hörnern und Streichern ganz dem klassischen Modell. Der erste Satz (Allegro maestoso) ist von der Anlage her (Sonatenform) der konventionellste. Überraschungen bieten dagegen der zweite und dritte Satz: Im Adagio ma non troppo (F-Dur) erreicht der Komponist mit dem solistischen Einsatz der Hörner einen verblüffenden Klangeffekt. Vom dritten Satz sind zwei unterschiedliche Varianten überliefert. Ein Allegro im 6/8-Takt wurde durch ein Rondeau – Tempo di Minuetto ersetzt. Dies war möglicherweise dem etwas konservativen Geschmack am Berliner Hof geschuldet. Zusätzlich sind zwei originale Kadenzen Abels handschriftlich erhalten geblieben.

Abels zweites Cellokonzert steht den bekannteren Werken von Carl Philipp Emanuel Bach, Joseph Haydn oder Luigi Boccherini in keiner Weise nach und darf als bedeutende Bereicherung der klassischen Violoncello-Literatur betrachtet werden. Mit einem Stimmenumfang von C bis g2 kostet Abel die Möglichkeiten des Instruments gekonnt aus und bietet den Ausführenden eine reiche Palette an virtuosen und lyrischen Ausdrucksmöglichkeiten.

Bruno Delepelaire, Solocellist der Berliner Philharmoniker, hat dieses Werk mit den Berliner Barock-Solisten beim Label Hänssler classic meisterhaft eingespielt. Sehr erfreulich, dass dabei beide Varianten des dritten Satzes zu hören sind. Die Notenausgabe von Markus Möllenbeck enthält ein ausführliches Vorwort zur Entstehungsgeschichte des Konzerts sowie aufführungspraktische Hinweise. Den Klavierauszug verfasste Ulrich Lüdering.

Carl Friedrich Abel: Cellokonzert Nr. 2 C-Dur, WKO 60, hg.von Markus Möllenbeck, Klavierauszug, EW1112, € 24.80, Edition Walhall, Magdeburg

Was Lieder mit uns machen

Das vierte Lied-Basel-Festival bot unter dem Motto «gefährlich leben» Konzerte, Meisterkurse – und Nachrichten von einer Nordpolexpedition.

Sich von Liedern überwältigen lassen: Angelika Kirchschlager mit Katrīna Paula Felsberga am Meisterkurs. Fotos: Benno Hunziker/Lied Basel

Im Jahr 2016 sammelten die Mezzosopranistin Silke Gäng und ihr Mann, der Musik- und Theaterwissenschaftler Ludovic Allenspach, Ideen zu einem in ihren Augen idealen und zeitgemässen Liedfestival. Mit Meike Olbrich (Geschäftsführerin und Hobbysängerin), Alain Claude Sulzer (Schriftsteller) und Tobias Schabenberger (Pianist) holten sie Freundinnen und Freunde an Bord und gründeten die Stiftung Lied Basel. Jedes Mitglied deckte sozusagen einen Aspekt des Liedes ab. Dank einiger Mäzene, verschiedener Stiftungen und kantonaler Unterstützungsfonds konnte das Vorhaben auf eine solide Basis gestellt werden.

Nach 2019, 2021 und 2022 (2020 fiel aus bekannten Gründen aus) fand Lied Basel am 19. bis 23. April zum vierten Mal statt. Zum zweiten Mal wurden die grosszügigen Räumlichkeiten des Musik- und Kulturzentrums Don Bosco genutzt. Im Zentrum des Festivals stehen Meisterkurse, genannt Lied-Academy. 65 Duos aus ganz Europa hatten sich für dieses Jahr in einem mehrstufigen Prozess um die ausgeschriebenen Stipendien beworben. 5 erhielten schlussendlich den Zuschlag. Es handelt sich um junge Musikerinnen und Musiker, die am Anfang ihrer Berufslaufbahn stehen. Jedes Duo bekam vier Mal eine Stunde hochkompetenten Unterricht beim sogenannten «Duo in Residence», bestehend aus der international erfolgreichen Mezzosopranistin Angelika Kirchschlager und dem renommierten Pianisten und Begleiter Malcolm Martineau. An einem Tag besuchten die Stipendiaten einen Schauspielworkshop bei Klaus Brömmelmeier. Ausserdem bekamen sie Hinweise zu Karrierefragen von Aimée Paret, die schon geraume Zeit als Künstlerberaterin tätig ist.

Das vielseitige musikalische Festivalprogramm bestand aus insgesamt acht Konzerten. Dazu gehörten unter anderem die Uraufführung der Lied-Basel-Auftragskomposition von Stephanie Haensler und ein Familienkonzert. Den Auftakt bildete ein musikalisches Gesprächskonzert, und am Sonntag war das Schlusskonzert der Stipendiaten zu erleben.

Familienkonzert mit den Erlkings

Gefährliches Wasser, gefährliches Eis, gefährliches Singen

Das Motto «gefährlich leben» wurde in einem bunten Rahmenprogramm aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Eva Gesine Baur stellte ihre brandneue Biografie über Maria Callas, Die Stimme der Leidenschaft, vor. Die Gesangslegende des 20. Jahrhunderts lebte gefährlich, sie ging in jeder Phase ihres Lebens volle Risiken ein. Die «gefährlichen Berufe» Apnoetauchen und Singen wurden einander im Lied-Labor gegenübergestellt.

Auf die Fragen, was «gefährlich leben» für sie bedeute und ob sie mutig sei, antwortete Angelika Kirchschlager am Eröffnungsanlass: «Jeder, der auf die Bühne geht, lebt gefährlich». Augenzwinkernd fuhr sie fort: «Und Mut heisst für mich, selbst zu singen, nachdem man den Schülern erklärt hat, wie es geht.» Das Duo in Residence war am Donnerstagabend in einem Recital zu geniessen. Mit gestalterischer Intensität trug Kirchschlager Lieder mit Schwerpunkt deutsche Romantik bis hin zu Mahler, Strauss und Poulenc vor. Malcolm Martineau begleitete präzis und äusserst differenziert.

Am Samstagabend führte der Bariton Benjamin Appl mit dem Pianisten James Baillieu Schuberts Winterreise auf. Appls Biografie ist zu entnehmen, dass er viel vom Unterricht bei Dietrich Fischer-Dieskau profitiert habe, dessen letzter Schüler er war. Er verfügt über eine warme und kräftige Stimme und scheute sich nicht vor dynamischen Extremen und ungewohnten agogischen Wendungen. Er bewies auch Standfestigkeit, denn das Konzert dauerte über zwei Stunden. Der Schauspieler Harald Krassnitzer las zwischen den Liedern aus Tagebüchern und Logbüchern der gescheiterten österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition in den Jahren 1872–1874. Auf den ersten Blick hatten die Erzählungen der zwei Jahre in Todesangst lebenden Schiffbrüchigen mit Schuberts, rund ein halbes Jahrhundert zuvor erschienenem Liederzyklus nicht viel gemeinsam, doch dann stellten sich immer wieder bewegende Berührungspunkte ein.

Etwas Mut braucht es, wenn man an einem Klassikfestival Schubertlieder in poppiger und jazziger Form präsentiert. Die Band The Erlkings tat genau dies und stiess beim Basler Publikum auf einhellige Begeisterung.

Im Rahmen des im letzten Jahr begonnenen Lied-Basel-Spendenprojekts «Song Recitals in Times of War» konnten vier Musikerinnen und Musiker aus der Ukraine kurzfristig für ein Konzert nach Basel geholt werden. Der Zusammenhang mit dem Thema Lebensgefahr liegt auf der Hand. (Bericht in der Schweizer Musikzeitung über Liederabende in der Ukraine)

 

«Don’t show me, but let me know»

Es gibt viele Beispiele von Meisterkursen mit renommierten Künstlerinnen und Künstlern, die den Voyeurismus des Publikums befördern. Dass dies bei Kirchschlager und Martineau nicht der Fall war, ist ihnen hoch anzurechnen. Der Ton war kollegial und die Hinweise praxisbezogen und konkret. Wenn jemand mit einem gut einstudierten Lied ankommt und in kurzer Zeit verschiedene Anweisungen dazu bekommt, was stimmlich und interpretatorisch zu ändern sei, kann das schon mal überfordern. Die Stipendiaten reagierten aber meist sehr gelassen und professionell und konnten vieles direkt umsetzen. «Das Lied muss etwas mit uns machen, nicht wir etwas mit dem Lied», so formulierte Kirchschlager einen ihrer Grundsätze.

Applaus für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Akademy nach dem Schlusskonzert (v. li.): Anton Kirchhoff (Bariton), Jou-an Chen (Klavier), Artūrs Oskars Mitrevics (Klavier), Pierre-Nicolas Colombat (Klavier), Kathrin Hottiger (Sopran), Katrīna Paula Felsberga (Sopran), Chia-Yun Hsieh (Klavier), Han-Lin Yun (Klavier), Anna Graf (Sopran), Wencong Xue (Bariton)

Bei der Interpretation schiessen manche übers Ziel hinaus und heben zum Beispiel lautmalerisch einzelne Worte hervor. Es gelte aber, die Aussage und nicht einzelne Worte zu interpretieren und das gehe nur über die Textverständlichkeit: «Ohne Text, kein Ausdruck», wiederholte sie mehrmals nachdrücklich. Malcolm Martineau hob einen spannenden Aspekt hervor: «Die Formung des anlautenden Konsonanten sagt immer, welche Bedeutung man dem jeweiligen Wort geben will.» Ein verführerisches «Sing along» sei zu vermeiden: «Du musst dich mit dem Text den Harmonien widersetzen», sagte Kirchschlager. Die Haltung des Singenden sei entscheidend. Persönliche Betroffenheit und Selbstmitleid wolle man beim Interpreten nicht sehen: «Don’t show me, but let me know», brachte es die Dozentin auf den Punkt. Man dürfe sich nicht zu sehr von Stimmungen leiten lassen und sich nicht zu viele Freiheiten nehmen: «Interpretation heisst nicht, jeden Tag so zu singen, wie man sich gerade fühlt.»

Die Teilnehmenden dürften mit einem gefüllten Rucksack an Erfahrungen von dieser Woche heimgekehrt sein und ihre künstlerische Entwicklung durch mehrere Puzzleteile ergänzt haben.

 

Schweizer Klaviermusik von Frauen

Das Swiss Female Composers Festival hat eine «Piano Collection» mit zehn Stücken herausgegeben. Eine Sammlung für Violine und Klavier soll folgen.

Einige der Komponistinnen, deren Werke in der «Piano Collection» enthalten sind. Foto: zVg

Vor mehreren Jahren hat die Pianistin und Komponistin Katharina Nohl die Plattform Swiss Female Composers Festival gegründet. Sie initiiert und organisiert Konzerte mit den dem Netzwerk angeschlossenen Musikerinnen. Nun ist auch die erste Publikation auf dem Markt, die Piano Collection Vol. 1.

Etliche in der Schweiz lebende Komponistinnen haben ihre Kompositionen für Klavier solo eingereicht, zehn davon wurden ausgewählt und sind nun als Sammlung bei der Universal Edition Wien veröffentlicht. Stücke folgender Komponistinnen sind enthalten: Bijayashree Samal, Anastasiia Kuznetsov, Lea Gasser, Aglaia Graf, Sandra Avilova, Catherine Fearns, Ilona Raad, Olga Ponomareva, Dora Fratrić und Katharina Nohl, die auch als Herausgeberin fungiert. Die Idee dieser Piano Collection ist es, Musik für ein breites Publikum erreichbar zu machen, das heisst, das Klavier wird auf traditionelle Art gespielt.

Alle Autorinnen der Collection wurden mit einem Scodo-Voucher belohnt. Scodo ist ein neues Publishing Tool der Universal Edition, über das Komponistinnen und Komponisten ihre Werke veröffentlichen können und dabei 70 Prozent des Verkaufspreises bekommen statt der üblichen 30 Prozent.

Die Publikationsreihe soll noch in diesem Jahr mit einem neuerlichen Call for Scores weitergeführt werden. Diesmal sind Kompositionen für Violine und Klavier gefragt.

Ein Best-Edition-Preis geht nach Liestal

Auf der Leipziger Buchmesse wurden zehn herausragende Publikationen mit dem Musikeditionspreis Best Edition ausgezeichnet.

Die Autoren von «Caboomba»: Rolf Grillo und Andreas Gerber. Foto: Felix Groteloh

Der Deutsche Musikverleger-Verband e. V. hat zum 31. Mal editorische Höchstleistungen gewürdigt. Den Best-Edition-Preis 2023 erhielten:

  • Alban Berg: Violinkonzert, Kritischer Bericht, hg. von Douglas Jarman und Regina Busch, Universal Edition, Wien
  • Felix Mendelssohn-Bartholdy: Elias op. 70, MWV A 25, Kritischer Bericht, hg. von Christian Martin Schmidt, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden
  • Die Perlen der Cleopatra, Notentitelblätter von 1894 bis 1937 als Spiegel der Gesellschaft, Evelyn Förster (Autorin und Herausgeberin), Gestaltung und Satz: Peter-Nils Dorén
  • Gideon Klein: Sonate für Klavier / Landschaft, Spielpartitur, Urtextausgabe, hg. von Ondrej Pivoda, Bärenreiter-Verlag, Kassel
  • Gustav Mahler: 4. Sinfonie, Universal Edition, Wien
  • Deutsch-Jüdisches Liederbuch, Projekt 2025 – Arche Musica, Schott Music, Mainz
  • Oliver Rathkolb: Carl Orff und der Nationalsozialismus, hg. von Thomas Rösch, Bd. II/2, Schott Music, Mainz
  • Caboomba – Vom Körper zum Instrument, Spielstücke und Songs für Bodypercussion und Rhythmus-Ensemble, Andreas Gerber, Rolf Grillo, Helbling Verlag
  • Luigi Nono: Il canto sospeso. Faksimile des Partiturautographs, hg. und mit einem Vorwort versehen von Christoph Flamm, engl. Übersetzung von Margit McCorkle, Schott Music, Mainz 2022

Der Sonderpreis der Jury geht in diesem Jahr an das Ipipapa-Projekt, das Musiknoten mit einer weltweit lesbaren Lautschrift ergänzt und Audiomaterialien sowie weitere Hilfestellungen anbiete

 

Caboomba

Aus Schweizer Sicht ist die Auszeichnung des Lehrmittels von Andreas Gerber, Rhythmuspädagoge in Liestal, und Rolf Grillo besonders erwähnenswert. Caboomba ist ein praxiserprobtes Konzept für bewegten Musik- und Rhythmusunterricht mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Die Jury begründet ihren Entscheid folgendermassen: «Das Buch Caboomba  aus dem Helbing Verlag ist eine tolle Mischung aus Bauanleitung für Percussion-Instrumente, Bodypercussion und praktischen Anwendungen der verschiedenen Komponenten. Es bietet für Einsteiger eine einfache Möglichkeit, schnell zu einem musikalischen Erfolgserlebnis zu kommen. In der Kombination mit den Inhalten der dazugehörigen App findet sich jeder Musikbegeisterte schnell zurecht.»

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