Schweizer Erstaufführung von Holman-Partituren

Der legendäre Arrangeur Bill Holman hat in einem privaten Bandbuch Kompositionen notiert, die bisher in der Schweiz noch nie aufgeführt worden sind. Das Zurich Jazz Orchestra (ZJO) präsentiert sie im Moods.

Marko Lackner, zvg

Die Nummern «Front Runner» und «Moon of Manakoorah» existieren nur im privaten Bandbuch von Bill Holman und sind ausschliesslich am 17. Oktober im Moods zu hören. «Moon of Manakoorah» zeige den Schreibstil Holmans exemplarisch, schreibt das ZJO: Ursprünglich ein schmalziges Musical-Thema («The Hurricane»), werde die Melodie über einen langen Bogen hinweg mit viel Humor verfremdet und kontrapunktisch entwickelt.

Der Schweizer Trompeter Daniel Schenker und der Österreicher Marko Lackner hatten beide schon Gelegenheit, unter der Leitung von Bill Holman zu spielen. Dem Umstand sind die Erstaufführungen im ersten Set des Moods-Konzertes zu verdanken.

Im zweiten Set wird das Programm «Kaleidoscopia» von Marko Lackner, einem der Anwärter auf die Leitung des ZJO, gespielt. Der gebürtige Österreicher, Saxophonist, Komponist und Dirigent, arbeitete unter anderem mit Bob Brookmeyers «New Art Orchestra», dem «Sunday Night Orchestra» in Nürnberg sowie der NDR- und WDR-Bigband.

Infos:
«Meeting Bill & Marko», 17. Oktober 2013, 20.30 Uhr, Jazzclub Moods, Zürich.

Die lange Geschichte des Gemischten Chors Zürich

1863 wurde der Gemischte Chor Zürich als erstes offizielles gemischtes Sängerensemble in Zürich gegründet. Zum ersten Mal sangen Damen und Herren im selben Verein.

Ausflug des Gemischten Chors Zürich 1905, zvg

Am 28. Oktober 1863 fand die konstituierende Versammlung statt und am 12. und 27. Dezember 1863 ertönte bereits das erste Konzert, Joseph Haydns Die Schöpfung. Zweck des Chores war «Die Pflege aller Stufen des gemischten Chorgesangs vom einfachsten Volkslied bis zum klassischen Oratorium». Gleichzeitig sollten die Feiertage an Ostern «nicht nur durch Gebet und Predigt, sondern durch die Aufführung der Meisterwerke kirchlicher Musik» begangen werden.

Der Gemischte Chor Zürich zählt zu den Gründerchören der Tonhalle-Gesellschaft, die 1868 zusammen mit Stadt und Kanton Zürich, dem Sängerverein Harmonie und dem Männerchor Zürich ins Leben gerufen wurde. 1891 kam der Lehrergesangsverein zu den Gründerchören hinzu. 1872 stiftete der Gemischte Chor den Einbau einer Orgel in der Tonhalle und spendete 1895 für den Bau des neuen Tonhalle-Saal sein halbes Vermögen.

1865 wurde Friedrich Hegar Dirigent des Chors. Unter ihm erlebte der Chor seine erste Blütezeit; er leitete den Chor bis 1901. Nach Hermann Suter (1901–1902) folgten die langen Dirigentenzeiten von Volkmar Andreae (1902–1949) und Erich Schmid (1949–1975). Räto Tschupp stand dem Chor von 1975–1996 vor, Joachim Krause, der den Chor bis heute führt, übernahm das Amt 1996. Heute zählt der Chor ca. 130 aktive Mitglieder.

Zur Feier seines Jubiläums hat der Chor dem in Zürich lebenden Komponisten Edward Rushton einen Werkauftrag erteilt. In D’un pays lointain erklingen Vertonungen von Gedichten von Henri Michaux, Gunnar Ekelöff, Dino Campana, Stevie Smith, Jürg Halter und Gerhard Meister. Sie erzählen von fiktiven Reisen in fiktive Länder und dem Wunsch nach Aufbruch zu neuen Ufern. Daneben erklingt Händels Ode for St. Cecilia’s Day.

Jubiläumskonzert: 9. November 2013, 19:00 Uhr, Tonhalle Zürich
Weiteres Konzert: 30. November 2013 um 19:30 Uhr im Stadthaus Winterthur

Zum Jubiläum erscheint Ende Oktober im Musikverlag Hug die Festschrift
150 Jahre Musik für Zürich. Der Gemischte Chor Zürich 1863 – 2013
 

Neues Forschungsprojekt, neuer Weiterbildungsjahrgang

Die Aktivitäten des Schweizerischen Hochschulzentrums für Musikphysiologie betrafen in der Saison 2012/13 Fortbildungskurse und Vollstudien, Forschungsprojekte und individuelle Hilfeleistungen.

Foto: Köpenicker – Fotolia.com

Das Schweizerische Hochschulzentrum für Musikphysiologie stellt eine Kooperation und Interessengemeinschaft der musikphysiologisch und musikmedizinisch aktiven Fachbereiche der schweizerischen Musikhochschulen dar.

Auf der Homepage des SHZM finden sich die Abstracts zu den durchgeführten Fortbildungsveranstaltungen. Im letzten Schuljahr fand neben den lokalen Veranstaltungen in Basel und Zürich die überregionale Veranstaltung Was Musiker von Zauberern lernen können. Auftrittstechniken von Zauberern im Wandel der Zeit statt.

Nach Abschluss des in Kooperation mit der Universität Lausanne durchgeführten SNF-Forschungsprojektes Respiratory responses during music performance in anxious and non-anxious music students startet in der nächsten Saison Prolonged performance-related psychophysiological activation in high- and low-anxious music students. Dieses Folgeprojekt wird vom Schweizerischen Nationalfonds über drei Jahre finanziert und findet wieder in Kooperation von Universität Lausanne und dem SHZM statt.

Das vor fünf Jahren begonnene Projekt zum Konditionsaufbau bei Musikstudierenden an den schweizerischen Musikhochschulen läuft weiter.

Weiterbildung
Das vom SHZM unterstützte und von Dozierenden mehrerer Musikhochschulen gemeinsam gestaltete Weiterbildungsstudium Musikphysiologie hat einen weiteren Jahrgang Studierender aufgenommen. Informationen zu den Zertifikatslehrgängen CAS, DAS und dem Master of Advanced Studies (MAS) finden sich auf der Homepage.

Die Mehrheit der bisherigen Absolventen des Weiterbildungsstudiums Musikphysiologie ab dem Level DAS haben bisher schweizweit über 100 Fortbildungskurse an Musikinstitutionen gegeben. Ab dem Herbstsemester 2011 /2012 führen sie auch die modular aufgebaute musikphysiologische Basisausbildung im Rahmen des Bachelor-Studiums der Kalaidos-Musikhochschule in Aarau durch.

Handlabor
Über das SHZM konnten zahlreiche Studierende und Dozierende von schweizerischen Musikhochschulen Kontakt zum Handlabor an der ZHdK aufnehmen, welches in der vergangenen Saison durch neue Geräte ergänzt wurde. Aus einem dort erstellbaren individuellen Handprofil ergeben sich Hilfestellungen bei der Prävention und Lösung berufsspezifischer Beschwerden, bei der Entwicklung einer individuellen Haltung und Instrumentaltechnik, bei der Auswahl ergonomischer Hilfsmittel sowie bei der Übetechnik, Fingersatz- und Literaturauswahl. 

Kontakt: www.shzm.ch
 

Schweizer Luthier gewinnt in Italien Gold

Der Schweizer Geigenbauer Pierrick Sartre hat an der 4th International Violin Making Competition im italienischen Pisogne die Goldmedaille gewonnen.

Pierrick Sartre bei der Preisübergabe. Foto: zvg,Foto: Robert Fux

Silber ging an den Südkoreaner Oh Dong Hyun, Bronze an den Deutschen Andreas Haensel. Der Italiener Philip Protani gewann einen Sonderpreis für Klang, der Deutsche Christian Lijsen den Suzuki-Preis. Teilgenommen haben an dem Wettbewerb rund hundert Geigenbauer aus acht Ländern.

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Der 1982 geborene Pierrick Sartre hat seine Ausbildung an der internationalen Geigenbauschule in Cremona absolviert. Er arbeitet zur Zeit in der Lausanner Werkstatt von John-Eric Traelnes, wo er alte und neue Instrumente restauriert und Règlage macht.

Performance Preis 2013 für Jung und Baumgartner

In Basel ist der national ausgeschriebene Wettbewerb Performancepreis Schweiz durchgeführt worden. Die Gewinner sind Florence Jung – sie erhält ein Preisgeld von 22’500 Franken – und der HKB-Absolvent Nino Baumgartner (Preisgeld 10’000 Franken).

Nino Baumgartner in «Maneuvers and Formations», Foto: Eliane Rutishauser / Performancepreis Schweiz

Sieben Künstlerinnen, Künstler und Künstlergruppen sind in einer Vorausscheidung für diesen Preis nominiert worden und zeigten in der Kaserne Basel Live-Performances. Der öffentliche Anlass, bei dem eine grosse Bandbreite von zeitgenössischen Ansätzen der Performancekunst entdeckt werden konnte, wurde von rund 180 Personen besucht.

Eine fünfköpfige Jury entschied, mit den zur Verfügung stehenden Preisgeldern in der Höhe von insgesamt 32’500 Franken zwei Performances auszuzeichnen. Zu den Preisen gehörte auch ein Publikumspreis, der Nico Baumgartner zugesprochen worden ist.

Der Performancepreis Schweiz ist in diesem Jahr zum dritten Mal in einer Partnerschaft zwischen dem Kanton Basel-Stadt, dem Kanton Aargau und der Stadt Genf ausgeschrieben und juriert worden. Die Partnerschaft war vom Kunstkredit Basel-Stadt initiiert worden, der seit 2005 jährlich einen nationalen Performancewettbewerb durchgeführt hatte. 2014 wird der Performancepreis Schweiz zum zweiten Mal von der Stadt Genf ausgerichtet werden.

Zum Foto: Florence Jung benennt «das Geheimnis, den Zweifel, das Gerücht und den Nicht-Ort als die fundamentalen Parameter ihrer Arbeit» und bat darum, die Kameras auszuschalten.
 

Medienpreis Leopold vergeben

Am 27. September hat der Verband deutscher Musikschulen (VdM) zum neunten Mal den renommierten Kindermedienpreis Leopold verliehen.

CD-Cover von «Georg Friedrich Händel – Der Messias»,SMPV

Aus 130 Bewerbungen hatte eine Expertenjury 17 Musiktonträger für die Empfehlungsliste ausgewählt. Sieben davon sind nun mit dem begehrten Preis ausgezeichnet worden, dem Gütesiegel des VdM für besonders «gute Musik für Kinder». Die Gewinner sind die Produktionen:

Georg Friedrich Händel – Der Messias
Aktive Musik Verlagsgesellschaft/IgelRecords
Hörproduktion für Kinder ab 8 Jahren

Planet der Drachen – Ein musikalisches Weltraumabenteuer

AMA Verlag 
Musical für Kinder ab 5 Jahren

Der Zaunkönig und die silberne Flöte
Aram Verlag
Musikalische Erzählung für Kinder ab 6 Jahren

Der gestiefelte Kater
Edition See-Igel
Musikalische Erzählung für Kinder ab 5 Jahren
 
himmelweit“

Edition See-Igel
Musikalische Erzählung für Kinder ab 7 Jahren

Quadro Nuevo – Schöne Kinderlieder
GLM Music
Lieder-CD für Kinder von 3 bis 12 Jahren

TONBANDE – Dieses Lied
Krauthausen Musikverlag
Popmusik CD für Kinder von 10 bis 15 Jahren

Die Bedeutung des Medienpreises hob Regina Kraushaar, Abteilungsleiterin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, hervor: «Der Leopold ist zu einem begehrten Gütesiegel geworden und das Beste daran ist, so finde ich, dass der LEOPOLD auch in der öffentlichen Wahrnehmung eine Marke für gute Kindermusik-CDs geworden ist. Denn Fachleute zu überzeugen, ist schon schwer genug. Wenn aber Eltern und Großeltern oder die Patentante beim Kauf nach dem Siegel sehen: Dann ist das eigentliche Ziel erreicht, und das finde ich außerordentlich anerkennenswert.»

Die Hörspiel-CD Der Elefantenpups – Rettet den Zoo (Schott Music, für Kinder ab 5 Jahren) wurde mit dem Sonderpreis «Poldi» der Kinderjury ausgezeichnet.

Der Medienpreis Leopold wird seit 1997 alle zwei Jahre vom Verband deutscher Musikschulen vergeben. 

Solothurner Musikpreis für Anton Krapf

Der Mümliswiler Dirigent Anton Krapf erhält den mit 10’000 Franken dotierten Solothurner Auszeichnungspreis 2013 für Musik. Der mit 20’000 Franken dotierte Solothurner Kunstpreis 2013 wird dem Langendorfer Zeichenlehrer und ehemaligen Kuratoriums-Mitglied Peter Jeker verliehen.

Foto: Dietrich Michael Weidmann, wikimedia commons

Neues schaffen und andere dafür begeistern, ist seit jeher ein Bedürfnis von Anton Krapf, schreibt der Kanton Solothurn in einer Würdigung. Über seine Tätigkeit als Lehrer sei Krapf nach Mümliswil gekommen, wo man schnell auf den initiativen und musikbegeisterten Lehrer aufmerksam geworden sei.

Die Musikgesellschaft Frohsinn Laupersdorf engagierte ihn als Dirigenten, bald folgte der Kirchenchor Mümliswil, den er bis Ende 2012 leitete. Anton Krapf sei nicht nur leidenschaftlicher Musiker, wenn er etwa Singspiele für Jubiläen arrangiert und komponiere. Er sei als Musiklehrer, als Gründer der Kulturkommission Mümliswil oder als Mitinitiant des Musikwettbewerbs Laupersdorf auch Förderer.

Weitere Auszeichnungspreise (je 10’000 Franken) gehen an Oskar Fluri, Bühnenbildner (Preis für Bühnenbild), Annatina Graf, Malerin, Zeichnerin, Videokünstlerin (Preis für Malerei), Thomas Hauert, Tänzer (Preis für Tanz), Jürg Hugentobler, Installationskünstler (Preis für Bildhauerei), Olivier Jean Richard, Tonoperateur (Preis für Film), Robert Rüegg, Kulturvermittler (Preis für Kulturvermittlung) und Ruedi Stuber, Liedermacher (Preis für Literatur).

Foto: Schulhaus von Laupersdorf, einer der Austragungsorte des von Krapf mitinitiierten Musikwettbewerbs

Berner Kulturpreis für Christine Ragaz

Die Geigerin Christine Ragaz erhält den mit 20’000 Franken dotierten Musikpreis 2013 des Kantons Bern. Sie habe das Musikleben von Stadt und Kanton Bern über Jahrzehnte an zentralen Stellen mitgestaltet, so der Kanton.

zvg

Als Künstlerin habe Christine Ragaz Wesentliches geleistet, schreibt der Kanton weiter. Sie war Mitglied der Camerata Bern, wirkte einige Jahre als zweite Konzertmeisterin des Berner Sinfonieorchesters und feierte internationale Erfolge mit dem legendären Berner Streichquartett.

Die kantonale Musikkommission verleiht ausserdem drei Anerkennungspreise von je 10’000 Franken an den Jazzpianisten Colin Vallon, den Berner Komiker Semih Yavsaner alias Müslüm und an das Ensemble Paul Klee. Der Nachwuchsförderpreis Coup de cœur 2013 in der Höhe von 3’000 Franken geht an die Sängerin Claire Huguenin.

Kantonsbeitrag an die Musikinsel Rheinau

Der Kanton Zürich soll die Musikinsel Rheinau mit einem Beitrag von 8,47 Millionen Franken aus dem Lotteriefonds unterstützen. Dies beantragt der Regierungsrat dem Kantonsrat.

Proberaum 4 im Kloster Rheinau, Foto: Stefan V. Keller

Der Beitrag soll an den mieterspezifischen Ausbau der Gebäude gehen sowie zugunsten der Stiftung an den Innenausbau und den Kauf von Instrumenten für das Musikzentrum, das am 24. Mai 2014 auf der Klosterinsel Rheinau eröffnet wird.

Für die Renovationsarbeiten und die baulichen Massnahmen zur Umnutzung der ehemaligen Klosterräumlichkeiten in ein Musikzentrum hat der Kantonsrat im September 2012 mit grossem Mehr einen Objektkredit von 28,5 Millionen Franken bewilligt.

Mit dem Beitrag aus dem Lotteriefonds für den mieterspezifischen Ausbau würde sich dieser Betrag um 5,6 Millionen Franken reduzieren. Bei diesem Betrag handelt es sich um die wertvermehrenden Kosten des aktuellen Umbaus. Zusätzlich zum Beitrag an die Baukosten beantragt der Regierungsrat 2,53 Millionen Franken zugunsten der Stiftung für den Innenausbau sowie 330‘000 Franken an den Kauf von Instrumenten.

Die Stiftung Schweizer Musikinsel Rheinau mietet die Räumlichkeiten vom Kanton zu einem jährlichen Mietzins von 330‘000 Franken. Sie übernimmt ferner die umfangreichen Anlaufkosten und die selbst bei guter Auslastung zu erwartenden hohen Betriebsdefizite.
 

Wasser – Inspiration und Material

Der Wunsch, das Wasser nachzuahmen, hat in der Musik vielfältige Spuren hinterlassen.

Wasser – Inspiration und Material

Der Wunsch, das Wasser nachzuahmen, hat in der Musik vielfältige Spuren hinterlassen.

Focus

Les noces de la musique et de l’eau
L’eau est une des références naturelles les plus appréciées par les compositeurs.

Klänge wie im Innern eines Pottwals
Cyrill Schläpfer und die Klangwelt des Vierwaldstättersees

L’hydraule, un véritable orgue
L’instrument a été inventée au 3e siècle avant notre ère par un ingénieur.

Eine Aufführung ist ja nicht einfach nur Klang
Interview mit Franziska Welti, unter anderem über das Singen im Wasser

Hochverehrt und schlecht bezahlt
Die Musiker der Bordkapelle auf der «Titanic»

… und ausserdem

RESONANCE
75 Jahre Musikfestival in Luzern

Verstrickt im Märchenwald
Uraufführung von Das kalte Herz in Bern

Richard Wagner und Heinrich Schenker – zwei ästhetische Paradigmen

La culture britannique influence mes origines suisse
Entretien avec Serge Vuille

Der Dandy «in Conversation»
Dieter-Meier-Ausstellung in Aarau

Moderne Technologie und Copyright
Music Meeting Day des SVMV

Politik
Verarmung im Basler Musikleben

Rezensionen
Neuerscheinungen (Bücher, Noten, CDs)

Carte Blanche
mit Hans Brupbacher
 

CAMPUS
Paul und die Einzelkämpfer
ADHS und ADS in den Musikschulen

klaxon Kinderseite

SERVICE
Streiflichter der Chormesse in Dortmund
 

FINALE
Rätsel Dirk Wieschollek sucht — Dirk Wieschollek cherche
 

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Sammlung Simmen als Schenkung

Die private Sammlung von Johnny Simmen, dem weltweit respektierten Jazzkenner, -publizisten und -vermittler, steht jetzt im Schweizer Jazzarchiv.

Stuff Smith und Johnny Simmen, Mai 1965, Foto: Jürg Koran,Foto: Nancy Miller Elliott, NY

Johnny Simmen (1918–2004) baute seit seiner frühen Jugend eine einzigartige Sammlung von Büchern, Zeitschriften, Dokumenten, mehreren Tausend Tonträgern aller Art und unzähligen eigenen Publikationen und Vorträgen auf. Mehrheitlich Vinyl-LPs. Er zog es jedoch vor, den Jazz auf 78-Touren-Schellacks zu hören. Die Sammlungstätigkeit war für ihn nicht zentral, sondern das Kennen, Schätzen und Geniessen der swingenden Musik sowie die Bekanntschaften, ja die intensiven Freundschaften mit zahlreichen Musikern von Louis Armstrong bis Teddy Wilson. Zudem verbreitete er in Gesprächen, Vorträgen, auf Plattencovers, in Buchbeiträgen und Artikeln (Tausende von Publikationen in schweizerischen und internationalen Jazzmagazinen) die «Botschaft Jazz» mit einzigartigem Engagement und mit stets aktueller Sachkenntnis.

Diese unschätzbare Kollektion wurde von Simmens Tochter, Michèle Pfenninger-Simmen, als  Schenkung dem SwissJazzOrama in Uster überreicht. Sie wird als separate, integrale Simmen-Collection erhalten bleiben und für die Forschung und die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zu diesem Zweck erstellen Fachleute im SwissJazzOrama vorerst ein Inventar. Dieses wird anschliessend auf www.swissjazzorama.ch beziehungsweise www.jazzdaten.ch öffentlich zugänglich gemacht. Interessenten, die diese Aktivitäten unterstützen möchten, können sich beim Sekretariat in Uster melden: Tel. 044 940 19 82 oder per e-Mail: swiss@jazzorama.ch

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Johnny Simmen 1983

Hans-Georg «Johnny» Simmen wurde am 7. April 1918 in Brugg AG geboren. Dort wuchs er  wohlbehütet auf. Beide Eltern spielten Klavier. Es war fast selbstverständlich, dass Hans-Georg Klavierunterricht nahm. Die vielen Platten mit klassischer Musik im Hause kannte er fast auswendig. Dann, mit 11 Jahren, erlebte er seine Sternstunde: Am Radio hörte er zufällig Louis Armstrongs Alligator Blues mit den Hot Seven – und sein ganzes Interesse wurde schlagartig: Jazz! Dabei sollte es bleiben, bis zu seinem Hinschied am 23. September 2004. Wahrscheinlich nahm seine Begeisterung noch zu als er 1934 in der Zürcher Tonhalle Louis Armstrong live hörte. 1946 heiratete Johnny Liza Peretti, eine ebenso begeisterte Jazzkennerin aus Genf. Die Simmens pflegten über all die Jahre den Musikgenuss, ebenso die zahllosen Bekanntschaften und Freundschaften mit Jazzmusikern und Jazzfreunden.

Simmen war während 37 Jahren hochgeschätzter, vielseitig einsetzbarer Mitarbeiter bei Swissair. Seine fundierten Kenntnisse der Passagierbedürfnisse, der Reservationssysteme, der internationalen Reisevorschriften und vor allem sein diplomatisches Geschick und sein Talent Menschen zusammenzubringen machten ihn zum idealen Organisator und Trouble-Shooter. Unter anderem war er verantwortlich für sämtliche Reisen der Familie von Thomas Mann. Jazz-Stars wie Basie, Ellington, Goodman mit ihren Bands, Ella Fitzgerald, Buck Clayton, Bill Coleman, Stuff Smith, Rex Stewart oder Teddy Wilson schätzten nicht nur seine Dienste. Gerne liessen sie sich bei ihren Aufenthalten in Zürich auch von ihm interviewen oder privat willkommen heissen. Während Jahren produzierte er alle zwei Monate ein neues Jazzprogramm für die Swissair-Langstreckenflüge: zwei Stunden Musik mit kurzen, prägnanten Kommentaren. Stets war es ihm ein Anliegen, neben den üblichen Stars auch weniger bekannte grosse Talente zu präsentieren, wie etwa Doc Cheatham, Henri Chaix, Dave McKenna, Tab Smith, Maxine Sullivan, Al Casey, Ellis Larkins.

Johnny Simmen förderte den Jazz und die Musiker auch als Gründer und Hauptexponent verschiedener Jazz-Clubs in Zürich, wie Protokolle von 1935 belegen. Er war auch ein gefragter Referent bei ausländischen Clubs und begleitete das Zürcher Amateur-Jazzfestival als Jurymitglied während sieben Jahren.
 

Hochverehrt und schlecht bezahlt

Während das Schiff unter ihnen versank, harrten sie spielend aus. Viele Legenden ranken sich um das Geschick der Musiker auf der Titanic. Die nüchternen Tatsachen zu ihren Anstellungsbedingungen sind dagegen wenig erhebend.

Erinnerungs-Postkarte, State Library of Queensland / flickr commons
Hochverehrt und schlecht bezahlt

Während das Schiff unter ihnen versank, harrten sie spielend aus. Viele Legenden ranken sich um das Geschick der Musiker auf der Titanic. Die nüchternen Tatsachen zu ihren Anstellungsbedingungen sind dagegen wenig erhebend.

Am 14. März diesen Jahres ging eine verblüffende Nachricht durch die englische Presse: Die Geige von Wallace Hartley sei wieder aufgetaucht. Das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel titelte tags darauf: «Violine des Titanic-Kapellmeisters auf Dachboden entdeckt.» Tatsächlich stellte das britische Auktionshaus Henry Aldridge and Son der Öffentlichkeit ein «sensationelles Fundstück» vor. Sieben Jahre habe er die Echtheit des Instruments von Kriminaltechnikern und Forschern der Universität Oxford testen lassen, berichtete Andrew Aldridge, es gäbe keinen Zweifel.

Dies sollte also die Geige sein, die sich der Musiker in einem initialengeschmückten Lederetui an die Brust band, bevor er ins Wasser stürzte. Sein erfrorener Körper wurde zehn Tage nach dem Unglück geborgen. Die Geige soll seiner Verlobten übersandt worden sein. Sie hatte ihm das Instrument ja auch geschenkt. Bei ihrem Tod geriet das geschichtsträchtige Stück in Vergessenheit … Allerdings wurde nach dem Schiffsunglück sehr genau protokolliert, was die gefundenen Opfer auf sich hatten. Hartley trug seine Musikeruniform mit den grünen Blenden, Schulterstücken und Knöpfen der White Star Line. Von einer Geige war aber nicht die Rede.

Die Berichterstattung über das Wiederauftauchen des Instruments lässt deutlich durchklingen, dass die Journalisten Zweifel an der Echtheit des Fundstücks mit den Salzwasserflecken hegen. Kein Zweifel besteht dagegen an dem unverminderten öffentlichen Interesse, das die Titanic-Katastrophe immer noch erregt, die sich genau 101 Jahre vor der Präsentation der Violine ereignet hatte.

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Erinnerungsblatt der AMU
wikimedia commons

Verschlechterte Anstellungsbedingungen
Wallace Hartley war Geiger und Chef der achtköpfigen Musikergruppe auf der Titanic. In der Regel spielten sie in zwei Gruppen. Ein Klaviertrio unterhielt die Gäste in der Lounge des A-la-Carte-Restaurants und im Café Parisien. Um das kontinentale Flair zu unterstreichen, waren ein belgischer Geiger und ein französischer Cellist engagiert worden. Ein Quintett spielte im Speisesaal oder in der First Class Lounge auf. Percy Cornelius Taylor spielte sowohl Klavier wie auch Cello. Es waren also Auftritte als (tiefes) Streichquintett möglich (zwei Violinen, zwei Celli, Kontrabass,) oder als Klavierquintett. Man nimmt an, dass in der fatalen Nacht zum ersten Mal alle acht zusammenspielten.

Anstellungen auf Ozeandampfern waren bei den Musikern in jener Zeit begehrt, obwohl sich die Arbeitsbedingungen gerade in der Zeit vor der Jungfernfahrt der Titanic verschlechtert hatten. Früher hatten die Reedereien die Musiker direkt engagiert. Nun traten vermittelnde, aber natürlich auch mitverdienende Agenturen auf den Plan. In einem Bericht der Internationalen Musikerföderation FIM, verfasst von John Swift, steht dazu: «Während die Titanic sich in Besitz der White-Star-Reederei befand, waren ihre Musiker von der Schifffahrtsagentur, C. W. & F. N. Black engagiert und als Passagiere der zweiten Klasse gebucht worden. Black war in der Lage, günstigere Konditionen anzubieten, indem die Gage der Musiker von ursprünglich 6 bis 10 auf 0 bis 4 Pfund herabgesetzt, die monatliche Uniformzulage von 10 Shilling zurückgezogen und die Kosten für Noten den Musikern von der Gage abgezogen wurden. Proteste der Vereinigten Musikergewerkschaft AMU, eines Vorläufers der heutigen Musikergewerkschaft, endeten ergebnislos.»

Die Musiker mussten ein vielseitiges Repertoire beherrschen, sowohl Salon- und Tanzmusik wie Auszüge aus Orchesterwerken und Opern. Sie spielten die angesagten Schlager der Zeit, begleiteten aber auch Andachten an Bord. Auf Deck E in der Nähe der Wäscherei war ihnen ein Raum zugewiesen worden, in dem sie morgens üben konnten.

Heldentum statt Leben
Kaum ein Bericht vom Untergang der Titanic kommt ohne die Erwähnung der heldenmütigen Kapelle aus. Die Worcester Evening Gazette zitierte fünf Tage nach dem Unglück die Überlebende Mrs. John Murray Brown: «Die Kapelle ging von Deck zu Deck und spielte immerzu. Als das Schiff sank konnte ich immer noch Musik hören. Als ich die Musiker zum letzten Mal sah, kam ihnen das Wasser bis zu den Knien.» Aber schon die verschiedenen Augenzeugenberichte, die von einer Untersuchungskommission akribisch zusammengetragen wurden, waren sich in vielen Punkten uneins.

In der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 um 23.40 Uhr kollidierte das Schiff mit einem Eisberg. Eine Stunde später begann die Kapelle an Deck zu spielen, zehn Minuten bevor das erste Rettungsboot (halbleer!) ins Wasser gelassen wurde. Noch schätzte man die Gefahr sehr unterschiedlich ein. Und die fröhlichen Klänge («lively airs»), die gespielt wurden, verstärkten die Verwirrung möglicherweise noch. Hinter der Anweisung an die Musiker stand das Ziel, eine Panik zu vermeiden.

Um 2.10 Uhr waren alle verfügbaren Boote gewassert, aber immer noch gut zwei Drittel der Menschen an Deck oder irgendwo in den labyrinthischen Untergründen des Schiffsbauchs. Der Dampfer neigte sich so bedrohlich, dass das baldige Sinken offensichtlich war. «In diesem Augenblick klopfte Kapellmeister Hartley auf den Boden seiner Geige. Die Ragtime-Musik verstummte, und die Klänge der Episkopal-Hymne Automn fluteten über das Deck, und trieben in der stillen Nacht weit hinaus über das Wasser. In den Booten lauschten die Frauen wie auf etwas Wunderbares.» So wird später – romanhaft verklärt – über diesen schicksalhaften Moment berichtet (Walter Lord, Die letzte Nacht der Titanic, Scherz 1955).

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Das zuletzt gespielte Stück?
National Postal Museum, Washington

Die Zeugen sind sich einig, dass nur wenige Minuten vor dem endgültigen Sinken und bevor nur noch Schreie zu hören waren, Musik erklang. Uneinig sind sie sich allerdings bezüglich des Stücks. Die Presse, die sich auf die Überlebenden stürzte, trug wohl auch zur mehrfachen Legendenbildung bei. Die New York Times vom 21. April 1912 titelte: «Die Kapelle des sinkenden Schiffs wählte den passenden Choral.» Sie zitierte den geretteten Funker Harold Bride, der die geistliche Hymne Automn erkannt haben wollte. Sie enthält die suggestive Zeile: «Halte mich aufrecht in gewaltigen Wasserfluten». Andere Zeugen erinnerten sich an den Choral Näher mein Gott zu dir. Spätere Kommentatoren wiesen darauf hin, dass es zu der Zeit zwei bekannte Stücke mit dem Namen Automn gegeben habe, den Choral und eine Art Sportpalastwalzer zum Mitpfeifen.

Dieser Punkt wird wohl nie aufgeklärt werden. Sicher ist, dass die geistlich-heroische Variante durch viele Nacherzählungen verbreitet wurde und dass die Musiker der Titanic in besonderem Mass heroisiert wurden. Natürlich liess sich mit dieser Verehrung auch Geld machen. Findige Verleger druckten Notenblätter mit den in Frage kommenden Stücken und dem Bild von Wallace Hartley oder sie brachten neue Stücke heraus, die die Katastrophe musikalisch verarbeiteten: Just as the Ship went down – a Song of the Sea oder The Wreck of the Titanic – a descriptive Composition for Piano solo.

Keiner der Musiker überlebte die Katastrophe. Von dreien, eben auch von Hartley wurde der Körper geborgen. Der Romanautor Joseph Conrad, der selbst zur See gefahren war, spottete über die posthume Hochstilisierung: «Viel schöner wäre es gewesen, wenn die Band der Titanic gerettet worden wäre, anstatt spielend untergehen zu müssen – was auch immer sie spielten, die armen Teufel …»

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«A beautiful Song Inspired by the Wreck of the Titanic»
wikimedia commons

Unrühmliches Nachspiel
Im Bericht der FIM steht weiter: «Nach dem Unglück erhielten die Hinterbliebenen mindestens eines Musikers, aber wahrscheinlich alle, eine Rechnung und eine Kostenaufstellung der Agentur. In der Kostenaufstellung wurde unglaublicherweise dargelegt, dass aufgrund dessen, weil der Vertrag des verstorbenen Musikers in dem Moment ausgelaufen war, als das Orchester nicht mehr spielen konnte, dessen Gage anteilsmässig nicht ausreichend war, um alle durch ihn entstandenen Kosten zu decken, einschliesslich der Reversbesätze der White Star Reederei auf der Jacke, dem Aufnähen von White Star-Knöpfen auf seiner Uniform und seinen Notenblättern. Dies wurde ohne jegliche Anteilnahme oder Beileidsbezeugung mitgeteilt.»

Der Brief an die Familie des erst 21-jährigen Geigers John «Jock» Hume, der diese ungeheuerlichen Forderungen bestätigt, ist erhalten. Die Agentur verlangte von der Familie zudem fünf Shilling zurück, die sie dem jungen Mann zum Kauf eines neuen Anzugs vorgestreckt hatte. Entschädigungsforderungen der Hinterbliebenen verwies sie an die White-Star-Reederei. Aber auch diese drückte sich um die Zahlung (wie sie auch die Heueransprüche ihrer Angestellten genau zum Zeitpunkt des Sinkens einstellte) und verwies wiederum auf die Agentur Black. Nur dank Benefizkonzerten verschiedener Orchester konnte den Familien schliesslich eine Entschädigung gezahlt werden. Geld brachte auch das von der Musikergewerkschaft gedruckte Erinnerungsblatt mit den Porträts der acht Bordmusiker ein, das innert Monatsfrist 80 000 Mal verkauft wurde.

Vermutlich befeuert durch die schäbige Haltung von Reederei und Agentur wurden Anklagen der Angehörigen laut, man habe die Musiker ganz absichtlich geopfert. Der Vater des französischen Cellisten Roger Bricoux befragte ein überlebendes Besatzungsmitglied und bekam zu hören, «… dass die Musiker die Anweisung erhielten, die ganze Zeit über weiterzuspielen (…) dass keiner von ihnen eine Schwimmweste trug und (…) dass sie aufgrund dieser Anweisungen geopfert werden sollten, um zu verhindern, dass an Bord Chaos ausbrach.» (Bericht FIM)

Es leuchtet ein, dass die Kapelle mit Schwimmwesten nicht wirklich Normalität ausgestrahlt hätte. Als aber Wallace Hartleys Leiche – mit oder ohne Geige – aus den eisigen Fluten geborgen wurde, trug er eine Schwimmweste.


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Die schweigende Welt?

Übersetzung Pia Schwab

Übersetzung Pia Schwab

Von den vier Elementen nährt das Wasser unsere Vorstellungskraft zweifellos am stärksten. In allen Religionen spielt es eine Rolle, unzählige Legenden und symbolische Vorstellungen kreisen darum. Wasser ist lebensnotwendig, nach dem Islam sogar dessen Quelle. Es reinigt, wie in der christlichen Taufe, der jüdischen Mikwe oder dem hinduistischen Bad im Ganges. Man schreibt ihm auch heilende Kraft zu: das Wasser aus Lourdes, der legendäre Jungbrunnen oder der Brunnen des Mimir in den germanischen Mythen.

Wasser schützt, löscht Feuer, lindert Schmerzen, erinnert an die Geborgenheit des Mutterleibs. Im Französischen haben mer (Meer) und mère (Mutter) denselben Klang, was wohl sprachgeschichtlich ein Zufall ist. Dichter und Schriftsteller werden aber nicht müde, mit diesem Einklang von Wasserwelt und Welt des Ungeborenen zu spielen. Lange Zeit entstanden die Zivilisationen am Ufer von Meeren, Seen und Flüssen. Und noch heute markieren letztere oft Landesgrenzen: Wasser schützt vor Invasionen. Aber es bringt auch Katastrophen mit sich, sei es durch Überfülle – Überschwemmungen, Tsunamis, Ertrinken –, sei es durch Mangel – Dürre und Unfruchtbarkeit.

Wasser birgt und verbirgt eine andere Welt auf unserem Planeten: die Unterwasserwelt, zu der wir Menschen nur sehr beschränkten Zugang haben. Darin soll es Monster aller Arten geben, von riesigen Kraken bis zu Sirenen, die Seeleute durch ihren Gesang in den Bann ziehen. Mit dem Wasser verbunden ist eine breit gefächerte klangliche und musikalische Vorstellungswelt.

Es ist fast ein wenig sonderbar, dass Jacques-Yves Cousteau seinen berühmten Unterwasser-Dokumentarfilm Die schweigende Welt genannt hat. Schon physikalisch breitet sich der Schall unter Wasser schneller und weiter aus als in der Luft. Walgesänge sind über mehr als 3000 Kilometer zu hören. Und seit Jahrhunderten inspiriert das Wasser die Musiker: La mer von Claude Debussy oder Charles Trenet, An der schönen blauen Donau von Johann Strauss, Les jeux d’eau von Maurice Ravel. Vom Ozean bis zum Regentropfen wurden alle wässrigen Erscheinungsformen in Musik gesetzt.

In dieser Nummer erklärt der Komponist Cyrill Schläpfer sehr treffend, dass man Wassergeräuschen, Wellenrauschen zum Beispiel, lange Zeit lauschen muss, um ihren Gehalt zu ermessen. Es braucht Zeit, um von der Luft- in die Wasserwelt zu gelangen, um – bildlich gesprochen – in diese andere Welt einzutauchen (aus der reale Taucher ja auch nur stufenweise wieder aufsteigen dürfen). Lauschen wir also in aller Ruhe der Schweigenden Welt in dieser Nummer.

Herzlich
Ihr

Jean-Damien Humair
 

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Streiflichter der Chormesse in Dortmund

Die Fachmesse «chor.com» fand dieses Jahr zum zweiten Mal statt, vom 12. bis 15. September. Ein Forum des Deutschen Chorverbands für den Austausch und die Präsentation von Neuheiten.

Foto: chor.com
Streiflichter der Chormesse in Dortmund

Die Fachmesse «chor.com» fand dieses Jahr zum zweiten Mal statt, vom 12. bis 15. September. Ein Forum des Deutschen Chorverbands für den Austausch und die Präsentation von Neuheiten.

Über 150 Seiten stark ist das Programmbuch der chor.com. Was auf den ersten Blick unübersichtlich viel ist, entpuppt sich bei näherem Hinschauen als anregendes Nachschlagewerk: Hier sind nicht nur die Workshops, Konzerte, Vorträge, Dozentinnen und Dozenten mit kurzen Texten vorgestellt, es sind auch alle anwesenden Chorverlage mit ihren Schwerpunkten aufgelistet. So hält dieses Buch über die Messe hinaus die aktuellen Tendenzen und wichtigen Namen im deutschen Chorwesen fest.


Streiflicht 1: Chornoten «printed on demand»

In der Wandelhalle präsentieren grosse und kleine Chorverlage ihre Neuerscheinungen. Ein kleiner Stand zieht die Aufmerksamkeit mit ausgesprochen speziellen Titeln auf sich: mit Lili Boulangers (1893–1918) Psalm 130 Du fond de l’abîme oder mit den Arrangements für sechsstimmigen Frauenchor von Werken Gregor Aichingers (1564–1628), gesetzt von Helmut Steger (*1948). Es handelt sich um den Verlag inter-note printed on demand. Ob man ein vergriffenes Chorwerk sucht oder in einem Archiv eine Spezialität findet, die man aufführen möchte: inter-note ediert in der gewünschten Auflage. Man kann aber auch eine Mappe für seinen Chor zusammenstellen oder aus unpraktischen Sammelbänden Einzelhefte anfertigen lassen – alles auf Bestellung und zu einem guten Preis. Eine interessante und sehr flexible Editionsart, die mancher Rarität zur Aufführung verhilft, ohne einen Auflage-Überschuss zu produzieren.


Streiflicht 2: Chorsingen im Strafvollzug

Dass es auch in Gefängnissen Chöre gibt, ist kaum bekannt. An der chor.com stellte nun Lia Bergmann ihre Masterarbeit Böse Menschen brauchen keine Lieder? vor, in der sie deutsche Gefängnischöre und deren Wirksamkeit im Strafvollzug untersucht. Bergmann studiert an der Berliner Humboldt-Universität, arbeitet ehrenamtlich als Strafvollzugshelferin und ist selber begeisterte Chorsängerin. Von den 176 Strafanstalten in Deutschland bieten 50 Chorsingen an. Durchschnittlich singen 16 Insassen im Chor mit, es gibt jeweils eine Probe von ein bis zwei Stunden pro Woche.

Das Chorsingen spielt bei der Resozialisierung von Straftätern eine nicht zu unterschätzende Rolle. Anhand eindrücklicher Interviews mit Strafgefangenen zeigte Bergmann auf, was das Chorsingen dem Einzelnen bringt: Für die einen ist es eine Flucht aus dem Gefängnisalltag, für andere bietet es einen geschützten Raum, in dem sie respektvollen Umgang erleben und gemeinsam etwas tun. Wieder andere erfahren dabei eine Stärkung ihres Selbstwertgefühls, sie erheben ihre Stimme, ohne zu schreien, und bekommen von den Zuhörern ein positives Feedback.

Es gibt zwei verschiedene Arten von Chorsingen im Gefängnis: Die Gefängnischöre werden intern meist von der Kirche organisiert, der Chor gestaltet den Gottesdienst mit. Interessanter, weil demokratischer und offener geführt sind die externen Chorprojekte: Ein Chor von draussen tritt im Gefängnis auf und singt mit Insassen, oder ein externer Chorleiter macht im Gefängnis ein Chorprojekt. Die Wirksamkeit dieser Arbeit wurde bereits in einer amerikanischen Studie belegt. Aus solchen Projekten entsteht eine interne oder halböffentliche Aufführung, eine CD-Aufnahme, oder man nimmt an einem Wettbewerb teil – vieles ist möglich. Die administrativen Hindernisse sind jedoch hoch und verhindern solche Initiativen oft, berichtet Bergmann. Gerade hier könnten die Gefängnisse mit dem Abbau von organisatorischen Hürden viel gewinnen.
 


Streiflicht 3: Heinrich-Schütz-Edition

Der Kammerchor Dresden arbeitet zurzeit an einer CD-Gesamteinspielung der Chorwerke von Heinrich Schütz (1585–1672), welche 2017 abgeschlossen sein soll. Gleichzeitig gibt der Carus-Verlag in Zusammenarbeit mit dem Heinrich-Schütz-Archiv der Hochschule für Musik Dresden eine von Günter Graulich betreute, «historisch informierte» Neuedition des Gesamtwerks heraus.

Anhand einer Aufführung und eines Workshops zu den Musikalischen Exequien konnte man in der Dortmunder St. Marienkirche einen spannenden Einblick in die Arbeit von Hans-Christoph Rademann und seinem Dresdner Kammerchor bekommen. Rademann liess einige Partien des Sarggesangs ansingen, kommentierte an diesen Beispielen Schütz’plastische Vertonung, welche die Bedeutung des Bibeltextes genial und überraschend konkret «abbildet». Er liess auch die Solosänger zu Wort kommen: Wie war es für sie, die sonst das übliche Opernrepertoire singen, sich in diese alte Musik einzufühlen, sie anders zu singen? Und welche «Tricks» wendet der Organist an, um den Continuo «bildhaft» klingen zu lassen? In diesem Workshop wurde nicht nur die grandiose Qualität des Dresdner Kammerchors ohrenfällig, die Musik von Schütz offenbarte eine unerhört farbenreiche und sinnfällige Klanglichkeit.
 


Streiflicht 4: Leo Kestenbergs Schriften

Leo Kestenberg (1882–1962) war ein einflussreicher Musikreferent der Weimarer Republik, der nach dem Ersten Weltkrieg zum visionären Vordenker der modernen Musikpädagogik wurde und entsprechende Verbesserungen einleitete. Diese wurden an der chor.com von der Internationalen Kestenberg-Gesellschaft reflektiert und auf ihre heutige Aktualität befragt: Kestenbergs musikpädagogische Ideen sind heute so brisant wie damals.

Gerade rechtzeitig zur Chormesse ist zudem der letzte Band der Gesammelten Schriften Kestenbergs erschienen, herausgegeben von Wilfried Gruhn. Dieser vierte Band enthält alle offiziellen Erlasse und Bestimmungen, die Kestenberg zur Reform des preussischen Musikwesens und zur Verbesserung der Ausbildung der Musiklehrerschaft verfasst hat – eine wertvolle Lektüre für alle, die sich mit der Reform der Musikpädagogik beschäftigen.
 


Streiflicht 5: Bewegung bewegt

Viele Workshops befassten sich mit der Jugendchorarbeit. Wie bringt man Kinder und Jugendliche zum Singen? Und wie weckt man die Freude, ohne sich anzubiedern? Bewegung bewegt von Werner Schepp zeigte eine einfache, neuartige Methode: Wenn man sich zu einem rhythmisch schwierigen Lied bewegt, also im Grundrhythmus voranschreitet oder zum Liedtext passende Bewegungen ausführt, lernt man es leichter, nimmt spielerisch die richtige Haltung zum Singen ein und versteht den Rhythmus aus der Bewegung heraus. Zudem wird die Gruppe in der Bewegung anders erfahren: Der Teamgeist wird gefördert, und es macht Spass. Oft werden die Kinder auf diese Weise kreativ, erfinden neue Schrittarten zum Lied und bringen sich ein. (Folkwang Universität der Künste)


Streiflicht 6: Neues Vokalmagazin

Der Deutsche Chorverband gibt neuerdings ein eigenes Magazin heraus: Chorzeit. Das Vokalmagazin. Die Nullnummer wurde an der chor.com verteilt. Das Heft ist in erster Linie themenbezogen und keine eigentliche Verbandszeitschrift. Es werden spannende Chorprojekte und -konzerte präsentiert, viele Anregungen für Chorleiter gegeben, informative Hintergrundberichte publiziert, die zum Weiterdenken anregen – kurz: eine lebendige Chorzeitung mit viel Substanz. Die von Nora-Henriette Friedel und Daniel Schalz redigierte Monatszeitschrift ist ab Januar 2014 im Handel und im Abo erhältlich.

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Richard Wagner und Heinrich Schenker – zwei ästhetische Paradigmen

Gemäss Heinrich Schenker erschliesst sich eine Komposition über ihre Struktur. Für Wagner hingegen offenbart sich ein Werk in der Erfahrung seines Ausdrucks.

Heinrich Schenker (1868-1935). Bild: Hermann Clemens Kosel (1912)/Wikicommons

Von der einsamen Grösse der deutschen Kunst waren sie beide überzeugt – Richard Wagner, der Jubilar dieses Jahres, und Heinrich Schenker. Dies ist aber schon ziemlich alles, was die beiden verbindet. Die Schlussworte des Hans Sachs («ehrt Eure deutschen Meister») aus Die Meistersinger von Nürnberg fanden mit Bestimmtheit Schenkers ungeteilte Zustimmung, die Musik des Bayreuther Meisters war ihm hingegen suspekt. Hat sich der eine von der Vereinnahmung durch die Nazis blendend erholt, so hat Schenkers Theorie im deutschsprachigen Raum nach dem Krieg noch nicht wieder Fuss gefasst. Leider!

Beispiel Beethoven

Anhand des Beginns der 5. Sinfonie in c-Moll op. 67 von Ludwig van Beethoven erläutert Schenker den Unterschied der ästhetischen Position zwischen sich und Wagner. Der Wissenschaftler, der zu Gunsten der Ausarbeitung seiner theoretischen Betrachtungsweise das eigene kompositorische Arbeiten zurückgestellt hat, schreibt in seinen Analysen die Stücke gleichsam nach. Deshalb kann diese Tätigkeit selbst als ein schöpferischer Akt angesehen werden. Dabei geht er von einem Ursatz bzw. einer Urlinie aus, welche auf einer Hintergrundebene die Werke der Dur – Moll tonalen Epoche zusammenhalten. Seine Analysen entwickeln also alle Phänomene eines Stückes aus einer Urzelle heraus, wobei aufgezeigt wird, wie jedes klingende Motiv mit diesem einheitsstiftenden Ursatz in Zusammenhang steht. Die Darstellungsweise ist also deduktiv, sich von einem Hintergrund, über einen Mittelgrund in die Ereignisse an der Oberfläche emporarbeitend. Goethes Begriff der Urpflanze steht in engem Zusammenhang mit Schenkers Bezeichnung des Ursatzes.

In seiner Analyse der oben erwähnten Sinfonie in Heft 1 aus Der Tonwille erläutert der Wiener Theoretiker, dass er nicht – wie es normalerweise geschieht – die ersten beiden Takte (g’ g’ g’ es’) als das Motiv des ersten Satzes ansieht, sondern die Gemeinschaft der ersten fünf Takte. Erst mit der um eine Sekunde tiefer gesetzten Wiederholung (f’ f’ f’ d’) haben wir die vollständige Keimzelle. Diese Unterscheidung mag auf den ersten Blick sophistisch erscheinen, bei genauerem Hinschauen ist sie aber wesentlich. Dadurch, dass die ersten fünf Takte als Einheit aufgefasst werden, die sich in zwei Teilmomente gliedern lassen, wird die Idee des Motivs auf die Sekundbewegung von es’ zu d’ gelegt. In der anderen Betrachtungsweise, bei welcher die ersten fünf Takte aus zwei addierten Elementen bestehen, kommt die Aufmerksamkeit unweigerlich auf die Achtelbewegung mit dem anschliessenden Terzsprung abwärts zu liegen. Für die Art und Weise der Hermeneutik ist dieser Unterschied von entscheidender Bedeutung. Schenker zeigt anschliessend, wie die melodische Keimzelle es’ – d’ in der Fortsetzung wiederum aufgegriffen und weitergeführt wird.

Richard Wagner hingegen sieht die ersten beiden Takte als ein in sich abgeschlossenes Motiv mit einer eigenen Ausdruckskraft an. Diese Ansicht bekundet er in seinen Schriften Über das Dirigieren und Über das Operndichten und Komponieren. Schenker zitiert den entsprechenden Passus aus der ersten Schrift, er sei hier in vollem Wortlaut wiedergegeben: «Nun setzen wir den Fall, die Stimme Beethovens habe aus dem Grabe einem Dirigenten zugerufen: ‹Halte du meine Fermate lange und furchtbar! Ich schrieb keine Fermaten zum Spass oder aus Verlegenheit, etwa um mich auf das Weitere zu besinnen; sondern, was in meinem Adagio der ganz und voll aufzusaugende Ton für den Ausdruck der schwelgenden Empfindung ist, dasselbe werfe ich, wenn ich es brauche, in das heftig und schnell figurierte Allegro, als wonnig oder schrecklich anhaltenden Krampf. Dann soll das Leben des Tones bis auf seinen letzten Blutstropfen aufgesogen werden; dann halte ich die Wellen meines Meeres an, und lasse in seinen Abgrund blicken; oder hemme den Zug der Wolken, zerteile die wirren Nebelstreifen, und lasse einmal in den reinen blauen Äther, in das strahlende Auge der Sonne sehen. Hierfür setze ich Fermaten, d. h. plötzlich eintretende lang auszuhaltende Noten in meine Allegros. Und nun beachte du, welche ganz bestimmte thematische Absicht ich mit diesem ausgehaltenen Es nach drei stürmisch kurzen Noten hatte, und was ich mit allen den im Folgenden gleich auszuhaltenden Noten gesagt haben will.›»

Wagner rückt also seine Deutung in die Nähe der von Anton Schindler überlieferten Metaphorik, so poche das Schicksal an die Pforte. Schenker hält dem folgende Replik entgegen: «Gesetzt auch den Fall, in des Meisters Phantasie hätte sich mit der Rhythmik des Motivs die Ideenverbindung eines an die Pforte pochenden Schicksals eingestellt, so waltet über dieses Pochen hinaus doch nur die Kunst ihres Amtes, nicht mehr das Schicksal. Und wollte man auch hermeneutisch deuten, es ringe Beethoven mit dem Schicksal den ganzen Satz entlang, so wäre am Ringen eben nicht nur das Schicksal allein beteiligt, sondern auch Beethoven, nicht aber allein der Mensch Beethoven, sondern noch mehr Beethoven der Musiker. Rang Beethoven also in Tönen, so genügt keine der Legenden und keine hermeneutische Deutung, um die Tonwelt zu erklären, wenn man nicht eben mit den Tönen so denkt und fühlt, wie sie gleichsam selbst denken.» (kursiv gesetzt vom Autoren).

Damit sind zwei grundsätzlich verschiedene ästhetische Prinzipien ausgesagt. Schenker deutet die Musik gleichsam von innen heraus, er ist interessiert an der Struktur und versucht die Musik aus dieser Erkenntnis heraus zu verstehen. Dabei verschliesst er sich keineswegs dem Ausdruck, nur überlässt er die inhaltliche Bestimmung den Zuhörenden. Da er darauf nicht Einfluss nehmen will, sucht man in seinen Analysen vergeblich nach solchen Hinweisen. Ihn interessiert an einem Kunstwerk nicht, was es ist, sondern wie es gemacht ist. Je genauer die Machart erkannt werden kann, um so präziser wird sich auch der Ausdruck und die Empfindung danach richten. Schenker verstand also das Verhältnis von Struktur und Ausdruck ganz in dem Sinne, wie es Helmut Lachenmann einmal beschrieben hat: «Und das ist ein konstruktiver Wille, der geht mit den Dingen ordnend oder auch zersetzend um. Alles, was ein Komponist macht, was er konstruiert, überträgt sich nachher als Ausdruck. Für mich ist der Begriff Struktur nur die Rückseite dessen, was wir als Hörer Ausdruck nennen.»

Beispiel Bach

Hingegen ist Wagner in erster Linie am Ausdruck interessiert. Ihm hat sich ein Stück erschlossen oder offenbart (um einen Wagnerschen Terminus zu benutzen), sobald er dessen Ausdruck erfahren hat. Vielsagend in dieser Hinsicht ist eine Beschreibung in Über das Dirigieren von Interpretationen aus dem Wohltemperierten Clavier von Bach. Der Dichterkomponist beschreibt eine Darbietung des Präludiums und der Fuge in es-Moll aus dem WTC I (die dis-Moll Tonart der Fuge erwähnt Wagner nicht) eines namhaften älteren Musikers und Genossen Mendelssohns. Dieses Vorspiel schien ihm so harmlos und nichtssagend zu sein, dass er sich dabei in eine neuhellenische Synagoge versetzt fühlte. Um sich von diesem peinlichen Eindruck zu reinigen, bat er einmal Franz Liszt, ihm Präludium und Fuge in cis-Moll vorzutragen. Seinen Eindruck gibt er mit folgenden Worten wieder: «Nun hatte ich wohl gewusst, was mir von Liszt am Klaviere zu erwarten stand; was ich jetzt kennen lernte, hatte ich aber von Bach selbst nicht erwartet, so gut ich ihn auch studiert hatte. Aber hier ersah ich eben, was alles Studium ist gegen die Offenbarung: Liszt offenbarte mir durch den Vortrag dieser einzigen Fuge Bach, so dass ich nun untrüglich weiss, woran ich mit diesem bin, von hier aus in allen Teilen ihn ermesse, und jedes Irrewerden, jeden Zweifel an ihm kräftig gläubig mir zu lösen vermag.»

Es ist sehr bemerkenswert, dass Wagner sich durch Liszts Spiel die bachsche Musik offenbaren lässt, seinem eigenen Studium der Kompositionen des Meisters aus Eisenach eine untergeordnete Bedeutung zumisst. Was ihm die Musik zu sagen hat, holte er in diesem Beispiel nicht aus der eigenen Erkenntnis, sondern er lässt sich die inhaltliche Aussage geben von einem Interpreten, der seinen Geschmack trifft.

Die Erkenntnis von Struktur wird gerne als Feind des Ausdrucks und Einschränkung der künstlerischen Freiheit angesehen, dabei könnten sich diese beiden Pole gegenseitig bedingen und befruchten. Ich jedenfalls habe immer die Erfahrung gemacht, dass die Erkenntnis der Struktur die Schönheit einer Komposition letztlich erst ermöglicht hat. Ohne diese Arbeit kann ich Kunst sehr wohl als angenehm empfinden, das ist aber nicht der Grund, weswegen ich mich damit beschäftige. Die Analysemethode von Heinrich Schenker ist mir jedenfalls eine grosse Hilfe, die Schönheit der Musik erfahren zu können, wobei hier Schönheit als Spiel angesehen wird, wie die verschiedenen strukturellen Ebenen miteinander im Gespräch sich befinden und wie sich die Vielschichtigkeit in der Einheit spiegelt und umgekehrt. Wer die Probe aufs Exempel machen will, kann sich einmal mit dem kurzen Aufsatz Die Kunst zu hören aus dem dritten Heft von Der Tonwille beschäftigen. Ich bin der Überzeugung, dass die Qualität der Wahrnehmung der ersten vier Takte des darin besprochenen bachschen Präludiums in Fis-Dur aus dem WTC I durch die dargelegten Stimmführungsbeziehungen gesteigert wird. Allerdings wird man beim Lesen des Textes noch einen anderen Charakterzug entdecken, den Schenker mit Wagner verbindet, nämlich die penetrante Weise, Andersdenkende stets zu verunglimpfen. Dies scheint mir bei beiden aber mehr ein schützender Panzer zu sein, unter dem ihre Arbeit erst gedeihen konnte.

Im soeben erwähnten Aufsatz ist es Hugo Riemann, der Opfer von Schenkers Tiraden geworden ist. Auch wenn diese Art der Ausdrucksweise abstossend ist, weil sie absolut unnötig und der Sache nicht dienlich ist, so hat Schenker doch nicht unrecht. Im Katechismus der Fugenkomposition beschreibt Riemann alle Präludien und Fugen aus dem WTC von J.S. Bach. Daraus wähle ich – um ein weiteres Beispiel anzufügen – das Präludium in c-Moll aus dem WTC I. Riemann charakterisiert dieses Stück ganz aus der romantischen Sichtweise heraus. Er verwendet Metaphern, die an Beethovens 5. Sinfonie und an der Grande sonate pathétique op.13 gebildet wurden. Das Stück ist für ihn ganz aus dem Geiste der c-Moll Tonart geboren, voll verhaltener Kraft und vibrierender Leidenschaftlichkeit. Beim Prestoteil spricht er gar von einem losbrechenden prasselnden Hagelwetter. Zu solchen inhaltlichen Bestimmungen kann man gelangen, ohne von Struktur, Kompositionstechnik und Stimmführung etwas verstehen zu müssen. Sie zeugen auch nicht von einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Stück, sondern sind Ausdruck einer äusserlichen inhaltlichen Bestimmung. Die Expressivität wird in dieser Umgangsform mit Kunst nicht aus dem Objekt herausgeholt, sondern wird diesem gleichsam aufgepfropft.

Schlussbemerkungen

Der Sinn eines Jubiläumsjahres kann ja auch sein, auf Verborgenes und Verschüttetes wieder aufmerksam zu machen. Im Falle von Richard Wagner wäre es zum Beispiel die immer noch herrschende romantische Musikauffassung – trotz historischer Aufführungspraxis – zu überdenken und zu reflektieren.

Friedrich Schiller schreibt im 23. Brief seiner Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen folgende Gedanken: «In einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles tun; denn durch die Form allein wird auf das Ganze des Menschen, durch den Inhalt hingegen nur auf einzelne Kräfte gewirkt. Der Inhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sei, wirkt also jederzeit einschränkend auf den Geist, und nur von der Form ist wahre ästhetische Freiheit zu erwarten.»

Schiller, der – wie Goethe als Naturforscher – als Philosoph meines Erachtens zu wenig gewürdigt wird, erarbeitete in seinen ästhetischen Schriften den philosophischen Unterbau für eine Theorie vom Zuschnitte Heinrich Schenkers. Wahre ästhetische Freiheit ist von der Kenntnis der Form, also von der Struktur zu erwarten und nicht durch die Vermittlung von Inhalt. Aufgabe wäre es also, Struktur nicht als ein Abstraktum zu verstehen, welche als inhaltsleer und empfindungslos wahrgenommen wird (oder gar als Feind von Expressivität), sondern im Gegenteil als Auslöser für die unendliche Vielfalt der Gefühlswelt stehen würde. An dieser Stelle sind der praktische wie auch der theoretische Musiker gefragt, der erstere insofern, als er sich auf Strukturen als Grundlage von Interpretation besinnt und der zweite durch eine Art der Vermittlung, welche das Verhältnis von Struktur und Inhalt bewusst thematisiert.
Wie modern Schenker dachte, zeigt sich auch daran, dass er zu einer Zeit, wo es Mode war, die Ausgaben der klassischen Werke mit interpretatorischen Angaben wie Bögen, dynamischen Zeichen etc. zu überziehen, sich darauf besonnen hat, möglichst den Willen der Komponisten wiederzugeben, indem er als Herausgeber auf alle diese Zutaten verzichtete und den Notentext so authentisch wie möglich wiedergab.

Raphael Staubli ist Dozent für Theorie an der Hochschule Luzern-Musik.

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