Boulez bei Burger King?

Neue Musik zum schnellen Verzehr.

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Boulez bei Burger King?

Neue Musik zum schnellen Verzehr.

Mit Pierre Boulez starb diesen Januar die letzte grosse Gründerfigur der Neuen Musik. In den obligaten Nachrufen wurde versucht, seinem breiten Wirken gerecht zu werden. Manchmal stand der Komponist Boulez im Zentrum des Interesses, manchmal der Dirigent und zuweilen gar der Kulturfunktionär. Schliesslich aber zielten alle diese Texte auf die alles entscheidende Frage: Wird er, wird seine Musik bleiben?

Ohne zu übertreiben kann sie als die Gretchenfrage der Kunstrezeption bezeichnet werden. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird zum grossen Komponisten nur erklärt, wer vor dem Urteil nachfolgender Generationen besteht. Eine Haltung, die dem heutigen Klassik-Betrieb einige Probleme beschert. Besonders zu leiden hat dabei das zeitgenössische Musikschaffen, das im Verlauf des 20. Jahrhunderts an den Rand der gesellschaftlichen Wahrnehmung gedrängt wurde. Oft wird die Schuld dafür beim Musikbetrieb, dem Publikum oder anderen dunklen Kräften gesucht. Dabei geht aber vergessen, dass nicht nur die Rezipienten, sondern die Produzenten selbst wenig Interesse an der Gegenwart zeigen. Denn auch die Komponisten unserer Zeit haben verinnerlicht, dass nur der wirklich zählt, dessen Musik überlebt.

Obwohl in der Neuen Musik also viele traditionelle Vorstellungen über die Tonkunst zur Disposition gestellt wurden, halten die meisten ihrer Vertreter am Narrativ der die Zeiten überdauernden Meisterwerke fest – wohl in der Hoffnung, selbst einen Beitrag zum Kanon beizusteuern. Man könnte über diesen romantischen Anachronismus der Avantgarde grosszügig hinwegsehen, indem man ihn zum psychologisch notwendigen Teil einer in unbekannte Gefilde vordringenden Künstlerexistenz verklärt. Könnte man. Doch um dem zeitgenössischen Musikschaffen auch im dritten Jahrtausend Präsenz zu verschaffen, bedarf es frischer Ansätze.

Hamburger statt Filet Wellington

Wagen wir ein Gedankenexperiment – statt Werke für die Ewigkeit zu schaffen, welche dann doch nur einmal aufgeführt werden, könnte man die Not zur Tugend machen: Stücke schreiben für den Augenblick, für genau eine Aufführung, unwiederholbar. Oder, um es mit einem Vergleich zu sagen: Statt ihren Namen in Gerichten wie dem Filet Wellington zu verewigen, sollten sich die Komponisten hinter den Grill bei McDonalds stellen. Musik mit den Vorzügen eines Hamburgers schaffen – schnell zu verschlingen.

Was gäbe es dabei zu gewinnen? Sieht man sich die Entwicklung der Musikbranche an, erkennt man einen kontinuierlichen Zerfall des bisherigen Geschäftsmodells. Die Tonträgerindustrie wurde durch Gratis-Downloads ihres Absatzmarktes beraubt, Geld verdient man höchstens noch mit Konzerten. In der Popmusik verlangen daher die Grössen der Zunft für immer aufwendiger inszenierte Livekonzerte immer höhere Eintrittspreise, während sich in der E-Musik der Kult um Interpreten ins Unermessliche steigert. Während deren Gastspiele zumeist gut besucht werden, bleiben die Säle ansonsten halb leer. Den Trend hin zum Konzert als aussergewöhnlichem Ereignis gilt es aufzugreifen und konsequent weiterzudenken. In Zeiten der Reproduzierbarkeit und digitalen Verbreitung von Musik kann die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil werden. Diese Entwicklung zu antizipieren, ist die Herausforderung, aber auch die Chance gerade der Neuen Musik.

Ansätze in dieser Richtung gab es bereits einige. Die Aleatorik der späten 50er-Jahre, wie sie zum Beispiel in Stockhausens Klavierstück XI verwirklicht wurde, kann als Versuch interpretiert werden, einem Werk mit jeder Aufführung eine andere Gestalt zu verleihen. Noch mehr Einzigartigkeit, und somit mehr Eventcharakter, besitzen die ortsgebundenen Stücke des Kanadiers R. Murray Schafer (*1933). So sind im Musiktheater The Princess of the Stars die akustischen Begebenheiten des Aufführungsortes, eines kleinen Sees ausserhalb Torontos, in die Komposition mit einbezogen. Möchte man eine Aufführung des Werks erleben, muss man wohl oder übel nach Nordamerika reisen. Von solchen Ideen ist es nur noch ein kleiner Schritt, Kompositionen derart zu konzipieren, dass sie ein bestimmtes Konzert zu einem einzigartigen, unwiederbringlichen Ereignis machen. Von «Sternstunde» würde dann nicht mehr gesprochen, weil die Tastenlöwin XY mal wieder einen guten Tag hatte –, sondern weil man bei der einzigen Gelegenheit dabei war, das neue Stück zu hören.

Faktor Zeit

Freilich bedingt ein solches Konzept, die Musik entsprechend anzupassen. Da die Wiederholung eines Stückes ausgeschlossen ist, sollte es zum Beispiel bei einmaligem Hören zu verstehen sein. Es sollte schnell konsumierbar sein und keiner umfangreichen Erklärungen bedürfen. Doch widerspricht das nicht dem Selbstverständnis der Neuen Musik? Ist der Gedanke, dass Experimente Zeit brauchen, um verstanden zu werden, nicht konstitutiv für eine dem Fortschritt verpflichtete Musizierhaltung? Gewiss, doch der Blick in die vorklassische Vergangenheit zeigt zumindest, dass man anspruchsvolle Musik auch dann schreiben kann, wenn man weder auf wiederholte Aufführungen noch auf eine verständnisvollere Nachwelt schielt.

Komponisten wie Georg Philipp Telemann oder Johann Sebastian Bach hätten es sich nicht träumen lassen, dass ihre Musik über ihren Tod hinaus weiter aufgeführt würde. Tote Tonsetzer, auch die bekanntesten, besassen höchstens historischen Wert. Dennoch verwandten sie ihr ganzes Können darauf, Werke höchsten Anspruchs zu schaffen. Selbst ein Werk wie Telemanns Tafelmusik, per definitionem ein Stück Gebrauchsmusik, lässt subtil die Kunst seines Autors erkennen. Um den Zweck einer Musique de table nicht zu verfehlen, also ein höfisches Mahl nicht durch übermässige Expressivität der Musik zu stören, liegen die Raffinessen der Partitur auf einer anderen Ebene. Die virtuose Beherrschung unterschiedlichster Genres und Besetzungen ist es, die Telemann darauf hoffen liess, mit Hintergrundmusik Ruhm bei den Zeitgenossen zu erlangen.

Als weiteres Beispiel können Bachs über 200 Kantaten herangezogen werden. Jede Woche hatte nicht nur eine neue geschrieben, sondern auch gleich einstudiert und am Sonntag aufgeführt werden müssen. Dennoch schaffte es der Komponist, den spezifischen Ausdrucksgehalt jedes Textes aufzunehmen und in Musik zu fassen. Solche Mühen nahm er im Wissen oder aus heutiger Sicht eher im Glauben auf sich, dass es beim einmaligen Erklingen dieser Werke bleiben würde.

Zugegeben, diese zwei Beispiele entstammen einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem die Musik Funktionen einnahm, die sie heute nicht mehr erfüllen kann. Herrschaftliche Repräsentation und die Lobpreisung Gottes zählen nicht zu den primären Aufgaben der Neuen Musik. Trotzdem vermögen sie zu zeigen, dass die Qualität der Musik nicht unter den oben beschriebenen Anforderungen zu leiden braucht. Auch schnell geschriebene, auf Anhieb erfassbare Stücke oder Konzepte können höchsten ästhetischen Ansprüchen genügen.

Doch wie steht es mit der Idee, dass fortschrittliche Kompositionstechniken Zeit brauchen, um sich zu etablieren, um Allgemeingut zu werden? Ich glaube, dabei wird die Wirkungsmacht der Zeit überschätzt. Dazu eine kurze Anekdote: Vor Jahren beklagte eine alte Dame den Umstand, dass es heute keine «grossen Männer» wie Mozart oder Beethoven mehr gebe. Schon eher defensiv erwiderte ich ihr, dass das nicht stimme, es gebe doch Schönberg. Eine Bemerkung, welche sie nur mit einem spöttischen «Ach, die Modernen» quittierte. Ein Komponist, der dazumal bereits 50 Jahre tot war, wurde von der Dame noch immer als modern abgestempelt. Ein halbes Jahrhundert reichte also nicht aus, um Schönbergs Musiksprache ihres neutönerischen Nimbus zu berauben. Es scheint daher für den avantgardistischen Komponisten ratsam zu sein, nicht allzu viel auf die Zukunft zu geben. Wieso es also nicht mit Hamburgern versuchen? Und keine Angst, bloss am Konsum orientiert ist das nicht. McDonalds Burger sind zwar schnell geschluckt, bleiben aber lange im Magen.
 

Simon Bittermann

… arbeitet seit über 20 Jahren im Musikalienhandel und hat nebenbei Philosophie und Musikwissenschaft studiert. Er schreibt regelmässig Kritiken für den Tages-Anzeiger. Und falls er endlich die Zeit dafür findet, wird er sich in seiner Dissertation mit den Philosophischen Aspekten von Schönbergs Überschreitung der Tonalität herumschlagen dürfen.

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Versickerungstendenzen

Auf den ersten Blick scheinen Neue Musik und Konsum an entgegengesetzten Enden des Kulturbetriebes angesiedelt. So eindeutig ist die Ausrichtung auf kompromisslose Neuheit auf der einen und Markttauglichkeit auf der anderen Seite aber nicht.

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Versickerungstendenzen

Auf den ersten Blick scheinen Neue Musik und Konsum an entgegengesetzten Enden des Kulturbetriebes angesiedelt. So eindeutig ist die Ausrichtung auf kompromisslose Neuheit auf der einen und Markttauglichkeit auf der anderen Seite aber nicht.

Ein Regenwurm ernährt sich von Erde und vermodertem Pflanzenmaterial. Brauchbare Stoffe nimmt er auf, die zerkleinerten Überreste scheidet er aus. Dadurch lockert er das Erdreich auf, hilft dem pflanzlichen Verrottungsprozess und produziert fruchtbaren Humus. Dieser wiederum wird von den Pflanzen benötigt, die Nährstoffe daraus ziehen und den Humus wieder zu gewöhnlicher Erde machen. Gemäss dem Medientheoretiker und Philosophen Vilém Flusser funktioniert unsere heutige Gesellschaft ähnlich: Als Menschen nehmen wir «Natur» auf und verwerten sie zu «Kultur». Mit der Zeit werden die so hergestellten Kulturgüter Abfall, sie verlieren ihren Wert und zerfallen wieder zu «Natur». Oder zumindest zu Material, welches kulturell nutzlos und somit wertfrei geworden ist. Dieses wertfreie Material kann nun wieder verwertet werden. Ein ewiger Kreislauf von wertfrei-Verwertung-wertvoll-wertlos-wertfrei etc.

Dieses Modell kann auf das Verhältnis von Neuer Musik und Konsum übertragen werden. Dabei verstehe ich Konsum als einen Mechanismus, der Produkte möglichst breit zu verkaufen versucht. Neue Musik ist nun nicht dafür bekannt, dass sie ihre Produkte auf die breite Verkäuflichkeit hin entwirft. Sie ist eine dem Konsum eher abgewandte Musikart. Die Neue Musik versteht sich vielmehr als Speerspitze des Flusserschen Verwertungsprozesses. Sie ist sozusagen der Mund, der sich die als wertlos angesehenen Dinge – in diesem Fall z. B. Klänge – einverleibt und aufzuwerten weiss. Die europäische und amerikanische Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts kann unter den Stichworten Emanzipation der Dissonanz und des Geräusches ein Lied davon singen. Zu Beginn des Jahrhunderts wurde die Dissonanz unter anderem durch die atonale und zwölftönige Musik Arnold Schönbergs als neue Klangsprache etabliert und somit wertvoll gemacht. Im Laufe des Jahrhunderts wurde dann das blosse Geräusch als musikalisches Material kulturell aufgewertet.

Doch diese Errungenschaften der Neuen Musik versickern mit der Zeit – gemäss dem Verdauungsprozess des Regenwurms –, sinken in andere Bereiche ab. Die clusterhaften Dissonanzen Strawinskys oder Schönbergs sind zu gängigen Techniken der Filmmusik und zum «Markensound» von erschreckenden Horrorszenen geworden. Das Sampling des Hip-Hops kann als Nachfolge der Tonbandtechniken gesehen werden, die durch die Musique concrète eingeführt wurden. Und in einer SRF-Sendung zur Minimal Music (Musik unserer Zeit, Mai 2016) erzählt der Komponist und Dirigent Irmin Schmidt, dass er die deutsche Krautrock-Band Can gegründet hat, nachdem er in New York 1966 mit der Minimal Music von Terry Riley und LaMonte Young in Berührung kam. Wohlgemerkt nachdem er bei Karlheinz Stockhausen und György Ligeti studiert hatte.

Die Neue Musik ist also kein abgeschlossener Bereich, in dem Hochkultur zelebriert wird und Konsum keinen Platz findet. Ständig versickern Techniken und Konzepte der Neuen Musik in andere, dem Konsum stärker zugeneigte Bereiche.

Doch wie sieht es in der umgekehrten Richtung aus? Dringen auch Klänge, Methoden, Techniken aus konsumorientierteren Musikbereichen in die Sphäre der Neuen Musik ein? Ein Beispiel: 2013 komponierte Hannes Seidl ein Stück mit dem sperrigen Titel Die letzten 25 Jahre in No. 1 Hits der deutschen Jahrescharts dargestellt durch Karlheinz Stockhausens Studie 2 5x. Das Stück kann als «Cover» der Studie II von Karlheinz Stockhausen (UA 1954) verstanden werden. Die Studie II ist nur aus elektronisch erzeugten Sinustönen aufgebaut und gilt als früher Meilenstein der elektronischen Musik. Stockhausen hat dafür eine elaborierte Partitur angefertigt, die jedem ermöglicht, das Stück «nachzubauen». Seidl hat dies für Die letzten 25 Jahre getan. Nur hat er dafür nicht Sinustöne als Grundlage verwendet, sondern eben die No. 1 Hits der deutschen Charts der Jahre 1988 bis 2013.

Zum einen ist Seidls Stück ein Beispiel dafür, dass auch Klänge aus der Pop-Musik inzwischen in der Neuen Musik Verwendung finden, dass also nicht nur Versickerungstendenzen von der Neuen Musik Richtung konsumorientierter Musik, sondern auch umgekehrt zu beobachten sind. Zum anderen dienten dem «Regenwurm» Hannes Seidl nicht nur die Pop-Hits der Jahre 1988 bis 2013 als «Futter», sondern auch Stockhausens Studie II. Daraus könnte man nun schliessen, dass nicht nur die Pop-Hits von vorgestern, sondern auch die Studie II von Stockhausen inzwischen zu wertlosem «Abfall» geworden sind. An dieser Stelle ist jedoch anzumerken, dass Flussers Regenwurmmodell immer auf einer bestimmten Perspektive beruht. Was nun z. B. Komplexität, Erneuerungsstreben, Formalismus oder Elitismus angeht, gehört die Neue Musik zur Speerspitze der Musik. Was Kategorien wie Verkaufszahlen oder Radiotauglichkeit betrifft, würden die Pop-Charts die Neue Musik um Längen schlagen. Aus dieser Perspektive sind sowohl Stockhausens Studie II als auch Seidls Die letzten 25 Jahre ziemlich wertlos.

Hannes Seidl verbindet in Die letzten 25 Jahre die Verwertungskreisläufe der Neuen Musik und die der Pop-Musik auf kritische Weise. Durch das Recycling des Stockhausen-Stückes mittels Pop-Hits verweist er auf den Klassikerstatus von Studie II, die man – gemäss den Mechanismen der Pop-Musik – deshalb covern darf. Gleichzeitig spricht er dem Stück eine gewisse veraltete Ästhetik zu, die er auf ironische Weise durch die Verwendung der auch schon veralteten Pop-Hits zu erneuern sucht. Sowohl die No. 1-Hits als auch die Studie II sind passé. Nur sind die Halbwertszeiten unterschiedlich lange.

Die Parallelen gehen noch weiter. Sicherlich ist die Neue Musik nicht in der gleichen Weise wie die Musik der neusten Popsternchen den Mechanismen des konsumorientierten Markts unterworfen, doch gänzlich frei von Verkaufsargumenten ist selbst die hehre Neue Musik nicht. Obwohl sie grösstenteils in einem durch Subventionen und Stiftungsgelder geschützten Raum entsteht, spielen verkaufsfördernde Aspekte auch in der Neuen Musik eine Rolle. Wobei sich der Erfolg weniger in den Ticket- und CD-Verkäufen als im Interesse und Förderungswille der Kulturausschüsse, Stiftungen und Wettbewerbsjurys manifestiert.

Es stellt sich dabei die Frage, ob die Neue Musik nicht die Aufgabe hätte, diese Wünsche der Jurymitglieder, Konsumentinnen und Konsumenten etc. zu thematisieren und zu hinterfragen statt zu befriedigen. Gemäss Clement Greenbergs berühmtem Essay von 1939 Avant-Garde and Kitsch imitiert und thematisiert die Avantgarde (zu der man die Neue Musik zählen mag), die Prozesse der Kunst, während ihr Gegenpart, der Kitsch, die Effekte der Kunst imitiert. Dementsprechend muss sich Neue Musik, die ihr «Neu» im Namen noch verdient, auf die Prozesse der Kunst und der heutigen Kunstlandschaft beziehen. Die eigene Disziplin zu zitieren, zu hinterfragen und zu kritisieren, stellt somit eine notwendige Bedingung für interessante Ergebnisse dar. Damit einher geht die von Seidl mittransportierte Einsicht, dass Neue Musik und Konsum sich nicht ganz so spinnefeind sind, wie man vielleicht annehmen könnte.

Literatur

Vilém Flusser: Die Informationsgesellschaft als Regenwurm, in: Gert Kaiser, Dirk Matejovski, Jutta Fedrowitz: Kultur und Technik im 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. und New York 1993, S. 69-80.

Hannes Seidl: Die letzten 25 Jahren in No. 1 Hits der deutschen Jahrescharts dargestellt durch Karlheinz Stockhausens Studie 2 5x; Exzerpte und mehr Informationen unter: http://studios.basis-frankfurt.de/works/die-letzten-25-jahre-/ [eingesehen: 4. Juli 2016].

Hannes Seidl: Neu. Über die Ökonomie Neuer Musik, in: Kunstmusik 13 (2010), S. 46-52.

Clement Greenberg: Avant-Garde and Kitsch, in: Partisan Review 6/5 (1939), S. 34-49.

 

 

Jaronas Scheurer
… ist Masterstudent an der Universität Basel (Musikwissenschaft und Philosophie), Hilfsassistent am Musikwissenschaftlichen Seminar Basel und Musikjournalist.

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Sofa oder Polsterstuhl?

Privates Musikhören ist heute zwar sehr komfortabel, ein wirkliches Musikerlebnis findet jedoch nur im Konzert statt. Diese beiden Formen des Musikkonsums müssen sich nicht ausschliessen.

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Sofa oder Polsterstuhl?

Privates Musikhören ist heute zwar sehr komfortabel, ein wirkliches Musikerlebnis findet jedoch nur im Konzert statt. Diese beiden Formen des Musikkonsums müssen sich nicht ausschliessen.

Wer kennt ihn nicht, den Schweinehund, der einen dazu verleitet, freitagabends nach einer anstrengenden Arbeitswoche in bequeme Klamotten zu schlüpfen, um es sich mit einem Glas Wein oder einem kühlen Bier auf dem Sofa bequem zu machen? Es ist nichts Verwerfliches daran, den Feierabend auf diese Art einzuläuten. Doch wenn man sich erst einmal gemütlich eingenistet hat, verschwendet wohl kaum jemand noch einen Gedanken daran, wie sich eine solche Haltung auf den Musikkonsum auswirkt.

Livekonzert im Polsterstuhl vs. Musikgenuss auf dem heimischen Sofa? Während sich die einen gerne hübsch machen und die Künstler hautnah erleben, lauschen die anderen der Musik viel lieber aus der Badewanne, beim Kochen oder auf dem bereits erwähnten Sofa. Aber müssen beide Formen des Musikkonsums gegeneinander ausgespielt werden?

Zunächst ist es doch ganz einfach. Man wählt ein Konzert aus und kauft sich eine Konzertkarte, was mittlerweile mit nur wenigen Klicks im Internet möglich ist. Nun geht es lediglich noch darum, sich ein wenig zurecht zu machen und pünktlich am richtigen Ort zu erscheinen, alles Weitere wird einem abgenommen. Für jede denkbare Aufgabe gibt es Personal – nicht einmal klatschen muss man selbst, denn sogar das wird im Zweifel von den Mithörern übernommen. Man kann sich also zurücklehnen und die Musik auf sich einströmen lassen. Dennoch bewegt sich die Tendenz immer mehr zum privaten Musikkonsum in den eigenen vier Wänden. Warum geht die Besucherzahl vieler Konzerte zurück, obwohl es doch so einfach ist?

Im 19. Jahrhundert hat sich der Zugang zur Musik massgeblich verändert. Konzertsäle wurden ausgebaut und die Musikszene florierte. Das fokussierte Hören stand in dieser Zeit im Vordergrund des Musik-Erlebens. Seit dem 20. Jahrhundert hat sich die Musik einer gewaltigen Veränderung unterzogen, oder viel mehr: unterziehen müssen. Die unaufhaltsame Entwicklung der Technik ist auch an der Kultur- und Musikszene nicht spurlos vorübergezogen. Wir sind zu einer regelrechten Konsumgesellschaft herangereift, die sich mit dem Luxusproblem Überangebot auseinandersetzen muss, einer Gesellschaft, in der viele Subkulturen nebeneinander existieren, in der man sich vermehrt von der Umwelt abschottet und Musik eher als ein privates und weniger als ein öffentliches Erlebnis betrachtet. Durch die heutigen zahlreichen technischen Möglichkeiten von iTunes, Spotify bis hin zur privaten CD-Sammlung und Hightech-Anlage müssen wir uns zum Erwerb des Musikgenusses nicht mehr in die Öffentlichkeit begeben. Wir können diesen auch zu uns nach Hause holen. Ebenso isoliert bewegen wir uns sogar innerhalb der Gesellschaft, abgeschottet durch kleine Ohrstöpsel, durch die Musik in unsere Ohren gelangt. Ist er das, der Konsument von heute? Man kann hier von einer regelrechten Dekonzentration von Musik sprechen. An dieser Stelle ist es allerdings nötig, die zwei Arten des Musikhörens noch einmal klar herauszustellen: Zum einen die «bewusste Hinwendung zu Musik» (im Sinne des aktiven Konzertbesuchs), zum anderen die «geteilte Aufmerksamkeit, bei der Musik lediglich im Hintergrund erlebt wird und andere Tätigkeiten zumeist im Vordergrund stehen», um Klaus-Ernst Behne, den ehemaligen Präsidenten der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover zu zitieren.

Nichtsdestotrotz bringt der technische Fortschritt natürlich auch zahlreiche Vorteile mit sich. Allein das praktische und komfortable Moment. Wir können Musik immer und überall abrufen. Ohne Einschränkung. Sie umgibt uns in zahlreichen Alltagssituationen und regnet unaufhörlich auf unsere Endgeräte hinab. Mit modernster Technik wiedergegeben, ist die Musik klanglich zwar klar, nicht jedoch authentisch, einzigartig oder original. Musik als ein Live-Erlebnis zu konsumieren, wird zu einem unwiederholbaren Moment unseres Lebens. Man erlebt etwas, das in dieser Form nicht exakt wiederholt werden kann. Man erlebt die Künstler und die Klänge hautnah, kann ihre Finger- oder Atemfertigkeit und Technik beobachten. Man ist dabei, wenn sie wortlos miteinander kommunizieren, sich aufeinander einlassen, sieht die Schweissperlen, die sich durch Anstrengung und das heisse Scheinwerferlicht auf ihrer Stirn bilden und im Licht glitzern. Sich einfach vom Sog live erlebter Musik mitreissen und die Stimmung, die sich im Publikum aufbaut, auf sich einströmen lassen – das ist es, was Musik im Konzert zu einem erfahrbaren und originären Moment macht.

Studien besagen, dass der Musikkonsum in den letzten Jahren erheblich angestiegen ist, bedingt durch die zahlreichen möglichen Zugänge. Aber beantwortet das die Frage, weshalb isoliertes Musikhören dem gemeinsamen Konzertbesuch vorgezogen wird? Der Forsa-Umfrage der Hamburger Körber-Stiftung zufolge erachten zwar 88 Prozent der Deutschen klassische Musik als ein wichtiges kulturelles Erbe, aber nur jeder Fünfte hat im vergangenen Jahr ein klassisches Konzert besucht. Von den unter 30-Jährigen war es sogar nur jeder Zehnte. So ist es eben: Wenn man nicht aktiv werden muss, ist man von vielem grundsätzlich begeistert, sobald man selbst etwas tun muss, schwindet der Enthusiasmus. Diese Tatsache macht in noch erheblicherem Masse der zeitgenössischen Musik zu schaffen, die zudem noch mit dem Klischee behaftet ist, generell nur Wenige anzusprechen. Doch gerade für den Konsum zeitgenössischer Musik ist der Konzertbesuch von erheblicher Bedeutung, da sie oftmals nicht allein mit Klängen und Melodien arbeitet, sondern häufig auch Elemente wie Bilder oder Gegenstände miteinbezieht, die sich auf einer CD nicht einfangen lassen. Auch musikalische Elemente wie Geräusche oder neue Spieltechniken erzielen bei einer CD-Wiedergabe längst nicht den Effekt, den sie im Konzert haben können. Erst im Konzert erfährt das Publikum das originäre Wesen dieser Musik. Ist es also vielleicht doch eine Überlegung wert, sein Wochenende auch mit dem Polsterstuhl im Konzertsaal zu teilen?

Beide Konsumformen sind wichtige Zugänge zur Musik. Sie müssen weder gegeneinander ausgespielt werden, noch sich bedingen. Sie können sich schlicht und ergreifend bereichern und ergänzen. Man kann gespannt sein, wie sie sich zukünftig weiterentwickeln werden und was das für die Musikszene bedeutet. Vielleicht wird es eines Tages gang und gäbe sein, das Livekonzert virtuell auf einen Bildschirm in unsere eigenen vier Wänden zu übertragen? So liesse sich doch tatsächlich beides vereinen: das Konzerterlebnis auf dem heimischen Sofa – und für das Gemeinschaftsgefühl mit den andern Konzertbesuchern würde man doch ab und zu den Polsterstuhl besetzen.

Friederike Schmiedl

… ist Fan vom Livekonzert.
 

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Schafe auf der Bühne und in den Medien

Über die Vermarktung Neuer Musik in Amerika am Beispiel von Louis Andriessens Bühnenwerk «De Materie».

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Schafe auf der Bühne und in den Medien

Über die Vermarktung Neuer Musik in Amerika am Beispiel von Louis Andriessens Bühnenwerk «De Materie».

 Ende März, in New York, blökten Schafe auf der Opernbühne. Ihre nahezu alles überschattende Präsenz in den Zeitungen, in sozialen Netzwerken, ja sogar in Alltagsgesprächen jeglicher Art, liess es kaum zu, sich ihrer zu entziehen. Da sie nur eine kleine Rolle in der Inszenierung von Louis Andriessens De Materie spielten, schien ihre Dominanz in den New Yorker Medien verwunderlich. Dieses Beispiel ist aber bezeichnend für den amerikanischen Umgang mit Neuer Musik.

Die Tatsache, dass Schafe über die Bühne wanderten, müsste nicht so bemerkenswert sein. Der Anlass dafür war jedoch die Neueröffnung der vor Kurzem renovierten Armory. Die schauspielernden Tiere kamen in Heiner Goebbels Inszenierung der Anti-Oper vor, die 2014 für die Ruhrtriennale entstanden ist. De Materie ist ein Stück des in den USA öfters aufgeführten Komponisten Andriessen, das seine amerikanische Uraufführung bereits zehn Jahre zuvor hatte. Damals führte das New York Philharmonic es jedoch konzertant auf, was die Neuinszenierung des zwischen 1985 und 1988 geschriebenen Stückes zu einem spannenden Happening machte. Die New York Park Avenue Armory erwarb die Inszenierung – die zweite szenische Aufführung des Stücks seit der Uraufführung durch Robert Wilson 1989 im Amsterdamer Muziektheater. Goebbels hatte seine Inszenierung für die Kraftzentrale Duisburg mit dem Ensemble Modern Orchestra und dem ChorWerk Ruhr unter Leitung von Peter Rundel konzipiert. Nun galt es zu überlegen, wie man die Inszenierung aus dem Ruhrgebiet in der Armory aufführen und an New York bzw. das New Yorker Publikum anpassen könnte.

Nachgewiesene Markttauglichkeit

Das ChorWerk Ruhr und der Dirigent wirkten auch in New York mit. Das junge International Contemporary Ensemble, das dieses Jahr auch in Darmstadt zu hören war, ersetzte allerdings das Ensemble Modern Orchestra. Die statische, bildreiche Inszenierung Goebbels sowie Andriessens ebenso statisches vierteiliges Werk eigneten sich für eine spektakuläre Werbekampagne, eine perfekte Vereinigung der kraftvollen Symbolik von Goebbels Arbeit mit der prachtvollen Herrschaftlichkeit der im 19. Jahrhundert gebauten Armory. The Gilded Age kommt 2016 in der Form hochgebildeter New Yorker Hipsters zum Ausdruck, für deren Bedürfnis nach spiessbürgerlichem Sich-zur-Schau-Stellen sich die östliche Seite New Yorks besser eignet, als die auf der anderen Seite des Parks verortete Met. Diesbezüglich war in einer Rezension der Aufführung im Wall Street Journal explizit zu lesen: «The Park Avenue Armory has also become a home of the hot ticket, offering buzz-worthy productions that are often imported from generously funded European arts festivals.»1 Ein Grundbaustein der amerikanischen Opernwelt sind gefragte, neue europäische Werke, deren Marktfähigkeit bereits erfolgreich getestet wurde. Bei derartigen Aufführungen spielt allerdings noch ein weiteres entscheidendes Element eine Rolle: Künstlerische Kreationen wurden in Europa sehr oft bereits finanziell unterstützt.

Spektakuläre Vermarktung

Kurz vor der Aufführung von De Materie veröffentlichten diverse New Yorker Zeitungen eine Reihe von Ankündigungen des zukünftigen Events. Bemerkenswert war dabei ihr fast ausschliesslicher Fokus auf die 100 Schafe, welche im letzten Akt des Stücks auf der Bühne zu bestaunen waren. Was waren das für Schafe? Woher genau kamen sie? (Im Programmheft war lediglich zu lesen: «100 sheep from the Pennyslvanian countryside.») Wie war es denn logistisch möglich, die Schafe nach New York zu bringen? Wie probt man mit Schafen? Sind Schafe die neuesten Primadonnen der Opernwelt? Vermeintliche Antworten auf alle diese Fragen fanden sich zuhauf in den vielen Porträts dieser neuen «Stars» – mitunter sogar in der New York Times und dem New Yorker. Bei solch dringlichen Fragen muss die Musik natürlich erstmals auf der Seite gelassen werden.

Das andere Bild, welches die Werbekampagne dominierte, war ein Tableau aus dem zweiten Teil des Stückes, in dem Andriessen eine Vision der Begine Hadewijch vertont hat. Die Hadewijch, in schwarz-weissem, einer Nonnentracht ähnlichem Kostüm, steht vor der vordersten Bank, während eine Gruppe von ganz in schwarz gekleideten Beginen zusammengebrochen auf den anderen, im Raum verteilten Bänken liegen. Die Halle ist zur Kathedrale transformiert, und Hadewijch steht in der Mitte, dem Publikum zugewandt, ihre Arme im Zeichen der Offenbarung und Vereinigung weit geöffnet. Das Publikum ist zum Altar, zum Gott ihrer mystisch-erotischen Vision geworden. Über diesem kargen Bild steht in Grossbuchstaben der Name der Anti-Oper: «DE MATERIE»: eine transzendentale Vereinigung des starken Bildmaterials der Inszenierung mit der Marketing-Abteilung der Armory.

Die Kraft einer solchen Vereinigung ist keineswegs zu unterschätzen, da es in den USA unvorstellbar ist, staatliche Unterstützung für künstlerische Projekte zu bekommen. Ganz besonders trifft dies natürlich auf Opern-Projekte zu. Die ständige Suche nach Geld ist ein alltägliches Leid des Musikerlebens, das für die Konsumenten nicht wahrnehmbar, deshalb jedoch nicht minder schwerwiegend ist. Daher auch die Leichtigkeit, sich darüber lustig zu machen. Im Grunde wären allerdings Respekt und Wertschätzung angebracht: Ohne die geschmacklose, plakative und scheinbar bodenlose Vermarktung einer Inszenierung würde sie unter Umständen nicht existieren – eine bittere Wahrheit, die einfach schnell runterschlucken zu müssen man sofort lernt.
Im Falle der Andriessen-Goebbels Inszenierung wurde das Spektakel der Vermarktung dem Spektakel der Inszenierung angepasst. Wenn das der Preis für die Aufführung eines vor allem in den USA wichtigen musiktheatralischen Werks des späten 20. Jahrhunderts ist, lässt sich daran fast nichts aussetzen. Wenn jedoch jegliche Aufführung einer Oper des 20. Jahrhunderts (vom 21. ganz zu schweigen) an einer etablierten Institution gewohnheitsmässig mit einem selbstgefälligen Tonfall als ein Wagnis beschrieben wird, wird man dieser Bezeichnung sowie des begleitenden Werbespektakels schnell müde. Dies ist besonders dann der Fall, wenn der Autor dieses Werks ständiger Gast der Ivy-League-Universitäten ist – Andriessen war im Wintersemester 2015/16 Gastprofessor in Princeton – und eine lange Liste von Kompositionsstudenten und -studentinnen in den USA hat. Andriessens Musik ist immerhin ein bereits konsumiertes, etabliertes Produkt bei uns Amerikanern.
 

Kritische Auseinandersetzung

Dann muss man sich wie jene zuvor zitierte Autorin des Wall Street Journals fragen, warum es den Import einer europäischen Inszenierung braucht, um die erste szenische Aufführung einer fast 30-jährigen Oper diesseits des Atlantiks zu sehen. Nicht dass es keine Uraufführungen Neuer Musik in den USA gäbe, jedoch sind diese kaum in etablierten Institutionen zu sehen. In der kommenden Saison, könnte man einwenden, wird Kaija Saariahos 2000 in Salzburg uraufgeführte L’amour de loin an der Met in einer Neuinszenierung von Robert Lepage zu sehen sein. Allerdings kam es im Zug der Ankündigung in der New York Times zu keiner ernsthaften Auseinandersetzung mit Saariahos Musik. Stattdessen wurde lediglich von der Tatsache gesprochen, dass es nun, 2016, die erste Aufführung der Oper einer Komponistin seit 1903 sei. «Met to Stage Its First Opera by a Woman Since 1903» lautete der Titel. 2 Zweifelsohne ist dies Grund zur Freude! Der selbstgefällige Ton jedoch, der proklamiert, man habe zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: eine Komponistin und eine Oper des 21. Jahrhunderts, ist alles anders als zeitgemäss. Mit dieser soft-core-zeitgenössischen Musik, deren ständig wiederkehrende, exotisch klingende Vokalriffs über einem summenden koloristischen Orchesterklangteppich in Wellen über einem schwimmt, lässt sich dieser «Blick in die Zukunft» – laut Met-Direktor Peter Gelb – immer noch als zahm und verhalten bezeichnen.
So kommt es schliesslich zur altbekannten Frage des Geldes. Auch wenn sich die Macht der Republikanerinnen und Republikaner irgendwann vermindern würde, so käme die staatliche Förderung der Künste als Diskussionspunkt im Senat dennoch nicht vor. Was aber trotz des ewig prekären Zustands der Operninstitutionen und der Medien, die deren Angebote ankündigen und diskutieren, verlangt werden könnte, wäre eine seriöse und kritische bzw. selbstkritische Auseinandersetzung mit ihren Inhalten. Dies würde in erster Linie den Verzicht auf derartige Schaf-Porträts, die lediglich zum Füllen der Konzerthallen dienen, voraussetzen. Stattdessen könnten die Schafe als misslungener Versuch, einen Lückenfüller zu finden, entlarvt und beschrieben werden. Dies war allerdings auch Goebbels Versuch, mit seiner Inszenierung das Publikum in der 15-minütigen ersten Hälfte des vierten Teils zu unterhalten, während dem zwei Akkorde in den stimmbaren Schlaginstrumenten (Glockenspiel, Vibrafon), Klavier und Harfe im langsamen Wechsel gespielt werden. Man könnte fragen, ob die statische Bildhaftigkeit der Inszenierung die Fetischisierung des erotisch-mystischen Schreibens der Begine Hadewijch in Andriessens Partitur unterstützt oder hinterfragt. Schliesslich liesse sich sogar fragen, ob und wie Goebbels Auseinandersetzung mit Andriessens Oper dem Publikum etwas Neues über das Stück lehrt. Auf jeden Fall waren die einhundert Schafe auf der Bühne der Armory nicht das einzige beeindruckende Ereignis, das es zu bestaunen gab.

Anmerkungen

1 Heidi Waleson, Opera’s Changing Face: «Orphic Moments» and «De Materie» offer a chance to examine the changing nature of the institutions that perform opera in The Wallstreet Journal, 4. April 2016.
www.wsj.com/articles/operas-changing-face-1459806371
2 Michael Cooper, Met to Stage Its First Opera by a Woman since 1903 in New York Times, 17. Februar 2016.
www.nytimes.com/2016/02/18/arts/music/met-to-stage-its-first-operaby-a-womansince-1903.html

 

Elaine Fitz Gibbon
… ist Doktorandin am Germanistik-Department der Universität Princeton. Sie schreibt über Neue Musik, vor allem Opern und Musiktheater, die zwischen der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts und heute geschrieben wurden; ausserdem interessiert sie sich für die Rezeption dieser Werken in den USA.

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Bild und Abbild im hybriden Raum

Im Werk «Mirror Box Extensions» gestaltet der belgische Komponist die alltägliche Verschmelzung unserer realen und virtuellen Lebenswelt musikalisch.

Gabi Schönemann / pixelio.de
Bild und Abbild im hybriden Raum

Im Werk «Mirror Box Extensions» gestaltet der belgische Komponist die alltägliche Verschmelzung unserer realen und virtuellen Lebenswelt musikalisch.

Das Fotografieren oder Filmen seitens der Zuschauer ist an Konzerten in der Regel untersagt. Es lässt sich aber in Zeiten von Smartphones und Co. nicht wirklich unterbinden. Zu schnell ist das kleine Gerät gezückt und eine Erinnerung auf die digitale Speicherkarte gebannt. Und nicht selten sieht man, wie einzelne Zuschauer aus dem Publikum ganze Passagen filmen oder den Ton mit einem Handyrecorder aufnehmen. Dass hier Persönlichkeits- und Urheberrechte verletzt werden könnten, scheint niemanden zu interessieren. Viel zu sehr hat die allumfassende Digitalisierung Einzug in unseren Alltag genommen und der technische Fortschritt begünstigt diesen Prozess, indem er immer mehr Speicherplatz zur Verfügung stellt. Fotografieren und Filmen ist zur Normalität geworden. Der einst flüchtige Moment wird festgehalten und kann jederzeit wiedererlebt werden. Je kostbarer er einmal war, umso stärker wird er durch wiederholten Konsum abgenutzt. Aus der Einmaligkeit des «live» ist ein permanentes «re-live» geworden. Darunter leidet insbesondere die Konzertsituation. Denn das digitale Abbild ist eben nicht identisch mit den Akteuren aus Fleisch und Blut, die auf der Bühne Höchstleistungen vollbringen. Wie stark die Grenzen zwischen beiden jedoch bereits verschwommen sind, greift der belgische Komponist Stefan Prins in seinem Werk Mirror Box Extensions auf.

Prinzip der Spiegeltherapie

Das Stück wurde 2015 bei den Donaueschinger Musiktagen vom Nadar-Ensemble aufgeführt. Sieben Instrumentalisten werden mit Elektronik und Video-Projektionen ergänzt. Es basiert auf der Komposition Mirror Box aus dem Jahr 2014. Darin behandelt Prins auf musikalische Weise das Prinzip der Spiegeltherapie, wie sie von Medizinern verwendet wird. Patienten, die nach einer Amputation unter Phantomschmerzen leiden, legen ihre verbleibende gesunde Gliedmasse in eine mit Spiegeln ausgestattete Kiste. Jede ausgeführte Bewegung wird nun durch das Spiegelbild gedoppelt und es entsteht der optische Eindruck zweier funktionstüchtiger Arme oder Beine. Diese Illusion lässt sich therapeutisch nutzen.

Bei Prins ist Mirror Box der dritte Teil einer Werkreihe mit dem Titel Flesh+Prosthesis, in der Hybride aus Mensch und Technologie geschaffen werden. Die instrumental erzeugten Klänge werden aufgenommen und live-elektronisch transformiert, wobei sich die Musiker als «Fleisch» und die Elektronik als «Prothese» verstehen lassen. Für Mirror Box Extensions wurde dieses Prinzip um Videos erweitert, die vorproduziert und im Konzert auf durchsichtige Leinwände projiziert wurden. Sie zeigen die spielenden Musiker in Lebensgrösse, sodass es schwerfällt, sie vom Original zu unterscheiden. Bild und Abbild bewegen sich, erstarren, verschwinden und erscheinen. Es geht dem Komponisten darum zu zeigen, wie sehr reale und virtuelle Lebenswelt in unserem Alltag bereits verschmolzen sind. Die digitalen Kopien der auf der Bühne agierenden Musiker nennt er «Avatare» und sie spielen auch in anderen seiner Werke eine wichtige Rolle. So etwa in dem Klavierzyklus Piano Hero, dessen dritter Teil bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik 2016 uraufgeführt wurde. Hier zeichnet sich jedoch eine gegenläufige Tendenz ab. In Piano Hero I (2011) steuert der Pianist über eine digitale Klaviertastatur kurze Videosequenzen, die auf eine Leinwand projiziert werden und ihn beim Ausführen verschiedener Aktionen im Innenraum eines Konzertflügels zeigen. Ausgebaute Tasten des Klaviers fallen auf die Saiten, es wird gekratzt und geschabt. Sämtliche Klänge kommen aus den Lautsprechern, nur selten dringt das dumpfe Klacken der digitalen Tastatur durch. Im zweiten Teil werden ebenfalls Videos eingesetzt, der Pianist spielt jedoch zusätzlich auf einem akustischen Klavier und tritt so mit seinem Abbild in den Dialog. Verschwunden ist der Avatar schliesslich im dritten Teil des Zyklus, in dem lediglich eine live-elektronische Verarbeitung der Klänge im Inneren des auf der Bühne befindlichen Flügels stattfindet. Hier gibt es kein Video mehr. Der Musiker tritt also aus dem virtuellen Raum in die analoge Welt, er erobert sich die Realität zurück und es bleibt abzuwarten, ob Prins diese Entwicklung in weiteren Werken der Piano Hero-Reihe fortsetzt. In Mirror Box Extensions hingegen findet durch die Projektionen eine Erweiterung auf der digitalen Ebene statt. Stefan Prins schafft eine hybride Konzertsituation aus Musikern und deren Avataren, die unsere zunehmend technologisierte Lebenswirklichkeit reflektiert. Reelle und virtuelle Welt verschwimmen immer mehr, er nennt diesen Zustand «erweiterte Realität».
 

Einfluss des Publikums

Neben dem Verwirrspiel um Bild und Abbild der Musiker tritt ein weiteres Moment der Irritation ein, wenn nach etwa der Hälfte der gut 30-minütigen Komposition einzelne Zuschauer beginnen, mit Tablets die Bühne zu fotografieren. Von ihren Plätzen aus halten sie dafür die Geräte in die Höhe, was bei einigen Konzertbesuchern für Empörung sorgt. Doch schnell wird klar, dass sie Teil der Komposition sind. Der hybride Zustand reicht bis in den Zuschauerraum, und somit ergibt sich eine neue Dimension der Spiegelung. Der Musiker wird von dem Video auf der Leinwand reflektiert und beide vom Tablet der Zuschauer. Stefan Prins greift hier die allgegenwärtigen, auch auf Konzerten Neuer Musik zu sehenden Smartphones und Tablets auf, indem er sie in sein Werk integriert. Spätestens seit John Cages «stillem» Stück 4´33´´ besteht ein Bewusstsein dafür, dass auch vom Komponisten nicht beabsichtigte Klänge, die auf irgendeine Weise im Rahmen einer Aufführung entstehen, integraler Bestandteil der musikalischen Erfahrung sind. Telefone, die in Taschen gesucht werden, Fotos schiessen und im schlimmsten Fall anfangen zu läuten, sind keine Seltenheit. Doch nicht nur produzieren sie Geräusche, die andere Zuschauer als störend empfinden könnten, viel mehr zerstört jedes Abbild der spielenden Musiker die Einmaligkeit der Darbietung. Wie sehr die Konzertsituation dadurch verändert wird, zeigt Stefan Prins in Mirror Box Extensions. So bilden die Tablets der Zuschauer in seiner Komposition sowohl die gemachten Fotos der Bühne als auch vorproduzierte Videosequenzen der Instrumentalisten ab. Das Stück endet mit dem Verschwinden der Musiker auf der Bühne und ihrem Verbleiben auf den Geräten. Zwar ist die Aufführung mit ihrer Einmaligkeit vorbei, doch ein Abbild des Erlebten verbleibt im digitalen Raum, wo es jederzeit abgerufen und konsumiert werden kann. Was Prins im Konzert zeigt, gilt auch ausserhalb. Im Zuge der Digitalisierung sind wir zunehmend mit Computer, Smartphone und Tablet verwachsen. Ein beachtlicher Teil unseres Lebens findet im virtuellen Raum statt. Bei der Fülle an Bildschirmen, die uns alltäglich umgeben und Einblick in andere Welten gewähren, fällt es mitunter schwer, zwischen Fakt und Fiktion zu differenzieren. In Stefan Prins’ Ensemblestück Mirror Box Extensions wird der Zuschauer permanent mit Illusionen konfrontiert. Eben so, wie Patienten bei der Spiegeltherapie über die Funktionalität ihrer Gliedmassen getäuscht werden, fällt es bei Prins schwer, zwischen Bild und Abbild zu differenzieren. Der hybride Raum, den er damit schafft, reflektiert künstlerisch unsere Lebenswirklichkeit, in der wir mit den digitalen Medien so stark interagieren, dass sie zu unseren Prothesen geworden sind.

Christopher Jakobi

… studiert Musikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zzt. Masterarbeit über die Klangsättigung in der Musik Raphaël Cendos.

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Philippe Bischof übernimmt Präsidium der KBK

Philippe Bischof, Leiter der Abteilung Kultur Basel-Stadt, wird ab 1. Januar 2017 das Präsidium der Konferenz der kantonalen Kulturbeauftragten (KBK) übernehmen.

Philippe Bischof. Foto: Juri Weiss © Staatskanzlei Basel-Stadt

Philippe Bischof ist Nachfolger von Roland E. Hofer, Beauftragter für Kultur des Kantons Schaffhausen, der während acht Jahren im Amt war. Philippe Bischof ist in seiner Funktion als Leiter der Abteilung Kultur Basel-Stadt seit 2011 Mitglied der KBK.

Die Konferenz der kantonalen Kulturbeauftragten (KBK) ist eine Fachkonferenz der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK). Die KBK stellt den kulturpolitischen Austausch zwischen den Kantonen sicher und beteiligt sich auf fachlicher und politischer Ebene aktiv am Nationalen Kulturdialog.

Die KBK ist in vier Regionalkonferenzen aufgeteilt und trifft sich zweimal jährlich zu Plenarversammlungen. Sie berät die politischen Gremien der EDK in Fragen der Kulturförderung und Kulturpolitik. Gemeinsam mit der Städtekonferenz, dem Bundesamt für Kultur und der Pro Helvetia trägt sie zur Entwicklung und Koordination der gesamtschweizerischen Kulturpolitik bei.

Sie prüft Anliegen und Gesuche von gesamtschweizerischer Bedeutung und richtet Empfehlungen an die Kantone. Das Präsidium vertritt dabei die Konferenz gegen aussen und leitet die Geschäfte der KBK.

Die Wahl fand im Mai dieses Jahres statt, an der Plenarversammlung vom 24./25. November wurde das Amt übergeben.
 

Komm du liebes Zitherlein

Ein umfangreicher Band dokumentiert nicht nur die Sammlung Mühlemann, sondern skizziert auch die Geschichte der Zither in der Schweiz.

Familiärer Zitherunterricht 1917. Postkarte aus Österreich. Pelle the Poet/flickr.com

In den 1970er-Jahren begegnete der Mittelschüler Lorenz Mühlemann der damals weitgehend vergessenen Akkordzither und war von ihrem Klang bezaubert. Aus dieser Liebe auf den ersten Blick ist eine Leidenschaft geworden. 2003 eröffnete er seine systematisch aufgebaute Sammlung von rund 250 Gebirgs- und Salonzithern in der ehemaligen Amtsschaffnerei in Trachselwald. Auf Voranmeldung oder am ersten Sonntag im Monat jeweils am Nachmittag kann man das Schweizer Zither- Kulturzentrum wie ein Museum besuchen, aber an den Sonntagvormittagen führt der initiative Leiter die Hals- und Brettzithern mit kurzen Erläuterungen und passenden Stücken, die er selber spielt, vor. Diese kommentierten Konzertstunden sind unterhaltsam und informativ und erinnern an eine Musikgattung zwischen Volks- und Kunstmusik, die in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert zahlreichen Menschen in bescheidenen Umständen das Leben erleichterten.

Lorenz Mühlemann hat seine Saitenspiele in mehreren Wanderausstellungen und in vielen Kursen an die Leute herangetragen und zudem einen kleinen Verlag mit Zithernoten und Unterlegblättern aufgebaut.

Nun hat dieser Spezialist seine Zitherinstrumente ausgemessen, beschrieben und durch Thomas Reck fotografieren lassen. Aus dieser Katalogsarbeit ist ein rund 400-seitiger Band geworden, der sich als schmuckes Bilderbuch geniessen lässt, der aber auch als kleine Geschichte der einheimischen Emmentaler, Entlebucher, Toggenburger und Krienser Halszither, der Glarner und Schwyzer Zither und all der Konzert-, Akkord- und Streichzithern dient.

In seinen Kommentaren greift der Autor auf Vorarbeiten zurück, kann aber auch mit eigenen Studien zur Instrumentenforschung beitragen. So hat er einen bisher unbekannten Halszithermacher, Sebastian Peter in Gontenschwil, Kanton Aargau, ausfindig gemacht, dessen Instrument von 1862 abgebildet ist (S. 21/33). Zudem ist von Johann Wegmüller, der 1890 eine Hanottere gebaut hat, die Rede, offenbar einem Nachkommen der Zithermacher Niklaus und Samuel Wegmüller in Ursenbach. Als wertvoller Hinweis gilt auch die Klärung eines bisherigen Missverständnisses: in Dürrenroth bei Huttwil war nicht nur der Holzschuh- und Zithermacher Abraham Kauer (1794–1870) am Werk, der als sechsjähriges Kind die älteste, im Jahr 1800 entstandene Emmentaler Halszither (Musikmuseum Basel) kaum angefertigt haben kann, sondern auch sein Vater Abraham Kauer sen. (1762–1844).

Die sogenannten Salonzithern, intarsierte, mit Schablonenmalerei oder Abziehbildern verzierte, in Serien fabrizierte Brettzithern wurden in der Regel aus Deutschland bezogen, aber offenbar auch in Brienz (A. Aplanalp), Bern (Jakob Klöti, Albin Hostettler) und Zürich (Otto Schärer) hergestellt. Neben Abbildungen aller Zithern der Sammlung Mühlemann erinnern Fotos von Spielern, Musikalien und liebevollen Details wie Blumendekorationen, ziselierten Neusilberbeschlägen, Etuis, bestickten Futteralen, Stimmschlüsseln und Zitherringen an die gute alte Zeit.

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Lorenz Mühlemann, Die Zither – ein Instrument der Volks-, Kunst- und Hausmusik, 376 S., Fr. 65.00, Bundesamt für Kultur, Bern 2014, ISBN 978-3-9523397-3-2
Schweizer Zither-Kulturzentrum: www.zither.ch

Für den kleinen Paganini

Vorspielstücke für Geige und Bratsche mit Klavierbegleitung, die zu einem lustvollen Vortrag animieren.

Foto: pete pahham/fotolia.com

In der Edition Peters sind unter dem Titel Piccolo Paganini 30 seltene Originalstücke für Violine in der 1. Lage und Klavier für Kinder ab dem zweiten Lernjahr erschienen, eine farbige Palette von gefühlvollen, lustigen, dramatischen, mit den verschiedensten Rhythmen und mit vielfältigen Techniken auszuführenden, eineinhalb bis vier Minuten dauernden Vortragsstücken von Komponistinnen und Komponisten von Arcangelo Corelli bis Andrea Holzer-Romberg. Die Violinstimme ist sorgfältig mit Bogenstrichen und alternativen Fingersätzen für 2. und 3. Lage bezeichnet. Die motivierende Klavierstimme ist leicht zu spielen. Die beigefügte CD enthält alle Duos und regt die Kinder zu emotionalem Spiel an; damit sie sich bald mitzuspielen wagen, sind alle Presti in moderatem Tempo gehalten.

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Zwei äusserst instruktive, aber lustvoll zu spielende Konzertfantasien für drei bis vier Jahre spielende Girls und Boys sind endlich auch in Europa erhältlich, nachdem sie in Amerika schon über ein Jahrhundert erfolgreich in Gebrauch sind. Der in Erfurt geborene Edward Mollenhauer emigrierte 1853 in die USA, begründete dort mehrere Konservatorien und hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die Musikerziehung in Amerika. The Infant Paganini verlangt 1. bis 3. Lage, Flageolett in der Saitenmitte, Pizzicato der leeren E-Saite mit der linken Hand, Spiccato und Arpeggio über drei Saiten. The Boy Paganini bewegt sich bis in die 5. Lage, benutzt Doppelgriffe, chromatische Durchgänge, die Flageoletts in der Mitte, im unteren Drittel und Viertel der Saite, Linke-Hand-Pizzicato, zarte und rassige Bogeneffekte und Vier-Saiten-Arpeggio – alles raffiniert elementar und melodiös ausgelegt für baldiges Gelingen.

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Diese beiden Hefte sind auch in Versionen für Cello erhältlich.

Kurt Sassmannshaus, der in den USA berühmte Pädagoge und Sohn von Egon, dem Schöpfer des vielbeachteten Streicherschulwerks Früher Anfang, präsentiert 14 mittelschwere kurze Vortragsstücke für Bratsche. Von den Originalwerken ragen heraus ein Andante von Viotti, eine emotionelle Rêverie von Wieniawski und drei der farbigen Notturni aus op. 186 von Kalliwoda (letztere empfehlenswert, alle sechs vollständig bei Peters erhältlich). Auch die herzige La Vergilletta von Ferdinando Bertone, die spannende Violin-Berceuse op. 16 und die erfrischende Cello-Sicilienne op.78 von Fauré unter den Bearbeitungen machen das Heft lohnenswert. Die bequemen Fingersätze und Bogenstriche können mit Hilfe der Lehrperson höheren Ansprüchen angepasst werden.

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Piccolo Paganini, 30 Konzertstücke in der ersten Lage, Vol. 1, hg. von Christiane Schmidt und Gudrun Jeggle, EP 11381a, mit CD, Fr. 25.90, Edition Peters, Leipzig u.a. 2015

Edward Mollenhauer, The Infant Paganini für Violine und Klavier, hg. von Kurt Sassmannshaus, Bärenreiter’s Concert Pieces, BA 10691, € 8.95, Bärenreiter, Kassel 2015

id., The Boy Paganini, BA 10692, € 8.95

Konzertstücke für Bratsche und Klavier, hg. von Kurt Sassmannshaus, Bärenreiters Viola Collection, BA 9697, € 19.95, Bärenreiter, Kassel 2015

Deutschland fördert Pop, Rock und Jazz verstärkt

Ab 2017 wird der Deutsche Bundestag mit zusätzlichen 8,2 Millionen Euro die Rock-, Pop- und Jazzmusik in Deutschland fördern. Ziel des Massnahmenpaketes ist es, bestehende relevante Strukturprojekte auszubauen, inhaltlich zusammenzuführen und zu ergänzen.

Kuppel über dem Bundestag. Foto: Michael Sunke/pixelio.de

In den Beratungen der Grossen Koalition zum Bundeshaushalt 2017 ist vor zwei Wochen beschlossen worden, zusätzlich 660 Millionen Euro für die Kulturförderung zur Verfügung zu stellen. Mit dem neuen Massnahmenpaket zur Musik werden neben der Initiative Musik und der Messe jazzahead! auch das Reeperbahn Festival in Hamburg, die c/o pop in Köln, das Musicboard Berlin und die Deutsche Rockmusik Stiftung gestärkt.

Der Deutsche Musikrat begrüsst laut seinem Generalsekretär Christian Höppner den Entscheid, der eine nachhaltige Stärkung der Förderstrukturen verspricht. Die zusätzlichen Mittel stärkten die Vielfalt der Rock-, Pop- und Jazzmusik in Deutschland und böten eine gute Voraussetzung, um sich künftig auch verstärkt für verbesserte Rahmenbedingungen von freischaffenden Musikern einzusetzen, so Höppner weiter.

 

Neuenburg hat ein Herz für Vinyl-Freunde

Der beliebte CD- und Schallplatten-Laden «Vinyl» im Zentrums Neuenburgs hat Ende September nach dreissig Jahren der Existenz die Segel gestrichen. Nun entsteht mit Hilfe der Stadt mit dem «Espace 032» eine Alternative.

Foto: Marcos Fernandez/flickr.com

Der «Espace 032» umfasst im Haus an der Rue du Seyon 32 ein Ladenlokal und  kollektive Arbeitsbereiche für Kreative. Der Name lehnt sich sowohl an die Telefon-Vorwahl der Region als auch die Hausnummer an. Im Ladenlokal werden Vinyl-Platten angeboten, der Bürobereich ist offen für Kulturschaffende und unabhängige Kreativunternehmer, die einen Arbeitsplatz in der Stadt suchen. 

Daneben erlauben es die Räumlichkeiten, sogenannte «Pop-ups» – nur kurzzeitig aktive Läden – einzurichten, sowie Vernissagen, akustische Konzerte oder Workshops durchzuführen.

Aus für Orchestra della Svizzera italiana?

Wie die Berner Tageszeitung «Der Bund» berichtet, sollen die Angestellten des Orchestra della Svizzera italiana (OSI) Ende November darüber informiert werden, dass sie per Ende 2017 eine vorsorgliche Kündigung erhalten werden.

Das OSI bei einem Schülerkonzert im LAC. Foto: zvg

Laut «Der Bund» wird die SRG per Ende 2017 ihr Abkommen einer kontinuierlichen Finanzierung mit dem Orchester aufkündigen. Künftig wolle sie nur noch einzelne Leistungen des Orchesters einkaufen. Ab 2018 will sie überdies für den vom OSI genutzten Probesaal im Radiostudio Lugano Besso Miete verlangen.

OSI-Stiftungsratspräsident Pietro Antonini bezeichnet laut «Der Bund» die vorsorglichen Kündigungen aufgrund der Unklarheiten über die künftigen Modalitäten als blosse «Vorsichtsmassnahme».  Ohne neuen Geldgeber dürfte das OSI damit aber vor dem Aus stehen.  Für das Kulturleben im Tessin wäre dies nicht zuletzt deshalb blamabel, weil man mit dem 2015 eröffneten LAC in Lugano doch gerade eben erst einen hochkarätigen Konzertsaal geschaffen hat.

Originalartikel:
www.derbund.ch/kultur/klassik/kein-orchester-mehr-im-tessin/story/26729565

Das Ostfenster öffnen

«Von den Alpen bis zum Kaukasus» heisst ein umfangreiches Austausch- und Förderprojekt, das seit Jahren musikalische Bande zwischen der Schweiz und Georgien knüpft und vertieft. Organisiert wird es von der Pianistin Tamara Kordzadze und dem Verein Vivace.

T. Kordzadze, F. Di Càsola und T. Grossenbacher am Benefizkonzert vom 20. 11. Foto: Ralf Kostgeld

Im November 2016 hat dieses Projekt mit einem Meisterkurs und einem Benefizkonzert an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) seine Fortsetzung gefunden. Von früheren Anlässen in Erinnerung geblieben sind zum Beispiel die Konzerte vom November 2012 in Bern und Zürich, als hochbegabte Kinder aus Georgien zwischen neun und sechzehn Jahren das Publikum begeisterten. Das jüngste Konzert bestritt eine Auswahl an Dozenten und Studierenden der Hochschulen in Tiflis und Zürich.

Der Anlass fand im Rahmen des Kulturaustausches der beiden Länder statt. Die ZHdK nimmt schon seit mittlerweile 15 Jahren Studenten aus Georgien in unterschiedlichen Studiengängen auf – die Palette reicht vom Vorstudium über Bachelor- und Masterstudium bis zum Solistendiplom. Der Austausch, der auch erlaubt, die Begabtenförderung beider Länder zu vergleichen, steht unter dem Patronat des Vereins Vivace, der 2009 von der in der Schweiz wirkenden georgischen Pianistin Tamara Kordzadze gegründet wurde.

Die Pianistin kam einst dank eines Stipendiums der Stiftung Lyra nach Zürich an die Hochschule in die Klasse von Konstantin Scherbakov, wo sie ihre Ausbildung mit dem Solistendiplom abschloss. Meisterkurse führten sie unter anderem zu Rudolf Buchbinder, der jetzt neben Daniel Fueter, Peter Stamm und Manana Doijashwili aus Georgien das illustre Patronatskomitee des Vereins Vivace bildet.

Dank Kordzadzes Anstrengungen ist es seit der Gründung von Vivace gelungen, mit Hilfe von Stiftungen, Benefizkonzerten und Spenden insgesamt 25 Projekte und 70 Studentinnen und Studenten aus Georgien zu unterstützen. «Wegen der unstabilen politischen Entwicklung und dem Rückgang der finanziellen Fördermittel in Georgien ist es für viele junge Talente schwierig oder unmöglich, auf Unterstützung in ihrer Ausbildung und musikalischen Laufbahn zu zählen», erklärt sie.

Neue Antworten auf künstlerische Fragen

Unter den involvierten Dozenten des Projektes in Zürich befand sich auch der Erste Solocellist des Tonhalle-Orchesters und Dozent an der Hochschule, Thomas Grossenbacher, der auf die Frage nach den Beweggründen für sein Engagement meinte: «Ich finde es wichtig, in unserem westlichen Elfenbeinturm mal das Ostfenster zu öffnen. So sehen wir, dass von dort zwar viel Inspiration kommt, aber auch materielle Sorgen bestehen, die wir mit dieser Veranstaltung wenigstens ein bisschen lindern können.»

In der Tat ist es nicht nur der finanzielle Aspekt, der bei Von den Alpen bis zum Kaukasus zählt, wichtig sind auch die künstlerische Inspiration und der gegenseitige Austausch. So fanden im Juni 2015 auf Initiative von Vivace zwei internationale Benefizkonzerte in Tiflis statt, bei denen auch vier junge Schweizer Musikerinnen und Musiker teilnahmen und Erfahrungen auf dem Konzertpodium sammeln konnten. Im Herbst wurden dann Meisterkurse und Workshops mit Dozenten der ZHdK im Staatlichen Konservatorium der georgischen Hauptstadt durchgeführt.

Auf welch hohem Niveau gespielt wird, konnte man aus dem Programm der Zürcher Konzerts ersehen: Werke von Prokofjew, Ysaÿe, Dvořák, Widor, Milstein, Beethoven, Martinů, und Skrjabin kamen zur Aufführung. Neben Studierenden waren auch die Berufsmusiker Liana Isakadze (Geige), Thomas Grossenbacher (Cello), Tamara Kordzadze (Klavier) und Fabio Di Càsola (Klarinette) mit dabei. Letzterer erzählt, wie er zu diesem Projekt für Georgien gekommen ist: «Vielleicht war meine sehr gesangliche, nicht so aggressive Art zu spielen ausschlaggebend, dass ich von Tamara Kordzadze angefragt wurde, ob ich mitmachen wolle.» Er sagte denn auch spontan zu. «Ich merke, dass ich älter werde und empfänglicher bin für Projekte wie dieses Benefizkonzert. Gerade wenn ich die Situation im Westen mit derjenigen in Georgien vergleiche, bin ich dankbar, dass ich meine Ausbildung hier absolvieren konnte, und ich möchte deshalb etwas weitergeben an die georgischen Jugendlichen.»

Wie schon in Tiflis waren auch in Zürich Musiker aus beiden Ländern im Einsatz und es fragt sich natürlich auch, was dieser Austausch mit einem anderen Kultur- und Musikkreis pädagogisch bedeutet: «Die Studierenden lernen», sagt Thomas Grossenbacher, «künstlerische Fragen auf einem neuen, bis dahin vielleicht unbekannten Weg zu beantworten. Dieser Austausch ist für sie belebend und inspirierend.»

Geradezu enthusiastisch fällt das Fazit der Organisatorin Tamara Kordzadze aus: «Unser Meisterkurs ist bei den Studenten und Studentinnen sehr gut angekommen. Der Austausch wurde und wird von den Musikern enorm geschätzt und fördert die künstlerische Entwicklung stark. Die 70-jährige Liana Isakadze hat mit ihrer äusserst temperamentvollen Art und ihren präzisen Erklärweisen und Rückmeldungen die Studenten begeistert. Das Benefizkonzert hat viele Musikinteressierte angezogen. Die grossartigen Darbietungen der Musiker im akustisch hervorragenden Konzert-Saal wurde vom Publikum am Ende mit einer Standing Ovation belohnt.»

Website des Vereins Vivace

www.vivacegeorgia.com

Lehrstuhl für transkulturelle Musikwissenschaft

In Weimar wird der weltweit erste Unesco-Lehrstuhl in der transkulturellen Musikwissenschaft eingerichtet. Lehrstuhlinhaber ist Tiago de Oliveira Pinto.

Tiago de Oliveira Pinto (Foto: Alexander Burzik/zvg),SMPV

Die Unesco hat den Lehrstuhl für Transkulturelle Musikforschung am Gemeinsamen Institut für Musikwissenschaft der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Unesco Chair on Transcultural Music Studies ausgezeichnet. Er ist der zwölfte Unesco-Lehrstuhl in Deutschland, der in einem weltweiten Netzwerk gemeinsam mit über 700 Lehrstühlen in 124 Ländern an der Umsetzung der Unesco-Ziele und der Globalen Nachhaltigkeitsagenda arbeitet.

Der Unesco-Lehrstuhl mit Hauptsitz in Weimar erforscht musikalische Darbietungen in ihren soziokulturellen, historischen und globalen Kontexten. Die Musiker als Träger der darstellenden Künste stehen dabei im Sinne der Unesco-Konvention zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes im Fokus. Übergreifend untersucht wird, «welche Chancen und Herausforderungen eine Anerkennung von Musiktraditionen als Immaterielles Kulturerbe für die Weitergabe und Inwertsetzung der Ausdrucksformen mit sich bringen».

 

Von Hackathon bis Blockchain

Die Digitalisierung ist noch immer eine der grössten Herausforderungen für das Musikbusiness. Auf der Berliner Konferenz «Most Wanted: Music» diskutierten Spezialisten aus ganz unterschiedlichen Bereichen über Probleme, Chancen und Visionen.

Podiumsdiskussion zum Thema «Blockchain». Foto: Most Wanted: Music

Wie können Künstler Instagram zu Werbezwecken nutzen? Welche Rolle spielen Playlists heute bei der Vermarktung neuer Songs? Wie präsentiert man ein Event online, ohne im digitalen Grundrauschen unterzugehen? Welche neuen Technologien stehen der Branche zur Verfügung – von Apps über neue digitale Devices bis hin zu neuen bargeldlosen Zahlungsmethoden? Und wie steht es eigentlich um die Zukunft des Musikjournalismus?

Um diese und noch viele weitere Fragen ging es am 10. November auf der Konferenz Most Wanted: Music im Haus Ungarn in der Nähe vom Alexanderplatz. Dem fachfremden Besucher gab das Programm auf den ersten Blick einige Rätsel auf. Was heisst die Abkürzung VR? Was ist ein Hackathon? Und dieses Blockchain, von dem alle reden, wofür ist das eigentlich gut?

Die ersten Antworten fanden sich gleich auf dem Flur, denn dort war das diesjährige «Startup village» aufgebaut, in dem junge Unternehmen ihre neuesten technologischen Erfindungen und Apps präsentierten. Der Besucher konnte hier mit speziellen Drumsticks in der Luft Schlagzeug spielen, ganz ohne echtes, analoges Drumkit, oder durch Schütteln und Drehen eines Smartphones Musik remixen. An anderer Stelle liess sich eine 3D-Brille ausprobieren, mit deren Hilfe man in die virtuelle Realität (ach so, dafür steht VR!) eintauchen konnte, um dort den «Live-Auftritt» eines Musikers zu erleben – virtuell hautnah.  

Der Musiker als «user» oder «artist»?

Solche Apps und technologische Entwicklungen entstehen oft im Rahmen von Hackathons, wie Eric Eitel vom Music Pool Berlin in einem unterhaltsamen Kurzvortrag erläuterte. Hackathon ist eine Wortschöpfung aus Hack und Marathon und bezeichnet Veranstaltungen, in denen Teams aus Programmierern, Designern und anderen Kreativen in kurzer, intensiver Zusammenarbeit Software oder Hardware entwickeln. Hackformate für die Musikbranche wie der Music Hack Day oder das Music Tech Fest führen zu ganz unterschiedlichen, spannenden Ergebnissen, von der Promotion App über den Sensorenhandschuh bis zum Drumkostüm.

In einem Panel mit dem klangvollen Titel The Technology Integration Spaceship stellten einige Entwickler ihre Produkte vor und entwarfen Szenarien von neuen Aufführungsformen, in denen die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum endgültig aufgehoben sind, indem die Besucher mit Hilfe ihrer Smartphones das klangliche Geschehen im Konzert aktiv mitgestalten.

Mark Moebius vom Startup Nagual Sounds, das interaktive Handy-Musik-Apps entwickelt, forderte Künstler dazu auf, sich solchen neuen Technologien mehr zu öffnen, denn erst dann sei die Kunst auch auf der Höhe der Zeit. Jemand aus dem Publikum stellte die Frage, ob das Musikmachen mit Hilfe von Programmen, Loops und Apps nicht schon viel zu einfach geworden sei. Sei man dann eigentlich noch ein «artist» oder «musician» – oder ein «user»? Für Moebius eine unnötige Unterscheidung. Für ihn gilt: Jeder, der will, kann ein Musiker sein. Umso besser, wenn die Technologie dabei hilft.

Mit Blockchain gegen Bürokratie?

In einer Podiumsdiskussion zum Thema Blockchain waren sich die Experten einig: Die Technologie allein ist nicht die Lösung. Blockchain ist ein dezentrales Protokoll für Transaktionen zwischen verschiedenen Parteien, das jede Veränderung im Datensatz transparent erfasst – ähnlich wie ein digitaler Kontoauszug, der für alle Beteiligten einsichtig ist. Blockchain wurde ursprünglich für die digitale Währung Bitcoin entwickelt, man könnte es aber auch für die Vereinfachung der Rechteverwaltung von Musik bei Download und Streaming einsetzen. So lange die grossen Player der Musikindustrie aber nicht an einer derartigen Lösung interessiert sind, die mehr Diversität im Musikangebot ermöglichen würde, und so lange also die Technologie nicht auf breiter Basis, dezentral und transparent angewendet wird, löst Blockchain die bürokratischen Probleme der Musikindustrie nicht, obwohl es die Möglichkeiten dazu bereitstellen würde.

Lifestyle-Reportage statt Reflexion?

Recht pessimistisch ging es auf dem Panel zum Musikjournalismus zu. Nach dem freien Autor Stefan Szillus würden Klickraten und Statistiken belegen: Was über Musik geschrieben wird, interessiert keine Sau. Musikalische Analysen oder Rezensionen seien nicht mehr angesagt. Die Zukunft sieht Szillus in der Reportage, die dem Künstler nah kommt, genau beobachtet und dabei auf Details wie Schuhmarken (Szillus schreibt u. a. über Hip-Hop) Wert legt. Es fragt sich allerdings, inwiefern sich der Musikjournalist dann noch vom Lifestyle-Reporter unterscheidet.
Weitaus gelassener sahen die Radiomacher in die Zukunft. Das Live-Moment, das Wort, der Mensch – das seien die Qualitäten, mit denen sich das Radio gewiss immer gegen Konkurrenten wie Algorithmen und vorgefertigte Playlists behaupten könne.

Bei aller Begeisterung für neue Technologien: Sich wieder auf den Menschen und auf das Live-Erlebnis zu besinnen, das täte gewiss der gesamten Musikbranche gut.
 

Website der Konferenz

Ein Karrierebeginn

Neben Schule, Üben und Musikunterricht bestreiten hochbegabte Jugendliche auch Wettbewerbe und öffentliche Auftritte. Wie gut ist das Fördersystem in der Schweiz und lässt sich eine Karriere überhaupt planen?

Ein aktuelles Beispiel ist die 17-jährige Geigerin Elea Nick aus Meilen. Wir treffen uns zu einem Gespräch im Au Premier am Hauptbahnhof Zürich, sie ist eine schlichte, sympathisch natürlich wirkende junge Frau und wird von ihrer Mutter und Managerin Cornelia Nick begleitet. Für ihr Tonhalle-Debüt am 1. November hat sie Tschaikowskys Violinkonzert ausgewählt, das sie mit den Zürcher Symphonikern unter der Leitung von Mario Beretta spielt. Eine mutige Stückwahl, handelt es sich dabei doch um eines der schwierigsten Violinkonzerte überhaupt.

Das Russische hat die jugendliche Geigerin über ihren Lehrmeister, den russischen Geiger Zakhar Bron, vermittelt bekommen, bei dem sie seit sechs Jahren studiert. Als jüngste Studentin überhaupt konnte sie an der Zürcher Hochschule der Künste, wo ihr Vater Andreas Nick Theorie lehrt, den Unterricht bei Bron besuchen. Seit seiner Pensionierung 2015 baut Bron in Interlaken eine Musikakademie für Hochbegabte auf, Elea Nick besucht ihn dort regelmässig. Sein Ruf als Geigenpädagoge ist legendär, Stars wie Vadim Repin, Maxim Vengerov, Daniel Hope, Laura Marzadori oder David Garret waren einst unter seinen Fittichen. «Die russische Geigenschule und die Art, wie Bron unterrichtet, liegen mir», meint Elea Nick selbstbewusst. «Er ist extrem genau, jeder Ton hat seine Bedeutung, und er lässt nicht locker, bis man diese gefunden hat.» Tschaikowskys Violinkonzert entspreche ihr, in der Tonhalle wird sie es erstmals öffentlich spielen.

Konzentration auf die Karriere

Schaut man sich die Stationen der noch jungen Karriere Elea Nicks an, so hat sie in der Schweiz auf den üblichen Plattformen auf sich aufmerksam gemacht: Sie gewann mehrmals den Schweizer Jugendmusikwettbewerb, als Geigerin und Kammermusikerin, zudem hat sie 2015 einen Migros-Studienpreis gewonnen. International hat sie bereits an zwei Wettbewerben reüssiert: In Nowosibirsk erreichte sie 2013 den ersten Rang ausgezeichnet, in Lublin beim internationalen Lipinski-Wieniawski-Wettbewerb 2015 mit einem ersten Preis.

So weit so gut. «Doch eine solistische Karriere kann man so wenig planen wie das Glück, auch wenn zu ihrer Erzwingung alles richtig gemacht wird», meint der international gefragte Schweizer Pianist Oliver Schnyder, der die Jury zur Vergabe der Migros-Preise präsidiert. Die Konkurrenz unter den jungen Hochbegabten ist riesig, entscheidend fürs Weiterkommen sind persönliche Kontakte in die Musikwelt, aber auch, ein eigenes künstlerisches Profil zu entwickeln.

Wettbewerbe sind nach wie vor wichtig, um auf sich aufmerksam zu machen. «Zudem ist die Vorbereitung auf einen Wettbewerb sehr intensiv», meint Elea Nick, «man muss sich mit einem Riesenprogramm auseinandersetzen, und das auswendig. Dies ist eine extrem gute Vorbereitung fürs Konzertleben.»

Was die Kommunikation betrifft, so ist Elea Nick auf Facebook präsent, sie postet alle Nachrichten selber. Laut Oliver Schnyder spielt die PR heute zwar eine wichtige Rolle, «aber erst dann, wenn die jungen Künstlerinnen und Künstler sehr genau spüren und wissen, was sie unverwechselbar macht. Entsprechend müssen sie die künstlerischen Projekte verfolgen, die ein Image so definieren und festigen, dass es eine PR-Agentur aufgreifen und verwertet kann. Es muss authentisch, unverwechselbar und charismatisch sein.»

Die Förderstrukturen in der Schweiz brauchen heute, so Schnyder weiter, den internationalen Vergleich nicht mehr zu scheuen. «Früher mussten die Jungen kämpfen wie die Löwen, um sich von den gleichmacherischen Tendenzen des Systems nicht bremsen zu lassen.» Elea Nick hatte das Glück, in Meilen bis zur dritten Sekundarstufe die normale Schule besuchen zu können, man erlaubte ein ermässigtes Schulpensum. Nun macht sie im Akad College im Lehrgang Kunst und Sport die Matura im Selbststudium. Auch im schulischen Bereich scheint man in der Schweiz für Hochbegabte flexibler geworden zu sein.

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