Dokumente zur Operngeschichte im Web

Ab sofort können auf der Online-Plattform «Collezione Digitale» tausende Dokumente der italienischen Operngeschichte aus dem Archivio Storico Ricordi in Mailand digital eingesehen und erforscht werden.

«Collezione Digitale» (Bild: Screenshot),SMPV

Laut der Medienmitteilung des Medienunternehmens Bertelmanns kann nach mehrjährigen Vorarbeiten zur Katalogisierung, Restaurierung und Digitalisierung des Archivbestandes zunächst die komplette ikonographische Sammlung des Ricordi-Archivs online abgerufen werden. Sie umfasst mehr als 400 Porträts namhafter Sängerinnen und Sänger, Komponisten und Librettisten, rund 600 Bühnenbildentwürfe sowie mehrere tausend Kostüm- und Requisitenzeichnungen zu zahlreichen italienischen Opern, darunter die Werke von Giuseppe Verdi und Giacomo Puccini.

Zu vielen Werken und Aufführungen sind zudem detaillierte Regie- und Bühnenanweisungen einsehbar. Die Collezione Digitale bietet eine Suche nach Komponisten und Opern sowie eine freie Suche an. Die angezeigten Dokumente können herangezoomt werden und sind mit Metadaten sowie meist auch weiterführenden Links versehen.

Webseite: digital.archivioricordi.com
 

Suisa-Jazzpreis geht an Heiri Känzig

Die Fondation Suisa zeichnet Heiri Känzig mit ihrem Jazzpreis 2016 aus. Der Zürcher Musiker gilt als einer der herausragenden Kontrabassisten Europas.

Heiri Känzig (Bild: zvg/Fondation Suisa)

Der mit 15’000 Franken dotierte Jazzpreis 2016 der Fondation Suisa wird Heiri Känzig im Rahmen eines besonderen Matinée-Konzertes am Sonntag, 4. Dezember 2016 um 11 Uhr im Moods Zürich verliehen. Heiri Känzig wird zusammen mit Chico Freeman und Thierry Lang auftreten, zuerst je im Duo, danach im Trio.

Heiri Känzig wurde 1957 geboren und wuchs in Zürich und Weiningen auf. In Graz, Wien und Zürich studierte er Musik. Seit 1990 lebt er in Meilen, und seit 2002 ist er Professor für Kontrabass an der Hochschule für Musik in Luzern. Die Singer-Songwriterin Anna Känzig ist seine Nichte; ein gemeinsamer Auftritt ist im Mai 2017 geplant.

Schwyzer Kulturkommission zeichnet Kulturschaffende aus

Die Kulturkommission des Kantons Schwyz zeichnet sieben Kunstschaffende mit einem Werkbeitrag aus, darunter den Bratschisten und Komponisten Cyrill Greter und die Flamencotänzerin Sheila Runa Lindauer.

Sheila Runa Lindauer. Foto: zvg

Greter erhält einen Beitrag von 10’000 Franken. Das Einsiedler Orchester «Wood & Metal Connection» hat ihn für die Konzertreihe im Frühsommer 2018 einerseits als Solisten engagiert und ihm andererseits einen Kompositionsauftrag erteilt. Er möchte diese Chance nutzen und sich im Laufe des kommenden Jahres mindestens drei Monate Zeit nehmen, um die Komposition zu schreiben.

Ebenfalls 10’000 Franken erhält Sheila Runa Lindauer. Mit dem Werkbeitrag möchte sie sich persönlich weiterentwickeln und aufbauend auf dem Flamenco neue Elemente des zeitgenössischen Tanzes und der Bewegungssprache ausprobieren. Dazu plant sie die Entwicklung spezieller Tanzschuhe und eines ebenfalls neu entwickelten Tanzbodens.

Weitere Beiträge gehen an die Künstlerin Maya Prachoinig (20’000 Franken), das Duo aus Künstler Tom Heinzer und Germanist Nathanael Schindler (20’000 Franken), den Gründer des Kulturfestivals «Gersauer Herbst» Roger Bürgler (15’000 Franken) sowie die Filmemacherin und Fotografin Mirjam Landolt (25’000 Franken).

 

Zwischen Kunst, Modellbildung und Empirie

Am 29. November wurden an der Graduate School of the Arts in Bern die ersten Doktorate verliehen – Grund für eine knappe Reflexion über Stärken und Schwächen der künstlerischen Forschung.

Promotionsfeier an der GSA. Foto: GSA/Daniel Allenbach

Vor zehn Jahren ist in Bern der Grundstein zu einem ungewöhnlichen Projekt gelegt worden: der Graduate School of the Arts (GSA), einem universitären künstlerischen Dissertationsprogamm für Absolventen der Kunstausbildung an einer Fachhochschule, namentlich der Berner Hochschule der Künste (HKB). Nun haben die Universität Bern und die HKB ‒ offiziell vertreten durch Virginia Richter, Dekanin der Phil.-hist. Fakultät der Uni, und HKB-Direktor Thomas Beck ‒ mit zahlreichen Gästen die ersten Promovierten der GSA feiern können. Das kulinarische Büfett dazu hat Roman Brotbeck metaphernreich zusammengestellt ‒ in den Räumen der HKB im Berner Aussenquartier Bümpliz. Brotbeck ist einer der Initiatoren des Programms; er hat die HKB bis vor rund vier Jahren in verschiedenen Funktionen mitgeleitet. Eine weitere treibende Kraft war Anselm Gerhard, der Leiter des Institutes für Musikwissenschaft der Uni Bern, der an der Feier ebenfalls seine Grüsse überbrachte. Moderiert wurde der Anlass von Thomas Gartmann und Beate Hochholdinger-Reiterer. Sie wechseln sich jeweils jährlich in den Funktionen von Leitung und Ko-Leitung der GSA ab.

Die ersten nun abgeschlossenen Dissertationen der GSA stammen vom Musiker Immanuel Brockhaus, der seit 2003 auch als Leiter des MAS Pop & Rock der HKB Bern amtet, und der Grafikerin Julia Mia Stirnemann. Brockhaus ist der Frage nachgegangen, «welche Einzelsounds die Geschichte der populären Musik prägten und bis heute prägen». Stirnemann hat sich überlegt, wie sich «durch ein parametergebundenes und gezieltes Vorgehen unkonventionelle Weltkarten generieren lassen», namentlich solche, die nicht den Äquator als massgebenden Grosskreis zugrunde legen. Nutzniesser solcher ungewöhnlicher Darstellungen können etwa Schulen, Infografiker oder Weltreisende sein.

Die Techniken, welche die beiden verwendet haben, sind massgeschneidert: Brockhaus hat aus den jeweils ersten 40 Plätzen der Billboard Top 100 Singles von 1960 bis 2013 zwanzig Kultsounds herausgefiltert, detailliert analysiert und beschrieben ‒ mit Hilfe von Methoden aus Musikethnologie, der sogenannten Actor-Network Theory, und Soundanalysen. Das Kernstück der Arbeit Stirnemanns bildet eine eigene Software. Sie ist im Web unter der Adresse worldmapgenerator.com abrufbar.

Mit der GSA haben sich die Universität Bern und die HKB gleich zweifach auf schwieriges Terrain gewagt: Zum einen ist künstlerische Forschung akademisch noch keineswegs allgemein akzeptiert, zum andern wird auch die Frage, ob ein dritter Zyklus, das heisst ein Promotionsstudium mit Doktor-Grad oder PhD an Fachhochschulen sinnvoll ist, nach wie vor sehr emotional diskutiert. Das zeigt auch eine aktuelle Veranstaltung an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK): An einem Podiumsgespräch unter dem sinnigen Titel «Gleichartig aber anderswertig?» diskutieren dort am 9. Dezember Vertreterinnen und Vertreter aus Deutsch- und Westschweiz, Österreich und Grossbritannien Themen rund um die künstlerische Forschung und Alternativen wie das österreichische PEEK (Programm zur Entwicklung und Erschliessung der Künste).

Eine Art säkulare Gretchenfrage ist, wie weit künstlerische Forschung Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch nehmen kann. Darüber gibt es noch kaum Konsens, verbindet man Wissenschaft doch gemeinhin mit Modellbildung, Experimenten, Widerlegungsversuchen, Replikationen und damit Forschungslinien entlang allgemeinerer Theorien. Die Arbeiten von Brockhaus und Stirnemann illustrieren aber gerade den individuellen Charakter künstlerischer Fragestellungen, auch wenn vorstellbar ist, dass weitere Arbeiten an deren Ergebnisse andocken könnten.

Möglicherweise besteht die akademische Qualität solcher Arbeiten in der möglichst sorgfältigen Darstellung eines einzelnen Phänomens oder Sachverhaltes. Vorbilder dazu gibt es in der Frühzeit des wissenschaftlichen Denkens, im 18. und 19. Jahrhundert in der voraussetzungslosen Dokumentation gesammelter Daten oder in Einzelfallstudien, die im heutigen Zeitalter der Quantifizierung und Doppelblindstudien zu Unrecht etwas in Verruf geraten sind. Die Wissenschaftstheorie weiss, dass selbst in harten Fächern der Naturwissenschaften und der Medizin die Grenzen zwischen Kunst, Modellbildung und Empirie durchaus fliessend sind.

Zufällige Blicke in die Liste der weiteren Dissertationsprojekte der GSA zeigt die Stärken und Schwächen aktueller künstlerischer Forschung: Sie geht alleine in der Musik vom Blick aufs Werk des Schweizer Komponisten Hermann Meier über die Geschichte des Gitarrenspiels, die Interpretationspraxis bei Joseph Joachim, Kreativprozesse in der Neuen Musik, Musikalische Gestaltungsideale der Liszt-Tradition, die Wiederentdeckung der Bassklarinette oder die musikalische Ausstrahlung des Klosters Einsiedeln im 11. und 12. Jahrhundert. Spontan fragt man sich, ob solche Projekte an einem Musikwissenschaftlichen Institut auch ohne Einrichtung einer GSA ebenfalls Raum hätten. Die zwangsläufig zufällig anmutende und sicherlich gewünschte Vielfalt hilft nicht, das Profil der GSA zu schärfen.

Die einzigartige Stärke der Berner GSA, die lokale Nähe der Partner Universität und Fachhochschule, scheint überdies zugleich eine Schwäche. Sie erlaubt es zwar, die doch recht unterschiedlichen methodischen und kulturellen Traditionen reiner und angewandter Forschung in intensivem Dialog einander näherzubringen, etwas, was im modernen Wissenschaftsbetrieb dringend notwendig scheint. Auf der andern Seite droht das Image von Selbstgenügsamkeit und Provinzialität. Den Anschein des Heimatschutzes verstärkt die Tatsache, dass zur Zeit neben universitär Promotionsberechtigten formell bloss Berner Masterstudierende in ein GSA-Programm aufgenommen werden können. (Für Absolventen nichtbernischer Fachhochschulen muss ein von der Uni Bern verliehener spezialisierter Master in Research on the Arts erworben werden.) Umgekehrt zeigen sich die Verhältnisse etwa im Fall der ZHdK, wo eine Partnerschaft mit der Universität Graz die internationale Vernetzung moderner Forschung unterstreicht, dafür aber die so wichtigen produktiven Reibungsflächen zwischen den Institutionen reiner und angewandter Forschung deutlich kleiner sein dürften.

Website der Graduate School of the Art

gsa.unibe.ch

Bilanz 15/16 von Theater Orchester Biel Solothurn

Theater Orchester Biel Solothurn hat die Saison 2015/16 mit einer schwarzen Null abgeschlossen. Die Zahl der Eintritte erhöhte sich im Vergleich zum Vorjahr um 11.3 Prozent. Impulse gab die Wiedereröffnung des Stadttheaters Soothurn nach der Renovation.

Theater Solothurn. Foto: Johannes Iff/TOBS

Theater Orchester Biel Solothurn (TOBS) zählte in der Saison 230 Veranstaltungen. Sowohl beim Karten- und Abonnementverkauf, bei den Tourneeeinnahmen, den Engagements des Orchesters durch Dritte wie auch bei den Zuwendungen durch Stiftungen, Gönner und Sponsoren hätten gegenüber dem Vorjahr deutlich höhere Einnahmen generiert werden können, schreiben die Verantwortlichen. Die Erfolgsrechnung schliesst mit einem Jahresgewinn von 8941 Franken.

Insgesamt 59’659 Eintirtte generierten die TOBS-Eigenproduktionen in den Spielstätten in Solothurn, Biel und in Gastspielhäusern der ganzen Schweiz (Vergleich Saison 2014/15: 53’587). Dies entspricht einer Erhöhung um 11.3 Prozent. In Biel konnten 27’979 Eintritte verzeichnet werden, davon 10’104 bei den Konzerten des Sinfonie Orchester Biel Solothurn. Ein besonders starker Besucheranstieg können die Vorstellungen in Solothurn verzeichnen: Neugier und Freude am frisch renovierten Stadttheater liessen die dortige Publikumsgrösse von 17’990 (Saison 2014/15) auf 21’208 Personen (Saison 2015/16) ansteigen. 10’472 Eintritte zählte man bei  Abstechervorstellungen von TOBS in anderen Schweizer Theatern.

Die Anzahl verkaufter Abonnemente erhöhte sich von 2443 in der Saison 2014/15 auf 2581 in der Saison 2015/16. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass zahlreiche Solothurner Kundinnen und Kunden ihr Abonnement nach der Wiedereröffnung auf die Saison 2015/16 hin wieder aktivierten. Die Zahl der Abos fürs Stadttheater Solothurn stieg so von 870 (2014/15) auf 909 (2015/16). Auch der Erfolg eines Sonderabos zur Adventszeit trug zu dieser positiven Entwicklung bei. In Biel stieg die Anzahl verkaufter Konzertabonnemente von 435 in der Saison 2015/16 auf 444.

 

Basler stimmen über Kasernenhauptbau ab

Im September dieses Jahres hat der Grosse Rat des Kantons Bsel-Stadt Ja gesagt zu Sanierung und Umbau des Kasernenhauptbaus zum Kultur- und Kreativzentrum. Ob die Sanierung durchgeführt wird, entscheidet nun die Stimmbevölkerung am 12. Februar.

Der Basler Kaernenplatz (Bild: Kanton Basel-Stadt)

Die Bausubstanz des Kasernengebäudes ist veraltet und entspricht nicht mehr den heutigen Anforderungen. Die Sanierung soll eine neue, flexible Art der Nutzung, mit jeweils befristeten Mietverträgen ermöglichen. Danach soll der Hauptbau kulturellen, kreativen und sozialen Aktivitäten Platz bieten.

Die seit langem notwendige Sanierung und der Umbau des Kasernenhauptbaus kosten 44,6 Millionen Franken. Davon sind 39,9 Millionen Franken nur für die bauliche Gesamtsanierung und den Umbau des Kasernenhauptbaus veranschlagt. Angesichts der bautechnisch anspruchsvollen Situation, der denkmalpflegerisch wertvollen Substanz, des schlechten Zustandes des Gebäudes und angesichts des Gewinns für das Kleinbasel seien diese Kosten gerechtfertigt, schreibt der Kanton.

Der Grosse Rat hat am 21. September 2016 der Gesamtsanierung des Kasernenhauptbaus und dem Umbau zum Kultur- und Kreativzentrum zugestimmt sowie die Ausgaben für das Bauprojekt bewilligt. Gegen den Beschluss des Grossen Rates wurde das Referendum ergriffen.
 

Appenzell Ausserrhoden stellt Kulturkonzept vor

In Heiden ist das Kulturkonzept 2016 des Kantons Appenzell Ausserrhoden vorgestellt worden. Dabei haben die Anwesenden sich dafür ausgesprochen, 10’000 Franken für den Austausch mit geflüchteten Kulturschaffenden einzusetzen. Ein Schwerpunkt bildet die Musik.

Kulturlandsgemeinde 2016. Foto: Hannes Thalmann/flickr.com

Ausgehend von der Evaluation der Zielsetzungen der Jahre 2012 bis 2015 sind in einem dreistufigen Verfahren sieben Schwerpunkte für die nächste Vierjahresperiode definiert worden. Zum einen werden mit der Kulturvermittlung, der Literatur, der Kooperation unter den Museen und der Suche nach einem Werkhaus vier Schwerpunkte der letzten Jahre fortgesetzt und vertieft. Zum anderen werden mit Musik, der Kulturlandsgemeinde und der Kultur in der Gesellschaft drei neue Schwerpunkte gesetzt. Alle sieben Schwerpunkte sind im Kulturkonzept 2016 näher ausgeführt und mit Massnahmen versehen.

Die Frage, was sie mit 10’000 Franken Kulturfördermittel tun würden, wurde von gegen 50 Kunst- und Kulturschaffenden, Vermittelnden, Veranstaltenden und Vertreterinnen und Vertretern von Institutionen beantwortet. Die Antworten führen bei der Präsentation als kurze Statements durch das Konzept. Sieben Vorschläge standen am Mittwochabend zur Auswahl. In einem zweistufigen Verfahren haben die Anwesenden der Kulturbegegnung einen klaren Entscheid gefällt: Mit dem Geld soll durch Kooperationen der Austausch mit geflüchteten Kulturschaffenden gefördert und ihnen der Zugang zu lokalen kulturellen Netzwerken ermöglicht werden.
 

OSR mit neuem Konzertmeister

Wie das Fachblatt «The Strad» schreibt, hat das Orchestre de la Suisse Romande (OSR) mit Svetlin Roussev, dem früheren Konzertmeister des Orchestre Philharmonique de Radio France einen neuen Konzertmeister.

Foto: Julien Benhamou

Der Bulgare Roussev ist Gewinner der ersten Sendai International Violin Competition von 2001 und amtet auch als Professor am Conservatoire de Paris, an dem er selber ursprünglich studiert hat. Er entschied die Audition unter Jonathan Nott, dem musikalischen Leiter des OSR für sich, die diesen Monat durchgeführt worden ist.

Roussev ist Preisträger der Wettbewerbe Indianapolis und Long-Thibaud. Im Jahr 2000 wurde er zum Leiter des Orchestre d’Auvergne ernannt und 2005 zum Konzertmeister des Orchestre Philharmonique de Radio France. Ab 2007 bis dieses Jahr hatte er dieselbe Funktion beim Seoul Philharmonic Orchestra inne.

konsumieren

Im Focus «konsumieren» konzentrieren wir uns auf das Thema «Neue Musik und Konsum». Absolventinnen und Absolventen des Nachdiplom-Studiengangs «DAS Musikjournalismus 2015/16» der Hochschule für Musik Basel in Kooperation mit dem Internationalen Musikinstitut Darmstadt haben darüber Essays geschrieben.

konsumieren

Im Focus «konsumieren» konzentrieren wir uns auf das Thema «Neue Musik und Konsum». Absolventinnen und Absolventen des Nachdiplom-Studiengangs «DAS Musikjournalismus 2015/16» der Hochschule für Musik Basel in Kooperation mit dem Internationalen Musikinstitut Darmstadt haben darüber Essays geschrieben.

Alle blau markierten Artikel können durch Anklicken direkt auf der Website gelesen werden. Alle andern Inhalte finden sich ausschliesslich in der gedruckten Ausgabe oder im e-paper.

Focus

Boulez au Burger King ? 
Nouvelle musique et consommation de masse
Originaltext Deutsch: Boulez bei Burger King? — Neue Musik zum schnellen Verzehr

Die Neue Musik als Kaufhaus
Was man im Supermarkt moderner Klänge alles erstehen kann

Tendances d’infiltration
Entre nouveauté à tout prix et intérêts mercantiles
Originaltext Deutsch: Versickerungstendenzen — Neue Musik und Konsum an entgegengesetzten Enden des Kulturbetriebes?

Geschlossen, ohne Gesellschaft
Warum und wie die Neue Musik ihre selbsterrichteten ­Zugangsbeschränkungen überdenken sollte.

Bild und Abbild im hybriden Raum
Stefan Prin‛s Mirror Box Extensions

Schafe auf der Bühne und in den Medien
Zeitgenössische Oper in den USA

Sofa oder Polsterstuhl?
Livekonzert vs. Musikkonserve

… und ausserdem

CAMPUS

Willi Renggli ist verstorben

Défendre encore l’enseignement de la musique en terre vaudoise

L’enseignement en groupe fait l’objet d’un colloque

«Musikinitiative top oder Flop?»  —  Fachtagung des Verbandes der Musikschulen des Kantons Schwyz

klaxon Kinderseite — page des enfants

Rezensionen Lehrmittel — Neuerscheinungen
 

FINALE


Rätsel
— Michael Kube sucht

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Ich bin zuständig für Möglichkeiten

Im Rahmen des Luzerner Piano-Festivals Mitte November gab der amerikanische Pianist und Musikforscher Robert Levin einen Meisterkurs. Zentral war einmal mehr die Erkenntnis, dass korrektes Umsetzen eines Notentextes noch nicht grosse Kunst ist.

Meisterkurs Klavier: Robert Levin und Marija Bokor. Foto: Lucerne Festival/Priska Ketterer

Zwei moderne Konzertflügel stehen nebeneinander im Rittersaal der St. Charles Hall. Auch einen historischen Hammerflügel hat Robert Levin in den mit Gobelins und Deckenmalerei reich dekorierten Raum bringen lassen, um während seiner öffentlichen Masterclass in Meggen bei Luzern noch mehr Möglichkeiten zur Gestaltung zu haben. Und um der chinesischen Klavierstudentin Ke Ma zu zeigen, wie die hüpfenden Bässe im Presto von Beethovens Mondscheinsonate zur Zeit des Komponisten wohl geklungen haben. Der US-Amerikaner, der mühelos zwischen Englisch und Deutsch hin- und herwechselt, klärt auf über die korrekten Triller, entdeckt offensichtliche Druckfehler in der Urtextausgabe von Johann Sebastian Bach und verdeutlicht Brahms’ Liebesschmerz, indem er harmonische Wendungen in dessen zweitem Intermezzo op. 117 analysiert: «So stark zeigt Brahms seine Gefühle selten. Hier bricht er regelrecht zusammen.»

Auch für die rund 30 Zuhörer ist es interessant, wenn Robert Levin spieltechnische Tipps gibt oder musikalisch nachweist, dass Bach einige Themen wörtlich von Antonio Vivaldi geklaut hat. Die Atmosphäre im kleinen Saal ist konzentriert. Durch die hohen Fenster schaut man auf den Vierwaldstättersee und schneebedeckte Berge. Der jährliche Klavier-Meisterkurs der Luzerner Musikhochschule, die in Zusammenarbeit mit dem Lucerne Festival Piano veranstaltet wird, findet 2016 zum fünften Mal statt. Leon Fleisher, Andreas Haefliger und Martin Helmchen waren die Leiter der letzten Jahre. Robert Levin ist nach 2014 bereits zum zweiten Mal dabei. «Er kann mit seinem musikwissenschaftlichen Background gerade auch in Interpretationsfragen den Studierenden sehr wertvolle Hinweise geben», sagt Michael Kaufmann, Rektor der Luzerner Musikhochschule. Finanziert wird die Masterclass aus einem speziellen Fonds der Stiftung Musikförderungen an der Hochschule Luzern – Musik. Fünf der zehn Teilnehmer sind Luzerner Studenten von Konstantin Lifschitz. Die anderen kommen aus China, England, Deutschland und den USA. Die Schweizerin Marija Bokor (Jahrgang 1992) hat bereits die erste Masterclass von Robert Levin besucht. «Er ist so ansteckend in seinem Enthusiasmus. Viele Dinge, die er sagt, haben mich als Pianistin sehr verändert. Seine Denkweise färbt richtig ab.» Beim letzten Kurs habe sie noch viel geübt zwischen den Unterrichtseinheiten. Dieses Mal sei sie fast die ganze Zeit beim Unterricht der Kollegen dabei gewesen und habe zugehört. Die 22-jährige Ke Ma wurde noch zu Schulzeiten in China auf Luzern aufmerksam, als sie ein Video von Yuja Wangs Interpretation von Prokofiews drittem Klavierkonzert unter Claudio Abbado aus dem KKL sah. Über Internetrecherche sei sie auf die Masterclass gestossen. «Ich habe bei Robert Levin viel Grundsätzliches gelernt, beispielsweise über die optimale Handposition. Das kann man auf alle Stücke übertragen. Interessant fand ich auch, was er über die verschiedenen Charaktere bei Mozart erzählt hat. Und natürlich seine Anekdoten aus dem Musikleben.» In den Pausen zwischen den einzelnen Unterrichtsstunden wird viel getratscht. Es geht herzlich zu zwischen den Hochbegabten. Konkurrenzdenken ist nicht zu spüren.

Nach dem viertägigen Kurs ist Robert Levin sehr zufrieden. «Ich freue mich immer, wenn die Studenten selbst merken, was sie alles bewirken können.» Zum Hammerflügel, einer Leihgabe der Musikhochschule, meint er: «Es ist einfach wichtig, dieses Instrument selbst ausprobieren zu können. Der Anschlag ist ganz anderes als auf einem modernen Konzertflügel.» Levin, der trotz seiner 69 Jahre immer noch jugendlich wirkt, möchte bei seinen Studenten das Interesse für die «Korrektheit der Sprache» wecken. «Dabei bin ich nicht zuständig für die Lösungen, sondern für die Möglichkeiten. Ich möchte die Fenster öffnen», sagt er mit einem Lächeln. Dazu gehört für ihn auch ein philologisches Interesse. Es gebe Unterschiede zwischen einem norddeutschen Staccato und einem süddeutschen. Ein Fortissimo bei Brahms sei etwas ganz anderes als bei Chopin. Letzten Endes gehe es aber um viel mehr als das möglichst einwandfreie Umsetzen von musikalischer Notation. «Ohne Risiko passiert nichts. Wir müssen uns als Musiker der heiligen Pflicht widmen, das Leben unserer Mitmenschen zu verbessern.» Diese moralische Dimension der Kunst habe ihm seine Lehrerin Nadia Boulanger vermittelt. Auch diesen Anspruch gebe er im Meisterkurs weiter – und stosse damit auf offene Ohren.

Beim Abschlusskonzert in der Lukaskirche gestaltet Anna Zaychenka schöne Farbwechsel in den späten Klavierstücken op. 118 von Johannes Brahms. Kathy Tai-Hsuan Lees sprechende Beethoven-Interpretation hat Wucht. Marija Bokor lässt Debussys Estampes wie hinter Nebel erscheinen. Ke Mas Chopin entfaltet Eleganz und Kraft, Gunel Mirzayevas Bach verbindet Strenge mit Spielfreude. Nach Daniel Evans klarer Gestaltung des Kopfsatzes aus Chopins 3. Klaviersonate in h-Moll gehen die Studenten mit Robert Levin ins KKL, um Grigory Sokolov beim Eröffnungskonzert des Lucerne Festivals Piano zu lauschen. Und um auch hier zu erkennen, dass grosse Kunst viel mehr ist als technisch korrektes Klavierspiel.

Website des Lucerne Festivals

www.lucernefestival.ch

Neue Musik und Konsum

Alf Loidl/pixelio.de
Neue Musik und Konsum

In unserer aktuellen Ausgabe sind sieben Essays zu diesem nur auf den ersten Blick vielleicht etwas spröde anmutenden Thema zu entdecken. Geschrieben haben für uns Absolventinnen und Absolventen des Nachdiplom-Studiengangs «DAS Musikjournalismus 2015/16» der Hochschule für Musik Basel in Kooperation mit dem Internationalen Musikinstitut Darmstadt. Der Kurs wurde von Björn Gottstein und Thomas Meyer sowie Stefan Fricke geleitet. Allein schon die Titel der Essays (in alphabetischer Reihenfolge) erhellen vielfältige Aspekte eines Themas, in dem man grosse Widersprüche vermuten könnte. Oder doch nicht?

Boulez bei Burger King?
Neue Musik zum schnellen Verzehr
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Die Neue Musik als Kaufhaus
Was man im Supermarkt moderner Klänge alles erstehen kann
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Geschlossen, ohne Gesellschaft
Warum und wie die Neue Musik ihre selbsterrichteten ­Zugangsbeschränkungen überdenken sollte.
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Bild und Abbild im hybriden Raum
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Schafe auf der Bühne und in den Medien
Zeitgenössische Oper in den USA
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Sofa oder Polsterstuhl?
Livekonzert vs. Musikkonserve
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Versickerungstendenzen
Neue Musik und Konsum an entgegengesetzten Enden des Kulturbetriebes?
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Boulez bei Burger King?

Neue Musik zum schnellen Verzehr.

Pavel Losevsky/fotolia.com
Boulez bei Burger King?

Neue Musik zum schnellen Verzehr.

Mit Pierre Boulez starb diesen Januar die letzte grosse Gründerfigur der Neuen Musik. In den obligaten Nachrufen wurde versucht, seinem breiten Wirken gerecht zu werden. Manchmal stand der Komponist Boulez im Zentrum des Interesses, manchmal der Dirigent und zuweilen gar der Kulturfunktionär. Schliesslich aber zielten alle diese Texte auf die alles entscheidende Frage: Wird er, wird seine Musik bleiben?

Ohne zu übertreiben kann sie als die Gretchenfrage der Kunstrezeption bezeichnet werden. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird zum grossen Komponisten nur erklärt, wer vor dem Urteil nachfolgender Generationen besteht. Eine Haltung, die dem heutigen Klassik-Betrieb einige Probleme beschert. Besonders zu leiden hat dabei das zeitgenössische Musikschaffen, das im Verlauf des 20. Jahrhunderts an den Rand der gesellschaftlichen Wahrnehmung gedrängt wurde. Oft wird die Schuld dafür beim Musikbetrieb, dem Publikum oder anderen dunklen Kräften gesucht. Dabei geht aber vergessen, dass nicht nur die Rezipienten, sondern die Produzenten selbst wenig Interesse an der Gegenwart zeigen. Denn auch die Komponisten unserer Zeit haben verinnerlicht, dass nur der wirklich zählt, dessen Musik überlebt.

Obwohl in der Neuen Musik also viele traditionelle Vorstellungen über die Tonkunst zur Disposition gestellt wurden, halten die meisten ihrer Vertreter am Narrativ der die Zeiten überdauernden Meisterwerke fest – wohl in der Hoffnung, selbst einen Beitrag zum Kanon beizusteuern. Man könnte über diesen romantischen Anachronismus der Avantgarde grosszügig hinwegsehen, indem man ihn zum psychologisch notwendigen Teil einer in unbekannte Gefilde vordringenden Künstlerexistenz verklärt. Könnte man. Doch um dem zeitgenössischen Musikschaffen auch im dritten Jahrtausend Präsenz zu verschaffen, bedarf es frischer Ansätze.

Hamburger statt Filet Wellington

Wagen wir ein Gedankenexperiment – statt Werke für die Ewigkeit zu schaffen, welche dann doch nur einmal aufgeführt werden, könnte man die Not zur Tugend machen: Stücke schreiben für den Augenblick, für genau eine Aufführung, unwiederholbar. Oder, um es mit einem Vergleich zu sagen: Statt ihren Namen in Gerichten wie dem Filet Wellington zu verewigen, sollten sich die Komponisten hinter den Grill bei McDonalds stellen. Musik mit den Vorzügen eines Hamburgers schaffen – schnell zu verschlingen.

Was gäbe es dabei zu gewinnen? Sieht man sich die Entwicklung der Musikbranche an, erkennt man einen kontinuierlichen Zerfall des bisherigen Geschäftsmodells. Die Tonträgerindustrie wurde durch Gratis-Downloads ihres Absatzmarktes beraubt, Geld verdient man höchstens noch mit Konzerten. In der Popmusik verlangen daher die Grössen der Zunft für immer aufwendiger inszenierte Livekonzerte immer höhere Eintrittspreise, während sich in der E-Musik der Kult um Interpreten ins Unermessliche steigert. Während deren Gastspiele zumeist gut besucht werden, bleiben die Säle ansonsten halb leer. Den Trend hin zum Konzert als aussergewöhnlichem Ereignis gilt es aufzugreifen und konsequent weiterzudenken. In Zeiten der Reproduzierbarkeit und digitalen Verbreitung von Musik kann die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil werden. Diese Entwicklung zu antizipieren, ist die Herausforderung, aber auch die Chance gerade der Neuen Musik.

Ansätze in dieser Richtung gab es bereits einige. Die Aleatorik der späten 50er-Jahre, wie sie zum Beispiel in Stockhausens Klavierstück XI verwirklicht wurde, kann als Versuch interpretiert werden, einem Werk mit jeder Aufführung eine andere Gestalt zu verleihen. Noch mehr Einzigartigkeit, und somit mehr Eventcharakter, besitzen die ortsgebundenen Stücke des Kanadiers R. Murray Schafer (*1933). So sind im Musiktheater The Princess of the Stars die akustischen Begebenheiten des Aufführungsortes, eines kleinen Sees ausserhalb Torontos, in die Komposition mit einbezogen. Möchte man eine Aufführung des Werks erleben, muss man wohl oder übel nach Nordamerika reisen. Von solchen Ideen ist es nur noch ein kleiner Schritt, Kompositionen derart zu konzipieren, dass sie ein bestimmtes Konzert zu einem einzigartigen, unwiederbringlichen Ereignis machen. Von «Sternstunde» würde dann nicht mehr gesprochen, weil die Tastenlöwin XY mal wieder einen guten Tag hatte –, sondern weil man bei der einzigen Gelegenheit dabei war, das neue Stück zu hören.

Faktor Zeit

Freilich bedingt ein solches Konzept, die Musik entsprechend anzupassen. Da die Wiederholung eines Stückes ausgeschlossen ist, sollte es zum Beispiel bei einmaligem Hören zu verstehen sein. Es sollte schnell konsumierbar sein und keiner umfangreichen Erklärungen bedürfen. Doch widerspricht das nicht dem Selbstverständnis der Neuen Musik? Ist der Gedanke, dass Experimente Zeit brauchen, um verstanden zu werden, nicht konstitutiv für eine dem Fortschritt verpflichtete Musizierhaltung? Gewiss, doch der Blick in die vorklassische Vergangenheit zeigt zumindest, dass man anspruchsvolle Musik auch dann schreiben kann, wenn man weder auf wiederholte Aufführungen noch auf eine verständnisvollere Nachwelt schielt.

Komponisten wie Georg Philipp Telemann oder Johann Sebastian Bach hätten es sich nicht träumen lassen, dass ihre Musik über ihren Tod hinaus weiter aufgeführt würde. Tote Tonsetzer, auch die bekanntesten, besassen höchstens historischen Wert. Dennoch verwandten sie ihr ganzes Können darauf, Werke höchsten Anspruchs zu schaffen. Selbst ein Werk wie Telemanns Tafelmusik, per definitionem ein Stück Gebrauchsmusik, lässt subtil die Kunst seines Autors erkennen. Um den Zweck einer Musique de table nicht zu verfehlen, also ein höfisches Mahl nicht durch übermässige Expressivität der Musik zu stören, liegen die Raffinessen der Partitur auf einer anderen Ebene. Die virtuose Beherrschung unterschiedlichster Genres und Besetzungen ist es, die Telemann darauf hoffen liess, mit Hintergrundmusik Ruhm bei den Zeitgenossen zu erlangen.

Als weiteres Beispiel können Bachs über 200 Kantaten herangezogen werden. Jede Woche hatte nicht nur eine neue geschrieben, sondern auch gleich einstudiert und am Sonntag aufgeführt werden müssen. Dennoch schaffte es der Komponist, den spezifischen Ausdrucksgehalt jedes Textes aufzunehmen und in Musik zu fassen. Solche Mühen nahm er im Wissen oder aus heutiger Sicht eher im Glauben auf sich, dass es beim einmaligen Erklingen dieser Werke bleiben würde.

Zugegeben, diese zwei Beispiele entstammen einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem die Musik Funktionen einnahm, die sie heute nicht mehr erfüllen kann. Herrschaftliche Repräsentation und die Lobpreisung Gottes zählen nicht zu den primären Aufgaben der Neuen Musik. Trotzdem vermögen sie zu zeigen, dass die Qualität der Musik nicht unter den oben beschriebenen Anforderungen zu leiden braucht. Auch schnell geschriebene, auf Anhieb erfassbare Stücke oder Konzepte können höchsten ästhetischen Ansprüchen genügen.

Doch wie steht es mit der Idee, dass fortschrittliche Kompositionstechniken Zeit brauchen, um sich zu etablieren, um Allgemeingut zu werden? Ich glaube, dabei wird die Wirkungsmacht der Zeit überschätzt. Dazu eine kurze Anekdote: Vor Jahren beklagte eine alte Dame den Umstand, dass es heute keine «grossen Männer» wie Mozart oder Beethoven mehr gebe. Schon eher defensiv erwiderte ich ihr, dass das nicht stimme, es gebe doch Schönberg. Eine Bemerkung, welche sie nur mit einem spöttischen «Ach, die Modernen» quittierte. Ein Komponist, der dazumal bereits 50 Jahre tot war, wurde von der Dame noch immer als modern abgestempelt. Ein halbes Jahrhundert reichte also nicht aus, um Schönbergs Musiksprache ihres neutönerischen Nimbus zu berauben. Es scheint daher für den avantgardistischen Komponisten ratsam zu sein, nicht allzu viel auf die Zukunft zu geben. Wieso es also nicht mit Hamburgern versuchen? Und keine Angst, bloss am Konsum orientiert ist das nicht. McDonalds Burger sind zwar schnell geschluckt, bleiben aber lange im Magen.
 

Simon Bittermann

… arbeitet seit über 20 Jahren im Musikalienhandel und hat nebenbei Philosophie und Musikwissenschaft studiert. Er schreibt regelmässig Kritiken für den Tages-Anzeiger. Und falls er endlich die Zeit dafür findet, wird er sich in seiner Dissertation mit den Philosophischen Aspekten von Schönbergs Überschreitung der Tonalität herumschlagen dürfen.

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Versickerungstendenzen

Auf den ersten Blick scheinen Neue Musik und Konsum an entgegengesetzten Enden des Kulturbetriebes angesiedelt. So eindeutig ist die Ausrichtung auf kompromisslose Neuheit auf der einen und Markttauglichkeit auf der anderen Seite aber nicht.

Michael Nukular/flickr.com
Versickerungstendenzen

Auf den ersten Blick scheinen Neue Musik und Konsum an entgegengesetzten Enden des Kulturbetriebes angesiedelt. So eindeutig ist die Ausrichtung auf kompromisslose Neuheit auf der einen und Markttauglichkeit auf der anderen Seite aber nicht.

Ein Regenwurm ernährt sich von Erde und vermodertem Pflanzenmaterial. Brauchbare Stoffe nimmt er auf, die zerkleinerten Überreste scheidet er aus. Dadurch lockert er das Erdreich auf, hilft dem pflanzlichen Verrottungsprozess und produziert fruchtbaren Humus. Dieser wiederum wird von den Pflanzen benötigt, die Nährstoffe daraus ziehen und den Humus wieder zu gewöhnlicher Erde machen. Gemäss dem Medientheoretiker und Philosophen Vilém Flusser funktioniert unsere heutige Gesellschaft ähnlich: Als Menschen nehmen wir «Natur» auf und verwerten sie zu «Kultur». Mit der Zeit werden die so hergestellten Kulturgüter Abfall, sie verlieren ihren Wert und zerfallen wieder zu «Natur». Oder zumindest zu Material, welches kulturell nutzlos und somit wertfrei geworden ist. Dieses wertfreie Material kann nun wieder verwertet werden. Ein ewiger Kreislauf von wertfrei-Verwertung-wertvoll-wertlos-wertfrei etc.

Dieses Modell kann auf das Verhältnis von Neuer Musik und Konsum übertragen werden. Dabei verstehe ich Konsum als einen Mechanismus, der Produkte möglichst breit zu verkaufen versucht. Neue Musik ist nun nicht dafür bekannt, dass sie ihre Produkte auf die breite Verkäuflichkeit hin entwirft. Sie ist eine dem Konsum eher abgewandte Musikart. Die Neue Musik versteht sich vielmehr als Speerspitze des Flusserschen Verwertungsprozesses. Sie ist sozusagen der Mund, der sich die als wertlos angesehenen Dinge – in diesem Fall z. B. Klänge – einverleibt und aufzuwerten weiss. Die europäische und amerikanische Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts kann unter den Stichworten Emanzipation der Dissonanz und des Geräusches ein Lied davon singen. Zu Beginn des Jahrhunderts wurde die Dissonanz unter anderem durch die atonale und zwölftönige Musik Arnold Schönbergs als neue Klangsprache etabliert und somit wertvoll gemacht. Im Laufe des Jahrhunderts wurde dann das blosse Geräusch als musikalisches Material kulturell aufgewertet.

Doch diese Errungenschaften der Neuen Musik versickern mit der Zeit – gemäss dem Verdauungsprozess des Regenwurms –, sinken in andere Bereiche ab. Die clusterhaften Dissonanzen Strawinskys oder Schönbergs sind zu gängigen Techniken der Filmmusik und zum «Markensound» von erschreckenden Horrorszenen geworden. Das Sampling des Hip-Hops kann als Nachfolge der Tonbandtechniken gesehen werden, die durch die Musique concrète eingeführt wurden. Und in einer SRF-Sendung zur Minimal Music (Musik unserer Zeit, Mai 2016) erzählt der Komponist und Dirigent Irmin Schmidt, dass er die deutsche Krautrock-Band Can gegründet hat, nachdem er in New York 1966 mit der Minimal Music von Terry Riley und LaMonte Young in Berührung kam. Wohlgemerkt nachdem er bei Karlheinz Stockhausen und György Ligeti studiert hatte.

Die Neue Musik ist also kein abgeschlossener Bereich, in dem Hochkultur zelebriert wird und Konsum keinen Platz findet. Ständig versickern Techniken und Konzepte der Neuen Musik in andere, dem Konsum stärker zugeneigte Bereiche.

Doch wie sieht es in der umgekehrten Richtung aus? Dringen auch Klänge, Methoden, Techniken aus konsumorientierteren Musikbereichen in die Sphäre der Neuen Musik ein? Ein Beispiel: 2013 komponierte Hannes Seidl ein Stück mit dem sperrigen Titel Die letzten 25 Jahre in No. 1 Hits der deutschen Jahrescharts dargestellt durch Karlheinz Stockhausens Studie 2 5x. Das Stück kann als «Cover» der Studie II von Karlheinz Stockhausen (UA 1954) verstanden werden. Die Studie II ist nur aus elektronisch erzeugten Sinustönen aufgebaut und gilt als früher Meilenstein der elektronischen Musik. Stockhausen hat dafür eine elaborierte Partitur angefertigt, die jedem ermöglicht, das Stück «nachzubauen». Seidl hat dies für Die letzten 25 Jahre getan. Nur hat er dafür nicht Sinustöne als Grundlage verwendet, sondern eben die No. 1 Hits der deutschen Charts der Jahre 1988 bis 2013.

Zum einen ist Seidls Stück ein Beispiel dafür, dass auch Klänge aus der Pop-Musik inzwischen in der Neuen Musik Verwendung finden, dass also nicht nur Versickerungstendenzen von der Neuen Musik Richtung konsumorientierter Musik, sondern auch umgekehrt zu beobachten sind. Zum anderen dienten dem «Regenwurm» Hannes Seidl nicht nur die Pop-Hits der Jahre 1988 bis 2013 als «Futter», sondern auch Stockhausens Studie II. Daraus könnte man nun schliessen, dass nicht nur die Pop-Hits von vorgestern, sondern auch die Studie II von Stockhausen inzwischen zu wertlosem «Abfall» geworden sind. An dieser Stelle ist jedoch anzumerken, dass Flussers Regenwurmmodell immer auf einer bestimmten Perspektive beruht. Was nun z. B. Komplexität, Erneuerungsstreben, Formalismus oder Elitismus angeht, gehört die Neue Musik zur Speerspitze der Musik. Was Kategorien wie Verkaufszahlen oder Radiotauglichkeit betrifft, würden die Pop-Charts die Neue Musik um Längen schlagen. Aus dieser Perspektive sind sowohl Stockhausens Studie II als auch Seidls Die letzten 25 Jahre ziemlich wertlos.

Hannes Seidl verbindet in Die letzten 25 Jahre die Verwertungskreisläufe der Neuen Musik und die der Pop-Musik auf kritische Weise. Durch das Recycling des Stockhausen-Stückes mittels Pop-Hits verweist er auf den Klassikerstatus von Studie II, die man – gemäss den Mechanismen der Pop-Musik – deshalb covern darf. Gleichzeitig spricht er dem Stück eine gewisse veraltete Ästhetik zu, die er auf ironische Weise durch die Verwendung der auch schon veralteten Pop-Hits zu erneuern sucht. Sowohl die No. 1-Hits als auch die Studie II sind passé. Nur sind die Halbwertszeiten unterschiedlich lange.

Die Parallelen gehen noch weiter. Sicherlich ist die Neue Musik nicht in der gleichen Weise wie die Musik der neusten Popsternchen den Mechanismen des konsumorientierten Markts unterworfen, doch gänzlich frei von Verkaufsargumenten ist selbst die hehre Neue Musik nicht. Obwohl sie grösstenteils in einem durch Subventionen und Stiftungsgelder geschützten Raum entsteht, spielen verkaufsfördernde Aspekte auch in der Neuen Musik eine Rolle. Wobei sich der Erfolg weniger in den Ticket- und CD-Verkäufen als im Interesse und Förderungswille der Kulturausschüsse, Stiftungen und Wettbewerbsjurys manifestiert.

Es stellt sich dabei die Frage, ob die Neue Musik nicht die Aufgabe hätte, diese Wünsche der Jurymitglieder, Konsumentinnen und Konsumenten etc. zu thematisieren und zu hinterfragen statt zu befriedigen. Gemäss Clement Greenbergs berühmtem Essay von 1939 Avant-Garde and Kitsch imitiert und thematisiert die Avantgarde (zu der man die Neue Musik zählen mag), die Prozesse der Kunst, während ihr Gegenpart, der Kitsch, die Effekte der Kunst imitiert. Dementsprechend muss sich Neue Musik, die ihr «Neu» im Namen noch verdient, auf die Prozesse der Kunst und der heutigen Kunstlandschaft beziehen. Die eigene Disziplin zu zitieren, zu hinterfragen und zu kritisieren, stellt somit eine notwendige Bedingung für interessante Ergebnisse dar. Damit einher geht die von Seidl mittransportierte Einsicht, dass Neue Musik und Konsum sich nicht ganz so spinnefeind sind, wie man vielleicht annehmen könnte.

Literatur

Vilém Flusser: Die Informationsgesellschaft als Regenwurm, in: Gert Kaiser, Dirk Matejovski, Jutta Fedrowitz: Kultur und Technik im 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. und New York 1993, S. 69-80.

Hannes Seidl: Die letzten 25 Jahren in No. 1 Hits der deutschen Jahrescharts dargestellt durch Karlheinz Stockhausens Studie 2 5x; Exzerpte und mehr Informationen unter: http://studios.basis-frankfurt.de/works/die-letzten-25-jahre-/ [eingesehen: 4. Juli 2016].

Hannes Seidl: Neu. Über die Ökonomie Neuer Musik, in: Kunstmusik 13 (2010), S. 46-52.

Clement Greenberg: Avant-Garde and Kitsch, in: Partisan Review 6/5 (1939), S. 34-49.

 

 

Jaronas Scheurer
… ist Masterstudent an der Universität Basel (Musikwissenschaft und Philosophie), Hilfsassistent am Musikwissenschaftlichen Seminar Basel und Musikjournalist.

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Sofa oder Polsterstuhl?

Privates Musikhören ist heute zwar sehr komfortabel, ein wirkliches Musikerlebnis findet jedoch nur im Konzert statt. Diese beiden Formen des Musikkonsums müssen sich nicht ausschliessen.

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Sofa oder Polsterstuhl?

Privates Musikhören ist heute zwar sehr komfortabel, ein wirkliches Musikerlebnis findet jedoch nur im Konzert statt. Diese beiden Formen des Musikkonsums müssen sich nicht ausschliessen.

Wer kennt ihn nicht, den Schweinehund, der einen dazu verleitet, freitagabends nach einer anstrengenden Arbeitswoche in bequeme Klamotten zu schlüpfen, um es sich mit einem Glas Wein oder einem kühlen Bier auf dem Sofa bequem zu machen? Es ist nichts Verwerfliches daran, den Feierabend auf diese Art einzuläuten. Doch wenn man sich erst einmal gemütlich eingenistet hat, verschwendet wohl kaum jemand noch einen Gedanken daran, wie sich eine solche Haltung auf den Musikkonsum auswirkt.

Livekonzert im Polsterstuhl vs. Musikgenuss auf dem heimischen Sofa? Während sich die einen gerne hübsch machen und die Künstler hautnah erleben, lauschen die anderen der Musik viel lieber aus der Badewanne, beim Kochen oder auf dem bereits erwähnten Sofa. Aber müssen beide Formen des Musikkonsums gegeneinander ausgespielt werden?

Zunächst ist es doch ganz einfach. Man wählt ein Konzert aus und kauft sich eine Konzertkarte, was mittlerweile mit nur wenigen Klicks im Internet möglich ist. Nun geht es lediglich noch darum, sich ein wenig zurecht zu machen und pünktlich am richtigen Ort zu erscheinen, alles Weitere wird einem abgenommen. Für jede denkbare Aufgabe gibt es Personal – nicht einmal klatschen muss man selbst, denn sogar das wird im Zweifel von den Mithörern übernommen. Man kann sich also zurücklehnen und die Musik auf sich einströmen lassen. Dennoch bewegt sich die Tendenz immer mehr zum privaten Musikkonsum in den eigenen vier Wänden. Warum geht die Besucherzahl vieler Konzerte zurück, obwohl es doch so einfach ist?

Im 19. Jahrhundert hat sich der Zugang zur Musik massgeblich verändert. Konzertsäle wurden ausgebaut und die Musikszene florierte. Das fokussierte Hören stand in dieser Zeit im Vordergrund des Musik-Erlebens. Seit dem 20. Jahrhundert hat sich die Musik einer gewaltigen Veränderung unterzogen, oder viel mehr: unterziehen müssen. Die unaufhaltsame Entwicklung der Technik ist auch an der Kultur- und Musikszene nicht spurlos vorübergezogen. Wir sind zu einer regelrechten Konsumgesellschaft herangereift, die sich mit dem Luxusproblem Überangebot auseinandersetzen muss, einer Gesellschaft, in der viele Subkulturen nebeneinander existieren, in der man sich vermehrt von der Umwelt abschottet und Musik eher als ein privates und weniger als ein öffentliches Erlebnis betrachtet. Durch die heutigen zahlreichen technischen Möglichkeiten von iTunes, Spotify bis hin zur privaten CD-Sammlung und Hightech-Anlage müssen wir uns zum Erwerb des Musikgenusses nicht mehr in die Öffentlichkeit begeben. Wir können diesen auch zu uns nach Hause holen. Ebenso isoliert bewegen wir uns sogar innerhalb der Gesellschaft, abgeschottet durch kleine Ohrstöpsel, durch die Musik in unsere Ohren gelangt. Ist er das, der Konsument von heute? Man kann hier von einer regelrechten Dekonzentration von Musik sprechen. An dieser Stelle ist es allerdings nötig, die zwei Arten des Musikhörens noch einmal klar herauszustellen: Zum einen die «bewusste Hinwendung zu Musik» (im Sinne des aktiven Konzertbesuchs), zum anderen die «geteilte Aufmerksamkeit, bei der Musik lediglich im Hintergrund erlebt wird und andere Tätigkeiten zumeist im Vordergrund stehen», um Klaus-Ernst Behne, den ehemaligen Präsidenten der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover zu zitieren.

Nichtsdestotrotz bringt der technische Fortschritt natürlich auch zahlreiche Vorteile mit sich. Allein das praktische und komfortable Moment. Wir können Musik immer und überall abrufen. Ohne Einschränkung. Sie umgibt uns in zahlreichen Alltagssituationen und regnet unaufhörlich auf unsere Endgeräte hinab. Mit modernster Technik wiedergegeben, ist die Musik klanglich zwar klar, nicht jedoch authentisch, einzigartig oder original. Musik als ein Live-Erlebnis zu konsumieren, wird zu einem unwiederholbaren Moment unseres Lebens. Man erlebt etwas, das in dieser Form nicht exakt wiederholt werden kann. Man erlebt die Künstler und die Klänge hautnah, kann ihre Finger- oder Atemfertigkeit und Technik beobachten. Man ist dabei, wenn sie wortlos miteinander kommunizieren, sich aufeinander einlassen, sieht die Schweissperlen, die sich durch Anstrengung und das heisse Scheinwerferlicht auf ihrer Stirn bilden und im Licht glitzern. Sich einfach vom Sog live erlebter Musik mitreissen und die Stimmung, die sich im Publikum aufbaut, auf sich einströmen lassen – das ist es, was Musik im Konzert zu einem erfahrbaren und originären Moment macht.

Studien besagen, dass der Musikkonsum in den letzten Jahren erheblich angestiegen ist, bedingt durch die zahlreichen möglichen Zugänge. Aber beantwortet das die Frage, weshalb isoliertes Musikhören dem gemeinsamen Konzertbesuch vorgezogen wird? Der Forsa-Umfrage der Hamburger Körber-Stiftung zufolge erachten zwar 88 Prozent der Deutschen klassische Musik als ein wichtiges kulturelles Erbe, aber nur jeder Fünfte hat im vergangenen Jahr ein klassisches Konzert besucht. Von den unter 30-Jährigen war es sogar nur jeder Zehnte. So ist es eben: Wenn man nicht aktiv werden muss, ist man von vielem grundsätzlich begeistert, sobald man selbst etwas tun muss, schwindet der Enthusiasmus. Diese Tatsache macht in noch erheblicherem Masse der zeitgenössischen Musik zu schaffen, die zudem noch mit dem Klischee behaftet ist, generell nur Wenige anzusprechen. Doch gerade für den Konsum zeitgenössischer Musik ist der Konzertbesuch von erheblicher Bedeutung, da sie oftmals nicht allein mit Klängen und Melodien arbeitet, sondern häufig auch Elemente wie Bilder oder Gegenstände miteinbezieht, die sich auf einer CD nicht einfangen lassen. Auch musikalische Elemente wie Geräusche oder neue Spieltechniken erzielen bei einer CD-Wiedergabe längst nicht den Effekt, den sie im Konzert haben können. Erst im Konzert erfährt das Publikum das originäre Wesen dieser Musik. Ist es also vielleicht doch eine Überlegung wert, sein Wochenende auch mit dem Polsterstuhl im Konzertsaal zu teilen?

Beide Konsumformen sind wichtige Zugänge zur Musik. Sie müssen weder gegeneinander ausgespielt werden, noch sich bedingen. Sie können sich schlicht und ergreifend bereichern und ergänzen. Man kann gespannt sein, wie sie sich zukünftig weiterentwickeln werden und was das für die Musikszene bedeutet. Vielleicht wird es eines Tages gang und gäbe sein, das Livekonzert virtuell auf einen Bildschirm in unsere eigenen vier Wänden zu übertragen? So liesse sich doch tatsächlich beides vereinen: das Konzerterlebnis auf dem heimischen Sofa – und für das Gemeinschaftsgefühl mit den andern Konzertbesuchern würde man doch ab und zu den Polsterstuhl besetzen.

Friederike Schmiedl

… ist Fan vom Livekonzert.
 

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Schafe auf der Bühne und in den Medien

Über die Vermarktung Neuer Musik in Amerika am Beispiel von Louis Andriessens Bühnenwerk «De Materie».

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Schafe auf der Bühne und in den Medien

Über die Vermarktung Neuer Musik in Amerika am Beispiel von Louis Andriessens Bühnenwerk «De Materie».

 Ende März, in New York, blökten Schafe auf der Opernbühne. Ihre nahezu alles überschattende Präsenz in den Zeitungen, in sozialen Netzwerken, ja sogar in Alltagsgesprächen jeglicher Art, liess es kaum zu, sich ihrer zu entziehen. Da sie nur eine kleine Rolle in der Inszenierung von Louis Andriessens De Materie spielten, schien ihre Dominanz in den New Yorker Medien verwunderlich. Dieses Beispiel ist aber bezeichnend für den amerikanischen Umgang mit Neuer Musik.

Die Tatsache, dass Schafe über die Bühne wanderten, müsste nicht so bemerkenswert sein. Der Anlass dafür war jedoch die Neueröffnung der vor Kurzem renovierten Armory. Die schauspielernden Tiere kamen in Heiner Goebbels Inszenierung der Anti-Oper vor, die 2014 für die Ruhrtriennale entstanden ist. De Materie ist ein Stück des in den USA öfters aufgeführten Komponisten Andriessen, das seine amerikanische Uraufführung bereits zehn Jahre zuvor hatte. Damals führte das New York Philharmonic es jedoch konzertant auf, was die Neuinszenierung des zwischen 1985 und 1988 geschriebenen Stückes zu einem spannenden Happening machte. Die New York Park Avenue Armory erwarb die Inszenierung – die zweite szenische Aufführung des Stücks seit der Uraufführung durch Robert Wilson 1989 im Amsterdamer Muziektheater. Goebbels hatte seine Inszenierung für die Kraftzentrale Duisburg mit dem Ensemble Modern Orchestra und dem ChorWerk Ruhr unter Leitung von Peter Rundel konzipiert. Nun galt es zu überlegen, wie man die Inszenierung aus dem Ruhrgebiet in der Armory aufführen und an New York bzw. das New Yorker Publikum anpassen könnte.

Nachgewiesene Markttauglichkeit

Das ChorWerk Ruhr und der Dirigent wirkten auch in New York mit. Das junge International Contemporary Ensemble, das dieses Jahr auch in Darmstadt zu hören war, ersetzte allerdings das Ensemble Modern Orchestra. Die statische, bildreiche Inszenierung Goebbels sowie Andriessens ebenso statisches vierteiliges Werk eigneten sich für eine spektakuläre Werbekampagne, eine perfekte Vereinigung der kraftvollen Symbolik von Goebbels Arbeit mit der prachtvollen Herrschaftlichkeit der im 19. Jahrhundert gebauten Armory. The Gilded Age kommt 2016 in der Form hochgebildeter New Yorker Hipsters zum Ausdruck, für deren Bedürfnis nach spiessbürgerlichem Sich-zur-Schau-Stellen sich die östliche Seite New Yorks besser eignet, als die auf der anderen Seite des Parks verortete Met. Diesbezüglich war in einer Rezension der Aufführung im Wall Street Journal explizit zu lesen: «The Park Avenue Armory has also become a home of the hot ticket, offering buzz-worthy productions that are often imported from generously funded European arts festivals.»1 Ein Grundbaustein der amerikanischen Opernwelt sind gefragte, neue europäische Werke, deren Marktfähigkeit bereits erfolgreich getestet wurde. Bei derartigen Aufführungen spielt allerdings noch ein weiteres entscheidendes Element eine Rolle: Künstlerische Kreationen wurden in Europa sehr oft bereits finanziell unterstützt.

Spektakuläre Vermarktung

Kurz vor der Aufführung von De Materie veröffentlichten diverse New Yorker Zeitungen eine Reihe von Ankündigungen des zukünftigen Events. Bemerkenswert war dabei ihr fast ausschliesslicher Fokus auf die 100 Schafe, welche im letzten Akt des Stücks auf der Bühne zu bestaunen waren. Was waren das für Schafe? Woher genau kamen sie? (Im Programmheft war lediglich zu lesen: «100 sheep from the Pennyslvanian countryside.») Wie war es denn logistisch möglich, die Schafe nach New York zu bringen? Wie probt man mit Schafen? Sind Schafe die neuesten Primadonnen der Opernwelt? Vermeintliche Antworten auf alle diese Fragen fanden sich zuhauf in den vielen Porträts dieser neuen «Stars» – mitunter sogar in der New York Times und dem New Yorker. Bei solch dringlichen Fragen muss die Musik natürlich erstmals auf der Seite gelassen werden.

Das andere Bild, welches die Werbekampagne dominierte, war ein Tableau aus dem zweiten Teil des Stückes, in dem Andriessen eine Vision der Begine Hadewijch vertont hat. Die Hadewijch, in schwarz-weissem, einer Nonnentracht ähnlichem Kostüm, steht vor der vordersten Bank, während eine Gruppe von ganz in schwarz gekleideten Beginen zusammengebrochen auf den anderen, im Raum verteilten Bänken liegen. Die Halle ist zur Kathedrale transformiert, und Hadewijch steht in der Mitte, dem Publikum zugewandt, ihre Arme im Zeichen der Offenbarung und Vereinigung weit geöffnet. Das Publikum ist zum Altar, zum Gott ihrer mystisch-erotischen Vision geworden. Über diesem kargen Bild steht in Grossbuchstaben der Name der Anti-Oper: «DE MATERIE»: eine transzendentale Vereinigung des starken Bildmaterials der Inszenierung mit der Marketing-Abteilung der Armory.

Die Kraft einer solchen Vereinigung ist keineswegs zu unterschätzen, da es in den USA unvorstellbar ist, staatliche Unterstützung für künstlerische Projekte zu bekommen. Ganz besonders trifft dies natürlich auf Opern-Projekte zu. Die ständige Suche nach Geld ist ein alltägliches Leid des Musikerlebens, das für die Konsumenten nicht wahrnehmbar, deshalb jedoch nicht minder schwerwiegend ist. Daher auch die Leichtigkeit, sich darüber lustig zu machen. Im Grunde wären allerdings Respekt und Wertschätzung angebracht: Ohne die geschmacklose, plakative und scheinbar bodenlose Vermarktung einer Inszenierung würde sie unter Umständen nicht existieren – eine bittere Wahrheit, die einfach schnell runterschlucken zu müssen man sofort lernt.
Im Falle der Andriessen-Goebbels Inszenierung wurde das Spektakel der Vermarktung dem Spektakel der Inszenierung angepasst. Wenn das der Preis für die Aufführung eines vor allem in den USA wichtigen musiktheatralischen Werks des späten 20. Jahrhunderts ist, lässt sich daran fast nichts aussetzen. Wenn jedoch jegliche Aufführung einer Oper des 20. Jahrhunderts (vom 21. ganz zu schweigen) an einer etablierten Institution gewohnheitsmässig mit einem selbstgefälligen Tonfall als ein Wagnis beschrieben wird, wird man dieser Bezeichnung sowie des begleitenden Werbespektakels schnell müde. Dies ist besonders dann der Fall, wenn der Autor dieses Werks ständiger Gast der Ivy-League-Universitäten ist – Andriessen war im Wintersemester 2015/16 Gastprofessor in Princeton – und eine lange Liste von Kompositionsstudenten und -studentinnen in den USA hat. Andriessens Musik ist immerhin ein bereits konsumiertes, etabliertes Produkt bei uns Amerikanern.
 

Kritische Auseinandersetzung

Dann muss man sich wie jene zuvor zitierte Autorin des Wall Street Journals fragen, warum es den Import einer europäischen Inszenierung braucht, um die erste szenische Aufführung einer fast 30-jährigen Oper diesseits des Atlantiks zu sehen. Nicht dass es keine Uraufführungen Neuer Musik in den USA gäbe, jedoch sind diese kaum in etablierten Institutionen zu sehen. In der kommenden Saison, könnte man einwenden, wird Kaija Saariahos 2000 in Salzburg uraufgeführte L’amour de loin an der Met in einer Neuinszenierung von Robert Lepage zu sehen sein. Allerdings kam es im Zug der Ankündigung in der New York Times zu keiner ernsthaften Auseinandersetzung mit Saariahos Musik. Stattdessen wurde lediglich von der Tatsache gesprochen, dass es nun, 2016, die erste Aufführung der Oper einer Komponistin seit 1903 sei. «Met to Stage Its First Opera by a Woman Since 1903» lautete der Titel. 2 Zweifelsohne ist dies Grund zur Freude! Der selbstgefällige Ton jedoch, der proklamiert, man habe zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: eine Komponistin und eine Oper des 21. Jahrhunderts, ist alles anders als zeitgemäss. Mit dieser soft-core-zeitgenössischen Musik, deren ständig wiederkehrende, exotisch klingende Vokalriffs über einem summenden koloristischen Orchesterklangteppich in Wellen über einem schwimmt, lässt sich dieser «Blick in die Zukunft» – laut Met-Direktor Peter Gelb – immer noch als zahm und verhalten bezeichnen.
So kommt es schliesslich zur altbekannten Frage des Geldes. Auch wenn sich die Macht der Republikanerinnen und Republikaner irgendwann vermindern würde, so käme die staatliche Förderung der Künste als Diskussionspunkt im Senat dennoch nicht vor. Was aber trotz des ewig prekären Zustands der Operninstitutionen und der Medien, die deren Angebote ankündigen und diskutieren, verlangt werden könnte, wäre eine seriöse und kritische bzw. selbstkritische Auseinandersetzung mit ihren Inhalten. Dies würde in erster Linie den Verzicht auf derartige Schaf-Porträts, die lediglich zum Füllen der Konzerthallen dienen, voraussetzen. Stattdessen könnten die Schafe als misslungener Versuch, einen Lückenfüller zu finden, entlarvt und beschrieben werden. Dies war allerdings auch Goebbels Versuch, mit seiner Inszenierung das Publikum in der 15-minütigen ersten Hälfte des vierten Teils zu unterhalten, während dem zwei Akkorde in den stimmbaren Schlaginstrumenten (Glockenspiel, Vibrafon), Klavier und Harfe im langsamen Wechsel gespielt werden. Man könnte fragen, ob die statische Bildhaftigkeit der Inszenierung die Fetischisierung des erotisch-mystischen Schreibens der Begine Hadewijch in Andriessens Partitur unterstützt oder hinterfragt. Schliesslich liesse sich sogar fragen, ob und wie Goebbels Auseinandersetzung mit Andriessens Oper dem Publikum etwas Neues über das Stück lehrt. Auf jeden Fall waren die einhundert Schafe auf der Bühne der Armory nicht das einzige beeindruckende Ereignis, das es zu bestaunen gab.

Anmerkungen

1 Heidi Waleson, Opera’s Changing Face: «Orphic Moments» and «De Materie» offer a chance to examine the changing nature of the institutions that perform opera in The Wallstreet Journal, 4. April 2016.
www.wsj.com/articles/operas-changing-face-1459806371
2 Michael Cooper, Met to Stage Its First Opera by a Woman since 1903 in New York Times, 17. Februar 2016.
www.nytimes.com/2016/02/18/arts/music/met-to-stage-its-first-operaby-a-womansince-1903.html

 

Elaine Fitz Gibbon
… ist Doktorandin am Germanistik-Department der Universität Princeton. Sie schreibt über Neue Musik, vor allem Opern und Musiktheater, die zwischen der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts und heute geschrieben wurden; ausserdem interessiert sie sich für die Rezeption dieser Werken in den USA.

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