Schoecks Penthesilea

Im Auftrag der Othmar-Schoeck-Gesellschaft hat Beat A. Föllmi die stark fehlerhafte Partitur der Oper neu ediert. Aus finanziellen Gründen kommt damit die Gesamtausgabe von Schoecks Werken zu einem verfrühten Ende.

Achilles and Penthesila. Ölbild von J. H. W. Tischbein, ca. 1823. wikimedia commons,SMPV

Ein in der Musikwelt lang ersehntes Neuausgabe ist soeben im Musikverlag
Hug erschienen: die erste Kritische Edition der Oper Penthesilea (1927) von Othmar Schoeck. Das vielleicht wichtigste Bühnenhauptwerk des Schweizer Komponisten (1886-1957) wurde bisher immer auf der Basis einer mit zahlreichen Mängeln behafteten Partitur aufgeführt. Der Schweizer Musikwissenschaftler Beat Föllmi, Professor an der Universität Strasbourg und langjähriger Leiter der Othmar-Schoeck-Gesamtausgabe, die im Auftrag der Othmar-Schoeck- Gesellschaft (OSG) erscheint, hat nun in aufwändiger Arbeit eine vollständig korrigierte Version erarbeitet und hunderte von teilweise groben Fehlern ausgemerzt. Die neue Ausgabe folgt den Absichten des Komponisten so genau wie möglich und macht so ein in Schoecks Schaffen zentrales Werk in moderner Edition für die Bühne und die Wissenschaft zugänglich.

Mit dem Erscheinen dieses wichtigen Bandes kommt die Gesamtausgabe der Werke Othmar Schoecks leider zu einem vorzeitigen Abschluss. Der OSG als Trägerin der Gesamtausgabe ist es trotz intensiver Bemühungen nicht gelungen, die nötigen Geldmittel für eine Weiterführung bereit zu stellen. Die Gesamtausgabe wurde 1988 begonnen, bisher sind 11 Bände (in 17 Teilbänden) erschienen, darunter ein Grossteil der Opern, die frühen Lieder, die Chorwerke, das Klavierwerk und das gesamte Orchesterwerk inklusive den Konzerten. Die OSG bleibt als Gesellschaft weiterhin bestehen.

Othmar Schoeck, Sämtliche Werke, Serie III: Band 14 (A+B), Penthesilea, hg. von Beat A. Föllmi im Auftrag der Othmar-Schoeck-Gesellschaft, Partitur, 2 Bände komplett gebunden, Fr. 288.00, Hug Musikverlage, Zürich 2014, ISBN 978-3-906415-24-6

Atelieraufenthalt für Dominik Wyss in Berlin

Kunstschaffende aus den Kantonen Nidwalden, Obwalden, Uri, Schwyz, Glarus und Luzern werden 2015/2016 für je vier Monate in den beiden Atelierwohnungen der Zentralschweizer Kantone in Berlin leben und arbeiten. Unter ihnen auch der Musiker Dominik Wyss.

Potsdamer Platz, Berlin. Foto: Matthias Mittenentzwei/pixelio.de

Seit Juli 2003 bieten die Zentralschweizer Kantone (inklusive Glarus und ohne Zug, das ein eigenes Atelier in Berlin betreibt) ihren Kunstschaffenden diverser Sparten die Möglichkeit eines viermonatigen Aufenthaltes in Berlin-Mitte. Das Stipendium beinhaltet die unentgeltliche Benützung der Wohnung sowie einen monatlichen Lebenskostenzuschuss. Die Atelierwohnungen werden von der Landis & Gyr Stiftung den Zentralschweizer Kantonen kostengünstig zur Verfügung gestellt.

Einer der Stipendiaten ist der 1956 im luzernischen Triengen geborene Dominik Wyss. Nach der Matura am Kollegi in Stans studierte er an der Universität Zürich Musikwissenschaften und Germanistik. Seit 1983 arbeitet er als Lehrer am Kollegi in Stans, er betreut da auch den Chor und das Orchester. Regelmässig arbeitet er an Kompositionen, vor allem für das Theater. Seine Kompositionen wurden mehrfach aufgeführt, 1997 wurde er mit dem Anerkennungspreis der Schindler Kulturstiftung ausgezeichnet. Den Aufenthalt in Berlin möchte er für die Arbeit an einer neuen Komposition nutzen, die – ohne Theater- oder Filmbilder – das Leben der Grossstadt abzubilden versucht.

 

Die deutschen Amateurchöre sind Kulturerbe

«Chormusik in deutschen Amateurchören» wurde in das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. In der Schweiz hat der Bundesrat erstmals über das immaterielle Kulturerbe an die Unesco rapportiert.

Foto: Stephanie Hofschlaeger/pixelio.de

Wie die Bundesvereinigung Deutscher Chorverbände heute mitteilt, gibt es in Deutschland etwa 60 000 Amateurchöre mit über zwei Millionen Sängerinnen und Sängern. Im Rahmen der Unesco-Konvention wurde diesen nun eine besondere Ehrung zuteil. «Chormusik in deutschen Amateurchören» schaffte die Aufnahme ins bundesweite Verzeichnis gleich in der ersten Runde aus insgesamt 83 Vorschlägen.

Gemäss der Medienmitteilung würdigen die Experten die Chortradition als Kulturform, die «tief in der Mitte der Gesellschaft verwurzelt [ist]. Die kreative Aneignung von Text und Musik sowie die künstlerische Vitalität der Menschen werden durch die Aktivität der Chöre mobilisiert. Gleichzeitig richtet sich die Praxis des Singens auf identitätsstiftende Gemeinsamkeiten und öffentliches Wirken. Kulturelle Tradition, gesellschaftlicher Aufbruch und lebendiges Engagement durchdringen sich bei der Pflege der Chormusik in den deutschen Amateurchören. Sie stellen einen Kern der Musiktradition, desMusiklebens und der Musikpflege in Deutschland dar.»

Ausserdem wurden die Sächsischen Knabenchöre, das Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung sowie die Deutsche Theater- und Orchesterlandschaft ins nationale Verzeichnis aufgenommen.

In der Schweiz hat der Bundesrat am 28. November den ersten periodischen Bericht über die Bewahrung des immateriellen Kulturerbes in der Schweiz verabschiedet. In der heutigen Medienmitteilung schreibt das Bundesamt für Kultur, die Zwischenbilanz sei positiv und der Bericht werde heute an die Unesco übergeben. Im Oktober wurde das Jodeln als eine der acht Kandidaturen vorgeschlagen.
 

Aarau veröffentlicht sein Kulturkonzept

Das neue Aarauer Kulturkonzept kann ab sofort am Empfang im Rathaus der Stadt oder bei der Kulturstelle der Stadt Aarau bezogen werden. Es lässt sich auch aus dem Internet herunterladen.

\“Besitzbare\“ Skulpturen auf dem Aarauer Bahnhofplatz. Foto: Chris.urs-o, wikimedia commons

Fünf Parteien, zehn kulturelle Institutionen und Interessensverbände, acht Abteilungen beziehungsweise Institutionen der Stadt Aarau sowie acht Einzelpersonen hätten an der Vernehmlassung teilgenommen, schreibt die Stadt. Verschiedene Inputs seien in das Konzept eingeflossen, das nun mit leichten Anpassungen von Seiten des Stadtrates fertiggestellt worden sei.

Das Konzept definiert den Rahmen für die kulturpolitischen Aktivitäten der nächsten Jahre. Es ist offen formuliert und überlässt die konkrete Ausgestaltung der Initiativen der kommenden Umsetzung.

Es enthält zudem keine Vorgaben, was Finanzen oder andere Ressourcen betrifft. Dies sei in der Vernehmlassung zum Teil als Mangel bezeichnet worden, räumt die Stadt ein, es sei aber wesentlicher Bestandteil des Konzeptes. Die kommenden Umsetzungsschritte sollen nun die Möglichkeit nach Beteiligung von Kulturschaffenden und Bevölkerung bieten. Bis im Frühjahr wird eine Umsetzungsplanung erarbeitet, die dann die konkrete Schritte für die nächste Legislaturperiode beinhaltet.

Download: www.aarau.ch/kultur
 

Wissenschaft, Technik und Musik in Jugendzentren

Ein von Thomas Gartmann und Barbara Balba Weber gemeinsam mit der Stiftung Science et Cité für das Förderprogramm MINT Schweiz konzipiertes Projekt mit dem Titel «Schall und Rauch. Wissenschaft, Technik und Musik in Jugendzentren» erhält Unterstützung von den Schweizer Akademien der Wissenschaft.

Foto: Thomas Max Müller / pixelio.de

Jugendzentren seien wichtige Begegnungsorte, und Musik habe darin eine zentrale Bedeutung, schreibt dazu Thomas Gartmann, der als Leiter Forschung der Hochschule der Künste Bern (HKB) amtet. Aufgrund dieser Tatsache sei das vorliegende Projekt entstanden: Alles, was klinge, habe «einen physikalischen Ursprung und besteht aus einer mehr oder weniger formbaren ‚Materie‘, die beeinflusst, verändert und verfremdet, aber auch visualisiert – und selber kreiert werden kann». Barbara Balba Weber ist an der HKB Dozentin für künstlerische Musikvermittlung.

Jugendliche sollen im Rahmen des Projektes über die technische und physikalische Seite der Musik und des Musikmachens angesprochen werden. Dazu werden in Jugendzentren – etwa im Kofmehl Solothurn oder im Kiff Aarau – vor Konzerten in kleinen Gruppen Workshops mit Musikern, Forschenden und Technikern durchgeführt. Die Resultate der Workshops werden in Form eines Vorkonzerts, beziehungsweise einer Science Show vor dem eigentlichen Konzertbeginn dem Publikum präsentiert.

Die Zusammenarbeit von Science et Cité, dem Verein infoklick.ch – Kinder- und Jugendförderung Schweiz, dem Verein tüfteln.ch und der Hochschule der Künste Bern öffne verschiedene Zugänge, um die Umsetzung des Projektes zu gewährleisten, so Gartmann weiter.
 

Kultur- und Kreativwirtschaft in Europa

Eine in Brüssel vorgestellte Studie von EY (früher: Ernst & Young) mit dem Titel «Wachstum schaffen: Erfassung der Märkte der Kultur- und Kreativwirtschaft in der EU» kommt zum Schluss, dass die Kultur- und Kreativwirtschaft zur europäischen Wirtschaft einen wesentlichen Beitrag leistet.

Foto: Rainer Sturm/pixelio.de

Mit einem wirtschaftlichen Gewicht von 535,9 Milliarden Euro und 7,1 Millionen Arbeitsplätzen gehöre die KKW zu den wichtigsten Arbeitgebern in der EU und habe nahezu so viel Beschäftigte wie die Gastronomie, schreibt EY. Gleichzeitig beschäftige sie zweieinhalb Mal mehr Menschen als die Automobilbranche und fünfmal so viele wie die Telekommunikationsbranche.

Für die Studie sind elf Teilmärkte analysiert worden: Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, Musik, Darstellende Kunst, TV, Film, Radio, Videospiele, Bildende Kunst, Architektur und Werbung. Sie ist von der GESAC (European Grouping of Societies of Authors and Composers) in Auftrag gegeben worden.

Die Studie kann unter www.creatingeurope.eu heruntergeladen werden.

Basels Musikleben soll nicht austrocknen

Zwölf Gross- bzw. Nationalräte und –rätinnen aus SP, FDP, SVP, GB, CVP, EVP und LCP bilden das Komitee einer Petition, die eine juristische Übergangslösung für die von der Wegweisung bedrohten Musikerinnen und Musikern aus Nicht-EU-Ländern in Basel fordert.

Heike / pixelio.de

Mit der Petition Keine Musikwüste in Basel! bitten die Unterzeichnenden «den Regierungsrat des Kantons Basel Stadt,

  • eine juristische Übergangslösung zu finden, damit alle von der Praxisänderung betroffenen MusikerInnen aus Drittstaaten, auch diejenigen, welche ihr Studium 2014 abschlossen, eine Kurzaufenthaltsbewilligung bis mindestens 31. Dezember 2015 erhalten und
  • als langfristige Massnahme beim Bund vorstellig zu werden und darauf hinzuwirken, dass die Verordnung zum Bundesgesetz so abzuändern sei, damit es freischaffenden Nicht-EU-MusikerInnen weiterhin möglich ist, hier in der Schweiz tätig zu sein.»

Die Petition kann hier eingesehen und unterschrieben werden.

In der Fragestunde des Nationalrates vom 8. Dezember hat sich Bundesrätin Simonetta Sommaruga zu den Bewilligungen für Musiker aus Drittstaaten in der Schweiz geäussert.
 

JTI Trier Jazz Award für Nicole Johänntgen

Die in Zürich lebende und wirkende Jazzsaxophonistin Nicole Johänntgen wird am 29. August 2015 im Rahmen des Mosel Musikfestivals mit dem Japan Tobacco International Jazz Award 2015 (JTI Trier Jazz Award) ausgezeichnet. Sie erhält überdies ein sechsmonatiges Atelier-Stipendium des Popkredits der Stadt Zürich in New York.

Cover der neuen CD. Bild: Hannes Kirchhof

Der JTI Trier Jazz Award werde ihr verliehen, weil sie «über ihr umfassendes Engagement beispielweise mit dem Programm SOFIA (Support of Female Improvising Artists) hinaus eine herausragende Musikerin» sei, schreibt eine Sprecherin der Musikerin. Dank eines  Stipendiums im Rahmen des Popkredits der Stadt Zürich wird sie 2016 im Rahmen eines Atelieraufenthaltes für sechs Monate in New York arbeiten können.

Johänntgen hat in Mannheim Saxophon und Komposition in Jazz/Popularmusik studiert und lebt seit 2005 als freischaffende Musikerin in Zürich. Sie unterrichtet an den Musikschulen in Urdorf und Oetwil an der Limmat im Kanton Zürich. Überdies leitet sie  Workshops für Hobbymusiker, und sie reist als SOFIA-Botschafterin von Land zu Land, spielt Konzerte im In- und Ausland und hält Vorträge über das Selbst-Management.

 

Bewilligungen für Musiker aus Drittstaaten in der Schweiz

Der Basler Nationalrat Markus Lehmann hat den Bundesrat in der Fragestunde des Parlamentes um eine Stellungnahme zur Bewilligungspraxis der Stadt Basel in Sachen ausändische Musiker gebeten. Getan hat dies Bundesrätin Sommaruga.

Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Foto: Bundesverwaltung

Nationalrat Lehmann wollte wissen, warum «exzellente, spezialisierte, selbstständigerwerbende ausländische Musikerinnen und Musiker», die nicht aus EU-/Efta-Ländern kommen, nicht in der Schweiz leben und arbeiten sollten und welche Massnahmen der Bundesrat zusammen mit den Kantonen bereit sei zu prüfen und grosszügig anzuwenden, damit die vielen klassischen Orchester weiterhin bestens qualifizierte Musikerinnen und Musiker einsetzen und beschäftigen können.

Laut Bundesrätin Sommaruga ermöglicht das Ausländergesetz qualifizierten Arbeitskräfte aus Nicht-EU/Efta-Staaten, also aus Drittstaaten, «eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben, sofern dies dem gesamtwirtschaftlichen Interesse entspricht, sie über die notwendigen finanziellen und betrieblichen Voraussetzungen verfügen und die Höchstzahlen, also die Kontingente, eingehalten werden».

Ein gesamtwirtschaftliches Interesse liege dann vor, wenn aus der selbstständigen Erwerbstätigkeit ein nachhaltiger Nutzen für den Schweizer Arbeitsmarkt entstehe, zum Beispiel durch die Schaffung von Arbeitsplätzen. Ausserhalb der kontingentierten Zulassung könnten die Kantone im Rahmen befristeter Kurzaufenthaltsbewilligungen – bis 8 Monate innerhalb von 12 Monaten – ohne Wohnsitznahme in der Schweiz eine Bewilligung erteilen. Nebst der beruflichen Qualifikation sei ein gesichertes Einkommen, also eine Existenzsicherung, eine Grundvoraussetzung.

Qualifizierte Musiker aus Drittstaaten können laut der Bundesrätin bereits heute im Rahmen dieser dargelegten Rechtsgrundlagen zum Arbeitsmarkt zugelassen werden. Falls besondere Anliegen der Kantone im Sinne einer grosszügigeren Regelung vorliegen, werden diese vom Bund geprüft – aber immer innerhalb der gesetzlichen Regelungen.

Auslöser für die Frage war eine Meldung, wonach einem halben Hundert Berufsmusikern aus Nicht-EU-Ländern, die in Basel zum Teil seit Jahren arbeiten und unterrichten, die Ausweisung droht.

Neustart für das Projekt Salle Modulable in Luzern

Die Stiftung Salle Modulable und Butterfield Trust (Bermuda) Ltd., als Trustee des Art I Trust, haben den Neustart des Projekts für ein modular aufgebautes Opernhaus in Luzern bekanntgegeben. Es soll der Vision des verstorbenen Christof Engelhorn entsprechen.

Das Projekt ist wieder im Aufwind; der Standort allerdings noch offen. Foto: Raphaela C. Näger/pixelio.de

Laut einer Medienmitteilung ist das erklärte Ziel von Stiftung Salle Modulable und Butterfield Trust, im Zentrum von Luzern ein Gebäude mit einem modularen, flexibel veränderbaren Aufführungsraum zu errichten. Das neue Theaterhaus soll eine international anerkannte Plattform für Inszenierungen und kreatives Experimentieren in den Bereichen Oper, Musiktheater, Tanz und Schauspiel bieten. Das Projekt soll im Rahmen der Neue Theater Infrastruktur (NTI) realisiert werden.

Für die bisherigen Vorarbeiten zur Projektierung der Salle Modulable hat Butterfield Trust in der Vergangenheit bereits 5,75 Millionen Franken bezahlt. Die restlichen finanziellen Verpflichtungen von Butterfield Trust belaufen sich somit im Falle einer Realisierung der Salle Modulable auf 114,25 Millionen Franken. Nach Abzug weiterer Kosten für die Projektierung, Rechtliches, Buchhaltung und Administration dürften gemäss heutigen Schätzungen schliesslich rund 80 Millionen Franken für den Bau des neuen modularen Theaters in Luzern zur Verfügung stehen.

In einer ersten Phase, die innert der nächsten zwölf Monate abgeschlossen werden soll, wird die Beratungsfirma Arup USA Inc. die technische Machbarkeit des Projekts überprüfen. Arup wird auch eine Schätzung der Kosten für Bau und Betrieb der Salle Modulable vornehmen sowie aufzeigen, welche rechtlichen und politischen Bedingungen für deren Realisierung erfüllt sein müssen. Danach sollen gemäss der Vereinbarung drei weitere Jahre zur Verfügung stehen, um sämtliche finanziellen und politischen Bedingungen für das Projekt zu erfüllen.
 

Musik zum Lesen

Es gibt Musik, die nur durch ihre Beschreibung innerhalb eines literarischen Werks existiert. Dabei kann der Autor ganz unterschiedlich vorgehen. Ein Blick in Bücher von Hermann Burger, Marina Zwetajewa und Thomas Mann.

Es gibt Musik, die nur durch ihre Beschreibung innerhalb eines literarischen Werks existiert. Dabei kann der Autor ganz unterschiedlich vorgehen. Ein Blick in Bücher von Hermann Burger, Marina Zwetajewa und Thomas Mann.

Musik braucht nicht immer eine Bühne. Manchmal reichen ihr zwei Buchdeckel, um zu entstehen. Wobei Texte über Musik, die flüchtige Klänge mit Wörtern begreifbar machen wollen, natürlich geläufig sind. Doch diese Beschreibungen versuchen meist «nur», das Gehörte, das ein anderer komponiert und gespielt hat, aufs Papier zu bannen. Seltener und ungewöhnlicher ist es dagegen, wenn die Musik überhaupt erst im literarischen Text entsteht, ohne lästige Interpreten sozusagen, allein und direkt im Kopf des Lesers. Musikalisierte Sprache, wie zum Beispiel Kurt Schwitters Ursonate, das Paradebeispiel der Lautdichtung, ist damit nicht gemeint. Vielmehr geht es um eine Musik, die im Stillen bleibt, also nie wirklich erklingt – sofern sich nicht jemand die Mühe macht, diese «literarische Musik» in Schallwellen umzusetzen. Sie erklingt einzig im Kopf, was allerdings nicht zwangsläufig heisst, dass die Musik weniger realistisch ist, und schon gar nicht, dass sie eine stille Musik sein muss. Hermann Burgers Roman Schilten ist dafür das beste Beispiel. Burger lässt seinen Anti-Helden Armin Schildknecht nämlich kräftig in die Tasten greifen. Wenn sich der frustrierte Volksschullehrer an sein Harmonium in der Mörtelgrube unterhalb der Turnhalle setzt, dann beschwört er schon mal die Apokalypse herauf, lässt das Inventar beben oder taucht seine Zuhörer in «stille Umnachtung» oder eine «schwermütige Trance».

Dem Leser wird die literarisch komponierte Musik ebenso wie der gesamte «Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz» – wie Burger seinen Roman untertitelt – sprachgewaltig um die «inneren» Ohren gehauen. Die Hauptperson Schildknecht liefert hier in der Ich-Form einen Bericht über den Zustand der Schiltener Schule ab, der gleichzeitig eine monierende Psycho-Selbstanalyse sowie das facettenreiche Zeugnis einer hochgradigen psychischen Pathologie darstellt: «Mein freiwilliger Arrest wird dadurch entschärft, dass ich zusammen mit meinem geliebten Harmonium eingesperrt bin. Die gemischte Schul- und Friedhofspflege von Schilten gab mir ein Instrument, zu sagen, was ich leide.» Die Musik bietet bei Burger einen Zugang in die tiefsten Abgründe der Romanfigur und damit – was nahe liegt – auch in die seelischen Abgründe des Autors selbst: Was das Harmonium spielt, wird zu einem morbiden Soundtrack, der Schildknechts Selbstmitleids-Exzesse begleitet und seinem Kampf mit der Umwelt Ausdruck verleiht: «Für die Dauer des Zwischenspiels jedoch sind sie [die Trauergäste] meiner Botschaft ausgesetzt. In der ersten Fantasie arbeite ich mit dem einfachen Trick der Panik in geschlossenen Räumen. Mit Oktavsprüngen greife ich die Proportionen des schabzigergrünen Ungemachs, lasse auch die kühle Gruft der Mörtelkammer in meinem Rücken erstehen, so dass die Trauergäste enger zusammenrücken und ängstlich nach den Ausgängen schielen.»

Obwohl die Musik in Schilten viel Raum einnimmt, ist sie nicht das Thema des Buches. Denn der Roman wäre schliesslich auch ohne die «literarische Musik» denkbar. Eine ganz andere Rolle spielt die Musik in dem kleinen autobiografischen Büchlein von Marina Zwetajewa Mutter und die Musik. Obwohl im Titel enthalten, erklingt darin fast nie Musik. Die Autorin beschreibt dafür umso poetischer ihre problematische Haltung zur ihr. Die Mutter wollte sie zur Musikerin erziehen, doch das tägliche Klavierüben war für das Mädchen Marina eine einzige Frustration, mit der sie ständig konfrontiert wurde: «Wenn ich nicht spielte, spielte Assja, wenn Assja nicht spielte, übte Walerija und – uns alle übertönend und überdeckend – die Mutter, den ganzen Tag und fast die ganze Nacht!» Die Erzählung kreist um die Musik und den Kampf mit ihr, der eigentlich der Kampf mit der Mutter ist: «Doch – ich liebte sie. Die Musik – liebte ich. Nur meine Musik liebte ich nicht. Das Kind kennt keine Zukunft, es lebt im Jetzt (welches immer bedeutet). Jetzt gab es nur Tonleitern, Kanons und schäbige ‹Stücklein›, die mich durch ihre Unscheinbarkeit kränkten.»

Um das Abarbeiten und Abquälen an der Musik geht es auch in Thomas Manns Doktor Faustus. Allerdings dringt das Bucht viel tiefer in historische, musikwissenschaftliche sowie theoretische Überlegungen zur Musik ein als die Werke von Burger und Zwetajewa. Thomas Mann hat seine Hauptfigur dem Komponisten Arnold Schönberg nachempfunden und sie gleichzeitig mit dem Urtopos des Faust verknüpft. Der Tonsetzer Adrian Leverkühn hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und kann dank diesem wie ein Besessener arbeiten mit einer Garantie auf geniale Ideen. Thomas Mann hat damit der Zwölftonmusik ein auf grosser Kennerschaft fussendes, literarisches Denkmal gesetzt. Er schlägt somit eine einzigartige Brücke zwischen Musik und Literatur, die um einiges stärker ist als bei Burger und Zwetajewa, weil sie über die literarische und poetische Spielerei hinausgeht. Konkrete Beschreibungen von Klängen gibt es hingegen kaum. Dafür lässt sich das Buch, wie es Theodor W. Adorno anregt, im Gesamten als musikalische Form interpretieren. Er notierte über den Doktor Faustus: «Die Höllenfahrt Fausti als eine grosse Ballettmusik.» Das Ballett zum Lesen, es wäre auch ein paar Überlegungen wert.
 

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Die Zerstörung der Stille

Ein wichtiger Topos der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ist die Stille. Oft suchten Komponisten die expressiven Momente gerade in den leisen Tönen. Der Musik des Noise wird im Gegenzug Gewalt und purer Krach nachgesagt. Lassen sich diese beiden Sphären verbinden?

Ein wichtiger Topos der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ist die Stille. Oft suchten Komponisten die expressiven Momente gerade in den leisen Tönen. Der Musik des Noise wird im Gegenzug Gewalt und purer Krach nachgesagt. Lassen sich diese beiden Sphären verbinden?

Laptoprauschen, Vogelzwitschern, eine Stichsäge aus dem Off, die Stadt summt aus der Ferne den Bordun. Türenschlagen im Hof, Kinderstimmen, das Knattern eines Mopedauspuffs, Flugzeuge, die in wenigen Augenblicken auf dem Tegeler Flugfeld landen werden. Die durchschnittliche Kulisse einer Stadt im Jahre 2014. Vormittags, in einer ruhigen Berliner Seitenstrasse. Die Bauarbeiten sind omnipräsent. Der Geräuschpegel, den die Schleif-, Säge- und Bohrmaschinen produzieren, ist Teil meiner Umwelt. Gewerkelt wird hier pausenlos, wenn nicht auf der Strasse, dann im Haus. Eine alltägliche Kulisse, meine Stille. Die stille Stille, die in der Musikgeschichte (vor allem der des 20. Jahrhunderts) und darüber hinaus immer auch als spirituell beschrieben wird und wurde, es gibt sie nicht, es hat sie wohl nie gegeben.

Eine andere Hörsituation begegnet mir an einem Februarabend im Berliner Berghain. Der Club, in den jedes Wochenende Techno-Fans aus aller Welt strömen, wird an diesem Abend mit Noisemusik bespielt: Druck auf die Ohren, Angriff auf die Körper. Konzentriertes Zuhören ist kaum möglich. Vielmehr wird mein Körper «unfreiwillig» von den Klängen attackiert, zugemauert. Allmählich erst, nach gefühlten 20 Minuten, gewöhnt das Ohr sich an die Geräuschmassen, und Differenzen zeichnen sich leise an der Ohrmuschel ab: zerfetzte MP3-Reste, Feedback-Schleifen, klingender Datenmüll.

Eigentlich ist dieser Krach, der kaum aushaltbare Lärm, der vermeintliche Konterpart zu der anfangs beschriebenen, eher romantisierten «Stille». Die oft benutzte Redewendung von der Wall Of Sound, das ist es, was hier klanglich für einmal eine passende Zuschreibung erfährt. Yasunao Tone ist der Komponist, Klangkünstler und zugleich Performer dieser Musik und in Kreisen des Noise einer der wohl wichtigsten Vertreter. Das Betätigungsfeld des Japaners ist wie bei anderen seiner Fluxus-Zeitgenossen vielfältig, er arbeitete u. a. mit Merce Cunningham und John Zorn zusammen. In den Achtzigerjahren jedoch widmet sich Tone vor allem der Manipulation und Präparierung von CDs und kreiert seitdem seine Musik aus dem Malträtieren von digitalen, binären Codes. Exemplarisch zeigt sich diese Ästhetik und Klanglichkeit des Glitch vor allem bei seinem Stück Solo for Wounded CD: Hierfür klebt Tone auf der vom Laser auszulesenden Seite der CD Tesafilm-Streifen, sodass der CD-Spieler die binären Daten «inkorrekt» wiedergibt.

Was aber nun hat die Musik des Noisemusikers Tone mit Stille zu tun? Man könnte meinen, Stille und Krach seien zwei unvereinbare Pole, in deren Zwischenraum irgendwo die Musik situiert sei: als eine organisierte Struktur bestehend aus Klang und Stille. Diese Fixpunkte aber gelten nicht mehr als normativ und starr, das hat die Musik im 20. Jahrhundert mehrfach bewiesen: Das Geräusch wurde emanzipiert und die Stille für Kompositionen und Konzepte genutzt. Dass aber selbst dieser Dualismus, so wie er hier vorgeschlagen wird, nicht notwendigerweise funktioniert, sondern als Figur aufgeweicht wird, beweist die Musik von Tone und weitergehend der Noise.

Ausserdem darf Noise als Musikgenre nicht ausschliesslich mit den Attributen Gewalt und Lärm versehen werden. Denn – und hier gibt es durchaus Gemeinsamkeiten mit dem, was wir Stille nennen – Noise thematisiert auch immer die Wahrnehmung der Klänge und der Musik, ja Noise kann gar kontemplativ gehört werden. Das zeigt sich bei Stücken des polnischen Komponisten Zbigniew Karkowski. Die Komposition White findet sich auf einer Zeitkratzer CD mit dem Titel Noise … [Lärm]; der Untertitel: «To Listen To At An Extremly Loud Level». Trotz der überwältigenden Lautstärke und Dichte der Klangereignisse lässt ein solches Stück Musik dem Hörer einen Freiraum und die Möglichkeit der Orientierung im Klanggeschehen. Ähnlich wie beim Lauschen in die Landschaft kann man hier von einem Hineinhorchen in die Klangdichte sprechen. In den Hörweisen des Noise offenbart sich demnach zumindest die Möglichkeit einer sanften Berührung der so differenten Pole. Denn beiden Phänomenen – der Stille und dem Krach – wohnt eine Idee gegenüber klanglichem Material inne, welches sich sensuell und körperlich erfahren lässt.

Dass es aber Yasunao Tone gerade nicht um die Ähnlichkeiten zum Phänomen der Stille geht, stellt er am ausdrücklichsten mit der Komposition Imperfection Theorem of Silence dar, in der die Stille gar direkt thematisiert wird. Hierfür benutzt er «klanglose» Pausen aus seinem Stück Wounded Soutai Man’yo BOOK III und verarbeitet dieses vermeintlich stumme Material zu einer neuen Komposition. Ergebnis ist ein im Vergleich zwar eher ruhiges, dennoch mit Rauschen und Störgeräuschen durchsetztes kurzes Stück. Die Stille wird also als klingende zum klanglichen Material eines Noise-Stückes umgedeutet. Nichts spricht dagegen, diese Musik kontemplativ zu hören und so Wahrnehmungsmodi der Stille zu inkorporieren. Wichtiger als dieses Wahrnehmen ist aber die Entromantisierung der Stille, die in der Musikgeschichte der letzten hundert Jahre einen beinahe mythischen Schweif nach sich zieht; man denke hier an Nono, Cage oder auch Pärt. Der Noise dekonstruiert die Vorstellung von Stille als Kontemplation, von Stille als natürlichem Rückzugsort und entmythisiert diesen. Der Noise als Negation von Kommunikation und Kommunizierbarkeit produziert bewusst Fehler, soll fehlerhaft sein und zelebriert dadurch die Störung der Ruhe und digitalen Glattheit und die Störung der Romantik der ohnehin immer fiktiven Stille. In der Musik des Noise wird damit auch unsere klangliche Umwelt reflektiert.
 

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Noch weniger ist leer

Die Stille hat zwei Seiten. Während wir die positive Stille bewusst suchen, werden wir durch die andere Stille mit einer unangenehmen Leere konfrontiert. Mit der Angst vor der Leere spielen Künstler seit über 100 Jahren, wenn sie mit Werken herausfordern, die auf ein absolutes Minimum reduziert sind.

Die Stille hat zwei Seiten. Während wir die positive Stille bewusst suchen, werden wir durch die andere Stille mit einer unangenehmen Leere konfrontiert. Mit der Angst vor der Leere spielen Künstler seit über 100 Jahren, wenn sie mit Werken herausfordern, die auf ein absolutes Minimum reduziert sind.

Szene eins: Ein kahles, weiss gestrichenes Wartezimmer. Mehr als ein harter Stuhl steht nicht bereit. Er passt sich farblich wunderbar der Wand an, Ton in Ton. Stellen wir uns vor, wir müssen hier verharren und wissen nicht wie lange. Nehmen wir also Platz. Die Informationen, die uns das Zimmer bietet, sind schnell gescannt. Wenn unsere Aufmerksamkeit immer wieder an der weissen Wand abrutscht, wird für uns die Suche nach einem neuen Fixpunkt beginnen. Möglich ist, dass uns solch eine Situation unangenehm ist.

Szene zwei: Wir sprechen mit einem anderen Menschen. Unsere gegenseitige Vertrautheit ist oberflächlich. Der Dialog funktioniert nach bekannten Regeln: Einer redet, der andere hört zu und schweigt. Der Ball wird ordnungsgemäss hin- und hergespielt. Doch dann gelingt einem Partner das Zuspiel nicht und es kommt zur Gesprächspause. Der Dialog steht still. Auf der Suche nach Fortsetzung möchten wir den Ball wieder zum Rollen bringen. Möglich ist, dass uns solch eine Situation unsicher macht.

Szene drei: Wir sitzen im Konzertsaal. Die Musiker sind angetreten, die Instrumente gestimmt. Das Publikum kommt langsam zur Ruhe und das Licht ergibt sich der Dunkelheit. Wir erwarten den ersten Ton, der aber nicht erklingt. Eine gewisse Zeit halten wir die Konzentration aufrecht. Wenn aber das Orchester schweigt, geht unsere Aufmerksamkeit auf die Suche. Möglich ist, dass uns solch eine Situation unruhig werden lässt.

Was haben alle drei Szenen gemeinsam? In drei unterschiedlichen Situationen erfahren wir Stille. Eine Stille jedoch, die wir nicht gesucht haben. Die positiv besetzte Stille gönnen wir uns mit Freude, finden sie in lifegestylten Selbstfindungsmeditationen oder durch alpine Naturerfahrungen. Die andere Stille aber wirft uns ins Nichts. Sie entspannt uns nicht, beruhigt uns nicht. Sie konfrontiert uns erbarmungslos mit der Leere.

Im 20. Jahrhundert breitete sich eine «Weniger-ist-mehr»-Mode in Kunst, Musik und Literatur aus. Im Experimentierfeld der Reduktion entstanden monochrome Gemälde, die dem Auge den Fixpunkt verwehrten. Oder Gedichte, die durch Pausen zum Leser sprachen. Und eine Musik der Stille schliesslich, die diese schwer auszuhaltende Leere offenlegte. Erik Satie als musikalischer Vorreiter erforschte bereits um die Jahrhundertwende den musikalischen Umgang mit der Zeit. Vexations hiess sein rund zwanzig Stunden dauerndes Klavierstück, auf das sich der Pianist mit äusserster Stille vorbereiten sollte. Nachkriegskomponisten würdigten Saties Ästhetik und ergründeten langsame und leise Musik. Steigert sich das «Weniger» in der Musik immer weiter, wird die Stille zum Schweigen. «Erklingt» die Pause als bewusst auskomponierte Stille, dann werden wir mit der anderen Seite der Stille konfrontiert. Und mit der Leere. Aus «weniger ist mehr» wird «noch weniger ist leer».

Wolfgang Rihm weist in der Partitur seines Musiktheaters Die Hamletmaschine darauf hin: «30 Sekunden geschieht nichts. Trotz Horror Vacui: durchzählen. »
Philosophen nannten das Kind bei diesem Namen: «Horror Vacui» meint die Angst vor der Leere. Eine 30 Sekunden lange Pause ist tückisch, was man von einer 30 Sekunden erklingenden Musik selten sagen kann. Ob als hörendes Publikum oder ausführender Musiker: Schweigt die Musik, verschwimmt unser Fixpunkt, dehnt sich die Zeit. Die Leere, die sich zu uns gesellt, hat keine Richtung. Wenn der suchende Blick an der weissen Wand abrutscht, muss ein neuer Fixpunkt her. Deshalb ist es uns ein Drang, leere Flächen zu füllen, Pausen zu beenden und Schweigen zu brechen. Wie gut, dass unser Verstand uns helfen wird: Wann immer Situationen unangenehm werden, wird er Abkürzungen suchen, Unsicherheiten umgehen oder diese in Gänze verhindern. Dabei vergeudet er keine Zeit. Nehmen wir die dritte Szene: Im Konzertsaal warten wir auf den Beginn des Orchesterspiels. Unser Verstand wird verlässlich aktiv werden. Er sorgt dafür, dass unser starr zur Bühne gerichteter Blick sich langsam zum Bühnenrand hintastet. Wir werden feststellen, dass unsere Sitzposition nicht die Bequemste ist und sie korrigieren. Unser Sitznachbar tut dem gleich. Die Leere lässt unsere Sinne erwachen. Wir wippen die Beine, wenden den Kopf und atmen besonders tief durch. Unsere Gedanken springen. Wir werden Menschen beobachten oder die Einkaufsliste durchgehen. Die Taktiken zur Neufokussierung sind vielseitig. Beim gemeinschaftlichen Horror Vacui gibt es viel zu entdecken. Wir müssen die Leere nicht fürchten, denn sie entfacht wie selbstverständlich kreatives Potenzial. So gesehen gibt es diese Leere nicht.

Szene vier: Vertrauen wir darauf: Jede leere Fläche wird unser Verstand wie von Zauberhand füllen. Nehmen wir einfach selbstbewusst im weiss gestrichenen Wartezimmer Platz. Zusammen mit einem schweigenden fremden Menschen lauern wir auf den Einsatz eines versprochenen Musikstückes. Unser Geist wird aktiv werden und die spannungsgeladene Stille überbrücken. Vielleicht stellt sich die Entspannung schon jetzt ein. Spätestens mit dem Einsatz der Musik kann uns die Last von den Schultern fallen. Möglich ist, dass wir mit dem ersten Ton aufstehen werden, um das Zimmer zu verlassen und die Suche nach einem neuen Fixpunkt beginnen: einem Ort, an dem wir die Stille und die Leere noch ein bisschen weiter zelebrieren können.
 

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Stille am Klavier

Die Pianistin und Komponistin Laura Konjetzky sitzt am Flügel ohne zu spielen. Aus Fragen und Assoziationen entwickelt sich ein Gedankenspie um Charakter, Aussage und Grenzen musikalischer Stille.

Die Pianistin und Komponistin Laura Konjetzky sitzt am Flügel ohne zu spielen. Aus Fragen und Assoziationen entwickelt sich ein Gedankenspie um Charakter, Aussage und Grenzen musikalischer Stille.

Ein Konzertflügel. Er steht auf der Bühne für das bevorstehende Solorezital. Ich, die Pianistin des Abends, trete auf, gehe zum Instrument, setze mich hin, lege die Hände auf die Tasten, ohne sie hinunterzudrücken, und spiele ein Werk, das aus Stille besteht.

Dieses Szenario stelle ich mir vor, während ich in meinem Arbeitszimmer am Flügel sitze und mir die Frage stelle: Was bedeutet Stille am Klavier?

Stille ist eine extreme Form der musikalischen Äusserung. Bei Stille ist entscheidend, was vorangegangen ist und was danach kommt.Wie bei einer Pause, in vergrösserter Form. Was aber, wenn der Rahmen der Stille ausserhalb der Komposition liegt, weil das ganze Stück nur aus Stille besteht?

Ist ein solches Werk Ausdruck von musikalischer Sprachlosigkeit? Wird der Zuhörer zu eigenen inneren Klängen hingeführt? Reinigt eine solche Komposition die Ohren? Wird hier eine tiefere musikalische Schicht freigelegt?

Ich fange mal mit der Besetzung an. Wenn ich mich als Komponistin für die Stille am Klavier entscheide, dann spielt dieses Instrument, ohne dass ein einziger Ton erklingt, eine zentrale Rolle. Die Stille kann den Fokus des Publikums auf die optische Erscheinungsform des Flügels lenken. Die Stille kann die Erinnerung an den Klavierklang stimulieren, kann die Sehnsucht nach Klaviermusik wecken. Die Stille am Klavier kann wie Musik sein.

Für die Aussage einer solchen Komposition sind die Vortragsanweisungen wesentlich. Schreiben sie vor, dass der Pianist die Hände auf die Tasten legt, ohne eine Taste zu drücken, entsteht eine andere Stille, als wenn der Pianist vor seinem Instrument sitzt und die Hände im Schoss gefaltet hat. Es ist von Bedeutung, ob der Pianist seinen Blick auf den Flügel gerichtet oder gesenkt hat, ob er nach aussen oder nach innen schaut.

Die Lage der Hände auf den Tasten spielt eine wichtige Rolle. Legt der Pianist die linke Hand in eine extrem tiefe Basslage und die rechte Hand in eine extrem hohe Diskantlage, dann ist die Erscheinungsform der Stille anders, als wenn der Pianist die Hände um das Schlüssel-C herum platziert.

Für diese Entscheidungen ist die gewünschte Grundaussage der Komposition zentral: Geht es um das Nicht-Erklingen eines Klavierstücks, bei dem die Handpositionen zeigen, was nicht erklingt? Geht es um eine den Pianisten blockierende Stille, die ihn daran hindert zu spielen? Geht es um das Aufzeigen, dass es doch gar keine Stille gibt, sondern jedes kleinste Rascheln auch Teil der Musik ist, oder geht es darum, in eine Art meditative Stille zu gelangen, die eine Tür zu inneren Höreindrücken sein kann? Da bei der Komposition der Stille die akustische Identität des Instruments wegfällt, spielt die Optik eine umso grössere Rolle. Es findet eine Verschiebung der Schwerpunkte statt.

Interessant ist auch die Struktur, die der Komponist für die Stille gewählt hat. Die auskomponierte Stille kann zum Beispiel aus einer einzigen Pause bestehen. Die auskomponierte Stille kann sich aus lauter kleinen Pausenwerten zusammensetzen. Wenn die Pausenwerte im Verlauf des Stücks immer kleiner werden, ist das ein Accelerando der Stille?

Kompositorisch richtungsweisend ist der Beginn des Stücks. Wenn ich als Komponistin dem Zuhörer deutlich zeige, wann das stille Werk beginnt, ist die Wirkung eine andere, als wenn ich den Zuhörer allmählich entdecken lassen, dass das Stück bereits begonnen hat. Der Flügel steht im Regelfall schon während des Einlasses still auf der Bühne. Ist das bereits die Aufführung einer Komposition der Stille ohne Pianisten? Braucht es dann überhaupt einen Interpreten für ein solches Werk?

Anfang und Ende der Stille bilden einen notwendigen Rahmen, der die Stille definiert und ihre Identität gestaltet. Dabei spielt der Pianist eine zentrale Rolle. Stille setzt sich über die Erwartung hinweg, dass auf dem Instrument etwas erklingt. Auch dafür braucht es den Pianisten. Mit dem Auftritt des Pianisten und dem Beginn der definierten Stille entsteht eine konzentrierte Stille, eine geführte Stille. Da Stille immer in Relation zu etwas steht, ist auch die Dynamikpalette des Flügels eine wichtige Referenz. Der Flügel ist ein grosses, starkes Instrument und die Stille am Klavier orientiert sich daran. Stille am Klavier kann dem Pianisten erst einmal das wegnehmen, was ihm auf der Bühne am vertrautesten ist: das Klavierspiel. Stille am Klavier erfordert neue Fähigkeiten vom Pianisten, die ihren Ursprung in der Choreografie oder darstellenden Kunst haben.

Stille als musikalische Erscheinungsform ist keine Randerscheinung, sondern ein Elementarbaustein der Musik. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema führt Komponist, Interpret und Zuhörer direkt zu grundlegenden musikalischen, kompositorischen, interpretatorischen und philosophischen Fragestellungen.

Ich kann die gedankliche Reise zur Stille an einem ausgewählten Instrument nur empfehlen. Stille wirkt wie ein Vergrösserungsglas und bringt sofort zentrale Thematiken des jeweiligen Instruments ins Spiel.

Nun sitze ich schon eine ganze Weile in meinem Arbeitszimmer still vor meinem Flügel. Nach dieser Gedankenreise ist mein Bedürfnis gross, das Instrument zum Klingen zu bringen. Ich bin gespannt, wie ich jetzt seinen Klang wahrnehme.
 

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Musik für Augen und Kopf

Spätestens seit der musikalischen Avantgarde gilt die Notengrafik als eigenes Genre zwischen Bildender Kunst und Musik. Wie sieht diese Art von stiller Musik im digitalen Zeitalter aus? Und was kann sie leisten? Eine Untersuchung am Beispiel der «sheet music» von Johannes Kreidler.

Spätestens seit der musikalischen Avantgarde gilt die Notengrafik als eigenes Genre zwischen Bildender Kunst und Musik. Wie sieht diese Art von stiller Musik im digitalen Zeitalter aus? Und was kann sie leisten? Eine Untersuchung am Beispiel der «sheet music» von Johannes Kreidler.

Beim Stöbern im Souvenirshop fällt mein Blick auf eine Postkarte: eine Notenzeile, die sich über die gesamte Breite der Karte zieht. Am Anfang steht ein Violinschlüssel, sonst ist sie leer. «Geniesse die Ruhe», lautet die Unterschrift. Sie erinnert mich an eine Serie von Schwarz-Weiss-Drucken, der sheet music von Johannes Kreidler, die genau demselben Muster folgen: eine Grafik aus Notensymbolen mit Titel, Prinzip Minimalismus, wie im sheet Sunset, das nur aus einer Notenzeile und einer einzelnen Note besteht.

Das Postkartenmotiv ist zwar nett, irgendwie auch raffiniert und trotzdem wirkt es vor dem Hintergrund von Kreidlers Arbeiten blass. Offenbar haben die sheets etwas, was die Postkarte nicht hat, das aber auf den ersten Blick verborgen bleibt. Aber was?

Der Schlüssel dazu liegt in ihrem Ursprung: Ihr Schöpfer ist kein Grafikdesigner mit besonderem Gespür für Originalität, sondern Künstler, Performer und vor allem: Komponist. In den letzten Jahren fiel Kreidler mehrfach durch seine innovativen wie provokativen Arbeiten und Aktionen auf, die er immer auch in einen theoretischen Kontext stellt. Neuer Konzeptualismus lautet das Schlagwort, unter dem der 34-Jährige sein aktuelles Schaffen begreift und auf dessen Erde auch die sheets gepflanzt sind. Was zählt, ist die Idee, zu deren Umsetzung alle Mittel und Medien der Kunst erlaubt sind. Wie und ob das dann klingt, ist sekundär. Mit der sheet music, die Kreidler seit 2013 kreiert, wendet er sich komplett vom Hörbaren ab: Er komponiert Grafiken aus Noten, «Augenmusik» – und auch das mit Konzept.

Was das Material betrifft, ist dieses Konzept denkbar einfach: weisser Hintergrund, schwarze Schrift, Typ: Times New Roman, ein Dreiklang mit Titel 1+2=3, ohne Schnörkel. Schon dem widerspricht die Postkarte mit ihrem roten, kursiv gesetzten Spruch, der verrät, dass sie hübsch sein will. Die sheet music will das nicht, zumindest nicht nur. Sie will vor allem etwas mitteilen, und diese Mitteilung generiert der Betrachter selbst, indem er die zwei Zeichenebenen miteinander in Beziehung setzt. 1+2=3 zeigt eigentlich keinen Dreiklang, sondern Notationssymbole, die wir aufgrund ihrer Anordnung und des Titels als Dreiklang bezeichnen. Der Titel setzt dem Assoziationsspielraum Grenzen, ein Prinzip, das Kreidler in ähnlicher Weise bereits in seiner Aktion Fremdarbeit austestete. Dort beeinflusste er durch unterschiedliche Anmoderationen zu immer derselben Musik die auditive Wahrnehmung. «Präpariertes Hören» nannte er das, und hier liefert er das Pendant: «präpariertes Sehen».
 

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«Sunrise for Bejiing» (2014)

So funktioniert auch die Postkarte: Bild und Titel ergeben eine Aussage, die relativ leicht zu fassen und eindeutig ist. Haben wir sie kapiert, schauen wir weg. Die sheets hingegen halten unsere Aufmerksamkeit durch ihre Individualität, Offenheit und Rätselhaftigkeit wach. Ihre Interpretation ist nicht nur eine kognitive, sondern auch eine kreative Leistung. Jedes sheet liefert einen Denkanstoss, der in ganz unterschiedliche Richtungen führen kann. Ein Kontinuum bildet nur die Ironie, wie im sheet Sunrise for Bejing. Wenige grafische Elemente entpuppen sich in Kombination mit dem Kommentar, der das sheet auf Kreidlers Blog Kulturtechno ergänzt, als ein Cocktail aus Galgenhumor und Gesellschaftskritik: «Wegen des extremen Smogs wird in Peking auf einem grossen LED-Bildschirm die Abbildung eines Sonnenaufgangs gezeigt.»

Die meisten sheets führen thematisch aber zum Ursprung der kleinen Formen zurück. «Ich will, dass jetzt alle mal über Musik nachdenken!» Was Kreidler in einer seiner Performances forderte, gilt auch für die sheets. Sie greifen Topoi aus der Musikgeschichte auf, verarbeiten sie auf spielerische Art und erweitern sie um subtile Pointen, wie Tristan Motive, altogether, ein Cluster, der sämtliche Töne des Tristan-Motivs vereint ‒ Kreidlers Beitrag zu einer nicht enden wollenden Debatte der Musiktheorie.

Letztlich lassen sich die Drucke insgesamt auch als Reflexionen über das digitale Handwerkszeug des Komponisten von heute verstehen. Die Massenansammlungen von Notationssymbolen der sheet-Serie Depots stehen für die grenzlose Verfügbarkeit des Materials, das heutzutage besser in Grafiken als in Partituren aufgehoben zu sein scheint. Die sheets bringen uns die Software sowohl als Hilfsmittel nahe, das die Notation erleichtert und besser kommunizierbar macht, als auch als Medium, das zwischen Autor und Notat eine Distanz erzeugt. Die scheinbar willkürliche Zusammensetzung von Notenzeichen, z. B. in Beach Game, besitzt Symbolstatus: Der Komponist ist nicht mehr Herr dessen, was er in den Computer eingibt.

Kreidler aber hat seine Noten im Griff: Er verrückt Zeichen absichtlich, um Bewusstsein zu schaffen. Er komponiert, nur keine Klänge. Ist sheet music denn überhaupt Musik? Eine fast philosophische Frage, zu der Kreidler klar Stellung bezieht: «Musik muss auch mal raus aus der time-base. Musik ist nicht nur akustisch, sondern hat auch seine [sic!] visuellen Kontexte. Es ist dann immer noch Musik.» Tatsächlich suggerieren nur wenige der Bilder ein akustisches Moment. Kreidlers Antwort täuscht über die Komplexität der Sache hinweg, ebenso wie manches sheet über die seriösen Gedanken ihrer Verwandten: Eine Notenzeile, die sich über die gesamte Breite einer Leinwand zieht. Im vierten Zwischenraum liegt eine kreisrunde Note, sonst ist sie leer. «Asshole», lautet die Überschrift. Provozieren – auch das kann die Postkarte nicht.

sheet music unter

www.sheetmusic-kreidler.com

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