Eine Wiederentdeckung wert

In einer repräsentativen Aufnahme kirchenmusikalischer Werke setzt das Ensemble Corund Johann Baptist Hilber ein Denkmal.

Ensemble Corund vor der Luzerner Hofkirche. Foto: zvg

«… mein ganzes bisheriges Leben [stand] im Zeichen dieses Klangwunders, das wir Musik nennen. Ich bin Musiker gewesen mit jedem Nerv, mit jedem Blutstropfen …» Das schrieb Hilber 1963, kurz nach der Vollendung seiner letzten Komposition, der Missa a cappella Vox clamantis in deserto. Seine ganz persönliche Wüste war eine Schwerhörigkeit, die schon in jungen Jahren begonnen hatte und die sich kontinuierlich verschlimmerte.

Trotzdem schuf Hilber ein reichhaltiges Œuvre und wurde vor allem mit seiner Kirchenmusik (verbreitet etwa die Missa pro Patria) über die Landesgrenzen hinaus bekannt. 1891 in Wil geboren, wirkte er ab den 1920er-Jahren bis zu seinem Tod 1973 in Luzern. Neben seiner kompositorischen Tätigkeit war ihm die pädagogische wichtig: Er gründete unter anderem die Katholische Kirchenmusikschule Luzern (heute Teil der Musikhochschule) und stand ihr bis 1967 vor, war Direktor der Luzerner Gesangsvereine und Mitredakteur musikalischer Zeitschriften. Er war Träger zahlreicher Ehrentitel und Preise, von denen hier nur der Titel eines Ehrendoktors der Universität Freiburg erwähnt sei.

Als Stiftskapellmeister an der Hofkirche St. Leodegar in Luzern fand Hilber ab 1934 ein ideales Wirkungsfeld. In eben dieser Kirche wurde die CD aufgenommen. Stephen Smith erweiterte sein professionelles Ensemble mit zehn Berufsmusikerinnen und -musikern und fünf ausgewählten Amateuren (ein gelungenes Experiment!), um so den Chor zu bilden, der wohl dem Komponisten vorgeschwebt haben mag. Der kongenial musizierende Titulaire Wolfgang Sieber setzte seine Orgel farbig und immer unterstützend ein, tadellos auch die Solistinnen Gabriela Bürgler und Anne Montandon und die Solisten Ross Buddie und Marcus Niedermeyr.

Hilbers spätromantische Klangwelt ist agogisch und dynamisch nuancenreich erstanden; die wunderschöne CD wird hoffentlich in vielen nacheifernden Chören ihre Wirkung entfalten.

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Johann Baptist Hilber: Chorwerke. Ensemble Corund, Leitung Stephen Smith; Wolfgang Sieber, Orgel. Spektral SRL4-13121

Zwei Visitenkarten

Über die Musik hinausgreifen, wollen die Projekte der Klavierklasse von Patricia Pagny. Das wird nicht wirklich deutlich, die CDs zeigen aber ansprechende Programme.

Ausschnitt aus dem CD-Cover von «Entre la France et le Japon»

Patricia Pagny, Klavierprofessorin an der Hochschule der Künste in Bern, ist Initiatorin des «Tasti’Era»-Projektes, das durch Interdisziplinarität neuen Wind in die Klassikszene bringen möchte. Ihr erklärtes Ziel ist es, musikalische Auftritte durch die Verknüpfung mit anderen Künsten attraktiv, vielseitig und ansprechend für das Publikum zu machen. Als greifbares Ergebnis und Visitenkarte sind bis jetzt allerdings nur zwei CDs entstanden, die trotz ansehnlicher Qualität kaum als bahnbrechend zu bezeichnen sind. Pagnys Klavierklasse spielt darin zwei gut geschnürte Programme ein, die sich aber nicht von gewöhnlichen Motto-CDs abheben.

Ausgehend vom starken Einfluss der japanischen Malerei auf die französischen Künstler am Ende des 19. Jahrhunderts begibt sich die Klasse auf der CD Entre la France et le Japon auf die Suche nach etwas Vergleichbarem in der Musik. Tatsächlich gelingt eine überzeugende Gegenüberstellung durch eine treffende Stückwahl. Toshio Akaishi und Toru Takemitsu gewähren einen Einblick in die japanische Kompositionskultur, und durch mehr oder weniger bekannte französische Vertreter von Maurice Ravel bis Jean-Jacques Werner werden sehr bald Unterschiede, aber auch weitreichende Gemeinsamkeiten deutlich. Die meist atmosphärisch-schwebenden Werke, grenzen sich vornehmlich durch unterschiedliche Klangflächenstrukturen voneinander ab, die auf die verschiedenen Kulturkreise zurückzuführen sind. Das Prélude La Puerta del Vino von Claude Debussy mit seinen starken spanischen Einflüssen fällt da aus der Reihe, durch seine sehr schöne, thematisch aber unpassenden Klangwelt. Drei Ersteinspielungen, Jean-Jacques Werners Madigan Square, Toshio Akaishis A Heavy Cloud Drips in the North Winter’s Sky und The blue moon is rising from beyond a mountain ridge, weisen kompositorische Finesse und Individualität auf; bei Akaishi finden sich teilweise ausdrucksstarke und farblich überschwängliche impressionistische Elemente. Die Interpretinnen sind überzeugend und werden den Werken gerecht; neben Patricia Pagny selbst, welche als Mentorin qualitativ heraussticht, ist Mrika Sefa besonders hervorzuheben, die mit einer besonderen Ausdrucksstärke und Sensibilität für Phrasen und Zeit Poulencs Improvisation XIII und Takemitsus Song of love darbietet.

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In der zweiten CD Bern-Thun-Interlaken, véritable source d’inspiration wird das Spiel der Assoziationen weitergespielt, allerdings recht lose. Die vier miteinander eng verbundenen Komponisten (Ehepaar Schumann, Brahms und Mendelssohn) haben zwar alle die genannte Gegend gekannt und geschätzt, aber nur eines der aufgenommen Werke ist tatsächlich hier entstanden: Drei Fantasiestücke op. 111 von Schumann. Tanja Biderman eröffnet die Aufnahme mit der für den Anfang sehr intelligent gewählten Toccata op. 7 von Robert Schumann, einem Stück, das so schwer ist, dass nur wenige Pianisten es in ihr Repertoire aufnehmen können oder wollen. Es wird überraschend souverän und mit erleichternd wenig Betonung der Technik gemeistert, was sich auch bei Mendelssohns Variations sérieuses und Brahms’ Intermezzo op. 118 Nr. 6 nicht ändert. Dass direkt darauf die Intermezzi op. 117 von Brahms, gespielt von Tomomi Hori, erklingen, zeigt genauestens die Unterschiede der beiden Pianistinnen. Während Biderman Brahms ausholend, mit viel Rubato und Pathos vorträgt, gönnt sich Hori nicht viele Freiheiten, spielt streckenweise beinahe hölzern. Solche divergierende interpretatorische Auffassungen werden im Laufe der CD weiter sichtbar. Die Gesamtqualität bleibt trotzdem sehr hoch, besonders zu loben ist die Auffassung eines runden Klanges und die merkliche Hinwendung an die interne Logik der Kompositionen, die bei allen Unterschieden nie ins Willkürliche abgleitet.

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Bern – Thun – Interlaken, véritable source d’inspiration, Werke von Mendelssohn, Brahms, Clara und Robert Schumann, Patricia Pagny et sa classe de pianistes à la Haute Ecole des Arts de Berne, Tasti’Era-Projects

Den Erinnerungen folgen

Die Pianistin Luisa Splett verwebt auf ihrer Doppel-CD Bekanntes mit Unbekanntem und lässt sich dabei von ganz persönlichen Assoziationsfäden leiten.

Luisa Splett. Foto: Elena Astafieva

Eine nicht alltägliche Zusammenstellung: mit Sergej Prokofjew und Nikolai Rimski-Korsakow zwei gestandene Russen, mit Hermann Goetz, Martin Wendel und Alfred Felder drei wenig bekannte Schweizer Komponisten. Hermann Goetz (1840–1876) war ein Schüler Hans von Bülows. Mit 23 Jahren verschlug es ihn nach Winterthur. An der dortigen Stadtkirche war er als Organist tätig, fand aber auch Zeit, seine Losen Blätter zu komponieren. Es sind kleine romantische Charakterstücke á la Davidsbündlertänze von Robert Schumann; und Schumanns Clara hatte Goetz sie denn auch gewidmet, doch sie nahm sie nicht auf in ihre Konzertprogramme. Ihre Gründe wird sie gehabt haben. Einer könnte sein, dass sich die Stückchen nicht auf dem Niveau derjenigen ihres Mannes bewegen. Hübsch sind sie, diese Losen Blätter des Kleinmeisters Goetz. Nur leider ohne jegliche Überraschung und Tiefenwirkung.

In Fahrt kommt die Doppel-CD Wie im Fluge erst mit der zweiten Scheibe. Luisa Splett zeigt sich im 2013 entstandenen memoir – following a trace of my memory als feinfühlig-empathische Pianistin, die den persönlichen Stücken des 1950 in Luzern geborenen Alfred Felder sowohl Leben wie auch Glaubwürdigkeit einhaucht. Die aus Winterthur stammende Luisa Splett sammelte viel Erfahrungen. Am renommierten Rimski-Korsakov-Konservatorium in St. Petersburg verfeinerte sie ihre Fähigkeiten, die besonders zur Entfaltung kommen in Sergej Prokofjews selten gespielten Aphorismen Visions fugitives op. 22 und dem ungleich bekannteren Hummelflug Nikolai Rimski-Korsakows.

Leider geben das Booklet und die grafische Gestaltung der bewusst persönlichen und engagierten Crowdfunding-Produktion eine skurrile Note. Das Bild der jungen Dame Splett mit Regenschirm auf einem zwischen Wolken fliegenden Flügel (es heisst ja «Wie im Fluge») wird der Musik jedenfalls nicht gerecht.

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Luisa Splett: Wie im Fluge. Werke von Hermann Goetz, Sergej Prokofjew, Martin Wendel, Alfred Felder und Nikolai Rimski-Korsakow. Rocco Sound (2 CD). www.roccosound.ch

 

British Composers Award für Django Bates

Django Bates, Dozent im Studienbereich Jazz der HKB (Hochschule der Künste Bern), ist für seine Komposition The Study of Touch mit dem British Composers Award 2014 in der Kategorie Jazz ausgezeichnet worden.

Django Bates, Bild zum Album «Beloved Bird». Foto: Martin Munch

Django Bates war in den 1980er-Jahren als Gründer der Big Band Loose Tubes einer der Initianten der europäischen Jazzrenaissance. 1997 wurde er mit dem Danish Jazzpar Prize ausgezeichnet, der als Nobelpreis des Jazz gilt. 2005 ernannte ihn die RMC Kopenhagen zum ersten Professor für Rhythmische Musik. An der Berner HKB ist er Dozent für Klavier, Komposition und Ensemble.

Die British Composer Awards zeichnen Kompositionen in Zeitgenössischer Musik, Jazz und Elektroakustische Musik aus. Ins Leben gerufen worden sind sie 2003 von der British Academy of Songwriters, Composers and Authors (BASCA).
 

 

Stille

Stille Nacht, Stille in der freien Improvisation, der stillste Ort der Welt, wo einem fast bang wird … – Junge Musikjournalistinnen und -journalisten haben sich mit dem Phänomen «Stille» in verschiedensten Ausprägungen beschäftigt. Wir präsentieren ihre Essays, die in einem Nachdiplom-Studiengang der Fachhochschule Nordwestschweiz entstanden sind.

Stille

Stille Nacht, Stille in der freien Improvisation, der stillste Ort der Welt, wo einem fast bang wird … – Junge Musikjournalistinnen und -journalisten haben sich mit dem Phänomen «Stille» in verschiedensten Ausprägungen beschäftigt. Wir präsentieren ihre Essays, die in einem Nachdiplom-Studiengang der Fachhochschule Nordwestschweiz entstanden sind.

Focus

… und ausserdem

RESONANCE


La voix d’ange de Fritz Albert Warmbrodt

Si loin, si proche : Susanne Abbuehl et Elina Duni au festival Jazzonze+

«Wichtig ist das Schaffen von Perspektiven»
Interview mit Balthasar Glättli, Präsident von Swiss Music Export

Comment fait-on chanter des enfants pour l’éducation ?
Des classes en Suisse romande et au Burkina Faso créent des chansons

Carte blanche: Hans Brupbacher zur Zukunft der SMZ

Rezensionen Klassik, Rock und Pop – Neuerscheinungen
 

CAMPUS


PreCollege Musik der ZHdK

Rezensionen Unterrichtsliteratur – Neuerscheinungen

klaxon Kinderseite
 

FINALE

Rätsel: Michael Kube sucht

 

 

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Stille – ausgerechnet in der Musik

Der Advent nennt sich gern «stille Zeit». Die Stille ist allerdings schwer zu fassen, auch in der Musik.

Oleg Kozlov – Fotolia.com
Stille - ausgerechnet in der Musik

Der Advent nennt sich gern «stille Zeit». Die Stille ist allerdings schwer zu fassen, auch in der Musik.

Zehn junge Autorinnen und Autoren haben vergangenen Winter im Rahmen einer Weiterbildung den CAS Musikjournalismus der Forschungsabteilung der Hochschule für Musik/FHNW besucht. Zum Abschluss verfassten sie Essays über die Stille, von denen wir vier in der Dezemberausgabe drucken, zwei davon in französischer Übersetzung. Illustriert werden die Texte mit Bildern von Kaspar Ruoff, in die man hineinhorchen kann.

Alle Essays finden sich hier, auf unserer Website. Dies auch in Hinblick auf das internationale Symposium Stille als Musik, das die Hochschule für Musik und das Musikwissenschaftliche Seminar vom 12. bis 14. Dezember in Basel veranstalten (www.musikforschungbasel.ch).

Sie gelangen zu den einzelnen Essays, indem Sie den jeweiligen Titel im untenstehenden Textfeld anklicken.

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(No) sound is innocent?

Der brummende Kühlschrank als Zeitdokument – Die Stille in Aufnahmen frei improvisierter Musik re-listened.

Der brummende Kühlschrank als Zeitdokument – Die Stille in Aufnahmen frei improvisierter Musik re-listened.

Hustendes Publikum, vor dem Konzertsaal vorbeifahrende Motorräder, nervöses Stühlerücken – auf Aufnahmen frei improvisierter Musik aus der Zeit um die Jahrtausendwende bilden solche Nebengeräusche deutliche Ausschläge auf der Dynamikkurve, die ansonsten ohne grosse Veränderung bleibt. Hört man diese Aufnahmen heute, fällt sofort frappierend ins Ohr, dass der Stille darin eine enorm grosse Relevanz zugemessen wird. Egal, ob es sich um Aufnahmen aus London, der Schweiz, Berlin oder Japan handelt, überall überlagert das Raumgeräusch mit einer fast impertinenten Dominanz das eigentliche musikalische Geschehen, das sich zart verästelnd darunter ausbreitet, als wolle es sich im selbst geschaffenen Dickicht verstecken.

Liest man Zeitzeugenberichte, wird der Eindruck bestätigt, dass das Phänomen grassierte. Als regelrecht zwanghaft wird heute empfunden, dass die Musiker damals nicht nur fast ausnahmslos sehr leise spielten, sondern auch über weite Strecken explizit nicht spielten. Das Diktat der Stille verwandelte den Konzertsaal in eine Kathedrale, in der unbedingt Andacht gehalten werden musste – atmen also möglichst unauffällig und geräuschlos, keine raschelnden Jacken tragen, Gespräche ausnahmslos einstellen. Und dann lauschte man dem Konzert oder vielmehr: dem Barkühlschrank, der das Konzert um einige Dezibel übertönte.

Es ist kaum nachvollziehbar, wie ausgerechnet die Stille ihre leise, aber sehr bestimmte Herrschaft für einige Zeit über ein musikalisches Subgenre beanspruchte, das ansonsten gerade dafür bekannt ist, jeglichen Dogmatismus lauthals abzulehnen. Begibt man sich auf die Suche nach den Ursprüngen der Entwicklung, verlieren diese sich schnell in Mythen und Legenden. Im Falle der japanischen Onkyō-Bewegung(1) erzählt man sich, dass der hauptsächliche Konzertort der Szene in einem Wohnhaus lag und man deshalb zunächst aus Rücksicht leise spielen musste, bis schliesslich ein Stil daraus wurde, den man aus Gewohnheit übernahm. Geschichten wie diese sind letztlich symptomatisch für die Protagonisten der freien Improvisation, die seit jeher ein Unbehagen zu verspüren scheinen, wenn ihre Musik beschrieben wird. Da aber sowohl im Onkyō als auch im sogenannten Berliner Reduktionismus zeitgleich auf ähnliche Art sehr leise oder gar nicht gespielt wurde, ebenso wie in anderen Metropolen mit frei improvisierender Szene, liegt ein gemeinsames Motiv für die Erforschung der Stille zumindest nahe.

Mitte der 1990er-Jahre existierte die Idee der freien Improvisation seit ungefähr 30 Jahren. In den 60ern durch Gruppen wie AMM oder das Spontaneous Music Ensemble in Grossbritannien ausgerufen, war die Musik im Anfang ein Reflex auf die absolute Determination im Serialismus, während die anti-intellektuelle Haltung ihrer Protagonisten im unbändigen Gestus des Free Jazz wurzelte. Die Musik war im Ursprung laut, geprägt von lang ausgehaltenen Tönen in extremen Lagen mit hohem Geräuschanteil, atonal und durch Verwendung von found objects häufig der musique concrète näher als dem Jazz: ein enfant terrible, das grundsätzlich immer dorthin abbog, wo es möglichst unbequem war und wo es keiner erwartete. Von Eddie Prévost, Mitbegründer von AMM, existiert das geflügelte Wort «No sound is innocent», kein Klang ist unschuldig – und genau so wurden die Klänge auch behandelt.

Möglicherweise liegt die Zuwendung zur Stille ebenfalls in diesem Ausspruch begründet. Ist nicht die freie Improvisation mit ihrem Grundsatz des spontanen und instantanen Musizierens schon immer auf der Suche nach dem «unschuldigen», ungehörten, neuen Klang? Was, wenn ihre Protagonisten irgendwann kollektiv das Gefühl hatten, alle Experimente im Bereich der schrägen und lauten Töne durchgeführt zu haben – und nun der einzige verbleibende Weg in die unerforschte Stille führte? Womöglich hallen in Prévosts Satz auch ältere Ideen nach, welche die Flucht ins kaum Hörbare bereits antizipiert haben: die von Adorno festgestellte Korruption alles («schön») klingenden Materials nach Auschwitz etwa oder das Konzept der Stille als vom Ego gereinigter Klang bei Cage.

Es ist denkbar, dass die Veränderungen durch dahingehende Überlegungen ausgelöst wurden. Das Dilemma der Musik der Postmoderne und der freien Improvisation gleichermassen ist, dass alles, was erklingt, notwendig über Historizität verfügt und mithin niemals grundlegend frei sein kann. Die Protagonisten der freien Improvisation sind sich darüber im Klaren – wollte man Böses unterstellen, könnte man behaupten, der ganze Stil gestalte sich als ein einziger exaltierter Eskapismus, immer auf der Flucht vor der erschütternden Erkenntnis, dass er sein eigenes, namensgebendes Versprechen nicht einhalten kann. Falls man also annimmt, dass hier tatsächlich so etwas wie der Motor der freien Improvisation liegt, liesse sich von teleologischer Notwendigkeit sprechen, dass sich ein solch radikales Genre früher oder später der Stille zuwenden musste.

Letztlich ist der Sachverhalt sicher wesentlich komplizierter und es gibt nicht einen Grund allein, sondern die Antworten auf eine entsprechende Frage wären bei den unterschiedlichsten Musikern unfassbar vielfältig. Vielleicht war die rein ästhetische Idee ausschlaggebend, dass der Einzelklang durch eine dominantere Stille grössere Relevanz, Ereignischarakter, erhält und dadurch der Fokus gar nicht mehr auf der Stille läge, sondern wiederum auf dem vereinzelten Klang? Waren heilvolle Versprechungen des in jeglicher Hinsicht radikalen Minimalismus ausschlaggebend, die man in der formalen Strenge zu erkennen glaubte? Oder ging es doch um die Kommunikation unter den Musikern, die in der absoluten Stille ganz neue Kanäle des intentionslosen Austauschs erprobt haben?

Die Aufnahmen geben darüber keine Auskunft. Sie sind stille Dokumente einer Zeit, in der sich die freie Improvisation in einem Umbruch befand, der gleichzeitig Sinnkrise und kreative Hochphase war. Heute, da frei improvisierte Konzerte sich wieder aus der Stille als ihrem ausschliesslichen Habitat gelöst haben, klingen sie beklemmend, rätselhaft und in ihrer unbedingten Naivität tatsächlich irgendwie – unschuldig.

Anmerkung
1 Die Onkyō-Bewegung (jap. Onkyōkei) praktiziert eine bestimmte Form freier Improvisation und entstand Ende der 1990er-Jahre. Der Begriff Onkyō lässt sich als Geräusch, Krach oder Echo übersetzen, die Musik legt mehr Wert auf Klangtexturen denn auf musikalische Struktur und bezieht Elemente unterschiedlicher Stile wie elektronischer Musik oder Noise mit ein. Wichtige Vertreter des Onkyō sind Otomo Yoshihide, Sashiko M. und Taku Sugimoto.
 

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Eine Stunde am stillsten Ort der Welt

Wie Musik hat auch die Stille eine dunkle Seite. Ist man ihr dauerhaft ausgesetzt, kann sie zu psychischen Störungen führen. Ein Selbstversuch.

Wie Musik hat auch die Stille eine dunkle Seite. Ist man ihr dauerhaft ausgesetzt, kann sie zu psychischen Störungen führen. Ein Selbstversuch.

Eine Wendeltreppe führt in den Keller des Staatlichen Instituts für Musikforschung mitten in Berlin. Hier, hinter der unscheinbaren weiss gestrichenen Eisentür liegt der wahrscheinlich stillste Ort der Stadt, ein reflexionsarmer Raum. Gebaut wurde er Anfang der 1980er-Jahre, heute werden hier Sprach- oder Instrumentalaufnahmen gemacht. Als ich die schwere Doppeltür öffne, weht mir abgestandene Luft entgegen. Die Wände sind komplett mit hautfarbenen Dämmkeilen gepolstert. Der Boden besteht aus einem schwebenden Gitter. 99 Prozent der Geräusche werden dadurch absorbiert. Kein einziger Laut von aussen dringt herein. Durch die Haus-in-Haus-Konstruktion wird kein Schall übertragen. Und auch wenn ich schreien würde, hörte es draussen niemand.

In dieser «Camera silens» will ich meinen Selbstversuch starten. Ich möchte herausfinden, wie angenehm oder quälend Stille sein kann. Wie lange werde ich es hier aushalten? Was werde ich wahrnehmen? Werde ich eine Erfahrung machen, an die ich lange und gerne zurückdenke?

Untersuchungen in Schallschutz-Kabinen wurden schon Ende des 19. Jahrhunderts durchgeführt. Im psychologischen Labor der Yale University existierte ein «room in room», in dem Versuchspersonen hinter dicken Wänden und doppelten Türen, abgeschirmt von der Aussenwelt, Experimenten unterzogen wurden. Das hatte den Vorteil, dass sie nicht von den Testleitern und Apparaturen beeinflusst und abgelenkt wurden.(1) In den 1950er-Jahren gab es in den USA und Kanada Experimente mit der sogenannten sensorischen Deprivation, dem Entziehen von Sinneseindrücken. Ziel war es, psychische Erkrankungen zu erforschen und neue Behandlungsmethoden zu finden. Der kanadische Psychologe Donald Hebb brachte seine Probanden in abgeschlossenen Räumen unter. Ihre Wahrnehmungen waren zusätzlich durch Augenbinden, schalldichte Kopfhörer und Handschuhe blockiert. Die Folge waren Angstanfälle und Halluzinationen. Ähnliche Versuche wurden in den 1960er-Jahren in Prag und in Hamburg gemacht.(2)

Der Sozialforscher Albert Biderman schrieb Ende der 1950er-Jahre, mit Isolation, Desorientierung und Stress könne der Wille von Menschen gebrochen werden. Seine Schriften wurden für die Ausbildung von Verhörspezialisten in Guantánamo eingesetzt.(3)

Stille ist eine Foltermethode, die in vielen Ländern genutzt wird. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International nennt in ihrem jüngsten Folter-Bericht die Isolation als eine von vielen weltweit praktizierten Foltermethoden. Dabei befinden sich die Opfer monate- oder sogar jahrelang in Einzelhaft. Einzelzellen sind auch aus Gefängnissen bekannt, beispielsweise jenen der DDR-Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen. In den Kellertrakt drang kein Tageslicht. Somit waren Tages- und Jahreszeit unbestimmbar. Auch der Kontakt zu Mithäftlingen fehlte. Eine Verständigung untereinander war nur durch Klopfzeichen möglich. Ehemalige Inhaftierte berichten von Halluzinationen, psychischen und depressiven Störungen, emotionaler Abstumpfung und extremer Sensibilisierung für Geräusche und visuelle Reize.(4)

Zurück in den Untergrund des Staatlichen Instituts für Musikforschung. Komplett dunkel ist es im reflexionsarmen Raum glücklicherweise nicht, in der Ecke baumelt eine Kellerlampe. Der Druck auf den Ohren ist unangenehm, als wären sie mit Watte ausgestopft. Dazu kommt ein tinnitusartiges Pfeifen. Überdeutlich nehme ich die Geräusche meines Körpers wahr. Trotzdem fühle ich mich auch geborgen zwischen dem ganzen Schaumgummi.

Ich habe eine Uhr dabei, ansonsten würde es mir schwer fallen, die Zeit einzuschätzen. Abgeschirmt von Tageslicht und Luft vergeht sie schneller als sonst. Mittlerweile sind 25 Minuten vorbei. Obwohl eigentlich unmöglich, bilde ich mir ein, Geräusche von draussen zu hören, wie von einem Spielplatz. Sind das schon Halluzinationen? Das Kratzen meines Bleistifts auf dem Papier beruhigt mich. Ein Institutsmitarbeiter schaut aus Sicherheitsgründen kurz herein. Nachdem er die Türen wieder geschlossen hat, verstärkt sich das Rauschen in meinen Ohren. Zehn Minuten später breitet sich ein leichter Kopfschmerz aus. Ich spüre meinen Herzschlag. Mein linkes Augenlid beginnt zu zucken.

Wenn keine Geräusche zu hören sind, wie hier im schalltoten Raum, ist die Zeitwahrnehmung gestört. Auch für die Halluzinationen gibt es eine rationale Erklärung. Da das Gehirn auf permanente Stimulation angewiesen ist, entladen sich die Nervenzellen immer wieder selbst. So entstehen die «künstlichen» Bilder.(5)  Davon berichten auch Probanden, die an dem BBC-Versuch Total Isolation teilnahmen. 48 Stunden lang verbrachten sie abgeschirmt in völliger Dunkelheit in einem Bunker. Währenddessen sahen sie Autos, Schlangen oder auch Zebras. Über 60 Jahre nach den ersten Forschungen sind die Folgen der Isolation offenbar noch nicht vollständig untersucht.

Eigentlich sehnen wir Grossstädter uns nach Stille. Sooft es möglich ist, versuchen wir uns eine Auszeit zu nehmen von Lärm und Stress. Hier – mitten in der Innenstadt – ist es nun endlich vollkommen still. Und das ist kaum zum Aushalten.

Mittlerweile ist eine Stunde vergangen. Der permanente Druck auf den Ohren, der auch durch Gähnen nicht verschwinden will, und das Tinnitus-Piepen lassen nicht nach. Ich muss wieder raus, in die Wirklichkeit. Ich wuchte die Schaumgummipolsterung und die schwere Tür zur Seite, laufe die Wendeltreppe nach oben, vorbei am Pförtner, und darf endlich wieder frische Luft atmen. Die Sonne blendet. Ich kneife die Augen zusammen und denke: Wie viel mehr muss Gefangenen nach Tagen, Monaten oder Jahren das Tageslicht bedeuten als mir jetzt!

Anmerkungen
1 Vgl. Schmidgen, Henning, Camera Silenta. Time Experiments, Media Networks, and the Experience of Organlessness, in: Osiris, Vol. 28, No. 1, Music, Sound and Laboratory from 1750-1980, University of Chicago Press 2013, S. 171 ff.
2 Vgl. zu diesem Absatz: Koenen, Gerd, Camera Silens. Das Phantasma der «Vernichtungshaft», http://www.gerd-koenen.de/pdf/Camera_Silens.pdf, S. 8 ff., zugegriffen am 19.05.2014.
3 Vgl. Mausfeld, Rainer, Psychologie, «weisse Folter» und die Verantwortlichkeit von Wissenschaftlern, in: Psychologische Rundschau, 60 (4), Göttingen 2009, S. 233.
4 Vgl. Lazai, Christina; Spohr, Julia; Voss, Edgar, Das zentrale Untersuchungsgefängnis des kommunistischen Staatssicherheitsdienstes in Deutschland im Spiegel von Opferberichten, http://www.stiftung-hsh.de/downloads/CAT_212/ZZ-InterviewauswertungMGB-MfSONLINE.pdf, zugegriffen am 18.05.2014.
5 Vgl. Kasten, Erich, Psychologisches Phänomen: Wenn das Hirn sich auf einen Trip macht, http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/psychologisches-phaenomen-wenn-das-hirn-sich-auf-einen-trip-macht- a-795483.html, zugegriffen am 19.05.2014.
 

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Musik für Fledermäuse

Wir begreifen Stille üblicherweise als Abwesenheit von Geräuschen. Tatsächlich ist Stille aber etwas anderes, nämlich die Unfähigkeit unserer Ohren, alle Frequenzen wahrzunehmen. Einige wenige Komponisten haben die paradoxe Idee verwirklicht, mit unhörbaren Frequenzen zu arbeiten, jeder auf eine andere Art.

Wir begreifen Stille üblicherweise als Abwesenheit von Geräuschen. Tatsächlich ist Stille aber etwas anderes, nämlich die Unfähigkeit unserer Ohren, alle Frequenzen wahrzunehmen. Einige wenige Komponisten haben die paradoxe Idee verwirklicht, mit unhörbaren Frequenzen zu arbeiten, jeder auf eine andere Art.

Es gibt Töne, die können wir nicht hören, aber fühlen. Angeblich wussten das schon die alten Orgelbauer und haben darum eine 64-Fuss-Pfeife, eine sogenannte Demutspfeife konstruiert. Ihr Grundton, das Subsubkontra-C von etwa 8Hz, liegt im Infraschallbereich – in einem Frequenzbereich, den wir, wenn überhaupt, körperlich wahrnehmen – und sollte den frommen Kirchgängern gehörig Ehrfurcht einflössen. Infraschall kann beim Zuhörer Unwohlsein hervorrufen, weil der Körper die Wellen zwar spürt, aber nicht recht lokalisieren kann. Hören kann man so eine Pfeife aber schon, denn in ihr schwingen ja die diversen Obertöne mit. Nur der Grundton ist unhörbar und in seiner Wirkung etwas gespenstisch. Weltweit besitzen nur zwei Orgeln ein voll ausgebautes (also bis zum C hinabreichendes) 64-Fuss-Register. Aber als Demutspfeifen, um dem Hörer Demut einzupfeifen, werden sie nicht mehr benutzt. Ob dieses provozierte Unwohlsein im Gottesdienst überhaupt die erhoffte Portion Ergebenheit hervorrufen konnte, ist ungewiss.

Gewiss ist aber, dass der Frequenzbereich, den wir hören können, beschränkt ist. All das Piepsen, Schnaufen, Grummeln und Rattern, das einem etwa während einer Zugfahrt ans Ohr dringt, spielt sich zwischen den Frequenzen 20 Hz und 20 kHz ab. Das menschliche Ohr hat sich auf diesen Bereich spezialisiert; die Musik logischerweise auch. Aber ein paar Exoten gibt es dennoch, die bewusst mit den abseitigen Frequenzen spielen. In dieser unhörbaren Welt gibt es Infraschall und Ultraschall. Schallwellen mit einer Schwingfrequenz unter 20 Hz gehören zum Infraschall, Schallwellen mit einer höheren Schwingfrequenz als 20 kHz sind Ultraschallwellen. Beide kann der Mensch nutzbar machen, aber nicht unmittelbar hören. Wenn man also glaubt, nichts zu hören, so schwirren unbemerkt lauter Infra- und Ultraschallwellen um einen herum. Tiere benutzen diese anderen Frequenzbereiche zur Kommunikation. Fledermäuse hören Schwingungen von 15 kHz bis 200 kHz, also weitgehend im Ultraschallbereich. Elefanten hören tiefe Frequenzen. Sie könnten also musikalischen Gefallen an einzelnen Tönen des 64-Fuss-Registers finden – würden sie je den Weg in eine damit ausgestattete Kirche finden.

Die Performance-Künstlerin Laurie Anderson hat ihre musikalische Zielgruppe weniger exotisch gewählt: Hunde. Im Jahr 2010 führte sie ihre Music for dogs erstmals vor der Oper in Sydney auf. Zahlreiche Hundebesitzer brachten ihr Lieblingstier zu dem Event mit. Auf youtube gibt es einen kurzen Clip, in dem die Hunde erwartungsfroh in die Kamera blicken. Wie die Vierbeiner diese musikalische Liebeserklärung wahrgenommen haben, kann man nicht sagen; sie machten auf alle Fälle einen vergnügten Eindruck. Die Halter hatten ebenfalls ihren Spass an dem konzeptuellen Hunde-Humbug; Andersons Musik – rhythmisch, elektronisch, mit vielen Sweep-Sounds – liegt nicht vollständig ausserhalb des menschlichen Hörbereichs, schliesslich teilen sich Herrchen und Hund zwangsläufig einige Frequenzen.

Das Spiel mit dem Unhörbaren gibt es aber auch in Musikstücken ohne tierischen Bezug: Eduardo Moguillansky hat sich in seinem Stück bauauf an die Hörgrenze des Menschen begeben. Diese sinkt im Laufe des Alters, so dass junge Menschen hohe Frequenzen um 20 kHz noch wahrnehmen können, ältere Menschen aber nicht. Bei Eduardo Moguillansky teilt die elektronische Zuspielung das Publikum in Nicht-Hörer und Hörer. Vom Band erklingen Frequenzen um 17 kHz; ein junger Mensch sollte die Töne noch hören können. Für Moguillansky läuft diese Trennung des Publikums entlang einer konkreten Jahreszahl: 1982, dem Jahr, in dem die Diktatur in Argentinien zu Ende ging. Jeder vor 1982 Geborene, der somit die Diktatur noch miterlebt haben könnte, würde die Töne nicht mehr hören. Diese sonderbar hohen Frequenzen tragen insofern eine zarte politische Dimension in sich, als sie das Umbruchsjahr 1982 durch Physiologie auf die Musik projizieren. Diese Hörbarkeitsgrenze gilt allerdings so scharf, wenn überhaupt, nur ideellerweise; denn die Hörfähigkeit ist von Mensch zu Mensch verschieden, und weil zudem jeder Mensch altert, verschiebt sich auch die Jahresgrenze, die die Zuhörer spaltet, im Laufe der Zeit. Die elektronisch zugespielten hochfrequenten Töne sind aber nur ein passiver Bestandteil von bauauf. Moguillansky hat sich auch in den für alle hörbaren Tönen mit der argentinischen Diktatur beschäftigt, genauer mit den sinnlosen, aber systemerhaltenden Arbeitsprozessen dieses Staatsapparats, dem sogenannten «proceso de reorganización national». Vier Musiker interpretieren bauauf; sie spielen dabei selten auf ihren traditionellen Instrumenten, sondern meist mit kleinen Holzgegenständen auf hölzernen Kisten. Wie brave Bürokraten erfüllen sie sitzend ihre Anweisungen, halten damit das grosse Getriebe am Laufen, können aber das Ziel hinter den Einzelaktionen nicht erkennen. Eine absurde Stempel-Station auf einem Amt …

Moguillansky und sein politisch konnotiertes Spiel mit dem Unhörbaren ist ein Sonderfall in der unhörbaren Musik, weil es ja eine Teilgruppe gibt, die den Ton hören kann. Wobei natürlich die unhörbare Musik an sich ein Spezialfall ist – wie soll man sie aufführen, wenn sie bei der Aufführung aufgrund der Unhörbarkeit unfreiwillig wie Cages 4’33“ klingt? Die Klangkünstlerin Jana Winderen und der Komponist Wolfgang Loos alias KooKoon haben jeweils eine eigene Herangehensweise an die unhörbaren Frequenzen gewählt, die dieses Dilemma löst: Sie machen sie hörbar. Infraschall muss schneller abgespielt werden, damit die Schallwellen in den hörbaren Bereich verschoben werden, Ultraschall dagegen muss verlangsamt werden. Und plötzlich kann man hören, wie Ameisen plaudern, wie Elefanten sich austauschen, ja sogar wie ein Erdbeben klingt. Das Unhörbare hörbar zu machen, hat eine öko-soziale Dimension. Im für uns Unhörbaren kommunizieren Tiere, da spricht die Welt. – Das Unhörbare in hörbare Musik zu verwandeln ist aber nicht so einfach. KooKoon hat zusammen mit Frank Scherbaum, Professor für Geophysik, die tieffrequenten seismischen Wellen einer Formanten-Analyse unterzogen und aus den Ergebnissen eine fünfsätzige seismosonic symphony komponiert; Musik, die nur aus den transformierten seismischen Wellen besteht. Während es bei KooKoon tatsächlich grummelt und schwer atmet – wie man es vom Erdbeben auch erwartet, entführt Winderens Klangkunst out of range den Hörer in die akustische Welt einer Bodenritze. Es kruschelt und gluckst im Ohr, als würde man der brownschen Molekularbewegung lauschen.

Die Verwandlung von unhörbaren Schallwellen in für uns hörbare ist übrigens auch umkehrbar, das heisst, man kann ohne weiteres ein Musikstück wie Beethovens Fünfte in einen höherfrequenten Bereich übertragen. Und so gäbe es sie auch noch: Musik für Fledermäuse.
 

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Stille Nacht

So paradox es klingen mag: Das berühmte Weihnachtslied drückt Stille mit Hilfe von Musik aus. Bei Penderecki winkt es als Erinnerung, bei Schnittke wird es neue Gegenwart.

So paradox es klingen mag: Das berühmte Weihnachtslied drückt Stille mit Hilfe von Musik aus. Bei Penderecki winkt es als Erinnerung, bei Schnittke wird es neue Gegenwart.

Wenn man im Duden das Wort «Stille» nachschlägt, so wird man überrascht: «Durch kein lärmendes, unangenehmes Geräusch gestörter [wohltuender] Zustand», heisst es da. Die Stille beinhaltet entgegen allen Annahmen «Geräusche», zwar nur angenehme, nicht-lärmende, aber doch Laute.

So scheint es heutzutage paradox, dass die Wintermonate und vor allem die Adventszeit als «stille Jahreszeit» gelten – sind sie doch geradezu von lärmenden Dauerschleifen-Weihnachtsliedern, Lautsprecherdurchsagen zu einmaligen Weihnachtsschnäppchen und quengelndem Kindergeschrei dominiert. Alles in allem keineswegs angenehme Geräusche. Und diesen zu entfliehen, stellt sich als grössere Herausforderung heraus, als man meint. Selbst dann, wenn die Natur zu ihrem letzten Mittel greift und versucht, die Welt mit schalldämmendem Schnee zu «beruhigen», ertönt allgegenwärtig und ironischerweise aus irgendeiner Ecke noch leise eine Schlagerversion des Weihnachtsklassikers Stille Nacht.

Dieses Lied, 1818 niedergeschrieben vom Österreicher Franz Xaver Gruber, beschäftigt sich damit, Stille in Form von Klängen auszudrücken. Die «stille Nacht», im christlichen Kontext die Nacht der Geburt Christi, kann als Inbegriff des «stillen Liedes», eines musikalischen Zustands von wohlklingenden Geräuschen, gesehen werden.

Er wählt dafür die Form der Siciliana, ein Satztypus, der sich durch einen markanten punktierten Rhythmus auszeichnet, und nichtsdestoweniger die Erinnerung an ein pastorales Wiegen- und Schlaflied erweckt. Dieser Rhythmus und der wellenartige, pendelnde Melodieverlauf verleihen dem Lied einen beinahe statischen, ruhenden Charakter und das vorgezeichnete Piano, das nahezu im Nichts verebbt, bekräftigt diesen noch. Man mag sich fast vorstellen, dass das scht von «stille Nacht» einem beruhigenden Zuflüstern der Mutter zu ihrem Kinde gleicht. Die Definition des Dudens für Stille scheint hier voll und ganz zuzutreffen – die behagliche Nacht wird weder durch ein lärmendes noch durch ein unangenehmes Geräusch gestört.

Die Faszination, die dieses Lied auf die Welt ausübt, zeigt sich in seiner unvergleichlichen Rezeption. Bereits zehn Jahre nach seiner Komposition wurde es in ganz Europa und der USA aufgeführt, und heute existiert es in unzähligen Sprachen. Es liegt in über hundert Versionen vor, von Heintje und Heino bis Elvis Presley und den Tiroler Herzensbrechern. Es ist kaum verwunderlich, dass so ein populäres Lied auch den Einzug in die Kunstmusik gefunden hat. Seine Thematik, die Stille, die Auseinandersetzung mit dem «Nicht-Ton», beschäftigt die Kunstmusik von jeher. In der Neuen Musik wird sie vor allem in den 1950er-Jahren mit John Cage zum Thema. Seine Inszenierung der Stille gilt als Ausgangspunkt etlicher Kompositionen, die die Stille thematisieren. Man suchte nach den Klängen, die an das Hörbare grenzen. Dieser Zeit entspringen besonders leise Werke, durchzogen von Pausen und dynamischen Extremen, die morendo aus dem Nichts kommen und ins Nichts gehen.

Etwas später als Cage setzt sich auch Krzysztof Penderecki in seinen Dimensionen der Zeit und Stille (1959/1960) intensiv mit dem Phänomen auseinander. Doch die Idee, das Thema mit dem Lied Stille Nacht, heilige Nacht zu verknüpfen, kommt ihm erst knapp zwanzig Jahre später. In seiner 2. Symphonie spielt er darauf an und verleiht ihr den Untertitel Christmas Symphony. Damit lenkt er die Aufmerksamkeit des Hörers auf das Lied, das im Werk selbst beinahe «hereinklingt». Die 1980 unter ihrem Widmungsträger Zubin Mehta uraufgeführte Komposition basiert auf einem simplen Sonatensatz. In dieser Struktur dringt signalartig dreimal Stille Nacht, heilige Nacht durch; bei den ersten beiden Malen auch deutlich mit «quasi da lontano» gekennzeichnet. Allerdings zitiert Penderecki das Weihnachtslied nicht vollständig. Lediglich der erste Takt, quasi das erste «Stille Nacht», erklingt. Somit gleicht das Zitat eher einer Reminiszenz, die durch ihre Kürze und aus der Ferne im Pianissimo erklingend – fast schon emblematisch – weihnachtliche Assoziationen hervorruft. Für ihn scheint sich die Stille in der flüchtigen Erinnerung zu äussern, die einem allein durch das Zitat eine verlorene Vergangenheit ins Gedächtnis ruft.

Ganz anders hat Alfred Schnittke das Weihnachtslied zwei Jahre zuvor verarbeitet. Sein Stille Nacht für Violine und Klavier, 1978 uraufgeführt, ist im Gegensatz zu Pendereckis 2. Symphonie eine Bearbeitung, keine Anspielung. Er zitiert das Lied in seiner ganzen Länge, verfremdet es aber nach und nach. Anfangs spielt die Violine in Doppelgriffen solistisch einer scheinbar klaren G-Dur-Melodik entgegen. Doch diese wird bald durch Dissonanzen gestört, durch verstörende Sekundklänge und später durch Tritoni des Klaviers. Der Kontrast zum Original wird immer deutlicher. In der letzten Strophe löst sich die Melodie durch Flageoletts und Oktavversetzungen in der Violine nach und nach auf und verklingt in einem «ritenuto molto», in der Stille. Schnittkes Bearbeitung mündet also nicht in der Wiederkehr des Bekannten, ist keine nostalgische Rückversicherung wie bei Penderecki. Bei ihm wird das vermeintlich Bekannte durch seine Verfremdung Schritt für Schritt zu einer neuen Gegenwart, die sich aber in der Stille verliert. Schnittke führt sein Weihnachtslied am Ende zurück in einen «durch kein lärmendes, unangenehmes Geräusch gestörten [wohltuenden] Zustand».
 

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Musik zum Lesen

Es gibt Musik, die nur durch ihre Beschreibung innerhalb eines literarischen Werks existiert. Dabei kann der Autor ganz unterschiedlich vorgehen. Ein Blick in Bücher von Hermann Burger, Marina Zwetajewa und Thomas Mann.

Es gibt Musik, die nur durch ihre Beschreibung innerhalb eines literarischen Werks existiert. Dabei kann der Autor ganz unterschiedlich vorgehen. Ein Blick in Bücher von Hermann Burger, Marina Zwetajewa und Thomas Mann.

Musik braucht nicht immer eine Bühne. Manchmal reichen ihr zwei Buchdeckel, um zu entstehen. Wobei Texte über Musik, die flüchtige Klänge mit Wörtern begreifbar machen wollen, natürlich geläufig sind. Doch diese Beschreibungen versuchen meist «nur», das Gehörte, das ein anderer komponiert und gespielt hat, aufs Papier zu bannen. Seltener und ungewöhnlicher ist es dagegen, wenn die Musik überhaupt erst im literarischen Text entsteht, ohne lästige Interpreten sozusagen, allein und direkt im Kopf des Lesers. Musikalisierte Sprache, wie zum Beispiel Kurt Schwitters Ursonate, das Paradebeispiel der Lautdichtung, ist damit nicht gemeint. Vielmehr geht es um eine Musik, die im Stillen bleibt, also nie wirklich erklingt – sofern sich nicht jemand die Mühe macht, diese «literarische Musik» in Schallwellen umzusetzen. Sie erklingt einzig im Kopf, was allerdings nicht zwangsläufig heisst, dass die Musik weniger realistisch ist, und schon gar nicht, dass sie eine stille Musik sein muss. Hermann Burgers Roman Schilten ist dafür das beste Beispiel. Burger lässt seinen Anti-Helden Armin Schildknecht nämlich kräftig in die Tasten greifen. Wenn sich der frustrierte Volksschullehrer an sein Harmonium in der Mörtelgrube unterhalb der Turnhalle setzt, dann beschwört er schon mal die Apokalypse herauf, lässt das Inventar beben oder taucht seine Zuhörer in «stille Umnachtung» oder eine «schwermütige Trance».

Dem Leser wird die literarisch komponierte Musik ebenso wie der gesamte «Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz» – wie Burger seinen Roman untertitelt – sprachgewaltig um die «inneren» Ohren gehauen. Die Hauptperson Schildknecht liefert hier in der Ich-Form einen Bericht über den Zustand der Schiltener Schule ab, der gleichzeitig eine monierende Psycho-Selbstanalyse sowie das facettenreiche Zeugnis einer hochgradigen psychischen Pathologie darstellt: «Mein freiwilliger Arrest wird dadurch entschärft, dass ich zusammen mit meinem geliebten Harmonium eingesperrt bin. Die gemischte Schul- und Friedhofspflege von Schilten gab mir ein Instrument, zu sagen, was ich leide.» Die Musik bietet bei Burger einen Zugang in die tiefsten Abgründe der Romanfigur und damit – was nahe liegt – auch in die seelischen Abgründe des Autors selbst: Was das Harmonium spielt, wird zu einem morbiden Soundtrack, der Schildknechts Selbstmitleids-Exzesse begleitet und seinem Kampf mit der Umwelt Ausdruck verleiht: «Für die Dauer des Zwischenspiels jedoch sind sie [die Trauergäste] meiner Botschaft ausgesetzt. In der ersten Fantasie arbeite ich mit dem einfachen Trick der Panik in geschlossenen Räumen. Mit Oktavsprüngen greife ich die Proportionen des schabzigergrünen Ungemachs, lasse auch die kühle Gruft der Mörtelkammer in meinem Rücken erstehen, so dass die Trauergäste enger zusammenrücken und ängstlich nach den Ausgängen schielen.»

Obwohl die Musik in Schilten viel Raum einnimmt, ist sie nicht das Thema des Buches. Denn der Roman wäre schliesslich auch ohne die «literarische Musik» denkbar. Eine ganz andere Rolle spielt die Musik in dem kleinen autobiografischen Büchlein von Marina Zwetajewa Mutter und die Musik. Obwohl im Titel enthalten, erklingt darin fast nie Musik. Die Autorin beschreibt dafür umso poetischer ihre problematische Haltung zur ihr. Die Mutter wollte sie zur Musikerin erziehen, doch das tägliche Klavierüben war für das Mädchen Marina eine einzige Frustration, mit der sie ständig konfrontiert wurde: «Wenn ich nicht spielte, spielte Assja, wenn Assja nicht spielte, übte Walerija und – uns alle übertönend und überdeckend – die Mutter, den ganzen Tag und fast die ganze Nacht!» Die Erzählung kreist um die Musik und den Kampf mit ihr, der eigentlich der Kampf mit der Mutter ist: «Doch – ich liebte sie. Die Musik – liebte ich. Nur meine Musik liebte ich nicht. Das Kind kennt keine Zukunft, es lebt im Jetzt (welches immer bedeutet). Jetzt gab es nur Tonleitern, Kanons und schäbige ‹Stücklein›, die mich durch ihre Unscheinbarkeit kränkten.»

Um das Abarbeiten und Abquälen an der Musik geht es auch in Thomas Manns Doktor Faustus. Allerdings dringt das Bucht viel tiefer in historische, musikwissenschaftliche sowie theoretische Überlegungen zur Musik ein als die Werke von Burger und Zwetajewa. Thomas Mann hat seine Hauptfigur dem Komponisten Arnold Schönberg nachempfunden und sie gleichzeitig mit dem Urtopos des Faust verknüpft. Der Tonsetzer Adrian Leverkühn hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und kann dank diesem wie ein Besessener arbeiten mit einer Garantie auf geniale Ideen. Thomas Mann hat damit der Zwölftonmusik ein auf grosser Kennerschaft fussendes, literarisches Denkmal gesetzt. Er schlägt somit eine einzigartige Brücke zwischen Musik und Literatur, die um einiges stärker ist als bei Burger und Zwetajewa, weil sie über die literarische und poetische Spielerei hinausgeht. Konkrete Beschreibungen von Klängen gibt es hingegen kaum. Dafür lässt sich das Buch, wie es Theodor W. Adorno anregt, im Gesamten als musikalische Form interpretieren. Er notierte über den Doktor Faustus: «Die Höllenfahrt Fausti als eine grosse Ballettmusik.» Das Ballett zum Lesen, es wäre auch ein paar Überlegungen wert.
 

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Die Zerstörung der Stille

Ein wichtiger Topos der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ist die Stille. Oft suchten Komponisten die expressiven Momente gerade in den leisen Tönen. Der Musik des Noise wird im Gegenzug Gewalt und purer Krach nachgesagt. Lassen sich diese beiden Sphären verbinden?

Ein wichtiger Topos der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ist die Stille. Oft suchten Komponisten die expressiven Momente gerade in den leisen Tönen. Der Musik des Noise wird im Gegenzug Gewalt und purer Krach nachgesagt. Lassen sich diese beiden Sphären verbinden?

Laptoprauschen, Vogelzwitschern, eine Stichsäge aus dem Off, die Stadt summt aus der Ferne den Bordun. Türenschlagen im Hof, Kinderstimmen, das Knattern eines Mopedauspuffs, Flugzeuge, die in wenigen Augenblicken auf dem Tegeler Flugfeld landen werden. Die durchschnittliche Kulisse einer Stadt im Jahre 2014. Vormittags, in einer ruhigen Berliner Seitenstrasse. Die Bauarbeiten sind omnipräsent. Der Geräuschpegel, den die Schleif-, Säge- und Bohrmaschinen produzieren, ist Teil meiner Umwelt. Gewerkelt wird hier pausenlos, wenn nicht auf der Strasse, dann im Haus. Eine alltägliche Kulisse, meine Stille. Die stille Stille, die in der Musikgeschichte (vor allem der des 20. Jahrhunderts) und darüber hinaus immer auch als spirituell beschrieben wird und wurde, es gibt sie nicht, es hat sie wohl nie gegeben.

Eine andere Hörsituation begegnet mir an einem Februarabend im Berliner Berghain. Der Club, in den jedes Wochenende Techno-Fans aus aller Welt strömen, wird an diesem Abend mit Noisemusik bespielt: Druck auf die Ohren, Angriff auf die Körper. Konzentriertes Zuhören ist kaum möglich. Vielmehr wird mein Körper «unfreiwillig» von den Klängen attackiert, zugemauert. Allmählich erst, nach gefühlten 20 Minuten, gewöhnt das Ohr sich an die Geräuschmassen, und Differenzen zeichnen sich leise an der Ohrmuschel ab: zerfetzte MP3-Reste, Feedback-Schleifen, klingender Datenmüll.

Eigentlich ist dieser Krach, der kaum aushaltbare Lärm, der vermeintliche Konterpart zu der anfangs beschriebenen, eher romantisierten «Stille». Die oft benutzte Redewendung von der Wall Of Sound, das ist es, was hier klanglich für einmal eine passende Zuschreibung erfährt. Yasunao Tone ist der Komponist, Klangkünstler und zugleich Performer dieser Musik und in Kreisen des Noise einer der wohl wichtigsten Vertreter. Das Betätigungsfeld des Japaners ist wie bei anderen seiner Fluxus-Zeitgenossen vielfältig, er arbeitete u. a. mit Merce Cunningham und John Zorn zusammen. In den Achtzigerjahren jedoch widmet sich Tone vor allem der Manipulation und Präparierung von CDs und kreiert seitdem seine Musik aus dem Malträtieren von digitalen, binären Codes. Exemplarisch zeigt sich diese Ästhetik und Klanglichkeit des Glitch vor allem bei seinem Stück Solo for Wounded CD: Hierfür klebt Tone auf der vom Laser auszulesenden Seite der CD Tesafilm-Streifen, sodass der CD-Spieler die binären Daten «inkorrekt» wiedergibt.

Was aber nun hat die Musik des Noisemusikers Tone mit Stille zu tun? Man könnte meinen, Stille und Krach seien zwei unvereinbare Pole, in deren Zwischenraum irgendwo die Musik situiert sei: als eine organisierte Struktur bestehend aus Klang und Stille. Diese Fixpunkte aber gelten nicht mehr als normativ und starr, das hat die Musik im 20. Jahrhundert mehrfach bewiesen: Das Geräusch wurde emanzipiert und die Stille für Kompositionen und Konzepte genutzt. Dass aber selbst dieser Dualismus, so wie er hier vorgeschlagen wird, nicht notwendigerweise funktioniert, sondern als Figur aufgeweicht wird, beweist die Musik von Tone und weitergehend der Noise.

Ausserdem darf Noise als Musikgenre nicht ausschliesslich mit den Attributen Gewalt und Lärm versehen werden. Denn – und hier gibt es durchaus Gemeinsamkeiten mit dem, was wir Stille nennen – Noise thematisiert auch immer die Wahrnehmung der Klänge und der Musik, ja Noise kann gar kontemplativ gehört werden. Das zeigt sich bei Stücken des polnischen Komponisten Zbigniew Karkowski. Die Komposition White findet sich auf einer Zeitkratzer CD mit dem Titel Noise … [Lärm]; der Untertitel: «To Listen To At An Extremly Loud Level». Trotz der überwältigenden Lautstärke und Dichte der Klangereignisse lässt ein solches Stück Musik dem Hörer einen Freiraum und die Möglichkeit der Orientierung im Klanggeschehen. Ähnlich wie beim Lauschen in die Landschaft kann man hier von einem Hineinhorchen in die Klangdichte sprechen. In den Hörweisen des Noise offenbart sich demnach zumindest die Möglichkeit einer sanften Berührung der so differenten Pole. Denn beiden Phänomenen – der Stille und dem Krach – wohnt eine Idee gegenüber klanglichem Material inne, welches sich sensuell und körperlich erfahren lässt.

Dass es aber Yasunao Tone gerade nicht um die Ähnlichkeiten zum Phänomen der Stille geht, stellt er am ausdrücklichsten mit der Komposition Imperfection Theorem of Silence dar, in der die Stille gar direkt thematisiert wird. Hierfür benutzt er «klanglose» Pausen aus seinem Stück Wounded Soutai Man’yo BOOK III und verarbeitet dieses vermeintlich stumme Material zu einer neuen Komposition. Ergebnis ist ein im Vergleich zwar eher ruhiges, dennoch mit Rauschen und Störgeräuschen durchsetztes kurzes Stück. Die Stille wird also als klingende zum klanglichen Material eines Noise-Stückes umgedeutet. Nichts spricht dagegen, diese Musik kontemplativ zu hören und so Wahrnehmungsmodi der Stille zu inkorporieren. Wichtiger als dieses Wahrnehmen ist aber die Entromantisierung der Stille, die in der Musikgeschichte der letzten hundert Jahre einen beinahe mythischen Schweif nach sich zieht; man denke hier an Nono, Cage oder auch Pärt. Der Noise dekonstruiert die Vorstellung von Stille als Kontemplation, von Stille als natürlichem Rückzugsort und entmythisiert diesen. Der Noise als Negation von Kommunikation und Kommunizierbarkeit produziert bewusst Fehler, soll fehlerhaft sein und zelebriert dadurch die Störung der Ruhe und digitalen Glattheit und die Störung der Romantik der ohnehin immer fiktiven Stille. In der Musik des Noise wird damit auch unsere klangliche Umwelt reflektiert.
 

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Noch weniger ist leer

Die Stille hat zwei Seiten. Während wir die positive Stille bewusst suchen, werden wir durch die andere Stille mit einer unangenehmen Leere konfrontiert. Mit der Angst vor der Leere spielen Künstler seit über 100 Jahren, wenn sie mit Werken herausfordern, die auf ein absolutes Minimum reduziert sind.

Die Stille hat zwei Seiten. Während wir die positive Stille bewusst suchen, werden wir durch die andere Stille mit einer unangenehmen Leere konfrontiert. Mit der Angst vor der Leere spielen Künstler seit über 100 Jahren, wenn sie mit Werken herausfordern, die auf ein absolutes Minimum reduziert sind.

Szene eins: Ein kahles, weiss gestrichenes Wartezimmer. Mehr als ein harter Stuhl steht nicht bereit. Er passt sich farblich wunderbar der Wand an, Ton in Ton. Stellen wir uns vor, wir müssen hier verharren und wissen nicht wie lange. Nehmen wir also Platz. Die Informationen, die uns das Zimmer bietet, sind schnell gescannt. Wenn unsere Aufmerksamkeit immer wieder an der weissen Wand abrutscht, wird für uns die Suche nach einem neuen Fixpunkt beginnen. Möglich ist, dass uns solch eine Situation unangenehm ist.

Szene zwei: Wir sprechen mit einem anderen Menschen. Unsere gegenseitige Vertrautheit ist oberflächlich. Der Dialog funktioniert nach bekannten Regeln: Einer redet, der andere hört zu und schweigt. Der Ball wird ordnungsgemäss hin- und hergespielt. Doch dann gelingt einem Partner das Zuspiel nicht und es kommt zur Gesprächspause. Der Dialog steht still. Auf der Suche nach Fortsetzung möchten wir den Ball wieder zum Rollen bringen. Möglich ist, dass uns solch eine Situation unsicher macht.

Szene drei: Wir sitzen im Konzertsaal. Die Musiker sind angetreten, die Instrumente gestimmt. Das Publikum kommt langsam zur Ruhe und das Licht ergibt sich der Dunkelheit. Wir erwarten den ersten Ton, der aber nicht erklingt. Eine gewisse Zeit halten wir die Konzentration aufrecht. Wenn aber das Orchester schweigt, geht unsere Aufmerksamkeit auf die Suche. Möglich ist, dass uns solch eine Situation unruhig werden lässt.

Was haben alle drei Szenen gemeinsam? In drei unterschiedlichen Situationen erfahren wir Stille. Eine Stille jedoch, die wir nicht gesucht haben. Die positiv besetzte Stille gönnen wir uns mit Freude, finden sie in lifegestylten Selbstfindungsmeditationen oder durch alpine Naturerfahrungen. Die andere Stille aber wirft uns ins Nichts. Sie entspannt uns nicht, beruhigt uns nicht. Sie konfrontiert uns erbarmungslos mit der Leere.

Im 20. Jahrhundert breitete sich eine «Weniger-ist-mehr»-Mode in Kunst, Musik und Literatur aus. Im Experimentierfeld der Reduktion entstanden monochrome Gemälde, die dem Auge den Fixpunkt verwehrten. Oder Gedichte, die durch Pausen zum Leser sprachen. Und eine Musik der Stille schliesslich, die diese schwer auszuhaltende Leere offenlegte. Erik Satie als musikalischer Vorreiter erforschte bereits um die Jahrhundertwende den musikalischen Umgang mit der Zeit. Vexations hiess sein rund zwanzig Stunden dauerndes Klavierstück, auf das sich der Pianist mit äusserster Stille vorbereiten sollte. Nachkriegskomponisten würdigten Saties Ästhetik und ergründeten langsame und leise Musik. Steigert sich das «Weniger» in der Musik immer weiter, wird die Stille zum Schweigen. «Erklingt» die Pause als bewusst auskomponierte Stille, dann werden wir mit der anderen Seite der Stille konfrontiert. Und mit der Leere. Aus «weniger ist mehr» wird «noch weniger ist leer».

Wolfgang Rihm weist in der Partitur seines Musiktheaters Die Hamletmaschine darauf hin: «30 Sekunden geschieht nichts. Trotz Horror Vacui: durchzählen. »
Philosophen nannten das Kind bei diesem Namen: «Horror Vacui» meint die Angst vor der Leere. Eine 30 Sekunden lange Pause ist tückisch, was man von einer 30 Sekunden erklingenden Musik selten sagen kann. Ob als hörendes Publikum oder ausführender Musiker: Schweigt die Musik, verschwimmt unser Fixpunkt, dehnt sich die Zeit. Die Leere, die sich zu uns gesellt, hat keine Richtung. Wenn der suchende Blick an der weissen Wand abrutscht, muss ein neuer Fixpunkt her. Deshalb ist es uns ein Drang, leere Flächen zu füllen, Pausen zu beenden und Schweigen zu brechen. Wie gut, dass unser Verstand uns helfen wird: Wann immer Situationen unangenehm werden, wird er Abkürzungen suchen, Unsicherheiten umgehen oder diese in Gänze verhindern. Dabei vergeudet er keine Zeit. Nehmen wir die dritte Szene: Im Konzertsaal warten wir auf den Beginn des Orchesterspiels. Unser Verstand wird verlässlich aktiv werden. Er sorgt dafür, dass unser starr zur Bühne gerichteter Blick sich langsam zum Bühnenrand hintastet. Wir werden feststellen, dass unsere Sitzposition nicht die Bequemste ist und sie korrigieren. Unser Sitznachbar tut dem gleich. Die Leere lässt unsere Sinne erwachen. Wir wippen die Beine, wenden den Kopf und atmen besonders tief durch. Unsere Gedanken springen. Wir werden Menschen beobachten oder die Einkaufsliste durchgehen. Die Taktiken zur Neufokussierung sind vielseitig. Beim gemeinschaftlichen Horror Vacui gibt es viel zu entdecken. Wir müssen die Leere nicht fürchten, denn sie entfacht wie selbstverständlich kreatives Potenzial. So gesehen gibt es diese Leere nicht.

Szene vier: Vertrauen wir darauf: Jede leere Fläche wird unser Verstand wie von Zauberhand füllen. Nehmen wir einfach selbstbewusst im weiss gestrichenen Wartezimmer Platz. Zusammen mit einem schweigenden fremden Menschen lauern wir auf den Einsatz eines versprochenen Musikstückes. Unser Geist wird aktiv werden und die spannungsgeladene Stille überbrücken. Vielleicht stellt sich die Entspannung schon jetzt ein. Spätestens mit dem Einsatz der Musik kann uns die Last von den Schultern fallen. Möglich ist, dass wir mit dem ersten Ton aufstehen werden, um das Zimmer zu verlassen und die Suche nach einem neuen Fixpunkt beginnen: einem Ort, an dem wir die Stille und die Leere noch ein bisschen weiter zelebrieren können.
 

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Stille am Klavier

Die Pianistin und Komponistin Laura Konjetzky sitzt am Flügel ohne zu spielen. Aus Fragen und Assoziationen entwickelt sich ein Gedankenspie um Charakter, Aussage und Grenzen musikalischer Stille.

Die Pianistin und Komponistin Laura Konjetzky sitzt am Flügel ohne zu spielen. Aus Fragen und Assoziationen entwickelt sich ein Gedankenspie um Charakter, Aussage und Grenzen musikalischer Stille.

Ein Konzertflügel. Er steht auf der Bühne für das bevorstehende Solorezital. Ich, die Pianistin des Abends, trete auf, gehe zum Instrument, setze mich hin, lege die Hände auf die Tasten, ohne sie hinunterzudrücken, und spiele ein Werk, das aus Stille besteht.

Dieses Szenario stelle ich mir vor, während ich in meinem Arbeitszimmer am Flügel sitze und mir die Frage stelle: Was bedeutet Stille am Klavier?

Stille ist eine extreme Form der musikalischen Äusserung. Bei Stille ist entscheidend, was vorangegangen ist und was danach kommt.Wie bei einer Pause, in vergrösserter Form. Was aber, wenn der Rahmen der Stille ausserhalb der Komposition liegt, weil das ganze Stück nur aus Stille besteht?

Ist ein solches Werk Ausdruck von musikalischer Sprachlosigkeit? Wird der Zuhörer zu eigenen inneren Klängen hingeführt? Reinigt eine solche Komposition die Ohren? Wird hier eine tiefere musikalische Schicht freigelegt?

Ich fange mal mit der Besetzung an. Wenn ich mich als Komponistin für die Stille am Klavier entscheide, dann spielt dieses Instrument, ohne dass ein einziger Ton erklingt, eine zentrale Rolle. Die Stille kann den Fokus des Publikums auf die optische Erscheinungsform des Flügels lenken. Die Stille kann die Erinnerung an den Klavierklang stimulieren, kann die Sehnsucht nach Klaviermusik wecken. Die Stille am Klavier kann wie Musik sein.

Für die Aussage einer solchen Komposition sind die Vortragsanweisungen wesentlich. Schreiben sie vor, dass der Pianist die Hände auf die Tasten legt, ohne eine Taste zu drücken, entsteht eine andere Stille, als wenn der Pianist vor seinem Instrument sitzt und die Hände im Schoss gefaltet hat. Es ist von Bedeutung, ob der Pianist seinen Blick auf den Flügel gerichtet oder gesenkt hat, ob er nach aussen oder nach innen schaut.

Die Lage der Hände auf den Tasten spielt eine wichtige Rolle. Legt der Pianist die linke Hand in eine extrem tiefe Basslage und die rechte Hand in eine extrem hohe Diskantlage, dann ist die Erscheinungsform der Stille anders, als wenn der Pianist die Hände um das Schlüssel-C herum platziert.

Für diese Entscheidungen ist die gewünschte Grundaussage der Komposition zentral: Geht es um das Nicht-Erklingen eines Klavierstücks, bei dem die Handpositionen zeigen, was nicht erklingt? Geht es um eine den Pianisten blockierende Stille, die ihn daran hindert zu spielen? Geht es um das Aufzeigen, dass es doch gar keine Stille gibt, sondern jedes kleinste Rascheln auch Teil der Musik ist, oder geht es darum, in eine Art meditative Stille zu gelangen, die eine Tür zu inneren Höreindrücken sein kann? Da bei der Komposition der Stille die akustische Identität des Instruments wegfällt, spielt die Optik eine umso grössere Rolle. Es findet eine Verschiebung der Schwerpunkte statt.

Interessant ist auch die Struktur, die der Komponist für die Stille gewählt hat. Die auskomponierte Stille kann zum Beispiel aus einer einzigen Pause bestehen. Die auskomponierte Stille kann sich aus lauter kleinen Pausenwerten zusammensetzen. Wenn die Pausenwerte im Verlauf des Stücks immer kleiner werden, ist das ein Accelerando der Stille?

Kompositorisch richtungsweisend ist der Beginn des Stücks. Wenn ich als Komponistin dem Zuhörer deutlich zeige, wann das stille Werk beginnt, ist die Wirkung eine andere, als wenn ich den Zuhörer allmählich entdecken lassen, dass das Stück bereits begonnen hat. Der Flügel steht im Regelfall schon während des Einlasses still auf der Bühne. Ist das bereits die Aufführung einer Komposition der Stille ohne Pianisten? Braucht es dann überhaupt einen Interpreten für ein solches Werk?

Anfang und Ende der Stille bilden einen notwendigen Rahmen, der die Stille definiert und ihre Identität gestaltet. Dabei spielt der Pianist eine zentrale Rolle. Stille setzt sich über die Erwartung hinweg, dass auf dem Instrument etwas erklingt. Auch dafür braucht es den Pianisten. Mit dem Auftritt des Pianisten und dem Beginn der definierten Stille entsteht eine konzentrierte Stille, eine geführte Stille. Da Stille immer in Relation zu etwas steht, ist auch die Dynamikpalette des Flügels eine wichtige Referenz. Der Flügel ist ein grosses, starkes Instrument und die Stille am Klavier orientiert sich daran. Stille am Klavier kann dem Pianisten erst einmal das wegnehmen, was ihm auf der Bühne am vertrautesten ist: das Klavierspiel. Stille am Klavier erfordert neue Fähigkeiten vom Pianisten, die ihren Ursprung in der Choreografie oder darstellenden Kunst haben.

Stille als musikalische Erscheinungsform ist keine Randerscheinung, sondern ein Elementarbaustein der Musik. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema führt Komponist, Interpret und Zuhörer direkt zu grundlegenden musikalischen, kompositorischen, interpretatorischen und philosophischen Fragestellungen.

Ich kann die gedankliche Reise zur Stille an einem ausgewählten Instrument nur empfehlen. Stille wirkt wie ein Vergrösserungsglas und bringt sofort zentrale Thematiken des jeweiligen Instruments ins Spiel.

Nun sitze ich schon eine ganze Weile in meinem Arbeitszimmer still vor meinem Flügel. Nach dieser Gedankenreise ist mein Bedürfnis gross, das Instrument zum Klingen zu bringen. Ich bin gespannt, wie ich jetzt seinen Klang wahrnehme.
 

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Musik für Augen und Kopf

Spätestens seit der musikalischen Avantgarde gilt die Notengrafik als eigenes Genre zwischen Bildender Kunst und Musik. Wie sieht diese Art von stiller Musik im digitalen Zeitalter aus? Und was kann sie leisten? Eine Untersuchung am Beispiel der «sheet music» von Johannes Kreidler.

Spätestens seit der musikalischen Avantgarde gilt die Notengrafik als eigenes Genre zwischen Bildender Kunst und Musik. Wie sieht diese Art von stiller Musik im digitalen Zeitalter aus? Und was kann sie leisten? Eine Untersuchung am Beispiel der «sheet music» von Johannes Kreidler.

Beim Stöbern im Souvenirshop fällt mein Blick auf eine Postkarte: eine Notenzeile, die sich über die gesamte Breite der Karte zieht. Am Anfang steht ein Violinschlüssel, sonst ist sie leer. «Geniesse die Ruhe», lautet die Unterschrift. Sie erinnert mich an eine Serie von Schwarz-Weiss-Drucken, der sheet music von Johannes Kreidler, die genau demselben Muster folgen: eine Grafik aus Notensymbolen mit Titel, Prinzip Minimalismus, wie im sheet Sunset, das nur aus einer Notenzeile und einer einzelnen Note besteht.

Das Postkartenmotiv ist zwar nett, irgendwie auch raffiniert und trotzdem wirkt es vor dem Hintergrund von Kreidlers Arbeiten blass. Offenbar haben die sheets etwas, was die Postkarte nicht hat, das aber auf den ersten Blick verborgen bleibt. Aber was?

Der Schlüssel dazu liegt in ihrem Ursprung: Ihr Schöpfer ist kein Grafikdesigner mit besonderem Gespür für Originalität, sondern Künstler, Performer und vor allem: Komponist. In den letzten Jahren fiel Kreidler mehrfach durch seine innovativen wie provokativen Arbeiten und Aktionen auf, die er immer auch in einen theoretischen Kontext stellt. Neuer Konzeptualismus lautet das Schlagwort, unter dem der 34-Jährige sein aktuelles Schaffen begreift und auf dessen Erde auch die sheets gepflanzt sind. Was zählt, ist die Idee, zu deren Umsetzung alle Mittel und Medien der Kunst erlaubt sind. Wie und ob das dann klingt, ist sekundär. Mit der sheet music, die Kreidler seit 2013 kreiert, wendet er sich komplett vom Hörbaren ab: Er komponiert Grafiken aus Noten, «Augenmusik» – und auch das mit Konzept.

Was das Material betrifft, ist dieses Konzept denkbar einfach: weisser Hintergrund, schwarze Schrift, Typ: Times New Roman, ein Dreiklang mit Titel 1+2=3, ohne Schnörkel. Schon dem widerspricht die Postkarte mit ihrem roten, kursiv gesetzten Spruch, der verrät, dass sie hübsch sein will. Die sheet music will das nicht, zumindest nicht nur. Sie will vor allem etwas mitteilen, und diese Mitteilung generiert der Betrachter selbst, indem er die zwei Zeichenebenen miteinander in Beziehung setzt. 1+2=3 zeigt eigentlich keinen Dreiklang, sondern Notationssymbole, die wir aufgrund ihrer Anordnung und des Titels als Dreiklang bezeichnen. Der Titel setzt dem Assoziationsspielraum Grenzen, ein Prinzip, das Kreidler in ähnlicher Weise bereits in seiner Aktion Fremdarbeit austestete. Dort beeinflusste er durch unterschiedliche Anmoderationen zu immer derselben Musik die auditive Wahrnehmung. «Präpariertes Hören» nannte er das, und hier liefert er das Pendant: «präpariertes Sehen».
 

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«Sunrise for Bejiing» (2014)

So funktioniert auch die Postkarte: Bild und Titel ergeben eine Aussage, die relativ leicht zu fassen und eindeutig ist. Haben wir sie kapiert, schauen wir weg. Die sheets hingegen halten unsere Aufmerksamkeit durch ihre Individualität, Offenheit und Rätselhaftigkeit wach. Ihre Interpretation ist nicht nur eine kognitive, sondern auch eine kreative Leistung. Jedes sheet liefert einen Denkanstoss, der in ganz unterschiedliche Richtungen führen kann. Ein Kontinuum bildet nur die Ironie, wie im sheet Sunrise for Bejing. Wenige grafische Elemente entpuppen sich in Kombination mit dem Kommentar, der das sheet auf Kreidlers Blog Kulturtechno ergänzt, als ein Cocktail aus Galgenhumor und Gesellschaftskritik: «Wegen des extremen Smogs wird in Peking auf einem grossen LED-Bildschirm die Abbildung eines Sonnenaufgangs gezeigt.»

Die meisten sheets führen thematisch aber zum Ursprung der kleinen Formen zurück. «Ich will, dass jetzt alle mal über Musik nachdenken!» Was Kreidler in einer seiner Performances forderte, gilt auch für die sheets. Sie greifen Topoi aus der Musikgeschichte auf, verarbeiten sie auf spielerische Art und erweitern sie um subtile Pointen, wie Tristan Motive, altogether, ein Cluster, der sämtliche Töne des Tristan-Motivs vereint ‒ Kreidlers Beitrag zu einer nicht enden wollenden Debatte der Musiktheorie.

Letztlich lassen sich die Drucke insgesamt auch als Reflexionen über das digitale Handwerkszeug des Komponisten von heute verstehen. Die Massenansammlungen von Notationssymbolen der sheet-Serie Depots stehen für die grenzlose Verfügbarkeit des Materials, das heutzutage besser in Grafiken als in Partituren aufgehoben zu sein scheint. Die sheets bringen uns die Software sowohl als Hilfsmittel nahe, das die Notation erleichtert und besser kommunizierbar macht, als auch als Medium, das zwischen Autor und Notat eine Distanz erzeugt. Die scheinbar willkürliche Zusammensetzung von Notenzeichen, z. B. in Beach Game, besitzt Symbolstatus: Der Komponist ist nicht mehr Herr dessen, was er in den Computer eingibt.

Kreidler aber hat seine Noten im Griff: Er verrückt Zeichen absichtlich, um Bewusstsein zu schaffen. Er komponiert, nur keine Klänge. Ist sheet music denn überhaupt Musik? Eine fast philosophische Frage, zu der Kreidler klar Stellung bezieht: «Musik muss auch mal raus aus der time-base. Musik ist nicht nur akustisch, sondern hat auch seine [sic!] visuellen Kontexte. Es ist dann immer noch Musik.» Tatsächlich suggerieren nur wenige der Bilder ein akustisches Moment. Kreidlers Antwort täuscht über die Komplexität der Sache hinweg, ebenso wie manches sheet über die seriösen Gedanken ihrer Verwandten: Eine Notenzeile, die sich über die gesamte Breite einer Leinwand zieht. Im vierten Zwischenraum liegt eine kreisrunde Note, sonst ist sie leer. «Asshole», lautet die Überschrift. Provozieren – auch das kann die Postkarte nicht.

sheet music unter

www.sheetmusic-kreidler.com

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