Der Ohr-an-Ohr-Konflikt

Der Musiker und Konfliktberater Hans-Peter Achberger erhellt das soziale Innenleben klassischer Orchester.

SMM — Nach wie vor ist es keine Selbstverständlichkeit, dass Orchester offenherzig Auskunft geben über die weniger idyllischen Seiten ihres sozialen und psychologischen Innenlebens. Nur allzu gerne vermitteln sie nach aussen lieber ein schönes Bild gemeinsamen Musizierens in Minne. Gesundheitliche und soziale Irritationen werden in der Regel tabuisiert.

Diesen Vorhang lüftet Hans-Peter Achberger mit einer Arbeit zu Streit- und Konfliktmustern in Kunstkollektiven, die sich bis in die kreativen Schaffensprozesse zurückverfolgen lassen. Achberger ist als Schlagzeuger Mitglied der Philharmonia Zürich, des Orchesters des Zürcher Opernhauses. Das Buch, das er vorlegt, ist eine leicht überarbeitete Version einer Masterarbeit. Er hat sie ursprünglich im Rahmen eines Studiengangs Mediation und Konfliktmanagement der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) verfasst.

Basierend auf zahlreichen Interviews mit seinen Mitmusikerinnen und Mitmusikern der Phiharmonia entwickelt er ein interessantes Modell von Störungsmustern der kreativen und psychologischen Interaktionen im Kollektiv. Den Reibungsflächen legt es übermässige Fokussierungen auf bestimmte Aspekte zugrunde und teilt diese in vier Hauptgruppen: Da spielen erstens Fixierungen auf Einflüsse von aussen eine Rolle. Dies können administrative Prozesse, das Publikum, akustische Gegebenheiten eines Raumes oder die Ensemblegrössen sein. Der zweiten Bereich, den Achberger beleuchtet, ist die Fokussierung von Mitgliedern des Orchesters auf sich selbst. Dazu gehört etwa die Angst vor dem Imageverlust, gerade auch, wenn man einsehen muss, dass die Qualität des eigenen Spiels nicht zuletzt vom Spiel der andern abhängt.

Den dritten Kreis bilden in dem Modell übermässige Aufmerksamkeiten auf die Interaktionen, das heisst auf das Wir. Dazu gehören etwa Auseinandersetzungen um Fragen der Intonation oder der Wahl von Ins-trumenten und Entscheiden über Klang und Interpretation. Der vierte schliesslich beleuchtet die übermässigen Fokussierungen auf das Gegenüber, auf das Du. Sie umfassen unter anderem Erwartungen an die künstlerische Qualität des Andern oder an mögliche Konkurrenz-Konstellationen, etwa wenn es um Fragen der Nachfolge für Stimmführer-Positionen geht.

Das Verdikt ist eindeutig: «Der klassische Orchestermusikerberuf», schliesst der Autor, «generiert eine schillernde Vielzahl berufstypischer sozialer Störungen, die das Zusammenleben und -arbeiten der Gemeinschaft Orchester erschweren und persönliches Leid hervorbringen können.» (Seite 132)

Achberger fragt sich auch, wie man alle diese oftmals subkutanen oder zur Seite geschobenen Konflikte besser aufarbeiten oder regeln könnte. Das Rezept ist im Grunde genommen naheliegend, wenn auch schwieriger zu befolgen, als vermutet. Es bedürfe, so der Autor «einer Kultur des Austausches, der gemeinsamen Rede über all jene störenden Prozesse» (Seite 131). Dazu bedarf es institutionalisierte Räume, in denen «die Sinnhaftigkeit von Konflikten diskutiert und persönliche Störungen mitgeteilt werden können» (a.a.O.). Sinfonieorchester seien aufgrund ihrer Grösse allerdings nicht mehr in der Lage, ohne eine kompetente Vermittlung sach- und zielgerecht zu agieren.

Literaturangabe:

Hans-Peter Achberger: Der Ohr-an-Ohr-Konflikt. Störungsmuster in der musikalischen Interaktion. Band 19 der Viadrina-Schriftenreihe zu Mediation und Konfliktmanagement. Wolfgang Metzner Verlag, Frankfurt am Main, 2020.

Musikermedizin in Österreich

Das 18. Symposium der SMM ermöglicht unter anderem eine Begegnung mit unserer österreichischen Schwestergesellschaft. Sie zeichnet sich durch hohe Interdisziplinarität aus.

SMM — Am diesjährigen Symposium dürfen wir neben dem Genfer Musikpsychologie-Pionier Klaus Scherer den Salzburger Schmerzspezialisten Günther Bernatzky als Keynote-Sprecher begrüssen. Er ist Mitglied des Präsidiums der ÖGfMM (Österreichische Gesellschaft für Musik und Medizin). Die Gesellschaft ist jünger als die SMM, sie wurde 2009 gegründet. In unserem östlichen Nachbarn ist das Fach der Musikermedizin aber bereits seit den 1970er-Jahren in reiche interdisziplinäre Aktivitäten eingebettet. Initiiert worden sind diese 1969 von Herbert von Karajan. Der Dirigent entstammte einer Salzburger Arztfamilie und regte früh Arbeiten zur Musikpsychologie, zur Musikphysiologie und der Musiktherapie an.

Interdisziplinarität zeichnet die österreichische Musikwirkungs- und Folgenforschung seither aus. 1973 begann der Physiker Juan G. Roederer in Ossiach im Bundesland Kärnten, Seminare zur Wechselwirkung von Gehirn und Musik zu veranstalten und im Jahr 2001 wurde an der Universität Mozarteum Salzburg das Forschungsnetz Mensch und Musik ins Leben gerufen. Viel zum Dialog der Fachgebiete beigetragen hat im Mozartjahr 2006 auch die von der International Music and Art Research Association Austria (I.M.A.R.A.A) ins Leben gerufene Konferenzreihe «Mozart & Science», die Musiksychologie, Neuromusikologie, Musiktherapie, Musikermedizin und zahlreiche weitere Disziplinen zusammenbrachte. 2004 wurde in Graz vom Musikpsychologen Richard Parncutt zudem die Konferenzreihe «Conference on Interdisciplinary Musicology» (CIM) begründet, die mittlerweile weltweite Resonanz gefunden hat.

Auch die ÖGfMM blickt über die Ränder der einzelnen Disziplinen hinaus. Sie fördert explizit die «interdisziplinäre Zusammenarbeit derer, die an der Ausbildung und Berufsbegleitung von Musikern beteiligt sind, wie Instrumental- und Gesangspädagogen, Arbeitswissenschafter, Naturwissenschafter, Instrumentenhersteller, Ärzte, Zahnärzte, Physiotherapeuten und verwandte Bereiche des gehobenen medizinisch-technischen Fachdienstes, Sport- und Musikwissenschafter, Musikpsychologen, Alexander-Lehrer, Feldenkrais-Pädagogen, Musiktherapeuten, Ergotherapeuten und Vermittler anderer ähnlicher Therapieformen».

Brückenbauer aus Salzburg

Auch Günther Benatzky forscht und lehrt ausgeprochen interdisziplinär. Er ist Spezialist für Schmerzphysiologie und -therapie bei verschiedenen Erkrankungen (Migräne, Nierenkolik, Rückenschmerz, Tumorschmerz und andere), hat die Wirkung von Musik und Gesang bei verschiedenen Krankheiten untersucht (Schmerz, Parkinson, Demenz, Depression, Alter), aber auch ihre Wirkung auf Tiere. Er hat überdies mitgeholfen, benutzerfreundliche Musikwiedergabegeräte für alte Menschen zu entwickeln, und er unterrichtet Musikermedizin am Mozarteum Salzburg. Wir freuen uns sehr, ihn in der Schweiz begrüssen zu dürfen.

Körperorientierte Arbeit in der Musik

Das 18.Symposium der SMM steht unter dem Motto «Ein Ziel – viele Wege», Körperorientierte Ansätze in der Musik. Die Keynotes von Günther Bernatzky und Klaus Scherer begleiten dabei Einblicke in die Körperarbeit und ihre unterschiedlichen Methoden. Das Angebot an Köpertherapien in der Musik ist beinahe unüberblickbar. Es kann deshalb schwierig sein, herauszufinden, welche Methode für Hilfesuchende die Passendste sein könnte. Das Symposium bietet die einzigartige Gelegenheit, zahlreiche Formen der Körperarbeit im musikalischen Alltag in Form von Kurzreferaten und Präsentationen sowie im persönlichen Gespräch an einer Tischmesse kennenzulernen. Mehr dazu findet sich in dieser Musikzeitung auch auf der Seite 39 des SMPV.

Das 18. Symposium der SMM findet am 23. Oktober im Stapferhaus Lenzburg statt. Details und ein Anmeldeformular finden sich unter:

> www.musik-medizin.ch/aktuelles-symposium

Auftrittsängste und ihre Begleiterscheinungen

Zwei Hypothesen erklären physiologische und kognitive Begleiterscheinungen von Lampenfieber.

SMM — Wenn von einer Person gesagt wird, sie müsse «leer schlucken», weist dies darauf hin, dass sie an-gespannt und in einer Situation möglicherweise überfordert ist. Im Deutschen wird das Phänomen bildhaft als «Kloss im Hals» bezeichnet. Solche Situationen kennen auch Musikerinnen und Musiker nur allzu gut, wenn sie sich auf der Bühne ausgestellt sehen und mit Erwar-tungen einer perfekten Darbietung konfrontiert sind. Die physiolo-gischen Begleiterscheinungen des Lampenfiebers sind mehr als deut-lich spürbar. Auch gut vorbereitete Profis können in solchen angstfördernden Momenten feststellen, wie ihre motorische Geschicklichkeit und ihre kognitive Wahrnehmungsfä-higkeit beeinträchtigt werden, ohne dass sie darauf Einfluss nehmen könnten. Da erstaunt es, dass die Wissenschaft zur Zeit noch nicht in der Lage ist zu erklären, welchem Zusammenspiel physiologische Zustände und kognitive Einstellungen dabei folgen.

Die mit Fragen der Neuropsychologie beschäftigten Forschenden Shinichi Furuya, Reiko Ishimaru und Noriko Nagata vom japanischen Kwansei Gakuin Institute haben auf der Basis von Interviews mit 258 Pianistinnen und Pianisten acht verhaltensbezogene, psychologische und physiologische Faktoren identifiziert, die zum Phänomen beitragen. Zu ihnen gehört die von der Anwesenheit des Publikums abgelenkte Aufmerksamkeit, eine nicht mehr abrufbare Selbstverständlichkeit motorischer Abläufe, Wahrnehmungsstörungen (wie Tunnelblick), Neurotismen und Gedächtnisversagen.

Zwei Hypothesen zur Erklärung des Phänomens werden laut dem Team üblicherweise diskutiert. Die eine – nennen wir sie Ablenkungshypothese – erklärt die Leistungs-beeinträchtigung dadurch, dass sich unter Stress die Aufmerksamkeit von der eigentlichen Aufgabe auf irrelevante Ereignisse richtet. Die zweite – die Hypothese der bewussten Überwachung – nimmt an, dass die Leistung beeinträchtigt wird, weil gut eingeübte Prozesse nicht mehr wie in entspannten Situa-tionen automatisch ablaufen, sondern angstbeladen wieder expliziter Kontrolle unterworfen werden. Das drängende Gefühl, in einer solchen Situation jetzt ja nicht zu versagen, führt dazu, dass die bewusste Steuerung von Bewegungsabläufen angestrebt wird.

Die Daten des japanischen Teams lassen darauf schliessen, dass hauptsächlich die Ablenkung die Reaktionen bestimmt. Das Team verschweigt aber nicht, dass andere Studien die Vermutung nahelegten, beide Phänomene spielten eine Rolle – sowohl die abgelenkte Fokussierung als auch das Bedürfnis, Bewegungsabläufe zu kontrollieren, die unter normalen Bedingungen im Flow ablaufen.

Hilfestellungen müssen für Betroffene individuell definiert werden. Zum Katalog möglicher Massnahmen gehören Verhaltenstherapien, das schriftliche Formulieren von Ängsten vor einer solchen Situation, Coaching oder Mentaltraining. Auch Übungen zur besseren Kontrolle der Muskelspannung können hilfreich sein. Beispielsweise lassen sich unökonomische Muskelbeanspruchungen etwa beim Klavierspiel mit dem Üben von unterschiedlich rhythmisierten Bewegungsfolgen reduzieren. So kann übermässiger Aufmerksamkeit entgegen gearbeitet werden, die zum Beispiel unnötige Muskelanspannungen mit sich bringt und damit die zeitliche Präzision beim Klavierspielen beeinträchtigt. Skeptisch zeigt sich das Team mit Blick auf eine medikamentöse Behandlung. So könne etwa die Einnahme von Betablockern das Risiko motorischen Fehlverhaltens sogar erhöhen – weil sie die Aktivitäten des Sympathikus dämpften.

Originalartikel

Shinichi Furuya, Reiko Ishimaru, Noriko Nagata: «Factors of choking under pressure in musicians», Plos One, Januar 2021, https://doi.org/10.1371/journal.pone.0244082

Autismus und Musik

Die Hinweise auf komplexe Zusammenhänge zwischen absolutem Gehör und Autismus verdichten sich.

SMM — Die Fähigkeit, absolut zu hören, ist in den letzten Jahrzehnten auffallend neu bewertet worden. Seit dem 19. Jahrhundert galt es romantisierend als von der Natur oder Gott gegebenes Distinktionsmerkmal «echter» Musikprofis. Als beinahe selbstverständlich galt dabei, dass Absoluthörende in Wahrnehmung und Wiedergabe von Musik genauer seien als nicht absolut Hörende. Genauigkeit wiederum galt unhinterfragt als Qualitätsmerkmal. Genaueres Spiel wurde gerne auch gleichgesetzt mit expressiverem Spiel. Dem Narrativ folgend galten demnach Absoluthörer als eine eigene Kaste von Virtuosen des emotionalen Ausdrucks.

Diese einfachen Zusammenhänge zwischen Emotionalität, Präzision und Absoluthören werden heute allerdings mehr und mehr hinter-fragt. Eine vom Musikphysiologen Eckhart Altenmüller betreute Dissertation der Neurowissenschaftlerin Teresa Wenhart trägt dazu wesentlich bei. Kürzlich hätten, schreibt die Autorin in der Zusammenfassung der Arbeit, zwei Studien von vermehr-ten autistischen Persönlichkeitsmerkmalen bei Musikern und Musikerinnen mit absolutem Gehör berichtet. Mehrere Fallstudien und Studien mit kleinen Stichproben hätten häufiges Vorkommen von absolutem Gehör bei autistischen Personen festgestellt. Darüber hinaus sei in mehreren Untersuchungen beider Populationen ähnliche Gehirnkonnektivität in Bezug auf Über- und Unterkonnektivität des Gehirns berichtet worden. Es sei jedoch noch unklar, wie dieses Zusammentreffen erklärt werden könne. Irritierend für das traditio-nelle Narrativ der Zusammenhänge zwischen Musik, absolutem Gehör und Emotionali-tät ist, dass die Fähigkeit zur kognitiven Empathie im Falle von Autimus gar nicht oder nur schwach ausgeprägt ist, wie etwa eine Studie von Bons, Egon van den Broek und Floor Scheepers («Motor, emotional, and cognitive empathy in children and adolescents with autism spectrum disorder and conduct disorder», Journal of abnormal child psychology. Band 41, Nummer 3, April 2013, S. 425–443) feststellt.

Da sich die kritische Periode für die Ausbildung des absoluten Gehörs mit einer Periode der detailorientierten Wahrnehmung während der normalen kindlichen Entwicklung überschneidet, könnte ein für Autismus typischer detailorientierter «kognitiver Stil», das heisst, «die Veranlagung, eingehende sensorische Informationen auf eine bestimmte Weise zu verarbeiten, als gemeinsamer Rahmen für die Erklärung der Ähnlichkeiten dienen».

Wenhrt untersuchte insgesamt 64 Musikprofessionelle, unter anderm mit Elektroenzephalographie, Messungen autistischer Symptome sowie auditorischen und visuellen Experimenten. Im Allgemeinen zeigten Absoluthörende dabei mehr autistische Merkmale als Relativhörende. Die beobachteten Effekte legen nahe, dass Absoluthörende im Vergleich zu Relativhörenden tendenziell eine stärker auf Details ausgerichtete Verarbeitung und eine weniger kontextbezogene Integration besitzen.

Dies zeigt sich offenbar auch in den Hirnstrukturen. Laut Wenhart weist ein typisches menschliches Gehirn ein effizientes Netzwerks aus stark in sich vernetzten Modulen (Segregation) und wenigen Querverbindungen zwischen diesen Modulen (Integration) auf. In ihrer Studie zeigten Absoluthörenden jedoch gegenüber Relativhörenden weitestgehend reduzierte Integration und Segregation sowie reduzierte interhemisphärische Verbindungen.

Die Studie gibt einen Hinweis darauf, dass absolutes Gehör und Autismus durch Ähnlichkeiten im kognitiven Stil und in der Konnek-tivität des Gehirns in Verbindung stehen könnten. Inkonsistenzen der Ergebnisse spiegelten, so Wenhart, darüber hinaus die Heterogenität des absoluten Gehörs als Phänomen wider.

Literatur:

Teresa Wenhart: Absolute pitch ability, cognitive style and autistic traits: a neuropsychological and electrophysiological study. Dissertation (Tierärztliche Hochschule Hannover), Hannover, 2019.

Fit für den Neustart

Die von Covid-19 erzwungene Konzertpause macht es schwierig, normale Überoutinen aufrecht zu erhalten. Die Rückkehr in den Normalbetrieb kann dann zu einem Schock werden.

SMM –– Nachdem im Frühling die Konzerttätigkeiten runtergefahren und nach den Sommerferien wieder aufgenommen worden sind, haben einige Therapiepraxen der SMM überraschenden Zustrom verzeichnet. Musikerinnen und Musiker hatten während der Zwangspause offensichtlich ihre Überoutinen am Instrument und Sportaktivitäten vernachlässigt und waren nicht mehr in Form, um die neuen Herausforderungen zu bewältigen.

Es besteht die Gefahr, dass sich das mit dem erneuten Stopp des Konzertlebens nun wiederholt. Verstärkt dadurch, dass nicht geplant werden kann. Niemand weiss im Moment, wann die strikten Massnahmen des Bundes und der Kantone wieder aufgehoben werden. Die Unmöglichkeit einer Planung ist aber eines der grössten Hindernisse, um Routinen und Zielstrebigkeit aufrechtzuerhalten.

Gewiss scheint nach den Erfahrungen dieses Sommers, dass das Ende der erzwungenen Pause grosse Herausforderungen mit sich bringen wird. Dienste in Orchestern dürften – nicht zuletzt wegen Nachholbedarfs – speziell intensiv werden. Das kann dazu führen, dass zum Beispiel das Gewicht des eigenen Instruments ungewohnte körperliche Probleme erzeugen kann. Erhöhte Anspannungen können Schmerzen akzentuieren, die mit regelmässiger Therapie, musikerspezifischen Übungen oder sportlicher Aktivität zuvor unter einer Schwelle der Behinderung gehalten werden konnten. Unsicherheiten über technische und motorische Fertigkeiten am Instrument können Auftrittsängste und damit Stress erzeugen, der wiederum die Gefahr von Verspannungen und Verkrampfungen deutlich erhöht.

Das Risiko kennen wir aus einer vergleichbaren Situation: Studierende neigen dazu, vor Prüfungen ihre Übezeiten kurzfristig stark zu erhöhen. Dieser Schock für den Körper kann dann dazu führen, dass der Körper genau in dem Moment, in dem an einer Prüfung höchste Präsenz, körperliche Top-Verfassung, Präzision und Virtuosität gefragt wäre, streikt. Zudem kann auch alleine die fehlende Konzert-Routine – die für viele von Ihnen sonst selbstverständlich ist – nach längerer Pause zu Auftrittsängsten und Nervosität führen.

In Sportkreisen ist das Bewusstsein dafür heute selbstverständlich, dass auch ausserhalb des Wettkampfalltags die individuelle «Fitness» sorgfältig geplant und gewahrt werden muss. Musizieren auf professionellem Niveau ist mit Spitzensport vergleichbar, gerade auch, was die körperlichen Anforderungen betrifft. Ein mit der Sportwelt vergleichbares Problem-bewusstsein fehlt unter Musikern aber noch.

Der Naturheilpraktiker Samuel Büchel ist in Spiez, und in Bern in der Praxis Wallner tätig, die sich in unmittelbarer Nähe zum Konzertlokal des Berner Symphonieorchesters befindet. Er kennt die Sorgen und Nöte der Orchestermusiker und rät ihnen, die Zeit möglichst gelassen zu nutzen, um auf den Neustart des Konzertlebens bereit zu sein. Wer bereits Therapien oder regelmässige Kör-perübungen absolviert, sollte diese keinesfalls absetzen. Nach Pausen können bei einer Wiederaufnah-me Schmerzen auftreten, die sich unter normalen Bedingungen nicht zeigten.

Vielleicht möchten Sie Ihre Zwangspause auch für das Aufgleisen einer neuen Überoutine nutzen? Neue Fitness- und Bewegungsübungen oder musikerspezifische Angebote und Körperübungen ausprobieren und in Ihren Musikeralltag integrieren? Vielleicht haben Sie sich schon länger vorgenommen, wieder einmal intensiv am Klang, Ihrem Atem oder Ansatz zu feilen? Mehr Leichtigkeit in Ihre feinmotorischen Bewegungen zu bringen oder Ihre Bühnenangst endlich anzugehen?

Alleine oder aber mit professioneller Unterstützung – jetzt wäre das Zeitfenster da, solche Vorhaben umzusetzen und sich diese Entwicklungschancen zu gönnen. Wir freuen uns, Sie hoffentlich bald wieder live auf der Bühne zu sehen und zu hören, liebe Musikerinnen und Musiker!

Einstehen für gesundes Musizieren

Das 18. Symposium der SMM bietet in schwierigen Zeiten Orientierung im Therapiendschungel und Gelegenheit zum Austausch zwischen Musizierenden und Gesundheitsfachleuten.

Wolfgang Böhler* — Die Schweizerische Gesellschaft für Musik-Medizin (SMM) vereint unter einem Dach Fachleute aus Medizin und unterschiedlichsten Therapieansätzen, aber auch Wissenschaftler und Berufmusikerinnen. Ein zentrales Anliegen der SMM ist es, den konstruktiven Dialog zwischen diesen Gruppen anzuregen. Sie will aber auch Musikerinnen und Musikern helfen, die mit spezifischen gesundheitlichen Einschränkungen kämpfen oder einfach interessiert sind, ihr Musizieren auf nachhaltig gesunde Basis zu stellen.

Wir sind stolz darauf, dass sich in unserem Kreis Ärzte und Ärztinnen finden, die auf höchstem Niveau medizinische Lösungen für Musikerkrankungen anbieten können. Im Alltag sind Hilfesuchenden aus der Musikwelt Vertrauenspersonen mit niederschwelligen Therapieangeboten in der Regel allerdings näher als die medizinischen Spezialisten, die in der Regel mit der Hektik in Kliniken oder Praxen zurecht kommen müssen. Die Vielfalt an Methoden, Schulen und Techniken des Therapiedschungels kann verwirren. Der Entscheid für eine Technik bleibt dann nicht selten Zufall – meist aufgrund persönlicher Begegnungen oder Empfehlungen.

Mit dem 18. Symposium möchte die SMM Hilfesuchenden Gelegenheit bieten, einige der wichtigsten körperorientierten Ansätze in der Musik an einem Ort kennenzulernen und zugleich die Möglichkeit wahrzunehmen, mit ihren Vertretern unverbindlich ins Gespräch zu kommen. Auch die Therapeuten und Therapeutinnen sollen an diesem Tag aufeinander zugehen können. Dabei soll ein Motto gelten, dass der amerikanische Erkenntnistheoretiker Nelson Goodman ein-mal für die Philosophie geprägt hatte: Anbietende von Therapien sollen heute nicht mehr danach beurteilt werden, welche Schulen und Welt-anschauungen sie repräsentieren, sondern für welche Probleme sie Lösungen erarbeiten.

Eine Uraufführung zum Auftakt

Mit grosser Freude können wir mitteilen, dass wir das Symposium mit einer ungewöhnlichen Uraufführung eröffnen dürfen. Es handelt sich um ein hoch interessantes Werk des Klarinettisten und Saxophonisten Fabio da Silva, der sich zur Zeit an der HKB weiterbildet. Rugueux 2, ein Spiel zwischen Live Performance und vorproduzierten Klängen für Baritonsaxophon und Bassklarinette ist eine von einem vorproduziertem Tonband begleitete Tieftonperformance. Die Instrumente, die sich vor allem in der Tiefe sehr gut mischen, nähern sich mikrotonal spezifischen Frequenzen. Mehrklänge werden gefiltert, es entstehen stärkere und schwächere Reibungen.

*Der Musikpsychologe und Musikproduzent Wolfgang Böhler ist seit Januar dieses Jahres Präsident der SMM.

In Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Interpretenstiftung SIS, der Hochschule der Künste Bern HKB, dem Schweizerischen Musikpädagogischen Verband SMPV und dem Verband Musikschulen Schweiz VMS.

Auf der Bühne und an Tischen werden verschiedene anerkannte und bewährte Formen körperorientierter Ansätze in der Musik vorgestellt. Keynotesprecher sind Klaus Scherer (Musikpschologe und Gründer des Genfer Centre Interfacul-taire en Sciences Affectives) und Günther Bernatzky (Gründer des Salzburger Schmerzinstituts und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Musik und Medizin).

Samstag, 24. Oktober 2020, 9.50 – 17.00 Uhr, Hochschule der Künste Bern, Papiermühlestrasse 13a, 3014 Bern. Kosten: Mitglieder SMM, Studierende und Mitarbeitende der HKB: 30 Franken; Nichtmitglieder 90 Franken; Studierende im Erststudium freier Eintritt.

Das Schutzkonzept des Symposiums wird zeitnah der aktuellen Pandemiesituation und den entsprechenden kantonalen und nationalen Bestimmungen und Empfehlungen angepasst. Es kann deshalb zu kurzfristigen Umstellungen im Programm kommen.

Informationen und Anmel-dung: Telefon 032 636 17 71 oder www.musik-medizin.ch, Anmeldeschluss: 10. Oktober 2020.

Mehr Infos:

> www.musik-medizin.ch/aktuelles-symposium

Corona – Herausforderungen und Chancen

Die Coronakrise hat die Arbeitsbedingungen für musikermedizinische Angebote fundamental verändert.

Interview: Cornelia Suhner — Unsere Gründerin und Ehrenpräsidentin Pia Bucher ist als langjährige Kinesiologin von den massiven Einschränkungen für Therapieangebote direkt betroffen. Im Interview gibt sie beispielhaft Auskunft darüber, was dies für Fachleute wie sie beruflich und privat bedeutet.

Pia Bucher, Sie sind Komplementär-therapeutin und arbeiten mit Musikerinnen und Musiker. Mit welchen Themen kommen diese zu Ihnen in die Therapie?

In der Musikbranche ist man zahlreichen Stressfaktoren ausgesetzt, die zu berufsspezifischen, physischen und psychischen Beschwerden führen können. Typische Themen sind etwa Stress bei Auftritten, Kritik, Zeitdruck, Muskelverspannungen, Haltung, Atmung, sowie im Falle von Blechbläser Ansatz-Dysfunktionen. Bei fokalen Dystonien arbeiten wir dabei interdisziplinär mit Fachärzten der SMM zusammen.

Warum haben Sie sich als Kinesio-login auf Musik spezialisiert?

Ich hatte als Berufsmusikerin selber mit einer fokalen Dystonie zu kämpfen und musste deswegen meine Karriere aus medizinischen Gründen aufgeben. Ich beschloss deshalb, eine musikermedizinische Institution zu gründen: das war die Geburtsstunde der SMM im Jahr 1997. Mein Anliegen war es, frühzeitig zu helfen und eine zentrale Anlauf- und Beratungsstelle für Musikermedizin in der Schweiz anzubieten. Damals absolvierte ich körperorientierte Weiterbildungen und die Ausbildung zur Kinesiologin.

Musik-Kinesiologie MK ist ein Spezialgebiet der Angewandten Kinesiologie, die sich mit musikpraktischen Themen und dem Stressabbau bei Musizierenden befasst. Nach langjähriger Erfahrung als Bühnenkünstlerin und Instrumentalpädagogin war das für mich der richtige Ansatz. Meine Arbeit beinhaltet heute – ergänzt durch musikermedizinische Weiterbildungen – Retraining bei Blechbläserdystonien und Musiker-Auftrittscoaching.

Wegen des bis Ende April gültigen Berufsverbots entstanden starke Einschränkungen bezüglich der Betreuung von Klienten. Noch sind Schutzmassnahmen und Praxishygiene Pflicht. Wie haben Sie den Lockdown persönlich erlebt?

Ein positives Zeichen war die plötzlich eingetretene Ruhe im Alltag und die Entschleunigung. In der Musikwelt war mit einem Schlag der übliche Alltagsstress und Druck weg: keine Konzerte, Proben, Probespiele, und wegfallende Reisezeiten. Therapiesitzungen waren plötzlich nicht mehr dringend – «akute Hilferufe» wegen Auftrittsstress oder Musikerbeschwerden blieben aus. Meine Klientel nahm sich viel mehr Zeit, die neuen Übestrukturen zu praktizieren und zu vertiefen, in Ruhe Konzerte einzustudieren… Wo es erforderlich war, konnten weitere Massnahmen telefonisch besprochen werden.

Haben sich die Themen und Fragen der Betroffenen während des Lockdowns verändert?

Corona hat die Musikszene lahmgelegt – es herrscht eine grosse Ungewissheit.

Viele Freischaffende spüren existenzielle Not wegen der Gagenausfälle.

Neue Themen sind: finanzielle Situation, Existenzängste und Zukunftsperspektiven oder der Stress bezüglich des ungewohnten Online-Unterrichts oder des Präsenzunterrichts mit Abstandsregeln.

Welche Folgen und Nachwehen erwarten Sie für ihre Klientel und für Sie als Therapeutin?

Allgemein findet ein Umdenken statt. Es sind innovative Konzepte gefragt. Die Herausforderung verlangt Flexibilität und Kreativität in allen Bereichen.

Können Sie etwas aus Ihren thera-peutischen oder persönlichen Er-fahrungen dieser Zeit in die «neue Normalität» mitnehmen?

Die Entschleunigung ist eine wertvolle Bereicherung. Sie schafft Frei-räume, um neue Möglichkeiten auszuprobieren oder eigene kreative Prozesse anzustossen. Innovative Impulse – wie zum Beispiel Online-Weiter-bildungen oder ergänzende Unterrichtsformen – lassen Vertrauen und Zuversicht in das Potenzial der Digitalisierung aufkommen.

Webseite von Pia Bucher:

> www.sana-musica.ch

Psychische Auswirkungen der Corona-Krise

Die Beratungsstelle der SMM hilft auch bei psychischen Belastungen als Folge der Pandemie.

Felicitas Sigrist –– Wie ein unverschuldetes Berufsverbot wirken sich die erforderlichen Massnahmen gegen die Corona-Epidemie auf viele Musiker aus. Lange vorbereitete Veranstaltungen ebenso wie regelmässige Verpflichtungen brechen abrupt weg – für einige somit alle Einkommensquellen. Mit dem zu erwartendem Konjunktureinbruch dürfte sich die Musikbranche nur schleppend erholen. In dieser Belastungssituation sind neben ökonomischen auch psychische Auswirkungen zu erwarten.

Auf schockartige Veränderungen/Schicksalsschläge reagieren Menschen oft zunächst mit Fassungslosigkeit. Dann zeigt sich ein Aktionismus, um die Existenz zu sichern, bis schliesslich auch emotionale Bewältigungsstrategien gefunden werden. In dieser Phase der imminenten Bedrohung können akute Belastungsreaktionen auftreten wie Impulsdurchbrüche, Panik, Wut oder Trauer. Einige Menschen entwickeln übermässige Ängste hinsichtlich Erkrankungsgefahr durch das Corona-Virus und benötigen entsprechende psychologische Hilfe.

Häufiger als solche akuten Reaktionen sind psychische Störungen mittelfristig zu erwarten, wenn die Notsituation anhält und durch Handeln wenig beeinflusst werden kann. Auch der Trost, dass die drastischen Massnahmen kollektiv zu bewältigen sind, wird mit den Lockerungsmassnahmen schwinden. Hilflosigkeit, Ohnmachtsgefühle, auch Arbeitslosigkeit sind Risikofaktoren für psychische Erkrankungen. Einerseits können sich bisher kompensierte Beschwerden verstärken, zum Beispiel Tinnitus oder chronische Schmerzen. Andererseits können Depressionen, Suchtmittelkonsum und auch suizidale Krisen zunehmen. Wenn Betroffene oder ihre Angehörigen vermehrt Verhaltensweisen wie Gedankenkreisen, Schlafstörungen, Konzentrationseinbussen beobachten, oder auch emotionale Taubheit, sozialen Rückzug, Reizbarkeit und Mühe mit Impulskontrolle, ist es wichtig Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dies gilt insbesondere, wenn sich lebensmüde Gedanken bemerkbar machen. Die Beratungsstelle der SMM kann eine erste Einschätzung der Problematik vornehmen und professionelle Unterstützung vermitteln.

«Krisen sind Chancen», sagt man. Viele Menschen können an Krisen wachsen – posttraumatisches Wachstum wird das genannt. Dies im Voraus zu erwarten ist jedoch zynisch, bagatellisiert die Not. Es gibt auch Menschen, die an Krisen zerbrechen. Voraussetzungen und Widerstandskraft sind individuell. Resilienz zur Bewältigung der bevorstehenden Zeit der Verunsicherung kann nachweislich mit vermeintlich banalen Alltagsgewohnheiten gefördert werden: eine Tagesstruktur einhalten, regelmässig und genügend schlafen, sich ausgewogen ernähren und bewegen – bereits 150 Minuten Bewegung moderater Intensität pro Woche wirken antidepressiv. Soziale Kontakte sind hilfreich, sofern dabei nicht nur die aktuelle Not thematisiert wird, sondern auch Erfreuliches ausgetauscht wird, was die Gedanken in eine andere Richtung lenkt. Es ist wichtig, authentisch über die eigene Gefühlslage zu reden zu können, sich dabei aber auf einen Kreis vertrauter Menschen zu beschränken. Um einen gelasseneren Umgang mit Krisen zu finden, bewähren sich diverse Methoden der Achtsamkeitspraxis. Dabei wird die Fähigkeit vermittelt, sich auf den gegenwärtigen Augenblick zu fokussieren, und sich nicht von Gedanken in die Vergangenheit oder Zukunft dominieren und belasten zu lassen. Medizinisch gesehen werden dadurch die physiologischen Stresssymptome gemindert und richten weniger langfristigen gesundheitlichen Schaden an.

Die Zäsur im Auftrittskalender kann genutzt werden, um das eigene Musizieren zu überprüfen und allenfalls zu optimieren. Haben sich Gewohnheiten, Haltungen, Spieltechniken eingeschlichen, die langfristig gesundheitliche Einbussen hervorrufen? Eine Analyse mithilfe einer Fachperson mit musikphysiologischen Kenntnissen ist auch prophylaktisch sinnvoll – die Beratungsstelle kann auch dazu Fachpersonen vermitteln.

Wie sich in den zwei Monaten seit dem Lockdown bereits gezeigt hat, ist das Bedürfnis nach Musik nicht geschwunden. Musik ermöglicht etwas Essentielles: Kontakt auch ohne körperliche Berührung – ein Gefühl von Verbundenheit auch auf Distanz.

Dr. med. Felicitas Sigrist

… ist Psychiaterin und Musik-Psychotherapeutin und leitet die Beratungsstelle für Musiker Medizin der SMM. Sie ist erreichbar unter beratung@musik-medizin.ch.

Leichtigkeit statt Spielbeschwerden

Die Dispokinesis basiert auf neurophysiologischer Grund-lage und beschäftigt sich mit Haltung, Bewegung, Atmung und Ausdruck von Musizieren-den. Die Ziele sind Leichtig-keit in der Spielmotorik, schmerz- und beschwerdefreies Musizieren, Ausdrucksvielfalt und Bühnenkompetenz.

Cornelia Suhner –– Um auf der Bühne zu stehen und sich über sein Instrument, die Stimme oder als Dirigent auszudrücken, reicht locker sein nicht aus. Damit sich die Spielmotorik frei und mühelos anfühlt und das Musizieren treffsicher gelingt, benötigt der Körper Halt und Stabilität. Die Fragen sind: wo – und wie? Um Musiker dies entdecken zu lassen, hat der niederländische Pianist und Physiotherapeut Gerrit Onne v. d. Klashorst die sogenannten «Übungen der Urgestalten von Haltung und Bewegung» entwickelt. Sie bilden den Kern der um 1950 speziell für Musikerinnen und Bühnenkünstler entwickelten Dispokinesis.

Dispokineter lehren im Grunde nichts Neues. Vielmehr sind sie Meister sowohl im Weglassen künstlich erlernter, hemmender Muster als auch im Freilegen, Herauslocken und Entwickeln des Potenzials, das in jedem einzelnen Menschen steckt. Die Kernidee: Mit den «Urgestalten»-Übungen wird der Aufrichtungsprozess des Menschen vom Liegen über das Krabbeln, Sitzen und Stehen durchgearbeitet. Dabei können Fehlhaltungen erkannt und verändert und die natürlichen Haltungs-und Aufrichtungsreflexe (Vorderfuss, Beine, Becken/Unterbauch) wieder entdeckt und erfahren werden. So finden MusikerInnen zu einer ursprünglichen Körperhaltung zurück, wie sie sie als Kind schon einmal erworben hatten.

Die Kennzeichen «dieser» natürlichen Haltung sind dynamische Stabilität im unteren Körperbereich sowie als Folge davon Freiheit im Oberkörper mit gelösten Schultern und durchlässigen Armen und Händen. Eine solche natürliche «Disposition» ist Grundvoraussetzung für feinmotorische, leichte Bewegungen (Finger, Lippen, Zunge), eine gut funktionierende Atemführung oder einen frei schwingenden, brillanten Klang.

Zu den Übungen der Urgestalten kommen zwei weitere wichtige Bereiche hinzu: Damit beim Musizieren eine physiologisch sinnvolle Haltung beibehalten werden kann, wird das Instrument mit ergonomischen Hilfsmitteln verschiedenster Art individuell dem Körper angepasst. Des Weiteren bietet die Dispokinesis spezielle Übungen (für alle Instrumente, Gesang und Dirigieren) zur Optimierung der instrumentalen und künstlerischen Kompetenz an – wie etwa Vorstellungs- und Lernhilfen zu feinmotorischer Spieltechnik, Spielgefühl, Atmung, Dosierungs- und Differenzierungsfähigkeit und vielem mehr. Die Ziele dabei sind Ausdrucksvielfalt, Bühnenkompetenz und minimaler Krafteinsatz für maximale Klangfülle, Leichtigkeit und Virtuosität.

Dispokinesis wird sowohl in Einzelsitzungen und in kleineren Gruppen – so dass immer ein persönliches Feedback möglich ist – als auch in Workshops und Seminaren unterrichtet. Bei Bedarf arbeiten Dispokineter mit Ärzten und anderen Therapeuten zusammen. Diese Art zu arbeiten ist für alle geeignet, die ihre Spiel- und Ausdrucksfähigkeit verbessern und ihr ganzes Potenzial an Klanggestaltung ausschöpfen möchten. Sie wird präventiv oder als pädagogisches Konzept eingesetzt, vor allem aber auch bei Indikationen wie Haltungs-, Bewegungs- und Atemstörungen, ebenso bei Spielhemmungen (Ansatzunsicherheit, Krämpfe, Einbußen im Klang, gedrückte hohe Lage, Bogen- oder Lippenzittern…), sowie bei Schmerzsyndromen, Lampenfieber oder Kontrollverlust.

Cornelia Suhner

… ist Flötistin und arbeitet als Dispokineterin, Auftritts-, Ausdrucks- und Mentaltrainerin in Zürich und Bern.

> www.cornelia-suhner.ch

> www.vivace-musikermedizin.ch

Wenn sich die Stimme verknotet

Schreckgespenst jeder Sängerin sind Knötchen auf den Stimmlippen. Eine Operation ist aber nur in wenigen Fällen notwendig.

Salome Zwicky — Sie stehen für Ungewissheit, Absagen, Timeout, Neuorientierung und Existenzangst. Oft stellt sich nicht nur die Frage, ob falsch gearbeitet wurde, auch Selbstvorwürfe und Schuldgefühle können die Folge sein. Meistens sind junge Sängerinnen in Ausbildung oder am Karriereanfang betroffen. Männer haben keine Knötchen, längere Stimmlippen scheinen immun zu sein.

Knötchen entstehen durch jede ungünstige Form der Stimmproduktion – nicht nur beim Singen. Es handelt sich um Verdickungen der Schleimhaut im mittleren Abschnitt der Stimmlippen durch ungünstige Phonation – daher der Fachbegriff Phonationsverdickungen.

Die Luft fliesst durch die geschlossenen Stimmlippen und erzeugt an deren Kante eine Schwingung. Der Luftstrom reibt und saugt an der Schleimhaut, am ausgeprägtesten in der Mitte der Stimmlippen. Zum eigenen Schutz verdickt sich die über-strapazierte Schleimhaut, ähnlich wie die Haut an Händen oder Füssen unter Druck und Reibung Schwielen hervorbringt. Die Verdickung an den Stimmlippen verschlechtert aber die Schwingungseigenschaften, so dass noch mehr ungünstiger Druck nötig ist für die Phonation – ein Teufelskreis entsteht.

Nicht jede knötchenartige Veränderung ist eine Phonationsverdickung. Echte Knötchen sind symmetrisch, also auf beiden Stimmlippen etwa gleich ausgebildet. Bei knötchenartigem Befund an nur einer Stimmlippe handelt es sich ziemlich sicher um eine andere Veränderung, zum Beispiel um Polypen oder Zysten. Diese verschwinden im Unterschied zu Knötchen auch dann nicht, wenn die Stimme geschont wird. Echte Knötchen können unter einer ein- bis zweiwöchigen Stimmruhe (nur leises, anstrengungsloses Sprechen, kein Singen mit Vollstimme) hingegen kleiner werden oder verschwinden. Nur löst diese vorübergehende Vorsicht das Problem nicht, die Verdickungen werden unter steigender Belastung erneut entstehen. Es ist wichtig, die eigentliche Ursache anzugehen.

Wenn echte Knötchen gefunden werden, stellt sich demnach zuerst die Frage nach der Ursache, und daraus wird die Form der Therapie abgeleitet. Das schädliche «zu viel» an den Stimmlippen setzt sich zusammen aus der mechanisch wirkenden Kraft und einem Zeitfaktor. Das heisst, es kommt darauf an, wie man Töne produziert (muskuläres Gleichgewicht, subglottischer Druck), aber auch wie oft, beziehungsweise wie lange man so singt. Sollten per Zufall Knötchen festgestellt werden, ist es wichtig zu wissen, dass sie nur bei gleichzeitiger Stimmstörung behandelt werden müssen. Manche Sängerinnen singen problemlos mit Ansätzen von Knötchen.

Der Therapieansatz ist immer ähnlich. Vereinfacht ausgedrückt muss gelernt werden, Töne – vor allem laute oder hohe Töne – mit Resonanz anstatt Druck erklingen zu lassen. Die Kraft zum Singen muss aus einer guten Atem- und Körpertechnik geschöpft werden und nicht mittels Kehlkopfmuskulatur erzeugt. Dasselbe Prin-zip gilt beim Sprechen im Alltag, im Klassenzimmer sowie auf der Bühne und wird auch in der Sprecherziehung, Gesangspädagogik oder Stimmtherapie (Logopädie) verfolgt. Atemführung, Stütze und Randstimmtraining entlasten den Kehlkopf. Bewährte Hilfsmittel sind LaxVox oder – ganz neu – die StimmMaske nach Doctor Vox. Bei manchen Sängerinnen müssen einzelne Bereiche der Gesangstechnik umgestellt werden. Das braucht Zeit, ist aber für das wei-tere Reüssieren im Beruf essentiell. Die operative Entfernung der Knötchen ist nur in wenigen Fällen notwendig und nur bei gleichzeitiger Korrektur der fehlerhaften Stimm-gebung sinnvoll.

Phonationsverdickungen sind nichts Schlimmes. Sie zeigen, dass die Art der Stimmbelastung in eine Sackgasse geführt hat, und sind ein Warnsignal für die Betroffenen, den Umgang mit ihrer Stimme zu überdenken und zu optimieren. Die Mühe lohnt sich. Das wichtige Zusammenwirken von Therapie und Pädagogik bietet die Chance, die eigene Stimme tiefgreifender kennenzulernen und dadurch Achtsamkeit und gesundes technisches Fundament zu erwerben. Es wird sich im wahrsten Sinne des Wortes «der Knoten lösen».

Salome Zwicky

… vom SingStimmZentrumZürich (www.sszz.ch) ist Fachärztin ORL mit Spezialgebiet Phoniatrie.

Ressourcenorientierung im Musikeralltag

Das 17. SMM/SIS-Symposium steht am 2. November 2019 in Basel im Zeichen der Prävention.

SMM — Prävention und Gesundheitsförderung im Musikerberuf sind zentrale Ziele der Schweizerischen Gesellschaft für Musik-Medizin. Ins Thema einführen werden in den Räumen der Basler Musikakademie eine Hornklasse und ein Referat von Peter Knodt, der als Dozent für Fachdidaktik Trompete an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) amtet. Knodt hat Absolventinnen, Absolventen und das Lehrenden-Team des Fachs Horn zum Thema befragt und sieht interinstitutionelle Kooperationen, geeignete individuelle Kompetenzprofile und gemeinsame künstlerisch-pädagogische Grundüberzeugungen als wichtige Faktoren für Gesundheit und nachhaltige Zufriedenheit im Berufsalltag.

Knodts Erörterungen ergänzt Horst Hildebrandt, Leiter des Schweizerischen Hochschulzentrums für Musikphysiologie, mit Überlegungen zu Selbsthilfekonzepten, die für Vorbeugung und Therapie eine entscheidende Rolle spielen. Er wird aufzeigen, wie hilfreich eine Mischung aus Wahrnehmungsschulung, Tonusregulation, Kraftaufbau, Bewegungs-, Atmungs- und Haltungsschulung sein kann – ergänzt um Techniken der Schnellregeneration sowie der Muskel- und Faszienpflege.

Der Rheinfeldener Psychiater Andreas Schmid zeigt am Symposium, wo Berufsmusikerinnen und ‑musiker Kraft und Erholung finden, wenn sie an Grenzen stossen. Er erörtert die Quellen der Resilienz, die verhindern, dass es zu Kreativitätskrisen, Erschöpfung oder gar zu psychischen Krankheiten kommt. Sein Vortrag schlägt den Bogen von allgemeinen Prinzipien der Resilienz hin zu deren praktischen Bedeutung im Musikeralltag.

Der Zürcher Musikphysiologe Oliver Margulies stellt Konzepte für die Verankerung eines musikphysiologischen Angebotes an Musikaus-bildungsstätten vor. Sie gehen auf das von Horst Hildebrandt in den 1990er-Jahren an der deutschen Musikschule Lahr entwickelte Pilotprojekt «Musikphysiologische Beratung» zurück. Aus ihm entwickelten sich unter anderem die heute bestehenden musikphysiologischen Lehr- und Beratungsangebote an den Musikhochschulen Zürich und Basel. Der Vortrag gibt Einblick in zwei seit 2010 vom Margulies betreute Projekte am Vorarlberger Landes- konservatorium und an der Musikschule Konservatorium Zürich. Dazu gehören Einzelberatung für Lehrkräfte und deren Studierende, Lehrerfortbildungen, Bühnentrainings, Begabtenförderung, Zugang zu Forschungsprojekten und spezialisierte Beratungen an der ZHdK.

Elke Hofmann ist Beauftragte für Digitalisierung und Dozentin für Gehörbildung an der Basler Musikhochschule. Sie macht sich Überlegungen zum digitalen Wandel, der Informationen jederzeit und überall verfügbar macht. Die sich rasant verändernden neuen Technologien erfordern zusätzliche Verfügbarkeiten, Flexibilität und Kommunikativität und stellen damit auch Anforderungen, die als belastend empfunden werden können.

Wer am Symposium teilnimmt, kann sich zusätzlich zu den Referaten in zwei Workshops weiterbilden. Der eine steht unter dem Motto «Wer bewegt – gewinnt : Physische Ressourcen optimal nutzen mit FBL Functional Kinetics». Die Musik- und Bewegungsphysiologin Irene Spirgi Gantert zeigt dabei auf, wie physische und psychosoziale Ressourcen in engen Wechselbeziehungen zueinander stehen. Eine Stärkung der physischen Ressourcen beinhaltet sowohl Geschicklichkeits- als auch Beweglichkeits-, Ausdauer- und Kraftübungen.

Der zweite Workshop widmet sich der «Freude am musikalischen Ausdruck – Dispokinesis für Musiker». Die Flötistin Karoline Renner zeigt auf, wie die Methode Lösungswege unter anderem bei Schmerzen, Atemproblemen, mangelndem Erfolg beim Üben und Auftrittsängsten anbietet. Ziel ist die Verbesserung der eigenen instrumentalen und künstlerischen Fähigkeiten. Der Workshop vermittelt einen ersten Eindruck, welche Zusammenhänge zwischen körperlicher und mentaler Haltung bestehen und wie sich durch Selbstbeobachtung Selbstwertgefühl entwickeln kann.

Kieferbeschwerden bei Musizierenden

Holzblasinstrumente verursachen häufig Kieferbeschwerden. Überraschenderweise trifft es aber auch nicht wenige, die ein Streichinstrument spielen.

Dominik Ettlin — Der Unterkiefer ist ein hufeisenförmiger Knochen. Seine beiden Enden bilden mit der Schädelbasis die Kiefergelenke. Die Stellung und Bewegungen des Unterkiefers wird durch die Aktivität der Kaumuskeln reguliert. Beschwerden in den Kiefergelenken oder -muskeln manifestieren sich meist mit bewegungsbegleitenden Knack- oder Reibegeräuschen und/oder Schmerzen, zum Beispiel beim Kauen oder Gähnen. Gelegentlich ist die Mundöffnung einschränkt (Kiefergelenkblockade). Die Beschwerden schwanken typischerweise im Zeitverlauf und in Abhängigkeit der Haltung des Unterkiefers.

Eine entspannte beziehungsweise physiologische Schwebelage des Unterkiefers ist gegeben, wenn sich obere und untere Zähne bei geschlossenen Lippen nicht berühren. Unphysiologische Bewegungen oder Haltungen wie zum Beispiel exzessives Kaugummikauen, häufiges Zähnepressen oder nächtliches Zähneknirschen können eine Überlastung des Kausystems begünstigen. Eine anhaltende unphysiologische Stellung nimmt der Unterkiefer auch beim Spielen bestimmter Blasinstrumente oder beim Gesang ein. Im Volksmund verbreitete Ausdrücke wie «verbissen an eine Aufgabe herangehen» oder «Zähne zusammenbeissen und durch» oder «an einem Problem kauen» offenbaren die enge Koppelung von Kaumuskelspannung und Gefühlen. Entsprechend können auch emotionale Belastungen zu Verspannun- gen und Beschwerden im Kauapparat führen.

Qualitativ gute wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Kiefergelenkbeschwerden bei Musizierenden sind spärlich. In einer holländischen Studie beklagten Studierende der Musik häufiger als Medizinstudierende Beschwerden in den Bereichen Hände, Schultern, Nacken und Kiefer. Eine Befragung von 210 Lernenden fand ein deutlich höheres Risiko zur Entwicklung von Kiefergelenkbeschwerden bei denjenigen, die Blasinstrumente spielten, im Vergleich zu Musizierenden anderer Instrumente. Eine noch detailliertere Analyse hinsichtlich der Verteilung von Beschwerden nach Instrument lieferte die Befragung von 408 professionellen Muszierenden zweier klassischer Orchester in Deutschland. Weil das Musizieren mit Holzblasinstrumenten (Flöte, Fagott, Klarinette und Oboe) eine anhaltend unphysiologische Unterkieferhaltung erfordert, überrascht es nicht, dass dabei Funktionsstörungen und Schmerzen im Kiefergelenk in dieser Gruppe gehäuft beschrieben wurden. Erstaunlich ist aber, dass ähnliche Beschwerden etwa ebenso häufig von Personen empfunden wurden, die Saiteninstrumente spielten.

Andere Risikofaktoren wie nächtliches Zähneknirschen und anhaltendes Kieferpressen könnten diese Beobachtung zumindest teilweise erklären. Denn diese Risikofaktoren beschreiben gehäuft Personen unter Stressbelastungen, welche wiederum mit erhöhtem Kaumuskeltonus sowie Kiefer- und Gesichtsschmerz einhergehen. Etwa die Hälfte von 93 professionellen Violinisten in Portugal berichteten demnach, an Lampenfieber zu leiden, wobei sich ein deutlicher Zusammenhang mit Kiefergelenkbeschwerden ergab. Übermässiges Singen wird ebenfalls als mögliche Ursache von Kiefergelenkbeschwerden vermutet, aber verlässliche Daten sind dazu nicht verfügbar.

Zusammenfassend beklagen Musizierende mit variabler Häufigkeit Kieferbeschwerden. Gemäss heute bekannten Daten sind diese nicht eindeutig dem Spielen eines bestimmten Instrumententyps zuzuordnen. Für Singende und Musizierende von Blasinstrumenten ist die Beeinträchtigung aber am Höchsten. Mittlerweile wird an Musik-Ausbildungsstätten eine gesundheitsfördernde Schulung empfohlen. Instruktionen zum Erkennen von Stress und Verspannung während der Ausbildung sind zweckmässig, da etwa junge stärker als erfahrene Musizierende an Lampenfieber leiden. Sinnvoll ist auch die frühe Wissensvermittlung zu Tinnitus und anderen Hörstörungen, die gehäuft mit Kieferbeschwerden assoziiert sind. Sowohl vorbeugend wie therapeutisch steht der Umgang mit emotionalen Belastungen, die Optimierung der Körperwahrnehmung und das Erlernen von Entspannungstechniken im Vordergrund.

PD Dr. med., Dr. med. dent. Dominik Ettlin Interdisziplinäre Schmerzsprechstunde

Zentrum für Zahnmedizin,

Universität Zürich Plattenstrasse 11, 8032 Zürich

Die Literaturhinweise finden sich in der Online-Version des Artikels unter:

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Vom Trommelwirbel zum Tinnitus

Unwillkommene Ohrge-räusche können ganz unter-schiedliche Ursachen haben.

Daniela Gut — Aus der Geschichte sind viele Fälle von Musikern mit Tinnitus und auch Schwerhörigkeiten bekannt. Vermutlich ist Beethoven der bekannteste Fall. Schon im Alter von zwanzig Jahren begann sich sein Gehör zu verschlechtern, und damit einhergehend setzte auch ein sehr störender Tinnitus ein. Später kam es sogar zu einem völligen Gehörsverlust, der Tinnitus blieb aber bestehen. Die Ursache dieses Problems bei Beethoven ist bis heute nicht geklärt. Diskutiert wird eine Otosklerose, einer knöchernen fortschreitenden Fixierung des Steigbügels, oder eine Neurolues, Spätform einer Syphilis-Erkrankung. Man hat versucht, diesem Rätsel auf die Spur zu kommen, indem man die Leiche exhumiert hat. Leider fehlten aber die Felsenbeine (Knochen, die den Gehörsapparat enthalten), so dass keine neuen Erkenntnisse zum Vorschein kamen.

Musiker sind während ihres ganzen Berufslebens starken Lärmbelastungen ausgesetzt. Sei es im Orchester, bei Proben oder beim Unterrichten. Die grösste Lärmbelastung wird dabei durch das eigene Instrument erzeugt.

Bei den Lärmschädigungen unterscheidet man zwischen akutem und chronischem Lärmtrauma. Beim akuten Lärmtrauma kommt es zu einer kurzen starken Lärmeinwirkung – wie bei einem Schuss. Die typische Frequenz dafür ist 6000 Hz. Das chronische Lärmtrauma ist definiert als längerdauernde Schalleinwirkungen mit über 85 dB Schalldruckpegel.

Beide Störungen können zur Entwicklung von Tinnitus führen. Letzterer ist definiert als jegliche Form von Ohrgeräusch. Es kann ein Ton sein, aber auch ein Rauschen, Brummen und so weiter.

«Tinnitus» ist folglich mehr ein Symptom als eine Diagnose. Die Ursachen sind sehr unterschiedlich, müssen nicht einmal vom Ohr ausgehen. Beispiele sind Kiefergelenksprobleme, Halswirbelsäulenprobleme, auch Gefässe: Sowohl Arterien als auch Venen können Flussgeräusche verursachen. Nicht zu vergessen sind Medikamente, allen voran Psychopharmaka, Schleifendiuretika und auch Aspirin in hohen Dosen. Bei letzterem ist der Tinnitus reversibel. Bei psychiatrischen Erkrankungen kann ebenfalls ein Tinnitus auftreten – beispielweise bei Depressionen oder Burn-out-Syndrom.

Ohrerkrankungen mit Tinnitus

Tinnitus kann mit bestimmten Ohrerkrankungen einhergehen.

Selbst ein banaler Ohrpfropfen kann einen Tinnitus verursachen. Nach Entfernung ist das Geräusch aber verschwunden. Auch bei Entzündungen des Gehörgangs und des Mittelohrs tritt meistens ein Tinnitus auf. Dieser ist nach Abheilen der Entzündung ebenfalls in der Regel reversibel. Beim Tubenkatarrh, wo sich hinter dem Trommelfell Flüssigkeit bildet, die zu einer Gehörsverminderung ohne Schmerzen führt, tritt gewöhnlich auch ein Tinnitus dazu. Bei der Otosklerose tritt häufig als erstes Symptom ein Tinnitus auf. Diese Erkrankung ist familiär gehäuft. Die fortschreitende Schwerhörigkeit kann operativ deutlich verbessert werden.

Dann bleiben die Erkrankungen des Innenohrs, wie der Gehörsturz und der Morbus Ménière. Letzterer besteht aus einer Trias von Drehschwindel, Tinnitus und Gehörsverminderung. In diese letzte Kategorie gehören auch das akute und das chronische Lärmtrauma.

Prophylaxe-Massnahmen

Nun stellt sich die Frage, ob zum Schutz des Gehörs etwas unternommen werden kann. Als sehr wesentlich hat sich nach den Untersuchungen der Freiburger Musikphysiologen Bernhard Richter und Claudia Spahn die emotionale Einstellung des Musikers zu einem Stück erwiesen. Und natürlich Gehörschutzmassnahmen. Diese reichen von Notlösungen wie Watte über Schaumstoffstöpsel (Oropax) bis zu vorgeformten Gehörschützen. Für Musiker am sichersten und besten geeignet sind Otoplasten (Elacin), die entsprechend dem Gehörgang angefertigt werden und verschieden starke Dämpfung des Klangs anbieten. Generell sind alle Gehörschutzmassnahmen bei Musikern nicht sonderlich beliebt, da einerseits der Schutz gegeben sein sollte und andererseits die künstlerische Klangproduktion damit verändert wird. Es wird angenommen, dass ungefähr nur ein Sechstel aller Musiker sich schützt.

Zum Schluss bleibt mir mein beliebtes Zitat von Wilhelm Busch: Musik wird oft nicht schön empfunden, ist sie doch stets mit Lärm verbunden.

Dr. med. Daniela Gut

… ist Fachärztin FMH für ORL mit Praxis in Zürich

Wenn das Musizieren zur Qual wird

«Warnsignal Schmerz» hiess es anlässlich des 16. Symposiums der SMM am 27. Oktober in Luzern.

SMM — «No pain, no gain – Fortschritt muss leiden –, hiess es einst auch bei Musikstudierenden und ‑profis. Die Zeiten sind gottlob vorbei: Schmerzen werden heute vielmehr als Warnsignale des Körpers verstanden. Sie sind Aufforderungen, Proberoutinen, Haltung und mentale Einstellungen zu überprüfen. «Warnsignal Schmerz» war denn auch der Titel des 16. Symposiums der Schweizerischen Gesellschaft für Musik-Medizin und der Schweizerischen Interpretenstiftung im Marianischen Saal Luzern. In bewährter Art moderiert wurde der Anlass von der SMM-Präsidentin Martina Berchtold-Neumann. Sie bereicherte den Tag unter dem Motto «Urlaub vom Schmerz» überdies mit einer Erholungstrance

Dass die Konzepte Schmerz und Leiden getrennt werden müssen, zeigte zum Einstieg ins Thema der Psychiater Stefan Büchi auf, der als Ärztlicher Direktor der Privatklinik Hohenegg amtet. Er betonte wie wichtig es ist, herauszufinden, wie Betroffene Schmerzen subjektiv in ihr Leben integrieren. Erst wenn der Arzt, die Ärztin differenzierten Zugang zur den subjektiven Schmerzerfahrungen haben, sind Heilungsprozesse möglich. Dazu haben Büchi und ein schweizerisch-britisches Team eine Visualisierungsmethode entwickelt (Pictorial Representation of Illness and Self Mesure, PRISM). Sie erlaubt es, Krankheit, soziale und familiäre Situation sowie das Verhältnis zur Arbeit abstrakt-bildlich darzustellen. Damit können Patient und Helfende für einen Heilungsprozess von einem differenzierten gemeinsamen Blick auf das Schmerzerleben ausgehen.

Die in Halle (Saale) tätige Sportmedizinerin und Orthopädin Katja Regenspurger wies unter anderem darauf hin, dass rund die Hälfte aller Musikerinnen und Musiker mit muskuloskelettalen Beschwerden zu kämpfen hat. Verursacht werden sie auffällig häufig von Instrumenten mit asymmetrischer Spielweise, allen voran Querflöten und Violinen oder Bratschen, aber auch das Klavier provoziert überdurchschnittliche Überbeanspruchungen. Einfluss haben dabei die sogenannte isometrische statische Arbeit, etwas das Verbleiben in bestimmten Körperhaltungen, und die für Musizierende typischen repetitiven Beanspruchungen kleiner Muskelgruppen.

Die weit verbreiteten Rückenschmerzen sind in der Regel Folge einer mangelnden Balance‑ und Stabilisationsfähigkeit der tiefen Rückenmuskeln. Schmerzen vermieden werden können laut Regenspurger mit bewusster Übepraxis. Dazu gehören eine sinnvolle Pausengestaltung sowie das Aufwärmen und die Entlastung des muskuloskeletalen Systems durch mentales Üben. Keinesfalls sollte man in den Schmerz hinein üben oder das Spielpensum plötzlich steigern.

Aus der Praxis der Musikersprechstunden berichteten aus der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) Horst Hildebrandt, Oliver Margulies und Marta Nemcova und aus dem Luzerner Kantonsspital Urs Schlumpf. Da zeigte sich, dass die Schmerzproblematik wie viele andere gesundheitliche Probleme in der Musikpraxis heute höchst individuell angegangen wird. Entsprechende Beschwerdenanalysen sind, wie etwa das Beispiel einer Pianistin mit ungünstiger Handhaltung zeigte, aufwendig und erfordern ein hohes Mass an spezieller instrumentaltechnischer und physiologischer Kompetenz. Heute ist diese in den Schweizer Musikersprechstunden mittlerweile selbstverständlich.

Der Ulmer Neurophysiologe Robert Schleip wiederum wurde dem Luzerner Publikum auf modernem Weg per Video-Livestreaming zugeschaltet. Er präsentierte die neuesten Entwicklungen in der Faszienforschung. Ihre Bedeutung auch für die Schmerzproblematik wird immer mehr erkannt. Die Faszien – eng mit dem vegetativen Nervensystem verbundes Bindegewebe – verfügen über sehr viel mehr Bewegungssensoren und Schmerzrezeptoren, als sich in den Muskeln und Gelenken finden lassen und tragen damit wesentlich zur Schmerzproblematik bei.

Warnsignal Schmerz

Das 16. Symposium der SMM und der SIS beschäftigt sich in Luzern mit einem Thema, das keinesfalls verdrängt werden sollte.

SMM — Schmerzerfahrungen gehören zum Musikeralltag. Sie können Karrieren behindern oder gar beenden. Es sei denn, man versteht sie als Signale, künstlerische Ambiti-onen oder berufliche Verpflichtungen so zu steuern, dass Gesundheit und Unversehrtheit des Leibes nicht gefährdet werden. Galt früher einmal Durchbeissen und Ignorieren von physiologischen und körperlichen Widerständen als Zeichen falsch verstandener Professionalität, ist heute klar, dass nur kluge, informierte Rücksicht auf das eigene körperliche Wohlergehen ein langes und befriedigendes Musikerleben gewährleisten kann.

Am Symposium der SMM weist der Psychiater und Psychotherapeut Stefan Büchi – er ist Ärztlicher Direktor der Privatklinik Hohenegg –darauf hin, dass Schmerz nie ein isoliert zu betrachtendes körperliches Phänomen ist, sondern eine Grunderfahrung, die gleichermassen kognitive, emotionale und soziale Aspekte beinhaltet. Dazu diskutiert er die Konsequenzen dieses Schmerzverständnisses für die Therapie.

Anke Steinmetz, die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin (DGfMM), wird darlegen, dass neben einseitigen und oft lang andauernden statischen Belastungen auch instrumentenspezifische und ergonomische Aspekte in der Schmerzentwicklung eine wichtige Rolle spielen. Erfolgreiche Therapien chronischer Schmerzsyndrome, so die Fachärztin für Physikalische und Rehabilitative Medizin, erfordern in der Regel multimodale interdisziplinäre Behandlungskonzepte.

Aktuelle Erkenntnisse der internationalen Bindegewebsforschung mit Relevanz für die Musik-Medizin präsentiert Robert Schleip, der Leiter der Forschungsgruppe für Faszien an der Universität Ulm. Faszien (Bindegewebe) bilden ein feinmaschiges Geflecht, das Muskeln, Knochen und Organe umhüllt und durchdringt. Sie finden sich aber auch in der Haut, in den Knorpeln, den Knochen, den Gelenken, den Sehnen sowie in Gehirn und Rückenmark. Schleip erörtert unter anderem das Präventive Faszientraining zur Vorbeugung gegen Überlastungsschäden und die Rolle der faszialen Mechanorezeptoren für die propriozeptive Körperwahrnehmung.

Eine Präsentation ist praktischer Anleitung zur Selbsthilfe gewidmet. Die Spezialisten Horst Hildebrandt, Oliver Margulies und Marta Nemcova von der Musikersprechstunde der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) zeigen das Repertoire von Selbsthilfemöglichkeiten auf – neben sogenannten Engpassdehnungen und Selbstmassagetechniken unter anderem ein optimiertes Zusammenwirken von feinmotorischen Komponenten mit einer geordneten Stütz- beziehungsweise Haltungsmotorik.

Erfahrungen aus der Musikersprechstunde des Luzerner Kantonsspitals steuern in einer zweiten Präsentation Urs Schlumpf, Beate Walter und Katja Bucher bei. Sie zeigen auf, wie lokal muskuläre Überforderungen sich mit technischen Fehlern vermischen.

Eine nachhaltige Rehabilitation gelingt dabei nur dank einer interdisziplinären Vorgehensweise, bei welcher der diagnostizierende Arzt, die behandelnde Physio- oder Ergotherapeutin und der zuständige Musikpädagoge zu einer unité de doctrine gelangen.

Für die von der SMM-Präsidentin Martina Berchtold-Neumann moderierte Veranstaltung im Marianischen Saal in Luzern werden 5 SGARM Credits vergeben. Anmelden kann man sich bis am 15. Oktober über die Webseite der SMM am Ende der Symposiums-Seite (www.musik-medizin.ch/aktuelles-symposium) oder im Sekretariat der SMM.

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