Digitale Zugänge zum 17. Jahrhundert

Eine Kooperation von gegenwärtig 22 deutschen Bibliotheken macht über 100’000 von den rund 300’000 im Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts online verfügbar. Die Materialsammlung ist auch für die Musikforschung ergiebig.

Foto: Katharina Wieland Müller / pixelio.de,SMPV

Die meisten dieser Einrichtungen folgen unter der Federführung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel einem Masterplan zur Gesamtdigitalisierung der Drucke des 17. Jahrhunderts. Er sorgt dafür, dass flächendeckend und ausgewogen digitalisiert wird, dass Doppeldigitalisierungen vermieden werden und dass alle teilnehmenden Einrichtungen je nach Leistungsfähigkeit und Bestandsumfang Titel beitragen können.

Die Transformation der in deutschen Bibliotheken aufbewahrten Drucke in digitale Form schaffe die Grundlage für neue Forschungsfragen, schreiben die Verantwortlichen. Die systematische Digitalisierung der schriftlichen Quellen sei eine zentrale Voraussetzung nicht nur für den ungehinderten Zugang zu Werken der kulturellen Überlieferung für jedermann, sondern auch für die Weiterentwicklung der Digital Humanities beziehungsweise der digitalen Geisteswissenschaften.

Mehr Infos: www.vd17.de

 

Ein Klavier auf Reisen

Stile aus den verschiedensten Teilen der Welt werden hier zum Ausgangspunkte für Improvisationen.

Foto: Marcus Winkler/pixelio.de

Wer auf Reisen geht, orientiert sich oft an einem Fahrplan, muss aber immer wieder improvisieren können und sich auf Neues einlassen. – Und genau dies ist das Anliegen von Andreas Hirche in Ein Klavier geht auf Reisen, erschienen bei Breitkopf Pädagogik. Die sorgfältig ausgesuchten Beispiele sind mit Schwierigkeitsgraden versehen und geben dem Spieler eine Art Fahrplan zu vielen kleinen Improvisier-Inseln, auf denen es dann zu verweilen gilt. Die Auswahl richtet sich an alle, die sich angesprochen fühlen von Weltmusik und die offen sind, Neues zu entdecken und auszuprobieren. Ob eher meditativ in sich gekehrt wie in der japanischen Musik oder lebhaft und extravertiert wie in der Musik des Balkans oder Südamerikas, für jeden Geschmack gibt es etwas zu finden.

Der Autor versteht das Heft als eine Art Klavierschule und gibt mit diesem Ansinnen eine Fülle von sehr hilfreichen Hinweisen. Einerseits Hintergrundwissen zu den verschiedenen Stilen, aber auch spieltechnische Hilfen und Überlegungen zu Aspekten wie «Balance zwischen Üben und Spielen», «Flow», ,«Technik» oder «Problem mit der Unabhängigkeit». Darüber hinaus findet man im Anhang ein ausführliches Glossar der wichtigen Fachbegriffe, und eine beigelegte CD gibt die Möglichkeit, die Stücke zu hören und zu Play-alongs im mp3-Format das Improvisieren zu üben.

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Andreas Hirche, Ein Klavier geht auf Reisen. Weltmusik, Rhythmus, Improvisation, EB 8819, mit CD, € 24.90, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2014

Nach Westen und zurück

«Eldorado» und «American Dream» – diese Schlagworte haben im Zeitalter von Globalisierung und Internet ihre Faszination längst eingebüsst. Umso mehr interessiert die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen dem Westen und uns.

Nach Westen und zurück

«Eldorado» und «American Dream» – diese Schlagworte haben im Zeitalter von Globalisierung und Internet ihre Faszination längst eingebüsst. Umso mehr interessiert die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen dem Westen und uns.

Editorial

Focus

«Ausgezeichnet, aber er übt viel zu viel»
Walter Furrer über seine Studienjahre in Paris

Melting Pomme
Jazzmen et Jazzwomen suisses aux Etats-Unis
Deutsche Zusammenfassung

La pluralité constitue la musique américaine
Henry Cowell, Lou Harrison, Alan Hovhaness et Harry Partch

Alle brasilianische Musik ist melancholisch
Interview mit Luiz Alves da Silva

Genf – Paris, zweimal hin, einmal zurück
Pierre Wissmer und sein Leben zwischen Rhone und Seine

 

… und ausserdem

RESONANCE

Si le festival est beau à voir, il sera beau à entendre : La Côte flûte festival

Décloisonner la profession de luthier : « Strings attached » à Berne

Im Vorbeigehen mitspielen: Novoflot vor dem Berliner Volkstheater

Naturhorn zwischen Plattenbauten: Die Schweiz an der 13. Pyramidale

Wer hat die Kulturbotschaft gelesen?

Stimmen für die SMZ!
Les voix s’élèvent pour la RMS

Carte Blanche mit Andreas Kolbe

Rezensionen Klassik, Lokales und Globales – Neuerscheinungen

 

CAMPUS


Musique à l’hôpital psychiatrique

Dieses Haus vibriert: Die ZHdK ist ins Toni-Areal gezogen

Rezensionen Unterrichtsliteratur – Neuerscheinungen

klaxon Kinderseite
 

FINALE


Rätsel:
Michael Kube sucht
 

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Genf – Paris, zweimal hin, einmal zurück

Pierre Wissmers Kammermusik und nicht weniger als neun Sinfonien sind heute fast vergessen. Ein Anlass, sein Leben zwischen Rhone und Seine, zwischen Salons und Institutionen Revue passieren zu lassen.

Pierre Wissmer (1915-1992) Foto: zVg
Genf - Paris, zweimal hin, einmal zurück

Pierre Wissmers Kammermusik und nicht weniger als neun Sinfonien sind heute fast vergessen. Ein Anlass, sein Leben zwischen Rhone und Seine, zwischen Salons und Institutionen Revue passieren zu lassen.

Sohn eines Arztes und einer Russin aus reichem Haus, besucht Pierre Wissmer in Genf, seiner Heimatstadt, das Konservatorium. Er spielt Klavier, ist aber rasch angezogen von der Komposition, auch wenn ihn der altmodische Akademismus seines Harmonie- und Kontrapunktlehrers enttäuscht. Mit dem Einverständnis seiner Eltern fährt er nach Paris, wo er an der Schola Cantorum die Schweizer Pianistin Jacqueline Blancard kennenlernt. Sie will den jungen Mann auf die Aufnahmeprüfung für das Conservatoire national supérieur vorbereiten. Die Nacht vor dem Examen verbringt Wissmer jedoch an einer ausgelassenen Feier – und fällt durch. Er schreibt sich nun an der Schola Cantorum ein, wo er bei Lazare Lévy Klavier und bei Daniel Lesur Kontrapunkt studiert. In dieser Zeit reift der Entschluss, Komponist zu werden. Als Hörer verfolgt er am Conservatoire die Vorlesungen von Roger Ducasse.

Als hübschem jungem Mann mit immer tadellosem Äusseren stehen ihm die Türen der besseren Kreise offen. Durch die Vermittlung von Pierre Guérin lernt er Igor Strawinsky, Francis Poulenc, Pierre Bernac, Henri Sauguet, Jean Cocteau, François Mauriac, Hervé Dugardin, Christian Bérard und Leonor Fini kennen, ebenso den berühmten Musikkritiker Claude Rostand. Wissmer liebt es, in dieser Gesellschaft Aufsehen zu erregen, was ihm als Rennvelofahrer, Alpinist und Wasserskifahrer nicht schwer fällt. Sein schickes Auto, ein Delage, das König Carol II. von Rumänien gehört haben soll, trägt zum Erscheinungsbild bei.

Schon seine Jugendwerke strahlen eine überschäumende Energie aus. Sein erstes Klavierkonzert, geschrieben mit 22 Jahren, wird von Alexandre Uninsky und dem Komponisten selbst in einer Version für Klavier zu vier Händen in Brüssel uraufgeführt. 1938 dirigiert Hermann Scherchen Wissmers 1. Sinfonie in Winterthur. Im Folgejahr entsteht das einaktige Ballett Le beau dimanche, das 1944 von Ernest Ansermet auf die Bühne des Grand Théâtre de Genève gebracht wird. Ansermet wird zur entscheidenden Persönlichkeit, die immer wieder Opern, Ballette, aber auch Orchesterwerke Wissmers in Genf zur Aufführung bringt. Auch Edmond Appia, der Dirigent des Radio-Orchesters in Genf, trägt zu dessen Bekanntwerden bei.

1944 wird Wissmer Kompositionslehrer am Conservatoire de Genève und Chef der Abteilung Kammermusik beim Genfer Radio. Dort werden auch seine ersten kammermusikalischen Werke, etwa die Sonatine für Violine und Klavier (1946), aufgeführt. Sein grosses Interesse gilt den Zeitgenossen Ligeti, Messiaen, Dutilleux und Lutoslawski. Bereits 1951 verlässt Wissmer Genf jedoch wieder, er wird zum Programmdirektor des Luxemburger Radios und Fernsehens ernannt. Dieser Posten bleibt ebenfalls Zwischenstation. 1957 kehrt er als Vize-Direktor und Lehrer für Komposition und Orchestration an die Schola Cantorum von Paris zurück. Er ersetzt dort Daniel Lesur, der zum Direktor der Pariser Oper aufsteigt. Wissmer bleibt nun in Frankreich, nimmt die französische Staatsbürgerschaft an. Er hält sich auch gern in der Provence auf. Dort, im Weiler Valcrose, komponiert er sein Concerto Valcrosiano, ein viersätziges Orchesterwerk, das 1966 uraufgeführt wird. Wissmer stirbt in Valcrose 1992.

Wissmers Musik zeichnet sich durch eine energische, zugespitzte Tonsprache aus. Seine Orchesterwerke zeigen markante Abstufungen und kontrastierende Klangfarben. Dies wird ganz besonders deutlich in der 5. und 6. Sinfonie (komponiert 1969 und 1975-77), die von der Schwere und Tragik des menschlichen Schicksals geprägt sind.

In den letzten Jahren ist beim Label Naxos und bei Marcal Classics eine ganze Reihe von Aufnahmen mit den Werken Wissmers neu erschienen, so alle neun Sinfonien, Klavier- und Violinkonzerte, Kammermusik für Gitarre und für Gesang und das Oratorium Le quatrième mage (Der vierte König).

Für das Jubiläumsjahr 2015 ist ein Buch von Pierrette Germain-David und Jean-Jacques Werner mit dem Titel Pierre Wissmer un compositeur du XXème siècle angekündigt.

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In den Big Apple beissen

Sie sind talentiert, solide ausgebildet, in der hiesigen Szene aktiv – und dann verabschieden sie sich für eine Weile oder definitiv. Was bringt Jazzmusikerinnen und -musiker dazu, sich in Amerika niederzulassen, insbesondere in New York?

Ohad Talmor. Foto: Elena Carminati
In den Big Apple beissen

Sie sind talentiert, solide ausgebildet, in der hiesigen Szene aktiv – und dann verabschieden sie sich für eine Weile oder definitiv. Was bringt Jazzmusikerinnen und -musiker dazu, sich in Amerika niederzulassen, insbesondere in New York?

Kaum hatte die Pianistin Sylvie Courvoisier das Konservatorium in Vevey abgeschlossen, als sie sich in den Hexenkessel zeitgenössischer Musik in Brooklyn rund um John Zorn stürzte. Teil dieser Welt geworden, hat sie bis heute etwa dreissig CDs mit den grossen Namen der Szene aufgenommen: Ellery Eskelin, Fred Frith, Joey Baron … Zusammen mit ihrem Mann, dem Geiger Mark Feldman, tritt sie überall auf der Welt auf.

Einige wagen den Sprung über den grossen Teich, um ihre Ausbildung weiterzuführen. Der Mundharmonikaspieler Gregoire Maret, der das Conservatoire Supérieur de Musique de Genève abgeschlossen hat, spielt heute mit Cassandra Wilson, George Benson, Marcus Miller, Elton John und Sting. Er ist eine Grösse auf seinem Instrument wie Toots Thielmans.

Vor ihnen hatte sich beispielsweise Daniel Schnyder in New York niedergelassen. Er komponiert Kammermusik, arrangiert und produziert Jazz. Kürzlich war er vom Orchestre de Chambre de Lausanne für eine Carte-blanche-Abend eingeladen. Das lässt sich oft feststellen: Wenn sich die Ausgewanderten etabliert haben, kommen sie zurück, sei es als begehrte Gäste, sei es, um sich wieder hier niederzulassen wie der Saxofonist George Robert. Nachdem er zusammen mit dem legendären Phil Woods und später mit dem fabelhaften Trompeter Tom Harrell auf der ganzen Welt gastiert hatte, liess sich der Genfer in Bern nieder, wo er während zehn Jahren die Swiss Jazz School leitete. Heute ist er verantwortlich für die Abteilung Jazz der Musikhochschule Lausanne.

Bei einer Musik, die aus Nordamerika stammt, ist dieser Austausch keineswegs erstaunlich. Nach Konzerten von Duke Ellington und Sydney Bechet auf dem alten Kontinent und der nachfolgenden Bebop-Welle wurden in den Sechzigerjahren hierzulande Jazzschulen gegründet. Die Swiss Jazz School in Bern war europaweit die erste. Heute ist angesichts der immer dichteren Durchdringung von amerikanischen und europäischen Praktiken kaum mehr zu sagen, wer wen auf welche Weise beeinflusst.

«Musikalisch bringen die USA nichts»

Ohad Talmor ist einer dieser Grenzgänger. Er lebt in Brooklyn und unterrichtet einmal pro Monat per Skype am Genfer Konservatorium. Sowohl seine Schulzeit wie seine musikalische Ausbildung hat er teilweise in der Schweiz, teilweise in den Vereinigten Staaten absolviert – in der Klassik und im Jazz. Martha Argerich und Steve Swallow waren seine Lehrer, aber auch Lee Konitz, mit dem er sechs CDs aufgenommen hat und um die Welt getourt ist. Angesprochen auf den Einfluss amerikanischer Spielweisen sagt er kategorisch: «Musikalisch bringen die USA nichts. (…) Es ist die einmalige Konzentration ausserordentlich guter Musiker, die den Aufenthalt wertvoll macht.»

Einen Unterschied sieht Talmor bei der wirtschaftlichen Seite: «Das Geschäft hat in den USA immer die Oberhand. Die Musik wird vor allem als ‹Entertainement› betrachtet, als Kunst hat sie einen schweren Stand. Die Gagen sind deutlich tiefer als in Europa und Konzerte werden von einigen Begeisterten aus eigener Initiative durchgeführt.» Einen Veranstaltungsort, der auf Kreation setzt, hat Talmor gleich selbst mitgegründet: das Seeds in Brooklyn. Vor allem improvisierte Musik steht auf dem Programm, und regelmässig sind auch einige Schweizer zu Besuch, beispielsweise Jacques Demierre, Nicolas Masson oder Jean-Lou Treboux.

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Wo ist der Westen?

Amerika hat Generationen von Europäern zum Träumen gebracht. Schweizer ganz besonders. Auch wenn wir uns das heute kaum vorstellen können: Bis ins 19. Jahrhundert starben in unserem Land Menschen vor Hunger. Auswandern war überlebensnotwendig. So entstand 1819 in Brasilien die Stadt Nova Friburgo, gegründet von 265 Familien aus der Schweiz, in einer Region, deren Klima demjenigen ähnelte, das sie verlassen hatten. In den Vereinigten Staaten gibt es nicht weniger als 16 Städte oder Dörfer namens «Luzern» und selbstverständlich finden sich auch einige «Geneva».

Mit der Wende zum 20. Jahrhundert verlor das «Eldorado» an Glanz; die USA, der «American Dream», wurden zum Inbegriff des faszinierenden Westens. Das galt auch für Musiker, Dvořák etwa, der von 1892 bis 1896 Direktor des Konservatoriums in New York war und dort seine Sinfonie aus der Neuen Welt schrieb, ein so emblematisches Stück, dass es Neil Armstrong später auf dem Mond hinterlegte. Im Musical West Side Story träumten puertoricanische Einwanderer den amerikanischen Traum, und in der Popmusik besangen etwa Joe Dassin L’Amérique, die Mamas & Papas versanken in California Dreamin’ und Patrick Juvet schwärmte: I love America.

Das alles scheint heute weit weg; Amerika bringt uns nicht mehr zum Träumen. Die Globalisierung und das Internet haben den technologischen und sozialen Vorsprung jenseits des Atlantiks dahinschmelzen lassen. Angesichts der heutigen wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten blickt kaum jemand mehr neidisch nach Westen.

Das Thema dieser Nummer wird dadurch noch vielschichtiger. Es sind die unzähligen Wechselwirkungen mit dem Westen, die uns beschäftigen: sei es im Jazz, sei es in den Eindrücken eines jungen Deutschschweizer Komponisten, der das Pariser Musikleben bestaunt, sei es im Hin und Her der brasilianischen Musik im Laufe der Jahrhunderte. Vier amerikanische Komponisten, die hierzulande noch zu entdecken sind, runden den Focus ab.

Brechen wir also auf zur (Wieder-)Entdeckung des Westens!

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Meine Studienjahre in Paris

Der Schweizer Komponist Walter Furrer (1902-1978) war in den 1920er-Jahren Student an der Ecole Normale de Musique. In einem autobiografischen Text schildert er seinen Werdegang, die Enge des damaligen Musikverständnisses, und er gibt einen Einblick ins Musikleben der französischen Metropole.

Anfang der Siebzigerjahres des 20. Jahrhunderts schrieb der Schweizer Komponist Walter Furrer unter dem Titel Meine Studienjahre in Paris einen 13 Seiten umfassenden autobiografischen Text, der 1972 anlässlich seines 70. Geburtstags als zweiteilige Sendereihe von Radio DRS, Studio Bern, ausgestrahlt wurde.

In ihrer November-Nummer 2014 veröffentlichte die Schweizer Musikzeitung aus dem letzten Drittel dieses Aufsatzes einige Passagen, die herausragende Musikerpersönlich-
keiten im Paris der Zwanzigerjahre aus dem Blickwinkel eines damaligen Studenten der Ecole Normale de Musique authentisch beleuchten.

Der vollständige Text als pdf: Meine Studienjahre in Paris
Bildlegende: Im Herbst 1965 treffen sich Walter Furrer (vor dem Fenster, im Profil) und Nadia Boulanger (2. von links) im Haus von Willi Gohl wieder.

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Klassik schöpft Publikumspotential nicht aus

Am diesjährigen Deutschen Orchestertag haben sich die Kulturmanager zur Zukunft der klassischen Musik zuversichtlich gezeigt. Das Marktpotential sei enorm: Fast 90 Prozent der Deutschen bezeichneten sich als klassikaffin, aber nur ein Bruchteil davon besuche Konzerte.

Foto: © Bettina Fürst-Fastré, Köln

Neue Vermarktungswege, insbesondere im Online-Bereich, spielten eine immer wichtigere Rolle, schreiben die Verantwortlichen. Die Qualität sei entscheidend, aber Marketing- und Vertriebsinstrumente aus der kommerziellen Wirtschaft müssten auch beim klassischen Konzert angewendet werden. Als exemplarisch wurde die erfolgreiche Marketingstrategie des Konzerthauses Dortmund und seines Intendanten Benedikt Stampa gezeigt. Ihm zufolge könne der Anteil von 3 Prozent aller Haushalte, die sich aktiv am Konzertleben in Deutschland beteiligen, durch entsprechende Veränderungen um das Doppelte gesteigert werden.

Dieter Haselbach, Professor am Zentrum für Kulturforschung in Berlin und Mitautor des Buches «Der Kulturinfarkt», stellte die behauptete Marktverdoppelung in Frage. Die Generation Pop gehe den Konzerthäusern verloren, auch durch entsprechende Marketing-Massnahmen und Emotionalisierungsstrategien könne dieser Verlust nicht aufgefangen werden. Er fordert eine entsprechende planvolle Gestaltung des Orchesterrückbaus.

Als Beispiel aus der Praxis für neue Vermarktungswege in Hinblick auf ein optimales Kundenbindungsmanagement gaben Experten für Software-Lösungen fundierte Einblicke in ihre Verkaufssysteme: Lutz Rosteck von der Firma eventim.Inhouse aus Hamburg, europäischer Marktführer im Vertrieb für Eintrittskarten, setzt einen besonderen Fokus auf eine erfolgreiche Besucherbindung. Sebastian Preuss berichtete über das Vertriebssystem der ROC GmbH, die bereits 90 Prozent des Publikums über den Onlineverkauf erreicht.

Mehr Infos: www.deutscher-orchestertag.de
 

Orchestrale Raritäten

Werke von Othmar Schoeck, Ernst Widmer und Adolf Brunner liegen hier teilweise als Ersteinspielung vor.

Othmar Schoeck. Foto: Breitkopf & Härtel

Es sind rare Ereignisse, wenn Orchesterwerke von Schweizer Komponisten angekündigt werden, zu sehr hängt diesen der Geruch des Epigonentums, des Romantischen und Klassizistischen zur Unzeit, nach. Beheben kann diesen «Makel» die Einspielung von Werken Othmar Schoecks, Ernst Widmers und Adolf Brunners nicht, die das Royal Scottish National Orchestra unter Leitung des Schweizer Dirigenten Rainer Held bei Guild vorlegt. Aber ein Hörvergnügen ist sie trotzdem.

Was man bei Schoeck (1886–1957) zu erwarten hat, weiss man schon vor dem Anhören des Festlichen Hymnus op. 64 und der Ouvertüre zu William Ratcliff op. 29, die als Weltersteinspielungen präsentiert werden. Die 1950 und 1908 entstandenen Werke leben von einem spätromantischen Duktus, von zum Teil geradezu «süffigen» Momenten, pathetischen Gesten und einer Behandlung des Orchesters, die – besonders bei der Ouvertüre – stark an Liszt orientiert ist. Trotzdem, hörenswert ist das allemal, vor allem auch weil die Interpreten engagiert für diese Musik einstehen.

Rainer Held, der sich als Orchester- wie Chordirigent einen Namen gemacht hat, scheint geradezu prädestiniert für diese Musik voller Dramatik und hymnischer Melodik. Im Gegensatz dazu ist das Concerto für Piano, Percussion und Orchester op. 160 des nach Brasilien ausgewanderten Ernst Widmer (1927-1990) stark rhythmisch aufgeladen. Das Werk wurde 1988 in Zürich durch Emmy Henz-Diémand am Flügel und Michel Tabachnik uraufgeführt. In der vorliegenden Einspielung hat es allerdings nicht den Drive von damals. Das mag am Pianisten Fali Pavri liegen, der den perkussiven Zugriff von Emmy Henz, der grossen Fürsprecherin Widmers, nicht erreicht. Neben mitreissenden Momenten wirkt das Werk zuweilen auch etwas heterogen und langatmig.

Adolf Brunner (1901–1992) gehörte zu einer Generation von Schweizer Komponisten, die stark zum Neoklassizismus tendierten und regelmässig für die damals aufkommenden Kammerorchester komponierten. Umso erstaunlicher ist die hier eingespielte Partita für Klavier und Orchester (1938/1939), die, der Tonalität verpflichtet, neben typisch klassizistischen Passagen immer wieder zu grossen Gesten findet. Wie Chris Walton in einem aufschlussreichen Booklettext festhält, erinnert sie darin zuweilen an Brahms.

Alles in allem liegt hier eine spannende, mitreissend interpretierte Trouvaille vor.

Orchestral Masterworks from Switzerland: Schoeck, Widmer, Brunner. Royal Scottish National Orchestra; Rainer Held, Leitung; Fali Pavri, Klavier. Guild GMCD 7403

Gutturaler Gesang im Heavy Metal

Gesang ist stärker von
physiologischer Befindlichkeit und körperlichem
Allgemeinzustand abhängig als jede andere musikalische Aktivität, erst recht der
sogenannt gutturale Gesang.


Beim gutturalen Gesang handelt es sich um Kehlgesang, der mit den Taschenfalten («falschen Stimmlippen») gebildet wird. Die Taschenfalten sind zwei waagrecht übereinander liegende Faltenpaare im Kehlkopf, direkt oberhalb der tatsächlichen Stimmbänder. Sie werden normalerweise zum Luftanhalten oder Räuspern gebraucht.


Der Kehlgesang wird in vielen Kulturen verwendet um den normalen Stimmumfang eine Oktave nach oben oder unten zu erweitern. Die Stimme wird durch die Vibrationen der Taschenfalten rau und etwas verzerrt und erinnert an den Klang eines Didgeridoos. Ein ähnlicher Effekt kann durch den Einsatz des sogenannten Strohbass-Registers (auch Puls- oder Schnarr-Register) erreicht werden, das tiefste Stimmregister, in dem die Stimmbänder so locker sind, dass die einzelnen Schwingungen als eine Art Knattern oder eben einzelne Pulse wahrgenommen werden.


Gutturaler Gesang wird aber auch in moderner Musik, vorwiegend im extremen Metal, eingesetzt. Die Stimmtechniken werden vorwiegend als «Growling», «Screaming» oder «Shouting» bezeichnet, je nach Tonhöhe und Anteil an «Stimme», dem Verhältnis von Stimmbändern zu Taschenfalten. Es werden also meistens sowohl Taschenfalten als auch Stimmbänder benutzt. Je nachdem, ob der Ton beim Ein- oder Ausatmen erzeugt wird, spricht man zwischen «Inhale-» und «Exhale-Screams». Es gibt noch zahlreiche weitere Bezeichnungen und Varianten von gutturalem Gesang im Metal.


Growling (dt. Knurren) erinnert an das Knurren eines Tieres und wird vor allem im Death Metal und im Grindcore eingesetzt. Der Anteil der Stimmbänder variiert stark, vor allem beim Grunting (Grunzen), der tiefsten Variante, kommen sie kaum zum Einsatz. Screaming (dt. Schreien, Kreischen) ist meistens hochfrequent, benutzt fast ausschliesslich die Taschenfalten und wird hauptsächlich im Black Metal verwendet. Shouting kommt bevorzugt im Thrash Metal und Hardcore vor und zeichnet sich durch einen hohen Anteil Stimmbänder aus. Bei dieser Form des gutturalen Gesangs ist die Gefahr, die Stimme zu schädigen, am höchsten, denn die Stimmbänder werden stark beansprucht.


Es kann bei der hohen Intensität und Lautstärke und den extremen Tonlagen in diesem Musikgenre schnell zu einer Überbelastung der Stimme kommen, die sich in Heiserkeit – temporär oder dauerhaft ‒, Halsschmerzen oder im schlimmsten Fall Blut im Mund äussern kann. Kommt dies mehrfach vor, können langfristige Schäden an den Stimmbändern nicht ausgeschlossen werden. Sie können zu einer Dysphonie oder schlimmstenfalls gar zu einer Aphonie führen.


Für typische «Sängerkrankheiten» ist auch der Metal-Gesang anfällig. Es sind dies Rhinitis (Schnupfen), Pharyngitis (Rachenentzündung), Laryngitis (Kehlkopfentzündung), Tonsilitis (Mandelentzündung), Tracheitis (Luftröhrenentzündung), Bronchitis, Sinusitis (Kieferhöhlenentzündung), Knötchen oder Ödeme auf Stimmbändern sowie vergrösserte Mandeln infolge mehrfacher Tonsilitis. Diese Erkrankungen können, auch wenn sie nicht aufgrund falscher Stimmanwendung entstanden sind, die Stimme beeinträchtigen. Es ist daher wichtig, diese bis zur vollständigen Ausheilung zu schonen.


Das grosse Problem bei der Anwendung gutturaler Gesangstechniken: Es fehlt an Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten und einer einheitlichen Theorie, was daran liegt, dass er zum einen selten verwendet, zum anderen auch oftmals nicht wirklich als Kunstform anerkannt, sondern als «Lärm» verlacht wird. Es empfiehlt sich also, auch wenn man «nur» Growlen oder Screamen möchte, Gesangsstunden zu besuchen, um die Grundlagen von Atmung und Gesangstechnik zu erlernen. Ausserdem ist es ratsam, präventiv die Grundsätze der Stimmhygiene zu befolgen, genauso wie beim klassischen Gesang oder bei anderen Berufen, welche die Stimme stark beanspruchen. Gänzlich ohne Stimmbänder kommen nämlich auch Metal-Sänger und -Sängerinnen nicht aus.


Naturhorn zwischen Plattenbauten

Das Motto des Herbstfestivals für Neue Musik und interdisziplinäre Kunstaktionen in Berlin-Marzahn lautete «Durst».

Das Hochhaus beherbergt das Ausstellungszentrum Pyramide. Foto: Andreas Steinhoff

Das Tram ist voll besetzt bei der Sonderfahrt zur Pyramidale. Das Festival für Neue Musik und interdisziplinäre Kunstaktionen findet seit 2001 im Berliner Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf statt, in der mit rund einer Viertelmillion Einwohnern grössten Plattenbausiedlung Europas.

Mit von der Partie ist hier ein Aerofon: Ein Gewirr aus Schläuchen durchzieht den Wagen, ein Generator pumpt Luft durch Orgelpfeifen. Es brummt und fiept und haucht im Duett mit dem Strassenbahnklang. Dazu improvisiert die Violinistin Biliana Voutchkova, imitiert das Quietschen, setzt staccato-artige Akzente. Der Experimentalmusiker Thomas Noll im weissen Arbeitsoverall zieht die Register seines Instruments, spielt auf einzelnen Orgelpfeifen und setzt auch bunte kleine Plastikspielzeuge zur kontrastierenden Klangerzeugung ein. Die Musiker bewegen sich durch den Wagen, verändern so den Klangraum. Und auch draussen verändert sich alles: Von der Mitte Berlins über den Alexanderplatz fährt das Tram eine Stunde lang immer weiter hinaus durch Industriegebiete bis mitten hinein in die Plattenbauten Marzahns. Aus dieser Tramophonie steigt das Publikum und ist in einer anderen Welt angekommen.

Überfliessende Möglichkeiten
Bei der 13. Pyramidale war wie schon 2010 die Schweiz mit einigen Interpretinnen und Interpreten sowie Komponisten zu Gast, und als Hauptthema stand über allem: Durst. Am ersten Abend gelangte das durstthema mit variationen mit Texten der Thüringer Autorin Kathrin Schmidt zur Uraufführung. völkisch lampedusisch fügsam ländlich greinend dunkel impulsiv, so waren die sieben Teile überschrieben, die von sieben Komponisten in Kammerbesetzung vertont wurden. Besonders ragte das Stück Stundlos von Katia Guedes heraus, ein Duett für Saxofon (Meriel Price) und Sopran (Franziska Welti). «Als ich dich lieben wollte», heisst es da im Text, und das Hauchen des Saxofons verschmilzt mit dem Hauchen der Stimme wie in einer Umarmung. Die Klappen des Saxofons nehmen den Sprachrhythmus auf, Instrumenten- und Stimmklang schmiegen sich umeinander und durchdringen sich, so dass ein geradezu erotisches Stück Musik entsteht.

Präsentiert werden die sieben Stücke in einer minimalistischen Inszenierung. Der Regisseur Holger Müller-Brandes beschränkt sich darauf, im kargen Glasraum des Ausstellungszentrums Pyramide verschiedene Spielorte für die einzelnen Teile einzurichten und damit den räumlichen Eindruck zu verändern. Franziska Welti und der Sprecher Christian Bormann tauschen spannungsreiche Blicke aus, stossen mit Wein an, am Ende zerbricht ein Glas. Seltsamerweise wirken diese Spielszenen trotz der Kürze etwas aufgesetzt und bemüht. Da wäre das Vertrauen auf Text, Musik, Raum, Stimmung und Stimme doch mehr gewesen.

Auch nach der Pause wird noch ein umfangreiches Programm geboten, bei dem sich die Musiker des Ensembles JungeMusik Berlin auch solistisch beweisen können. In Interludium von Sarah Nemtsov für Oboe und Elektronik, in dem die elektronisch vervielfältigten Oboenstimmen geisterhaft durch den Raum schweben, stellt die Oboistin Antje Thierbach ihr Können vor. In Albedo von Helmut Zapf aus dem Jahr 2001 glänzt Martin Glück an den Flöten. Der Einsatz der Elektronik wirkt in diesem Stück jedoch leider etwas plump und zu laut.

Die Uraufführung Irrwege von Johannes K. Hildebrandt lässt an das nervöse Eilen durch ein Labyrinth denken. Albtraumhaft, flatterhaft, zitternd, wechseln sich hektische Impulse mit gespannten Pausen und nervösen Läufen ab, um am Ende langsamer zu werden, wie der erschöpfte Herzschlag eines ewig Verirrten, wie ein Aufgeben, Ausatmen.

Einen beeindruckenden Abschluss bildet das Stück Aus der Wand die Rinne von Juliane Klein. Violoncello, Oboe, Klarinette, Saxofon und Flöte sind einzeln im Raum verteilt und spielen parallel mehrere Solostücke. Jeder Solist spielt im jeweils eigenen Tempo. Der Klang der verschiedenen Instrumente, mischt sich gut in dem kargen Glasraum. Am Ende bleibt allein das Cello (Vladimir Reshetko) übrig. Die freie Zusammensetzung des Stückes ermöglicht, dass das Spiel an einem anderen Tag ganz anders klingen, ganz anders ausgehen könnte. Das Wissen darum legt sich über das Gehörte wie eine leicht verschobene Möglichkeits-Schicht.

Fairer Markt für digitale Musikangebote

Der Conseil International des Créateurs de Musique (CIAM) schlägt ein Verteilmodell für Einnahmen aus dem Digitalmarkt vor, das sich am Vorbild der Fairtrade-Initiativen orientiert.

Foto: Marc Dietrich – Fotolia.com

Das Modell Fair Trade Music soll neben Offenheit des Marktzugangs für alle eine faire Abgeltung und Transparenz der Marktstrukturen sicherstellen. Insbesondere sollen die Produzenten selber an den Markt-Verhandlungen beteiligt werden, und sie sollen an Angeboten auf Streaming-Plattformen angemessen mitverdienen.

Die 1966 gegründete CIAM (Conseil International des Créateurs de Musique) ist eine ursprünglich europäische Organisation, die im Rahmen internationaler Urheberrechtsorganisationen die Interessen der Musikschaffenden vertritt. Der derzeitige Präsident ist der italienische Komponist Lorenzo Ferraro.

Mehr Infos: ciamcreators.org.gridhosted.co.uk/ciam2014/

Weimarer Aufbauhilfe in Afghanistan

Die Weimarer Musikhochschule will die Musikabteilung an der Universität Kabul beim Aufbau von Strukturen, Lehrplänen und so weiter untersützen. Ins Auge gefasst werden überdies gemeinsame Forschungsprogramme mit Workshops, Konferenzen und Symposien sowie der Wiederaufbau des Archivs für afghanische Musik in Kabul.

Kanzlei der Universität Kabul. Foto: Colleen Taugher, flickr commons

Im Beisein von Vertretern der Deutschen Botschaft in Kabul ist dazu durch die Kanzlerin der Weimarer Musikhochschule, Christine Gurk, und den Kanzler der Universität Kabul, Habibullah Habib, eine Vereinbarung unterzeichnet worden. Bereits seit drei Jahren ermöglicht das Projekt Safar des Studienprofils am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena einen Austausch zwischen afghanischen und deutschen Musikern wie Wissenschaftlern.

Die ersten Punkte der neuen Vereinbarung erfahren bereits ihre praktische Umsetzung: An der Universität Kabul werden zur Zeit verschiedene Workshops und ein wissenschaftliches Symposiums durchgeführt. Zudem sind die Übergabe des Archivs und ein gemeinsames Konzert von deutschen und afghanischen Musikern geplant.

In einem ersten gemeinsamen Fernseminar wird darüber hinaus mittels einer speziell gestalteten E-Learning-Plattform bis zum Mai 2015 ein Austausch zwischen Studierenden beider Hochschulen stattfinden. Neben einem Einblick in die Vielfalt der afghanischen Musikkulturen werden vor allem durch das kollektive Erarbeiten von Papers und Präsentationen der Weimarer und Kabuler Studierenden Soft Skills im Bereich des Transcultural Music Research vermittelt. 

Das Studienprofil Transcultural Music Studies am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena unter der Leitung von Tiago de Oliveira Pinto kooperiert im Projekt Safar eng mit verschiedenen Partnern in Afghanistan. Ziel der gemeinsamen Arbeit ist die Revitalisierung der traditionellen afghanischen Musikkulturen sowie die Stärkung der musikalischen Zivilgesellschaft. Das Projekt wird vollständig aus Mitteln des Auswärtigen Amtes finanziert.

 

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