Erneute Klanghaus-Abstimmung

Sagen die St. Galler Stimmberechtigten am 30. Juni Ja zum Bauvorhaben, werden die Bauarbeiten für das Klanghaus 2021 doch noch starten, nachdem ein erster Anlauf politisch scheiterte. 2023 soll es fertiggestellt werden.

Simulation «Klanghaus in der Landschaft»: nightnurse images, Zürich (Archiv)

Das Gebäude ist als Holzkonstruktion geplant. Das Raumprogramm umfasst vier  Klangräume, die wie ein Instrument gestimmt werden können. Zudem gibt es zwei Aussenbühnen für Musikexperimente im Freien. Das Klanghaus soll am heutigen Standort des Hotels Seegüetli am Schwendisee oberhalb von Unterwasser entstehen. Im Vergleich zum Hotel wird das Klanghaus weiter entfernt vom See erstellt. Durch den Abbruch des Hotels und aufgrund der besonderen Architektur wird das Landschaftsschutzgebiet am Schwendisee aufgewertet.

60 bis 80 Teilnehmende können das Klanghaus je Kurstag nutzen. Drei Gruppen können gleichzeitig ungestört voneinander arbeiten. Das breite Publikum wird das Klanghaus im Rahmen von Führungen erleben können. Zudem sind Werkstattkonzerte geplant, und es wird möglich sein, die Räume für Bildungs-, Vereins- und Firmenanlässe rund um das Thema Klang zu nutzen.

Der Kanton plant das Klanghaus als Bauherr. Die Klangwelt Toggenburg wird das Haus auf eigene Kosten betreiben. Die Gesamtkosten für das Projekt betragen 23,3 Millionen Franken. Davon finanziert die Klangwelt Toggenburg 1 Million Franken. Für den Kanton verbleibt ein Kreditbedarf von 22,3 Millionen Franken. 2016 scheiterte das erste Projekt zum Bau des Klanghauses Toggenburg in der Schlussabstimmung des St.Galler Kantonsparlamentes.

 

Gründung des Zentrums für künstlerische Nachlässe

Mit dem Zentrum für künstlerische Nachlässe (ZKN) wird in Zürich eine Institution ins Leben gerufen, die sich der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Nachlässen der Bereiche Kunst, Musik und Literatur widmet.

Foto: PS,SMPV

Gegründet wurde das ZKN vom Rechtsanwalt Florian Schmidt-Gabain und vom Literaturwissenschaftler Thomas Strässle, welche das ZKN als Präsident und Vizepräsident leiten.Unterstützt werden die beiden Gründer durch ein Advisory Board bestehend aus Lionel V. Baldenweg, Michael Haefliger, Beatrix Ruf und Julia Voss. Organisiert ist das ZKN als Verein mit Sitz in Zürich, Schweiz.

Am 21. November 2019 findet die Eröffnungskonferenz des ZKN im Kunsthaus Zürich statt. Themen sind die Nachlässe von Hilma af Klint, Emil Bührle und Max Frisch. Vorgestellt wird auch der Nachlass von Charlie Chaplin, der – was oft wenig bekannt ist – seine Filmmusik selbst komponiert hat. Es referiert dazu Kate Guyonvarch, die Direktorin des Chaplin Office Paris.

Mehr Infos: www.zkn.ch

Britisch-schweizerische Sinfonikerin

Ruth Gipps war eine unglaublich vielseitige Musikerin, die hierzulande kaum bekannt ist. Auf der vorliegenden CD kann man sie als Komponistin von opulenten, emotional ergreifenden Orchesterwerken erleben: Sinfonien Nr. 2 und 4, Song for Orchestra, Knight in Armour

Ruth Gipps. Foto: Courtesy of the Ruth Gipps Collection

Fast trotzig hielt man in Grossbritannien im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an der traditionellen tonalen, meist viersätzigen Sinfonie fest. Von der grossen Zahl an britischen Werken dieser Gattung konnten sich auf dem Kontinent allerdings fast nur diejenigen von Ralph Vaughan Williams und William Walton einigermassen etablieren. Die Sinfonien so hervorragender Komponisten wie Arnold Bax, York Bowen oder Michael Tippett werden hierzulande kaum zur Kenntnis genommen, geschweige denn aufgeführt. Dass auch eine Komponistin – Ruth Gipps – in diesem Bereich Bemerkenswertes geleistet hat, dürfte sogar den meisten Kennern der britischen Musik entgangen sein. Chandos hat jetzt eine CD mit ihrer 2. und 4. Sinfonie und zwei kurzen Orchesterwerken veröffentlicht, was sehr verdienstvoll ist, weil hier eine wirkliche Repertoirelücke geschlossen wird.

Ruth Gipps (1921–1999), deren Musik in Form, Harmonik und Klang ganz in der englischen Tradition steht, ist eine halbe Schweizerin. Ihre Mutter Hélène Johner studierte als angehende Pianistin in Frankfurt, wo sie ihren zukünftigen Mann Bryan Gipps kennenlernte. Sie stammte aus Basel und ihre Mutter war eine Caroline von Weissenfluh aus Meiringen. Ruth zeigte als Kind aussergewöhnliches Talent für die Musik: Ihr erstes verlegtes Klavierstück, The Fairy Shoemaker, komponierte sie mit acht Jahren. Als junge Frau studierte sie Komposition bei Ralph Vaughan Williams und Gordon Jacob, ausserdem Oboe bei Léon Goossens. Sie war so vielseitig begabt, dass sie 1945 bei der Uraufführung ihrer ersten Sinfonie durch das City of Birmingham Orchestra, dessen Mitglied sie damals als Oboistin und Englischhornistin war, nicht nur im Orchester spielte, sondern auch als Solistin das erste Klavierkonzert von Alexander Glasunow interpretierte. Später gründete sie das London Repertoire Orchestra, das sie während Jahrzehnten dirigierte, ein Ensemble, das jungen Berufsmusikerinnen und -musikern die Chance geben sollte, das sinfonische Repertoire kennenzulernen. Ausserdem war sie an drei Musikhochschulen eine geschätzte Kompositionslehrerin.

Alle Werke auf der CD sind hörenswert und werden vom BBC National Orchestra of Wales unter der Leitung von Rumon Gamba virtuos, farbenreich und kraftvoll interpretiert. Gipps’ Musik ist zwar traditionell, aber überhaupt nicht verstaubt: Emotionaler Tiefgang verbindet sich mit Freude an opulentem Orchesterklang, ausserdem mit einer hervorragenden Kenntnis aller Orchesterinstrumente, wobei besonders dem Konzertmeister, der Oboe, dem Englischhorn und dem Horn expressive Soli anvertraut werden. Der Widmungsträger der 4. Sinfonie von 1972, Sir Arthur Bliss, schrieb der Komponistin: «I have been studying the symphony, and the more I do the more I like it.» Dem kann man nur beipflichten.

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Ruth Gipps: Symphonies Nos. 2 and 4 (1945/1972); Song for Orchestra (1948); Knight in Armour (1940). BBC National Orchestra of Wales, direction Rumon Gamba, Chandos CHAN 20078

Erinnerung an eine legendäre Konzertreise

Nur Wochen nach Kriegsende reisten Yehudi Menuhin und Benjamin Britten durch Norddeutschland und spielten vor und zugunsten Überlebender.

Yehudi Menuhin und Benjamin Britten. Ausschnitt aus dem Buchcover

Zeichen setzen ist ein wichtiges Buch, publiziert in einer Zeit, da Antisemitismus sich wieder breitzumachen droht. Werner Schmitt, Initiant und Mitautor des Buches, dokumentiert darin das Konzert, das er 2016 in der Holocaust-Gedenkstätte Bergen-Belsen organisierte. Es galt der Erinnerung an die legendäre Konzertreise vom Juli 1945, die Yehudi Menuhin zusammen mit dem Komponisten Benjamin Britten durch norddeutsche Städte und Dörfer unternahm. Dabei traten sie auch in einem Kinosaal der Kaserne des Konzentrationslagers Bergen-Belsen auf. Dieses war am 15. April gleichen Jahres von alliierten Truppen befreit worden.

Das damalige Konzert fand im Beisein von Überlebenden des Lagers statt. Menuhin spielte zusammen mit Britten ein Programm, welches u. a. Werke von Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven und Claude Debussy enthielt, aber sich aufgrund der Quellen nicht ganz rekonstruieren lässt In Anlehnung daran wurden am Gedenkkonzert mit dem Duo Aleksey Semenenko (Violine) und Inna Firsova (Klavier) die Chaconne von J. S. Bach, der 1. Satz der Kreutzer-Sonate, die Sonate von Edvard Grieg, Werke von Chausson, Debussy und Tschaikowsky bis hin zum Kaddisch von Maurice Ravel als Zugabe gespielt.

Die Aufnahme auf zwei CDs liegt dem Buch bei, das in Wort und Bild Eindrücke der historischen Konzertreise zusammenfasst, als die beiden grossen Musiker zugunsten überlebender Opfer spielten. Die Autoren, Werner Schmitt, Cellist und langjähriger Direktor des Berner Konservatoriums, und Hendrick Feindt, Literaturhistoriker und Medienwissenschaftler, haben mit diesem Buch mehr als nur eine Dokumentation geschaffen: Sie haben ein Zeichen gesetzt, das heute mehr denn je wahrgenommen werden muss.

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Zeichen setzen/ Taking a Stand. Yehudi Menuhin / Benjamin Britten / Bergen-Belsen 1945, hg. von Werner Schmitt, 100 S., 2 CDs, Fr. 57.00, Müller & Schade, Bern 2018, ISBN 978-3-905760-19-4

Musikeralltag im Barock

Unter welchen sozialen Bedingungen arbeiteten Musiker in jener Zeit? – Ein längst fälliges, überaus informatives, wenn auch etwas vorsichtiges Buch gibt Antwort.

Radierung von Abraham Bosse um 1638: Die fünf Sinne – das Gehör

Gedruckte Musiknoten waren einst teuer. Nicht jeder konnte sie sich leisten. Deshalb hätte sich ein Musiker auf dem Lande zum Beispiel statt der Druckausgabe des Musicalischen Opfers eine Kopie gekauft und dafür statt einem Reichstaler nur acht Groschen hingelegt. (Und wieviel bekam davon in einer Zeit ohne Suisa und Pro Litteris der Komponist?) Noch billiger (etwa fünf Groschen) wäre es gewesen, die Noten selber abzuschreiben. Das lohnte sich, wenn man bedenkt, dass ein angestellter Musiker rund acht Taler monatlich für sich und seine Familie zur Verfügung hatte.

Erhellende Details wie diese aus dem Musikeralltag finden sich allemal in dieser Sozialgeschichte der Barockmusik. Auf ungemein spannende Weise führt sie uns in die Niederungen der Praxis. Mehrere Autorinnen und Autoren sind daran beteiligt, den Hauptharst aber haben die beiden Herausgeber Peter Hersche und Siegbert Rampe beigetragen: zur wirtschaftlichen Lage und gesellschaftlichen Ordnung jener Zeit, was sich für eine so heterogene, sich weiterentwickelnde Epoche gar nicht leicht zusammenfassen und noch weniger verallgemeinern lässt. Die Dinge waren im Fluss. Wo also fand Musik statt und wer führte sie auf? Welchen Status hatten die Musiker und welchen ihre Instrumente? Wer baute sie? Wer bildete darauf aus? Was konnte sich ein Musiker tatsächlich von seinem Salär leisten: ein Gärtchen, eine Bibliothek, eine Magd für die Gattin? Der Fragen sind viele.

Und weil es so gar nicht emphatisch um Kunst geht, sondern eher um die Umstände, unter denen sie entsteht, und dabei gerade auch ums Geld, wird das Thema nüchtern und klar ausgebreitet. Der Blick richtet sich vor allem auf die Verhältnisse im deutschsprachigen Raum, und wird daher nach aussen hin etwas unschärfer. Dabei wird auch nicht verschwiegen, dass wir eigentlich viel zu wenig wissen. Die Musikwissenschaft hat sich lange kaum um diese Sozialgeschichte gekümmert. Bemitleidet wurde Bach, wenn er um Gehaltsverbesserung bat, aber dass das fast den ganzen Musikerstand betraf, ging dabei unter. Vielleicht ist dies auch der Grund, dass sich die Autoren mit ihren Erkenntnissen nicht weiter vorwagen, in die Anekdote, gar in die Spekulation hinein. Insgesamt ist das Buch ungemein informativ und auch mit vielen Beispielen illustriert, aber nicht so recht mit dem prallen Leben gefüllt. Das ist vielleicht sogar ein Vorteil, weil es nichts verschleiert. Es führt uns den nackten Alltag vor Augen.

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Sozialgeschichte der Musik des Barock, hg. von Peter Hersche und Siegbert Rampe, (Handbuch der Musik des Barock 6), 400 S., ill., geb., € 108.00, Laaber-Verlag, Laaber 2017, ISBN 978-3-89007-875-5

Einmal ausladend, einmal knapper

Diese Ausgabe bietet die berühmte Klaviersonate Nr. 2 von Sergej Rachmaninow in beiden vom Komponisten erstellten Ausgaben.

Rachmaninow-Denkmal in Tambow. Foto: Stadtverwaltung Tambow/Russland, wikimedia commons

Rachmaninows 2. Klaviersonate op. 36 gehört heute zu den am häufigsten gespielten Werken des russischen Komponisten. Gerade die junge Generation und vor allem auch jene aus Fernost studiert das anspruchsvolle, hochvirtuose Stück mit Leidenschaft und Hingabe.

Das war nicht immer so. Vor allem im deutschsprachigen Kulturraum hatte diese Sonate in der Vergangenheit gegen einen schlechten Leumund zu kämpfen. In seinem Handbuch der Klavierliteratur stellte Klaus Wolters seinerzeit lapidar fest, dass Opus 36 allgemein fast nur negative Kritiken erhalten habe. Und in einer späteren Auflage (1977) erwähnt er sie schon gar nicht mehr. Walter Georgii stört sich an den «einförmigen Motivwiederholungen». Das umfangreiche Werk sei deshalb «im Ganzen wenig erfreulich» (Klaviermusik, Atlantis Verlag).

Rachmaninow selber war mit der ursprünglichen Konzeption seiner 2. Sonate von 1913 offenbar auch nicht zufrieden und unterzog sie 18 Jahre später einer gründlichen Revision. Er gestaltete den Klaviersatz etwas transparenter und strich insgesamt rund 120 Takte. Das sind immerhin mehr als 10 Seiten Musik!

Ob er dadurch das Werk zu seinem Vorteil verändert hat, wird immer wieder diskutiert. Vladimir Horowitz löste das Problem auf seine Weise und erstellte mit Rachmaninows Einwilligung eine eigene Mischfassung aus beiden Versionen.

Dominik Rahmer hat nun im Henle-Verlag beide Fassungen des Komponisten in einem Band veröffentlicht, und man kann somit bequem Takt für Takt die Unterschiede studieren. Das Notenbild ist – wie üblich bei Henle – selbst in der überladenen Erstfassung übersichtlich und gut lesbar. Die Fingersätze verraten den gewieften Praktiker und stammen von Marc-André Hamelin, der ja nicht nur dieses Repertoire bestens kennt.

Man mag zu Rachmaninows Opus 36 stehen, wie man will. Ähnlich wie im genialen 3. Klavierkonzert kann man auch hier die konsequente motivische Arbeit des Komponisten bewundern. Alle Formteile sind aus ganz wenigen musikalischen Bausteinen entwickelt und kunstvoll-logisch miteinander verknüpft. Einmal in einem etwas enger geschnittenen Kleid (Version von 1931), ein andermal in einer etwas ausufernden, aber vielleicht sinnlicheren Fassung (1913).

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Sergej Rachmaninow: Klaviersonate Nr. 2 b-Moll op. 36, Fassungen 1913 und 1931, hg. von Dominik Rahmer, HN 1256, € 19.50, G. Henle, München

Bislang unbekanntes Sonatenfragment

Die Komposition seiner Sonate für Violoncello und Klavier fiel Camille Saint-Saëns schwer. Und die Überlieferung hat es auch nicht gut mit ihr gemeint.

Jean-Joseph Benjamin-Constant: Porträt des Camille Saint-Saëns 1898. Bildquelle: Musée de la Musique, Paris, Inventarnummer E.995.6.27 / wikimedia commons

Die Cello-Literatur enthält mehrere unvollständige Werke bedeutender Komponisten: Mozarts einziges Werk für Violoncello und Klavier, das Andantino cantabile KV 374 g (Anh. 46), blieb Fragment und existiert in mehreren fremden Ergänzungen, von Antonín Dvořáks frühem Cellokonzert in A-Dur sind lediglich die Solostimme und der Klavierauszug überliefert und Othmar Schoeck hinterliess den letzten Satz seiner Cello-Sonate unvollendet.

Diese (unvollständige) Liste kann nun um eine bedeutende Entdeckung erweitert werden: Als Teil der Bärenreiter-Gesamtausgabe von Camille Saint-Saëns’ Werken ist eine bisher unbekannte Cellosonate erstmals veröffentlicht worden. Ein Brief des Komponisten aus dem Jahre 1919 belegt, dass das Werk zu Lebzeiten des Komponisten vollständig aufgeführt worden ist. Trotzdem sind von den angeblich vier komponierten Sätzen lediglich die ersten zwei erhalten, wobei das überlieferte Manuskript des 2. Satzes nach 82 Takten abbricht.

Die Konzeption der Sonate reicht ins Jahr 1913 zurück und Saint-Saëns scheint sich mit der definitiven Niederschrift schwergetan zu haben, wie er 1914 in einem Brief an seinen Verleger Durand schrieb: «Ich arbeite an meinem Duo, das nur mühsam vorangeht. Welch schwer zu behandelndes Genre!»

Wie in den beiden Sonaten op. 32 und op. 123 spielt Saint-Saëns gekonnt mit rhythmisch prägnanten und lyrischen Passagen. Kühne harmonische Wechsel erinnern zudem an die Tonsprache des 1919 entstanden Prière op. 158 für Violoncello und Orgel.

Saint-Saëns’ Cello-Œuvre erfährt durch diese Erstausgabe eine erfreuliche Erweiterung.

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Camille Saint-Saëns: Sonate für Violoncello und Klavier D-Dur (unvollständig), Erstausgabe, hg. von Denis Herlin, BA 10910, € 17.95, Bärenreiter, Kassel

Spielpraxis und Schulmusikwissen

Der «Leitfaden Bläserklasse» aus dem Helbling-Verlag verbindet das Erlernen eines Instruments mit schulischen Inhalten. Es geht von wöchentlich drei Lektionen aus.

Foto: Bruno Pego / unsplash.com

Das Lehrerhandbuch zum neuen Lehrmittel aus dem Verlag Helbling Leitfaden Bläserklasse kommt mit dem gewichtigen Umfang von mehr als 450 dicht bedruckten Seiten daher. Das Lehrwerk beeindruckt mit einer Fülle äusserst vielfältig und anregend aufbereiteten Materials. Zum Umfang gehören nebst dem Lehrerband Schülerhefte für alle Instrumente des Blasorchesters, Play-alongs und Online-Übehilfen, welche durch einen Code abgerufen werden können, sowie eine CD-ROM mit reichem Zusatzmaterial.

Der Leitfaden Bläserklasse wurde von fünf Autoren gemeinsam entwickelt, die alle Musik auf Gymnasialstufe unterrichten und sowohl über Erfahrung in der Arbeit mit Bläserklassen als auch in der Schulmusik verfügen. Ziel des neuen Lehrmittels ist die Verbindung der in der Bläserklasse heute dominierenden Spielpraxis mit den Inhalten des schulischen Musikunterrichts (Musiktheorie, Gehörbildung, Musik gestalten und erfinden). Das Lehrmittel richtet sich nicht an eine bestimmte Altersgruppe. Es eignet sich wohl für den Einsatz ab der Mittelstufe. Im Lehrerband werden ausführlich das Konzept, die zugrunde liegenden Vorstellungen und Ziele sowie die Methoden in der Arbeit mit den Klassen erläutert.

Der Unterrichtsteil beginnt mit einem Vorkurs, welcher noch ohne Instrumente stattfindet und sich über 3 Einheiten, d. h. ca. 6 Lektionen erstreckt. Anschliessend folgen Basics mit instrumentalmethodischen Grundlagen und dann die Lektionen mit dem Instrument, welche auf zwei Bände mit 23 bzw. 18 Lektionen (1./2. Band) aufgeteilt sind. Jede Lektion bietet Material und vollständig vorbereitete Stundenbilder für 2 Schulstunden.

Das vorliegende Konzept geht von wöchentlich 3 Lektionen erweitertem Musikunterricht, aufgeteilt in 2 Lektionen regulären Musikunterricht mit der ganzen Klasse und 1 Lektion Instrumentalunterricht in Kleingruppen, aus. Wenn weniger Unterrichtszeit zur Verfügung steht, dürfte es schwierig sein, die beiden Bände innerhalb von 2 Schuljahren zu erarbeiten.

Inhaltlich legt das Lehrmittel sehr viel Gewicht auf die Vermittlung von Musiktheorie. Die Grundlagen werden gründlich, aber auch äusserst vielfältig und spielerisch, mit vielen Anregungen für Partner- oder Gruppenarbeiten eingeführt. Gleichzeitig werden die Theorie-Inhalte mit dem praktischen Spiel auf dem Instrument verknüpft und für Kreativaufgaben genutzt. Stets werden die Schülerinnen und Schüler zum praktischen Tun aufgefordert. Pro Lektion (Kapitel) gibt es im Schnitt ein bis zwei in der Regel kurze Musikstücke, was doch eher wenig ist. Meist werden zu den Stücken zusätzliche Anregungen zu Interpretation, Präsentation oder Reflexion sowie Verknüpfungen zur Theorie geboten. Zu vielen Stücken sind auf der beiliegenden CD-ROM zusätzliche vierstimmige Klassen-Arrangements mit einer 2. Stimme, einer Bassstimme und einer Oberstimme «für Geübte» vorhanden, was eine Individualisierung der Anforderungen durch Binnendifferenzierung ermöglicht.

Anhand von speziell gekennzeichneten Werkzeugkästen werden den Schülern spezifische Methoden als Handwerk vermittelt, wie sie selbstständig Musik erarbeiten, Stücke üben oder sich musikalisches Material aneignen können. Die Schülerhefte sind mit Farben und Symbolen ansprechend gestaltet und enthalten unterstützende und anregende Bilder und Grafiken. Allerdings wirken die Seiten insgesamt eher überladen und sehr textlastig, was die Zugänglichkeit etwas erschwert.

Leitfaden Bläserklasse setzt in Sachen thematischer Breite, der Vermittlung von Theorie und allgemeinem Musikverständnis sowie in deren methodisch-didaktischer Aufbereitung neue Massstäbe.

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Sommer/Ernst/Holzinger/Jandl/Scheider: Leitfaden Bläserklasse. Ein Konzept für das erfolgreiche Unterrichten mit Blasinstrumenten, Lehrerband 1 und 2 incl. CD-ROM und Schüler-Lösungshefte, S7770, Fr. 84.50, Helbling, Belp u.a.

Auf der Basis des Autografs

Eine Ausgabe von Dvořáks Streicherserenade mit Passagen, die im Autograf zu finden sind, in bisherigen Ausgaben aber fehlten.

Foto: Dayne Topkin / unsplash.com

Wenn ein Werk des Repertoires in einer neuen, zumal als «Urtext» bezeichneten Ausgabe erscheint, gibt es in (nur gefühlten) 95 Prozent aller Fälle zwei Möglichkeiten: Entweder müssen die editorischen Entscheidungen gegenüber vorhergehenden Ausgaben mit der Lupe gesucht werden (dann stehen meist markttechnische Überlegungen hinter der Ausgabe – und ja: es gibt ein Musik.biz, und das ist fraglos auch gut so), oder es gibt tatsächlich etwas Neues, mitunter auch Spektakuläres zu entdecken. Das mag nur eine Note oder ein Vorzeichen betreffen (von Beethoven bis Berg), manchmal sind es aber doch auch ganze Passagen, die einst in der Eile der Herstellung oder im Strudel der Überlieferung verloren gingen.

Insofern macht auch die vorliegende Neuausgabe von Dvořáks Streicherserenade neugierig: Neben den üblichen kleinen Korrekturen und Ergänzungen wartet sie nämlich mit neuen Takten auf: Im Scherzo sind es 34, im Finale gar 79. Sie finden sich im Autograf, wurden aber 1879 in der gedruckten Partitur bei Bote & Bock nicht berücksichtigt. Freilich, sie fanden bereits 1955 im Band der Gesamtausgabe Eingang (allerdings im Anhang, und somit gingen sie abermals bei IMSLP verloren, ein sich wiederholender gravis defectus). Robin Tait hat aus dieser Not eine Tugend gemacht und für die Neuausgabe das Autograf als Hauptquelle erkoren, somit auch die beim Druck unter den Tisch gefallenen Passagen in den Haupttext integriert (und sie doch als Konzession an die heutige Praxis mit einem Vide-Vermerk versehen). So darf nun frei erkundet werden, obwohl Dvořák selbst als anerkannter Meister später nie eine neue Auflage verlangte. Ich habe mich der Einspielung mit dem Orchestre d’Auvergne unter Roberto Forés Veses bedient – und ja, das damalige Lektorat hat vielleicht (?!) eine gute Entscheidung getroffen. Doch die Diskussion ist eröffnet.

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Antonín Dvořák: Serenade E-Dur op. 22 für Streichorchester, hg. von Robin Tait, Partitur, BA 10423, € 22.95, Bärenreiter, Prag 

Aus der Verschollenheit aufgetaucht

Das Concertino für Bassposaune und Orchester von Christian Gottlieb Müller bietet eine hochwertige Alternative zu Ernst Sachses Concertino.

Foto: Rich Smith / unsplash.com

Der Komponist Christian Gottlieb Müller (1800–1863) ist wohl vielen Musikern ziemlich unbekannt. Vielleicht mag die Tatsache, dass er Richard Wagners Lehrer war, ihm ein bisschen mehr Glanz verleihen. Und dies bestimmt nicht zu Unrecht: Die Partitur des 15-minütigen Bassposaunenkonzerts aus dem Jahre 1832 (schon damals gedruckt bei Breitkopf & Härtel) zeugt von gutem Handwerk, das sich Müller durch das intensive Studium der Werke Beethovens angeeignet hatte. Die Orchesterbesetzung (2-faches Holz, 2 Hrn, 2 Trp, Timp, Streicher), die Tonart (Es-Dur), der kadenzartige Beginn des Soloinstrumentes, die Virtuosität im 3. Satz und viele weitere Merkmale (z. B. Melodieführung in Oktaven zwischen Flöte und Klarinette im 2. Satz) erinnern an das rund 20 Jahre früher entstandene 5. Klavierkonzert seines Idols Ludwig van Beethoven.

Das Concertino galt lange Zeit als verschollen, insbesondere die Orchesterfassung. Nur ein ziemlich fehlerhafter, handschriftlicher Klavierauszug aus den 1950er-Jahren hielt die Erinnerung an das Werk wach. Erst im Jahre 2004 tauchte überraschend ein vollständiger Orchesterstimmensatz auf, welcher die Grundlage für die vorliegende Partitur bildet. Die Einzelstimmen sind als Mietmaterial erhältlich, die Partitur und ein ordentlicher Klavierauszug sind käuflich. Eine wahrlich erfreuliche Alternative zu Ernst Sachses Bassposaunen-Concertino – nicht zuletzt auch für Orchesterprobespiele.

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Christian Gottlieb Müller: Concertino für Bassposaune und Orchester Es-Dur, hg. von Nick Pfefferkorn, Partitur PB 33001, € 36.00, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2012/2018

Im Anfang verkannter Meilenstein

Das zyklisch angelegte, leitmotivisch durchdrungene Klavierquintett von César Franck hatte einen schwierigen Start.

César Franck (1822-1890) fotografiert von Pierre Petit (1832–1909). Quelle: New York Public Library’s Digital Library (digital ID 1158368)

César Franck komponierte sein monumentales Klavierquintett f-Moll von Herbst 1878 bis Sommer 1879. Zuvor hatte er während 25 Jahren keine Kammermusik mehr geschrieben. Die Konzerte der 1871 gegründeten Société nationale de musique, an welchen unter anderem Kammermusikwerke von Gabriel Fauré, Édouard Lalo und Camille Saint-Saëns zur Uraufführung gelangten, hatten Franck wahrscheinlich dazu bewegt, sich diesem Genre wieder zuzuwenden. Das Klavierquintett steht zeitlich vor der Violinsonate A-Dur (1886) und der Sinfonie d-Moll (1887/88). Bei der Uraufführung am 17. Januar 1880 sass Camille Saint-Saëns am Klavier, dem das Stück auch gewidmet ist. Nach der kühlen Aufnahme des Werks wurde es zu Lebzeiten des Komponisten nur noch wenige Male gespielt. Erst im 20. Jahrhundert erkannten Publikum und Kritik César Francks Klavierquintett in seiner wahren Bedeutung.

Die drei Sätze mit einer Aufführungsdauer von gegen 40 Minuten sind leitmotivisch miteinander verknüpft. Als Zeitzeuge steht dieses Klavierquintett für die französische romantische Musik in ihrer Auseinandersetzung zwischen klassischer Form, dem Einfluss Richard Wagners und dem Aufbruch zu neuen Klangwelten. Aber auch als absolute Musik gehört Francks Klavierquintett zu den Meilensteinen des kammermusikalischen Repertoires. In seiner zyklischen Anlage und dem reichen Klangspektrum hat es den Charakter einer Sinfonie.

Diese von Ernst-Günter Heinemann betreute Urtext-Ausgabe verzichtet in den Streicherstimmen auf Zusätze technischer Art. Die Klavierstimme wurde von Klaus Schilde mit Fingersätzen versehen. Wendestellen sind in allen Stimmen optimal platziert, das Violoncello kann die pausenlosen letzten drei Seiten nebeneinander aufs Pult stellen und durchspielen. Der Kritische Bericht zu dieser Ausgabe kann auf henle.de eingesehen werden.

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César Franck: Klavierquintett f-Moll für Klavier, zwei Violinen, Viola und Violoncello, hg. von Ernst-Günter Heinemann, HN 1142, € 45.00, G. Henle, München 

Tierisch leichte Stücke

Erstes Zusammenspiel im Streichorchester oder Streichensemlbe wird mit diesen Heften zum Vergnügen.

Ausschnitt aus dem Titelblatt von «Don’t Feed the Animals»

Die zwölf spassigen Ein-Minuten-Stücke von Don’t Feed the Animals, Ouverüre, zehn Tierbilder und Epilog für Kinderorchester, sind geeignet als Zwischenspiele für eine aufgeführte Geschichte. Der huschende Igel, der bei Fermaten scheu verharrt, das Schnarren des Frosches in sich reibenden kleinen Sekunden, emsige Achtel für die Ameisen, Triller und Tremolo-Glissandi für die fleissigen Bienen, der in wechselndem Dreiviertel- und Viervierteltakt einherschwebende Schwan, die vier in Pizzicatosprüngen und Sechzehntel-Tonleitern huschenden Eichhörnchen … Das ist alles raffiniert ausgedacht, gut auf die Stimmen verteilt und – mit einem gewissen Probeaufwand – leicht spielbar.

Die 14 Kanons und 6 Streichtrios, die Egon Sassmannshaus für den Frühen Anfang im Steicherensemble zusammengestellt hat, sorgen von einem b bis zwei Kreuzen für tonartliche Abwechslung. Sogar ein Menuett in a-Moll gesellt sich zu den kleinen Barocktänzen.

Im Weihnachtsheft derselben Reihe umrahmen 10barocke festliche Tänze in einfachen Tonarten – Dur und Moll – 17 der bekanntesten deutschen Weihnachtslieder in bewusst einfachem vierstimmigem Satz für jüngste Streichergruppen.

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George A. Speckert: Don’t Feed the Animals. 12 Stücke für Streichorchester, Partitur und Stimmensatz (1., 2. 3. Violine, letztere auch für Viola, Cello), BA 10648, € 13.95, Bärenreiter, Kassel

Egon Sassmannshaus: Früher Anfang im Streicherensemble, Spielpartitur für Violine, Viola (oder 2. Violine) und Cello, BA 10688, € 12.95, Bärenreiter, Kassel

id., Weihnachten, Spielpartitur für zwei Violinen (ein Stück drei Violinen), Viola (ein Stück zwei Violen) und Cello, BA 10689, € 12.95

Der gemeinsame Weg als musikalisches Ziel

Im Rahmen des alle vier Jahre stattfindenden Berliner Orchestertreffs zur Förderung des instrumentalen Amateurmusizierens probte Vladimir Jurowski am 25. Mai mit Laienmusikern Schostakowitschs Suite für Varieté-Orchester.

Amateurmusiker proben unter Vladimir Jurowski. Foto: © Markus Senften

Es ist eine spannende und reizvolle Ausgangslage für alle Beteiligten: Im gross besetzten Sinfonieorchester befinden sich rund 100 erwartungsvolle Laienmusiker aller Alters- und Leistungsklassen. Am Pult steht kein geringerer als der renommierte Dirigent Vladimir Jurowski. Gemeinsames Ziel der rund 90-minütigen Begegnung ist das Proben dreier Sätze aus Dmitri Schostakowitschs Suite für Varieté-Orchester.

Dieses einzigartige Zusammentreffen zwischen Amateurmusikern und Stardirigent nennt sich «offene Probe» und findet im Rahmen des Berliner Orchestertreffs Ende Mai 2019 in der Landesmusikakademie Berlin statt. «Offen» heisst in diesem Falle nicht nur, dass die Probe öffentlich ist, sondern ebenso, dass sämtliche interessierten Laienmusiker zur Mitwirkung zugelassen werden, die sich zur Teilnahme am Orchestertreff des Landesmusikrats Berlin eingeschrieben haben. Der Begriff «Probe» ist ebenfalls wörtlich zu verstehen, da die Orchesterarbeit nicht wie sonst üblich in einem Konzert oder einem Wettbewerbsvorspiel gipfelt, sondern für sich steht.

Vladimir Jurowski scheint sich daran nicht zu stören, im Gegenteil. «In der heutigen Zeit, wo jeder nur noch mit seinem Bildschirm kommuniziert, ist das gemeinsame Musizieren wichtiger denn je», meint der Chefdirigent und Künstlerische Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin vor Beginn der Probe. Dabei ist für ihn unerheblich, ob die Musik von Berufsmusikern, in Laienformationen oder – wie in der Familie Jurowski üblich – im Kreise der Verwandtschaft erklingt. «Amateurmusiker sind wortwörtlich ‹Liebhaber› der Musik», sinniert er. «Und genau darum geht es bei einem derartigen Orchestertreff: zusammenkommen, einander zuhören, gemeinsam Musik machen.» Er verschweigt nicht, dass er für die Arbeit mit Hobbymusikern eher ein klassisches Stück denn ein Werk seines Landsmanns Schostakowitsch ausgewählt hätte. Aber da der Wunsch nun mal im Raum steht, nimmt er die Herausforderung an und verrät: «Für mich besteht der Reiz dieser offenen Probe primär darin, vom ersten Anspielen bis zum letzten Durchspiel des Werkes einen gemeinsamen Weg zurückzulegen.» Wie dieser Weg aussehen und wo er enden würde, nun ja, auch das ist buchstäblich «offen».

Das erste Durchspiel des allseits bekannten Marsches aus der Suite für Varieté-Orchester macht denn auch schnell klar, dass dem designierten Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper nicht die höchste Perfektion entgegenbranden würde. Gewisse Aspekte, wie etwa Rhythmus oder Intonation, liessen erkennen, dass im Foyer des Freizeit- und Erholungszentrums Wuhlheide in Berlin mehrheitlich Laien musizieren – sieht man von einzelnen Stimmführern in den Streichern einmal ab, die dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin angehören.

Präzise und zielgerichtet

Für die teilnehmenden Musikerinnen und Musiker ist es in der Folge äusserst faszinierend zu erleben, an welchen entscheidenden Details der in Berlin lebende Dirigent kurzzeitig, aber zielbestimmt arbeitet, um das Werk zu einem Ganzen zusammenzufügen: Mal probt Vladimir Jurowski mehrere Minuten konzentriert nur mit den Streichern, dann bittet er die Posaunen, einzelne Akkorde aufzubauen, bevor einzelne Stellen in den Alt-Saxofonen auseinander genommen oder die Trompeten in Sachen Dynamik instruiert werden. Er versteht es dabei, auch jene Musiker zu fesseln, die gerade nicht im Einsatz stehen. Immer wieder streut er spannendes Hintergrundwissen zu Schostakowitschs Situation als «geächteter Komponist» in der Sowjetunion ein oder bringt seine klanglichen Zielvorstellungen in bildreicher Sprache oder anregender Gestik zum Ausdruck.

Während einzelne Musikerinnen vorrangig an der Probe mitwirken, um Teile aus Schostakowitschs Jazz-Suite zu spielen, sind andere Orchestermusiker extra nach Berlin gereist, um einmal unter dem bekannten Dirigenten zu musizieren. Doch so divers sich die Ansprüche und Absichten aller Beteiligten zu Beginn der Probe ausnehmen mögen: Am Ende lassen sich alle im Ad-hoc-Orchester mit grosser Begeisterung auf Vladimir Jurowskis Anleitungen ein und scheinen seine klare Ansprache und die präzise Probenarbeit richtiggehend zu geniessen.

Das finale Durchspiel von Marsch, Kleiner Polka und dem Walzer Nr. 2 hinterlässt einen grossen Haufen euphorischer Amateurmusiker, die in der gut einstündigen Probe unter Vladimir Jurowski nicht nur einen gemeinsamen, sondern vor allem auch einen musikalisch wie zwischenmenschlich unvergesslichen Weg zurückgelegt haben.

Redaktioneller Hinweis: Die Autorin aus Aarau spielte als Fagottistin mit.

Auftreten, um warten zu lassen

Die Beatles, Jimi Hendrix, Led Zeppelin, Pink Floyd, Bob Dylan: Alle mussten da durch. Lehr- und Wanderjahre, Sprungbrett oder Fegefeuer – als Vorgruppe das Publikum auf den Star warten lassen, ist eine Erfahrung, die viele Musikerinnen und Musiker kennen.

Foto: Pixnio
Auftreten, um warten zu lassen

Die Beatles, Jimi Hendrix, Led Zeppelin, Pink Floyd, Bob Dylan: Alle mussten da durch. Lehr- und Wanderjahre, Sprungbrett oder Fegefeuer – als Vorgruppe das Publikum auf den Star warten lassen, ist eine Erfahrung, die viele Musikerinnen und Musiker kennen.

Die Idee, eine Vorstellung mit verschiedenen Auftritten zu bestreiten, gibt es in der Geschichte der Unterhaltung seit eh und je und in allen Künsten. Das «Hauptgericht» wird garniert, um dem Publikum mehr für sein Geld zu bieten, um Übergänge zu «möblieren». Den Künstlern gibt das die Gelegenheit zu experimentieren und mit Kurzformen umzugehen. Denken wir nur an die Intermezzi, eingestreut in Opernaufführungen, aus denen schliesslich die Opera buffa hervorging, die Potpourri-Konzerte des 19. Jahrhunderts, die Curtain raisers des viktorianischen Theaters oder in jüngerer Zeit Varieté-Abende. Bei Auto- und Pferderennen spricht man von Undercards, beim Boxen von Vorkämpfen.

All das dient dazu, das Publikum gleichzeitig warten zu lassen und in Stimmung zu bringen, es «vorzuwärmen« für die Hauptattraktion. Es hält die Kosten der Veranstalter in Grenzen, die Anfängern eine vielbeachtete Plattform bieten, im Gegenzug aber sehr wenig oder gar nichts für deren Auftritt zahlen. Wenn nicht sogar die Auftretenden zur Kasse gebeten werden …

Wir haben einige Aussagen zum Thema zusammengetragen: «Du spielst sehr häufig gratis und musst all dein Material mitnehmen, weil der Hauptkünstler dir seins nicht leiht, dir aber nur fünf Zentimeter der Bühne überlässt», sagt Pilli, Sänger und Gitarrist der Gruppe Labradors, eine Band, die in Italien gerade aus der alternativen Szene herauswächst. «Manchmal ist es erniedrigend: Die Stars behandeln dich von oben herab, du spielst vor einem leeren Saal und das Ganze hilft dir in der Zukunft in keiner Weise weiter. Wenn du darüber hinaus für den Auftritt bezahlt hast, ist es abscheulich. Zum Glück haben wir weder Manager noch Agentur, so können wir selbst bestimmen, für wen wir spielen und zu welchen Bedingungen. Es ist immer besser, wenn du als Vorgruppe einer Band auftrittst, die du magst und die sich im persönlichen Umgang als freundlich herausstellt.»
 

Nicht immer eine negative Erfahrung

«Wir haben Sen Dog, den Rapper von Cypress Hill, eingeladen, als Gaststar bei einem unserer Titel mitzumachen», erzählt Ignacio Millapani, Bassist von CardiaC, einer bekannten Genfer Hardcore-Metal-Band. «Sen Dog hat daraufhin versprochen, ein Wort bei der Produktionsfirma einzulegen, um uns als Vorgruppe von Cypress Hill bei einigen ihrer Konzerte in Europa unterzubringen. Und er hat Wort gehalten. Er hat seinen Einfluss beim Veranstalter spielen lassen. Dieses Vorgehen ist aber eher ungewöhnlich, denn normalerweise platziert das Label dort Gruppen, die es unter Vertrag hat. Sen Dog hat seine Stellung genutzt, um Druck zu machen. Da wir aber als unabhängige Band auftraten, mussten wir uns auch allein um die Logistik unseres Materials kümmern, grosse Schwankungen bei der Gage in Kauf nehmen – und dem guten Stern, der uns diese Möglichkeit gegeben hatte, immer schön dankbar bleiben. Trotzdem war es eine sehr interessante und nützliche Erfahrung: Wenn du vor 3000 Leuten spielst, achtest du auf jedes kleinste Detail, was einen Qualitätssprung zur Folge hat. Und du lernst mit der technischen Einrichtung grosser Bühnen umzugehen. Die Tonmeister dort spielen in einer ganz anderen Liga, du kannst dich also über einen genialen Sound freuen. Und schliesslich ist es eine ganz gute Schule, vor einem Publikum zu spielen, das keine Lust hat, dich zu hören, das du aber doch aufwärmen musst. Es bringt dich dazu, wirklich alles zu geben.»

«Bei meinen Erfahrungen mit Eröffnungsauftritten habe ich Glück gehabt: Bandleader und Dirigenten wie Eddie Gomez oder Giovanni Sollima haben mir als Auftakt ihrer Konzerte ihre Ensembles überlassen, um meine Kompositionen auszuprobieren», berichtet Maurizio Berti, Schlagzeuger, Pianist und Komponist. «Ich habe für sehr herablassende Stars des italienischen Pop eröffnet, die sich mit dem Helikopter einfliegen liessen. Viele Leute in diesem Zirkus machen dir das Leben schwer, einige sind wirklich widerlich; wir kennen das alle in diesem Beruf. Wichtig ist, was du am Ende davon hast: der rein musikalische Gewinn, der Kontakt, den du zu den Künstlern aufbauen kannst und was du von ihnen lernst.

In diesem Zusammenhang möchte ich erzählen, was ich als Eröffnungsnummer für Jason Rebello erlebt habe. Ich schätze ihn sehr, und vor ihm aufzutreten, schüchterte mich ein. Er ist mit Sting, Jeff Beck und allen Grossen auf der Bühne gestanden. Ich wollte das Konzert am Klavier beginnen, mit einem Trio und fast ausschliesslich eigene Kompositionen spielen. Wir waren dann vor der Vorstellung am Essen und mir war gar nicht wohl bei der Sache. Ich war nicht sicher, ob ich mich richtig vorbereitet hatte. Ich floh aus dem Restaurant und begann im Theater mit Übungen, die man so macht, um sich aufzuwärmen vor einem Auftritt – wie ein Schüler, der am Morgen vor dem Unterricht noch schnell die Aufgaben von jemandem abschreibt. Plötzlich kommen Leute. Ich höre auf und tue, als würde ich meine Noten vorbereiten. Jason Rebello kommt zu mir, nimmt mich zur Seite. Er hatte begriffen, was in mir vorging. Er sagt mir: ‹Warum hast du aufgehört? Mit hat das gefallen. Du solltest dich nicht genieren, deine eigene Musik zu spielen. Und du solltest keine Angst davor haben, etwas falsch zu machen. Wir haben diesen Beruf gewählt, weil wir ihn lieben und weil er uns weiterbringt. Warum sonst? Ich habe mir früher auch Sorgen gemacht, ob ich gut genug vorbereitet sei, bis ich bemerkt habe, dass das nicht so wichtig ist, dass mich diese Sorge sogar ablenkt. Du hast nicht genug geübt? Morgen wird es besser gehen und in ein paar Wochen erst recht. Aber jetzt musst du auftreten. Wenn du Fehler machst, spielt das keine Rolle. Kaum jemand wird es merken. Und manchmal öffnen die Fehler ja auch Türen zu etwas Neuem, Interessantem. Darum: Spiel einfach, geniess es und freu dich!›»
 

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Kaum zu glauben: Die Beatles haben als Vorgruppe von Sylvie Vartan gespielt, 1964 im Pariser Olympia.

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Warten auf die Zukunft

Im musikalischen Denken ist das Warten eines der fruchtbarsten Konzepte sowohl für die spekulative Vorstellungskraft wie die technische Argumentation. Der grundlegende Begriff der Unterbrechung – ohne sie würden die Instrumente einer Partitur ständig alle spielen und eine undefinierbare Kakofonie hervorbringen – führt ohne Umwege zum Warten; genauso wie die Idee des Stillstands – wenn also keine Entwicklung stattfindet – zum eigentlichen Wesen des Wartens zurückführt. Schliesslich enthält auch die Notwendigkeit innezuhalten – unabdingbar für die physische und agogische Atmung – im Kern das Warten. Wir können es nicht ändern: Das Bedürfnis zu warten, ist der Musik im Innersten eingeschrieben.

Über diese – wichtigsten und häufigsten – Betrachtungen zum Thema warten in der Musik hinaus können wir uns auch eine andere Art des Wartens vorstellen. Was wir eben angesprochen haben, ist technischer, formaler und synchroner Art (also bezogen auf Inhalte, die sich im Laufe der Zeit nicht verändern). Das Warten hat aber auch etwas Diachronisches, das Kräfte der Menschheitsentwicklung spiegelt und die Zeitalter menschlicher Kultur betrifft. In diesem Sinne ist Warten auch Erwartung, Hoffnung, Perspektive. Es kann sich als Angst oder Ungewissheit äussern, aber auch als Vertrauen. Es geht ganz grundsätzlich um Künftiges: Warten heisst auch, unsere Beziehung zu einer möglichen Zukunft ermessen.

«Wenn Lärm stets Gewalt ist, ist Musik stets Prophetie: Hörend können wir die Zukunft der Gesellschaft vorwegnehmen.» Das schrieb vor einigen Jahren der französische Ökonom, Essayist und Bankier Jacques Attali in Bruits. Essai sur l’économie politique de la musique. Und wenn dieser Gedanke auch wenig konkret erscheint, so ist er es doch, der der Musik jene im weiteren Sinn kulturelle Verantwortung zurückgibt, der sie nie ausweichen sollte: Wie kann die Musik Ausdruck überzeitlicher Gegebenheiten sein? Wie geht die heutige Musik über ihre Zeitgebundenheit hinaus, um eine Entwicklungsrichtung auszumachen?

Die Antwort ist leider enttäuschend, vor allem wenn wir die führenden Institutionen zur Erhaltung der musikalischen Kultur betrachten: Die Musikhochschulen geben ihre Absichten – zumindest im Lateinischen – bereits im Namen an: «Konservatorium» nicht «Innovatorium». Und die Programme der wichtigsten Konzertveranstalter spiegeln ein Ausdrucksbedürfnis, wie es vor (mindestens) hundert Jahren bestanden haben muss. Die Zukunft flösst in diesen Fällen ehrfürchtigen Schrecken ein, sie zu erwarten, bedeutet Beklemmung und Angst.

Die Zukunft kommt aber auf jeden Fall. Wenn sie uns nicht erschlagen soll, müssen wir begreifen, dass die musikalische Kultur nicht durch das monumentale Konservieren von Werten, Inhalten, Formen und Haltungen der Vergangenheit gerettet wird, sondern dadurch, dass die Möglichkeit der Musik, Kultur zu werden, etwas Natürliches bleibt, wie in vergangenen Zeiten, wo sie so viele köstliche Früchte hervorgebracht hat. Das – gesunde, nicht schreckensstarre – Warten muss sich dynamisch und lebendig dem wunderbaren Unbekannten zuwenden, das uns das Leben bereithält. Auch in der Musik.

 

Zeno Gabaglio
 

… ist Musiker und Philosoph, Präsident der Tessiner Subkommission Musik, Jurymitglied des Schweizer Musikpreises und Mitglied des SUISA-Vorstands.
 

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