Einmal mehr: Musik und Emotionen

Bernd und Daniela Willimek liefern mit der Strebetendenz-Theorie einen weiteren Versuch, die emotionale Wirkung von Musik zu erklären.

Ausschnitt aus dem Buchcover

Wie Musik und Emotion zusammenhängen, verstehen wir heute noch kaum. Die Scientific Community ist sich schon nicht einig, was Emotionen überhaupt sind und wie man ihre verschiedenen Ausprägungen klassifizieren soll. Damit bleiben einzelne Studien zur emotionalen Wirkung von Musik Stückwerk. Das vorläufige Tasten im Nebel öffnet Raum für originelle und überraschende Vorschläge, wie die Expressivität in der Musik zu erklären sei.

Einen Versuch unternehmen Bernd und Daniela Willimek mit einer «Strebetendenz-Theorie», die unter anderem auf Ideen der Musikpsychologen Ernst Kurth und Deryck Cooke aufbaut. «Durch Musik vermittelte und hervorgerufene Emotionen» sollen sich dabei durch «Identifikationen mit abstrakten Willensinhalten» erklären lassen. Mit Berufung auf Schopenhauer und Nietzsche entwirft das Autorenpaar eine intuitiv schwer nachvollziehbare und eher unsystematisch mit Metaphorik durchzogene Theorie (eine Durtonika repräsentiert etwa einen «aufrechtstehenden Menschen»). Kein Wort verlieren die beiden hingegen über historisch einflussreiche gestalttheoretische Ansätze, welche die Richtungsenergien von Tönen viel einleuchtender und natürlicher erklären dürften als ihr eigener Ansatz. Die zahlreichen musikalischen Einzelanalysen, die sich in ihrem Buch Musik und Emotionen – Studien zur Strebetendenz-Theorie finden, sind originell und anregend, allerdings ohne ihre Theorie wirklich zu verdeutlichen oder zu stützen. Dasselbe gilt für die Versuchsreihen, welche das Paar an Gymnasien und deutschen Schulen im Ausland durchgeführt hat. Offensichtlich wurde dabei mit einer recht homogenen Gruppe musikalisch gleich sozialisierter Versuchspersonen gearbeitet und schon damit der universale Anspruch der Theorie in keiner Art und Weise gerechtfertigt.

Man kann nicht ausschliessen, dass die Strebetendenz-Theorie interessante Beiträge zur Erklärung der Expressivität von Musik liefern könnte. Dazu müsste sie aber deutlich klarer und systematischer gestaltet werden – angedockt an bereits bestehende theoretische Konzeptionen und Ergebnisse der Musikpsychologie, mit methodisch soliden Schnittstellen zur experimentellen Überprüfung.

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Bernd und Daniela Willimek: Musik und Emotionen. Studien zur Strebetendenz-Theorie, 125 S., € 20.00, Deutscher Wissenschafts-Verlag, Baden-Baden 2019, ISBN 978-3-86888-145-5

Jazz und Heavy Metal

George A. Speckert hat Jazzstücke aus seiner Heimat für zwei Violoncelli gesetzt, David Floer den Sound des Heavy Metal eingefangen.

Foto: Alberto Bigoni / unsplash.com

Die Grenzen zwischen E- und U-Musik im Musikunterricht und im Konzertbereich werden immer durchlässiger, die gegenseitige Beeinflussung der unterschiedlichen Musikstile ist eine Bereicherung. Die im Folgenden besprochenen Kompositionen für zwei Violoncelli tragen dieser Entwicklung Rechnung.

Der amerikanische Komponist George A. Speckert wurde 1951 in Missouri (USA) geboren, einem Zentrum der amerikanischen Jazzkultur. Das Heft The Roots of Jazz beinhaltet neben Arrangements von bekannten Ohrwürmern von Scott Joplin (The Entertainer), Arthur Harrington Gibbs (Runnin’ Wild) und Nick La Rocca (Tiger Rag) auch witzige Originalkompositionen von Speckert selbst. Beide Celloparts haben denselben Schwierigkeitsgrad und gehen nicht über die vierte Lage hinaus. Die Sammlung wird Schülern und Lehrern Freude bereiten und beim Publikum ihre Wirkung nicht verfehlen.

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Die Heavy-Metal-Sonate Cantus von David Floer ist technisch anspruchsvoll und vereinigt Heavy-Metal-Rhythmik und -harmonik in der Form der klassischen dreisätzigen Sonate. Das Stück richtet sich an fortgeschrittene Cellisten und kombiniert ausgedehnte Kantilenen mit gitarrenartigen Rockgriffen. Wer den Heavy-Metal-Klang noch zusätzlich verstärken möchte, kann mit Effektgeräten wie Wah-Wah oder Klangverzerrern eine entsprechende Wirkung erzielen.
Einen Höreindruck des Stücks kann man sich auf Youtube verschaffen.

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George A. Speckert: The Roots of Jazz für zwei Violoncelli, Ready to Play, BA 10649, € 14.95, Bärenreiter, Kassel 2019

David Floer: Cantus, Heavy-Metal-Sonate für zwei Violoncelli, Floer Music Verlag, Köln 2017, ISMN 979-0-700351-13-7

Ein Tanz aus jedem Kanton

Die Flötistin Helene Schulthess hat Tänze aus der Sammlung Hanny Christen für zwei Querflöten und Klavier bearbeitet.

Foto: Isinor/pixelio.de

Die Sammlung der Musikethnologin Hanny Christen, die zwischen 1940 und 1960 durch die Schweiz reiste, um Melodien aufzunehmen oder aufzuschreiben, beinhaltet eine farbige Zusammenstellung von diversen Volkstänzen aus verschiedenen Regionen. Im Vorwort ihrer Auswahlausgabe für zwei Querflöten und Klavier weist die Herausgeberin Helene Schulthess darauf hin, dass die Vielfalt in der Sammlung Christen ein Abbild der «kulturellen und regionalen Kleinräumigkeit der Schweiz» sei, aber gleichwohl auch von den Einflüssen anderer europäischer Länder geprägt sei. Auffällig häufig finden sich in der Sammlung Stücke mit der Bezeichnung «Schottisch», die aber je nach Region musikalisch unterschiedlich umgesetzt sind.

26 Tänze, einen aus jedem Kanton, hat Schulthess in ihr Heft aufgenommen (drei stammen nicht aus der Sammlung Christen). Die unverändert übernommenen Melodien können mit zwei Querflöten und meist akkordisch gehaltener Klavierbegleitung aufgeführt werden, klingen aber auch mit der von der Herausgeberin ergänzten, oft kontrapunktisch geführten zweiten Stimme als reine Flötenduette sehr gut. Der erste Tanz Schottisch aus dem Kanton Zürich wirkt durch eine bewegte zweite Stimme sehr konzertant. Die Melodiestimme der Mazurka aus dem Kanton Uri wird im ersten Teil von der zweiten Flötenstimme gewissermassen jodelnd untermalt. Melodiös bewegt sich der Ländler aus dem Kanton Nidwalden und wird dabei von kecken Einwürfen mit Vorschlägen in der zweiten Stimme kontrastiert. Virtuos tanzt die Trompetenpolka aus dem Kanton Zug und ist durch ihre mit Triolen kombinierten Sechzehntelfiguren für beide Stimmen anspruchsvoll zu spielen. Sogar der von der Basler Fasnacht bekannte Arabimarsch fand Einzug in die abwechslungsreiche Sammlung. Manche Stücke wie der flotte Jupitergalopp aus St. Gallen oder der Venusgalopp aus dem Kanton Waadt wirken schon fast wie Salonmusik, genauso der beschwingte Rosenwalzer aus dem Kanton Aargau. Die gelungene, interessante Sammlung gibt einen Einblick in die Melodienvielfalt der Schweizer Volksmusik und ist von fortgeschrittenen Schülerinnen und Schülern gut spielbar.

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26 Schweizer Volkstänze aus 26 Kantonen, aus der Sammlung Hanny Christen für 2 Querflöten und Klavier bearbeitet von Helene Schulthess, Fr. 26.00 plus Versandkosten, www.helene-schulthess.ch/de/kompositionen-bearbeitungen

Unterschiedliche Stimmungen und Gesten

Die 1947 entstandene Klarinettensonate von Josef Schelb ist erstmals herausgegeben worden.

Josef Schelb als Urlauber vor Gebirgskulisse in Beatenberg/Schweiz 1956. Foto: S.erinaceus / wikimedia commons

Der Name Josef Schelb ist wohl den wenigsten Klarinettisten geläufig, obwohl dessen umfangreiches kompositorisches Schaffen (unter anderem elf Sinfonien, weitere grosse Orchesterwerke, Ballette, mehrere Opern und viel Kammermusik) etliche Werke für Klarinette umfasst. Nebst der jetzt als Breitkopf-Urtext erstmalig im Druck erschienenen Klarinettensonate aus dem Jahr 1947 stammen ein Konzert für Bassklarinette mit Begleitung von zehn Soloinstrumenten (1930/43), ein Klarinettenquintett, ein Klarinettenquartett sowie weitere Kammermusikwerke mit Klarinette aus seiner Feder.

Josef Schelb (1894–1977) wurde in Freiburg im Breisgau geboren, war unter anderem Kompositionsschüler von Hans Huber in Basel und studierte in Genf Klavier. Nebst einer Karriere als Konzertpianist war er während mehr als 30 Jahren Professor für Klavier und Komposition an der Musikhochschule Karlsruhe. Sein Schaffen lässt sich keiner bestimmten Schule zuordnen, sondern ist von unterschiedlichen Einflüssen seiner Zeit geprägt.

So ist auch die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Klarinettensonate stilistisch nicht klar einzuordnen. Formal klassisch in vier Sätzen angelegt, ohne festgelegte Tonart, aber doch mit tonalen Bezügen und metrisch-rhythmisch eher traditionell lässt sie sich am ehesten mit der Sonate von Schelbs Zeitgenossen Paul Hindemith vergleichen.

Der erste Satz ist geprägt von einer expressiven, rhythmisch pointierten Melodieführung und strahlt eine vorwärtsdrängende Unruhe aus. Im zweiten, ruhigeren Satz begeben sich Klarinette und Klavier in einen ausdrucksvollen Dialog. Der dritte Satz, im 6/8-Takt geschrieben, lebt von schnellen Tongirlanden und zeigt einen lustig-spritzigen Charakter. Im Schlusssatz herrscht wieder ein optimistisch vorwärts gerichteter Eindruck vor.

Die schön gestaltete Ausgabe mit Einführung und Kritischem Kommentar bietet eine erfreuliche Bereicherung des Klarinettenrepertoires der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

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Josef Schelb: Sonate für Klarinette und Klavier, hg. von Albert Schelb, Erstausgabe, EB 8991, € 24.90, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2019

Fantasievoll mit Liedern arbeiten

Verena Dotzler und Birgit Herwig zeigen in «Lied kreativ» breit gefächerte Möglichkeiten für das Erarbeiten und Gestalten von Liedern in der Basisstufe.

Foto: Louis Hansel @shotsoflouis / unsplash.com

Lied kreativ ist ein Buch für den Musikunterricht auf der Unterstufe bis zur 4. Klasse und zeigt gut verständlich, wie man mit Liedern arbeiten kann. In einem ersten Schritt geht es darum, die Lieder zu erlernen. Methodisch versiert bieten die Autorinnen vielfältige und handlungsorientierte Zugänge an, wobei das musikalische Charakteristikum eines jeden Liedes den Nukleus für die Erarbeitung bildet. In einem zweiten Schritt folgt die Gestaltung des Liedes, und hier liegt die grosse Qualität von Lied kreativ. Denn die Lieder werden nicht nur gesungen, sie werden vertanzt, in Szene gesetzt, mit Orff-Instrumenten begleitet. Die Arrangements sind leicht umsetzbar. Worauf die Autorinnen zu Recht stolz sind: Gezielt bieten sie Anregungen zum Improvisieren, sodass die Kinder eigene Ideen beisteuern können. Dieser Ansatz geht übrigens ganz in Richtung der «Gestaltungsprozesse», wie sie im Lehrplan 21 prominent postuliert werden.

Lied kreativ gliedert sich in drei Teile, den Anfang macht Methodik der Liedvermittlung: Obwohl die Unterrichtsmodelle vielfältig sind, folgt die Arbeit am Lied einem klaren, aufbauenden Konzept. Am Anfang stehen Atem- und Stimmbildungsübungen, gefolgt von der Text- und Melodievermittlung. Die Anweisungen dazu sind präzise, man spürt die Erfahrung und Sachkompetenz der ausgebildeten Musikpädagoginnen (EMP). Eingebettet sind die gesanglichen Übungen in Geschichten und Bilder, die die Kinder sinnlich ansprechen und mitnehmen, getreu der Maxime: «Ein Lied erarbeiten heisst, mit ihm zu spielen.» Wie man das planmässig macht, skizziert das Kapitel «Möglicher Weg zu einem eigenen Stunden-Konzept», wobei folgende fachdidaktische Anweisung besonders gefällt: «Die Lehrperson leitet die Aktionen möglichst nonverbal an.» Tatsächlich krankt Musikunterricht oftmals an zu vielen verbalen Anweisungen und Erläuterungen, statt über musikalische Aktionen direkt zu führen. Nicht durch Reden, sondern durch Machen werden die Teilnehmenden bewegend und singend aktiviert. So sind sie von Beginn weg in medias res, die Sinne werden gleichzeitig angesprochen, es braucht keine Übersetzung vom Kopf in den Körper.

Die Ideenpakete, der zweite Teil des Lehrmittels, offerieren einen bunten Strauss klanglich-tänzerisch-szenischer Anregungen für Erarbeitung und Gestaltung der Lieder. Das Begrüssungslied Swing lädt zum Tanz mit Spazierstöcken – Hereinspaziert, ins Varieté der Dreissigerjahre! – für Solisten, Tänzer und Publikum. Auch das Lied mit andalusischen Klängen ist in ein szenisches Spiel (Torero) eingebettet, während die Vokalperkussion den Ragtime beschwingt. In den Ideenpaketen gehört das Orff-Instrumentarium standardmässig dazu. Aber nicht nur! Backutensilien braucht es im Schlaraffenland, im afrikanischen Aye kerunene führen Tücher durch den Spiegeltanz, die Klangfarben aus Papier untermalen das Herbstlied.

Während die Ideenpakete lose Unterrichtsangebote präsentieren, liegen im dritten Teil des Bandes ausgearbeitete Unterrichtsmodelle vor. Zum Beispiel Warumba: Der Sprechgesang mit humoreskem Liedtext lässt sich sowohl im Kanon singen als auch mit Bodyperkussion begleiten. Ein szenisches Spiel mit einer Kokosnuss stimmt auf das Lied ein, Strandtätigkeiten wie Muschelnsammeln lockern die Körper, dazu ertönt Rumba-Musik. Aus dem Wort «Ko-kos-nuss» generieren sich Atem- und Stimmbildungsübungen, die mit den Vokalen arbeiten und das Zwerchfell aktivieren. Melodieteile werden in Handlungen und Geschichten gepackt («die Kokosnuss ist unglücklicherweise auf einer Palme liegengeblieben») und bereiten auf anspruchsvolle Intervallsprünge vor. Das gesamte Lied wird mehrfach in Varianten wiederholt: Text sprechen, Gesten stumm zeigen, Liedabschnitte vor- und nachsingen. Schritt und Klatsch akzentuieren die Betonungsverschiebungen im Liedtext, unterbrochen von improvisierten «Strandposen».

Nachdem das Lied erarbeitet und geübt wurde, wird es nun gestaltet. Über den Rhythmus von «Kokosnuss-Kokosnuss-Rumba» improvisieren Sängerinnen und Sänger paarweise eine Bodyperkussion. Die Gruppe wählt ein Impromotiv aus und imitiert es. Nun singt die eine Hälfte, die andere begleitet mit Bodyperkussion und, wenn es klappt, sogar im Kanon. Die Play-back-Einspielung und die Klavierbegleitung auf den beigelegten CDs bieten Unterstützung.

Fazit: Durchdachte Ideen, variabel umsetzbar. Gut gemacht!

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Verena Dotzler, Birgit Herwig: Lied kreativ. Singen mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Ideenpakete und Unterrichtsmodelle für eine fantasievolle Liedvermittlung, Buch mit 2 CDs, Best.-Nr. 943, € 29.90, Fidula, Koblenz

Mit minimalistischen Motiven

Nach dem Auseinanderbrechen ihrer Band Orioxy gründete Julie Campiche 2016 ein (nach ihr benanntes) Jazzquartett. Auf dem Debütalbum verschreiben sich die Harfenistin und ihre Begleiter meditativen, aber auch zappeligen Klängen.

Julie Campiche am Nova Jazz, Yverdon. Foto: Gerald Langer

Am Anfang stand ein Ende: Nach acht Jahren löste sich 2016 das Genfer Quartett Orioxy, dessen auf dem Jazz basierender Sound selbst zärtlichste Momente mit wilder Energie zu verknüpfen verstand, unerwartet auf. «Als alles zerbrach, erhielt ich den Schlag meines Lebens», erinnert sich Harfenistin Julie Campiche. Dennoch oder gerade deshalb ging sie zwei Wochen später bereits ihr neues Projekt an. Eigentlich sei ihr das zu schnell gegangen, räumt die Westschweizerin ein, aber: «Man muss die Überraschungen nutzen, die das Leben bereithält.»

Mittlerweile sind drei Jahre vergangen und das Julie Campiche Quartet, zu dem neben der Bandleaderin auch Saxofonist Leo Fumagalli, Kontrabassist Manu Hagmann und Schlagzeuger Clemens Kuratle gehören, hat Ende Januar mit Onkalo sein Plattendebüt veröffentlicht. Sechs Songs umfasst das Werk und zeigt sich neugierig und experimentierfreudig: Das erste Stück, Flash Info, beginnt mit einer introspektiven Harfenmelodie, die nach einer Minute durch überfallartige Jazzsequenzen unterbrochen wird – zumindest vorübergehend.

Das Gebotene ist erstaunlich energiegeladen und präsentiert ein Flair für Improvisationen und minimalistische Motive. Auf dem Album entfaltet sich progressiver Jazz, der sich in erster Linie für Klanglandschaften interessiert, die sich konstant und überraschend verändern. Das wirkt meditativ, mitunter aber auch zappelig und bisweilen sogar aufrüttelnd. Vielleicht, weil man spürt, dass sich hinter den Kompositionen stets Geschichten verbergen. Onkalo – finnisch für Hohlraum – soll beispielsweise von vergrabenen radioaktiven Abfällen erzählen. Julie Campiche und ihren Begleitern gelingt es auf der CD, nicht nur einen Sog zu entwickeln, sondern auch Musik, die auf eine ebenso faszinierende wie mutige Klangreise mitnimmt.

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Julie Campiche Quartet: Onkalo. Leo Fumagalli, Sax & FX; Julie Campiche, Harfe & FX; Manu Hagmann, Kontrabass & FX; Clemens Kuratle, Schlagzeug & FX. Meta Records META 083

Auf Augenhöhe

Das Mondrian-Ensemble, das Ensemble Nuance, Karolina Öhman, Cello, und Kirill Zwegintsow, Klavier, spielen Werke von Dieter Ammann und Jannik Giger.

Giger und Ammann (v.li). Foto: A Tree in a Field Records

Hier Dieter Ammann, dort Jannik Giger: Hier der anerkannte Schweizer Komponist Ammann, mittlerweile Professor für Komposition an der Hochschule Luzern, dort sein ehemaliger Schüler Giger, Schweizer Newcomer und versiertes Multitalent in Sachen Komposition und Multimedia. Auf der CD mit dem schlichten Titel Ammann Giger sind die beiden musikalisch vereint. Im schönen Wechsel kommen Ensemblestücke zu Gehör, Duette oder Kompositionen für Cello und Klavier solo, mal vom einen, dann vom anderen.

Es gibt Alban Berg und Joseph Tal. Aber von Rangunterschieden kann hier keine Rede sein. Jannik Gigers Werke sprühen nur so von Vitalität. Mal klingt es rhythmisch verspielt, dann kommen erfrischend klare, durchaus imitatorische Dialoge zwischen den Instrumenten. Oft gibt es bei Giger Allusionen an die klassisch-romantische Musiktradition. Beethoven schimmert an einigen Stellen durch, auch in Klangsphären eines Schumann oder eines Strawinsky taucht man stellenweise ein. Die Anspielungen wirken an keiner Stelle kokett oder kleptomanisch. Immer behält Giger seinen eigenen Ton. Wichtiger noch als der Wieder-Erkennungswert: Giger versteht zu komponieren, beherrscht Form wie Ökonomie.

Auch Ammanns Werke wirken sehr direkt-kraftvoll, sie «springen einen an», wie es im Jargon der Neuen Musik heisst. Zwischen 1994 und 2011 sind die drei Kompositionen auf der CD entstanden. Im Ensemblestück Après le Silence klingt es zuweilen tänzerisch-humorvoll, dann wieder dichter und ernst. Ammann verwebt seine Formteile derart geschickt, dass man sich fragt, wie er von A nach B gekommen ist. In Piece for Cello (Imagination against numbers) nutzt er die ganze Bandbreite des auf dem Cello Möglichen. Karolina Öhman versteht es, die subtilen dynamischen Nuancen umzusetzen. Auch das Mondrian-Ensemble zeigt sich in Après le Silence als hervorragende Formation, die den vielen «Stimmungsschwankungen» in Ammans Werk mehr als nur gerecht wird.

Die beim Basler Label A Tree in a Field Records veröffentlichte CD ist ein Ereignis. Unglaublich live klingen die Einspielungen und werden so der lebhaften Musik gerecht. Für audiophil orientierte Fans bietet das Label die Musik auch auf Vinyl. Die Anschaffung lohnt sich, ganz bestimmt.

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Ammann, Giger. Werke von Dieter Ammann und Jannik Giger. Mondrian-Ensemble, Ensemble Nuance, Karolina Öhman, Cello; Kirill Zwegintsow, Klavier. A Tree in A Field Records TREE070

Orchestrale Wucht

Das in Zürich gegründete Merel-Quartett widmet sich erneut Felix Mendelssohn Bartholdy und tut sich für das Oktett mit dem englischen Castalian String Quartet zusammen.

Merel-Quartett. Foto: Hannes Heinzer

Mit der Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy (und seiner Schwester Fanny) hat sich das Merel-Quartett schon einmal für ein Album erfolgreich beschäftigt (Genuin 11204: Felix: Streichquartett in f-Moll op. 80; Vier Stücke für Streichquartett op. 81; Fanny: Streichquartett in Es-Dur). Jetzt hat sich die Schweizer Formation mit dem jungen englischen Castalian String Quartet noch Verstärkung geholt, um auch das Oktett op. 20 aufnehmen zu können.

Castalian Quartet. Foto: zVg

Beim ersten Streichquartett in Es-Dur op. 12 ist das Merel-Quartett aber noch unter sich. Den schnellen Mittelteil der Canzonetta musizieren die vier als Elfentanz, das Andante espressivo hat einen grossen Atem. Und im Finale verbinden Mary Ellen Woodside (Violine 1), Edouard Mätzener (Violine 2), Alessandro D’Amico (Viola) und Rafael Rosenfeld (Violoncello) Leichtigkeit mit einer Dramatik, die eine echte Sogwirkung erzielt. Nur im Kopfsatz nehmen sich das Quartett agogisch zu viele Freiheiten, so dass bei den zahlreichen kleinen Verzögerungen, wenn Achtelfiguren zu sehr ausgespielt werden oder Zäsuren neue Abschnitte einleiten, der Puls ein wenig verloren geht.

Beim Oktett entsteht gemeinsam mit Sini Simonen (Violine 1), Daniel Roberts (Violine 2), Charlotte Bonneton (Viola) und Christopher Graves (Violoncello) eine klanglich ausbalancierte, erzählerische Interpretation, die von fragiler Intimität bis zur orchestralen Wucht reicht. «Im Stil eines symphonischen Orchesters» soll das Oktett agieren, wünschte sich der Komponist. Die Verschmelzung der beiden Ensembles zu einem einzigen, flexiblen Klangkörper gelingt beeindruckend. Wie in der Durchführung des Kopfsatzes die Spannung nachhallt und sich im durch die Stimmen jagenden Sechzehntelrausch die Reprise ankündigt – das hat Klasse! Auf ein hoch emotionales Andante und ein duftiges Scherzo folgt nach einem etwas rumpelnden Celloeinstieg ein extrem schnelles Presto-Finale, das die Virtuosität regelrecht zelebriert und trotz kleiner rhythmischer Ungenauigkeiten einen starken Eindruck hinterlässt.

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Felix Mendelssohn Bartholdy: Streichquartett Nr. 1 in Es-Dur op. 12 und Oktett in Es-Dur op. 20, Merel Quartet & Castalian String Quartet, Solo Musica SM 293

Sutermeister folgt im Wallis auf Cordonier

Der Staatsrat hat Anne-Catherine Sutermeister zur Chefin der Dienststelle für Kultur (DK) ernannt. Sie wird dieses Amt am 1. September 2020 als Nachfolgerin von Jacques Cordonier antreten, der in den Ruhestand tritt.

Anne-Catherine Sutermeister (Bild: zvg)

Anne-Catherine Sutermeister verfügt über einen Masterabschluss in Literaturwissenschaften der Universität Montpellier, einen Doktortitel der Universität Bern in Theaterwissenschaften und einen Master of Business Administration der Universität Genf mit Schwerpunkt in Personalmanagement. Zurzeit ist sie als Dozentin für Kulturmanagement an den Universitäten Genf, Lausanne und Basel sowie für Kulturvermittlung an der Hochschule für Soziale Arbeit und Pädagogik in Lausanne tätig.

Zuvor leitete Anne-Catherine Sutermeister ein Forschungs- und Lehrlabor an der Hochschule für Kunst und Design (HEAD) in Genf. Durch ihre vierjährige Erfahrung als Sektionschefin der französischsprachigen Abteilung und Adjunktin des Chefs der Dienststelle für Kultur des Kantons Bern ist sie mit dem Bereich der öffentlichen Verwaltung vertraut.

Als ehemalige Leiterin des Theaters Jorat und ehemalige Vizepräsidentin des Stiftungsrates Pro Helvetia ist sie eine bekannte Persönlichkeit in der nationalen Kulturszene. Als unabhängige Beraterin hat sie mehrere Evaluationsmandate im Kultursektor durchgeführt.

280 Millionen Soforthilfe für die Kultur

Der Bundesrat hat Massnahmen zur Abfederung wirtschaftlicher Folgen bekanntgegeben. Auch im Kulturbereich gilt es, Konkurse zu verhindern und einschneidende finanzielle Folgen abzumildern.

Anastasiia Chepinska/unsplash.com

Damit will der Bundesrat «eine dauerhafte Schädigung der Schweizer Kulturlandschaft verhindern und die kulturelle Vielfalt der Schweiz erhalten», wie er in der Medienmitteilung schreibt. Und weiter:

«Mittels Soforthilfen und Entschädigungen sollen die wirtschaftlichen Auswirkungen des Veranstaltungsverbots auf den Kultursektor (Darstellende Künste, Design, Film, Visuelle Kunst, Literatur, Musik und Museen) abgefedert werden. Er stellt dafür in einem ersten Schritt 280 Millionen Franken als erste Tranche für zwei Monate zur Verfügung. Der Bund wird in diesen zwei Monaten die weitere Entwicklung zusammen mit den Kantonen und Kulturorganisationen verfolgen. Es sind folgende Massnahmen vorgesehen:

Erstens stellt der Bund Mittel zur Verfügung, um Soforthilfen an Kulturunternehmen und Kulturschaffende zu leisten: Nicht gewinnorientierte Kulturunternehmen, zum Beispiel Stiftungen, können rückzahlbare zinslose Darlehen zur Sicherstellung ihrer Liquidität erhalten. Kulturschaffende können nicht rückzahlbare Nothilfen zur Deckung der unmittelbaren Lebenshaltungskosten beanspruchen, soweit diese nicht über die neue Entschädigung für Erwerbsausfall in Anlehnung an die Erwerbsersatzordnung sichergestellt ist. Die Abwicklung erfolgt über die Kantone (Kulturunternehmen) bzw. über Suisseculture Sociale (Kulturschaffende).

Zweitens können Kulturunternehmen und Kulturschaffende bei den Kantonen um eine Entschädigung für den namentlich mit der Absage oder der Verschiebung von Veranstaltungen bzw. mit Betriebsschliessungen verbundenen finanziellen Schaden ersuchen. Die Ausfallentschädigung deckt höchstens 80 Prozent des finanziellen Schadens. Der Bund trägt die Hälfte der Kosten, welche die Kantone zusprechen.

Drittens können Laien-Vereine in den Bereichen Musik und Theater mit einem finanziellen Beitrag für den mit der Absage oder Verschiebung von Veranstaltungen verbundenen finanziellen Schaden unterstützt werden.»
 

Zudem hat der Bundesrat Ansammlungen von mehr als fünf Personen verboten. Er verzichtet auf ein Ausgehverbot sondern setzt auf die Solidarität und die Eigenverantwortung jedes einzelnen. Wichtig sei das Verständnis der Bevölkerung für die Massnahmen. Denn sie müssen bis am 19. April eingehalten werden. Das erfordert von allen ein grosses Durchhaltevermögen.

 

Bildnachweis

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https://unsplash.com/photos/WLfG-Q_tv2A
 

«Trauerkantate»

Jeden Freitag gibts Beethoven: Zu seinem 250. Geburtstag blicken wir wöchentlich auf eines seiner Werke. Heute auf die Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II.

Ja, es gibt sie, die durch das Raster der Geschichte gefallenen Werke. Die Gründe dafür sind vielfältig: Im 20. Jahrhundert waren es oft politische Umstände, die dafür sorgten, davor spielten verschiedenste Faktoren eine Rolle: ein ausbleibender Anfangserfolg, eine ungewöhnliche Besetzung, ein missratener Text … Wenn solche Partituren unerwartet aufgefunden werden oder nach Jahrzehnten wieder zur Aufführung gelangen, dann ist oft die Rede von einer «zu Unrecht vergessenen» Komposition. Ob sie dann aber auch ins Repertoire eingeht oder wenigstens in die allgemeine Wahrnehmung rückt, das sei dahingestellt. Eine ketzerische Frage drängt sich dabei immer auf: Gibt es nicht auch «zu Recht vergessene» Kompositionen – etwa allzu frühe Jugendwerke oder gar Gelegenheitsmusiken?

Die Mechanismen des Repertoires funktionieren jedenfalls nicht nach festen Regeln. So auch bei Beethoven und seinem reichen Œuvre, von dem nicht alles gleichermassen bekannt ist – im Gegenteil: von dem noch einiges zu entdecken wäre. So auch die Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II. WoO 87 (1790), ein Auftragswerk der Bonner Lese- und Erholungsgesellschaft (die es übrigens noch heute gibt und seit 2019 auch Frauen als Mitglieder zulässt). In den alten Protokollen des Geschäftsführenden Ausschusses ist der Vorschlag nachzulesen, dass «entweder vor oder nach der Rede etwas Musikalisches aufgeführt» werden solle. Zur Darbietung der Kantate kam es indes nicht. Wie es später heisst: «aus mehreren Ursachen». Vielleicht hatte Beethoven das Werk zu umfangreich disponiert (mit einer Spieldauer von knapp einer Dreiviertelstunde), möglicherweise wurde es zu spät fertig (zwischen Auftrag und der Gedenkfeier am 19. März standen nur drei Wochen zur Verfügung), zudem hatte Kurfürst Maximilian, der Bruder des Verstorbenen und Prorektor der Gesellschaft, um eine Stille Stunde im Sinne eines Trauergottesdienstes gebeten.

Beethovens Autograf ging ungespielt verloren. Eine Abschrift tauchte erst 1884 wieder auf, und die Kantate erklang auf Anregung von Eduard Hanslick erstmals in einem Konzert der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Seither führt sie ein Schattendasein. – Zu Recht? Mit Sicherheit nicht, denn hier ist schon sehr viel vom späteren Beethoven zu hören. Keineswegs zufällig hat nämlich der Meister musikalisches Material später in anderen seiner Werke (auch im Fidelio) wiederverwendet.


Hören Sie rein!

Aargau mit neuem Kulturchef

Der Aargauer Regierungsrat hat den bisherigen Kantonsarchäologen Georg Matter zum neuen Leiter der Abteilung Kultur im Departement Bildung, Kultur und Sport (BKS) bestimmt. Er tritt die Nachfolge von Thomas Pauli-Gabi an, der zum Direktor des Bernischen Historischen Museum ernannt worden ist.

Georg Matter (Bild: zVg)

Georg Matter amtet seit Februar 2018 als Stellvertreter des Abteilungsleiters Kultur. Vor seiner Tätigkeit beim Kanton war erwährend zehn Jahren als Gründungs- und Geschäftsleitungsmitglied der Firma ProSpect GmbH in Reinach tätig.

Georg Matter hat an den Universitäten Basel und Freiburg im Breisgau (D) Ur- und Frühgeschichte, Mittelalterarchäologie und Klassischen Archäologie studiert. 2008 promovierte er am Institut d’Archéologie et des Sciences de l’Antiquité (IASA) der Universität Lausanne. 2012 absolvierte er einen CAS Zertifikatslehrgang an der Fachhochschule Nordwestschweiz zu Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre.
 

«Ausserordentliche Lage» wegen Coronavirus

Läden, Restaurants, Bars, Unterhaltungs- und Freizeitbetriebe werden vorerst bis am 19. April geschlossen. Der Kultursektor soll unterstützt werden.

Gefährdete Personengruppen sollen zuhause bleiben. Foto: Paweł Czerwiński/unsplash.com

Der Bundesrat teilt heute mit, dass er die Situation in der Schweiz neu als «ausserordentliche Lage» gemäss Epidemiengesetz einschätzt. Das bedeutet unter anderem, dass heute ab Mitternacht «öffentliche und private Veranstaltungen verboten (sind). Alle Läden, Märkte, Restaurants, Bars sowie Unterhaltungs- und Freizeitbetriebe wie Museen, Bibliotheken, Kinos, Konzert- und Theaterhäuser, Sportzentren, Schwimmbäder und Skigebiete werden geschlossen.» (…) «Die Versorgung der gesamten Bevölkerung mit Lebensmitteln, Medikamenten und Waren des täglichen Gebrauchs ist sichergestellt.» Ebenso bleiben die Schulen bis am 19. April geschlossen.

Die aktuelle Medienmitteilung kann hier eingesehen werden:

https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-78454.html
 

Kulturbereich

Bereits am Freitag, 13. März, hat der Bundesrat Unterstützung für den Sport- und Kultursektor zugesagt: «Für den Kulturbereich will der Bundesrat ebenfalls zusätzliche Mittel bereitstellen. Das EDI erarbeitet im dringlichen Verfahren eine befristete Gesetzesvorlage für zusätzliche wirtschaftliche Massnahmen, die ergänzend zu anderen Instrumenten zur Abfederung von Härtefällen im Kulturbereich eingesetzt werden können. Damit will der Bundesrat verhindern, dass wiederkehrende kulturelle Anlässe in ihrer Existenz bedroht sind, und insbesondere selbständig erwerbende sowie freischaffende Kulturschaffende in Notsituationen unterstützen. Im Rahmen der Erarbeitung des Gesetzes soll auch geprüft werden, wie die Kantone als Zuständige für den Kulturbereich in die Finanzierung einbezogen werden können.»

Wie genau diese Unterstützung aussieht, wird erarbeitet. Der Bundesrat ist bestrebt, rasch konkrete Lösungen zu finden.

 

Was die Kulturbotschaft 2021–2024 bringen kann

Im Mittelpunkt der jüngsten Veranstaltung der Parlamentarischen Gruppe Musik stand die neue Kulturbotschaft – trotz der aktuellen grossen Herausforderung des Musiksektors durch Covid-19.

Das Bundeshaus in Bern, wo das Parlament tagt. Foto: Claudio Schwarz | @purzlbaum on Unsplash

Auf dem Programm des März-Treffens der Parlamentarischen Gruppe Musik standen: Erläuterungen zur neuen Kulturbotschaft 2021–2024. Business as usual, hätte man sich denken können. Dennoch fanden sich im Saal der Berner Schmiedstube noch nie so viele Verbandsvertreter und auch Mitglieder von National- und Ständerat ein wie diesmal. Es war offensichtlich: Es gab einen Elefanten im Raum – den wegen des Coronavirus erzwungenen Stillstand des Kulturbetriebes, der Veranstalter, freie Musiker, Technikerinnen, Konzertlogistiker und Ticketanbieterinnen in Existenznöte bringt. Nach den Präsentationen des Bundesamtes für Kultur (BAK) und von Pro Helvetia zur Kulturstrategie der kommenden vier Jahre gab es denn auch emotionale Voten, mit dringenden Appellen an die Räte, Lösungen zu finden, um den sich abzeichnenden verheerenden wirtschaftlichen Schaden für die Musikbranche zu begrenzen.

Pro-Helvetia-Direktor Philippe Bischof sah sich genötigt, die Anwesenden zu mahnen, die Themen nicht zu vermischen. Und tatsächlich gibt es zur nationalen Kulturpolitik im Grunde genommen Erfreuliches zu berichten. Der Bundesrat will die Ausgaben erneut erhöhen. Wo dabei mit Blick auf die Musik die Schwerpunkte liegen, erläuterte für das BAK David Vitali, dessen Leiter der Sektion Kultur und Gesellschaft.

Musikalische Bildung

Da ist zunächst das mit der letzten Botschaft gestartete Programm Jugend+Musik (J+M). Nach einer ermutigenden Evaluation soll die Ausbildung der J+M-Leiter «inhaltlich justiert» und die Zertifizierung in die Studiengänge für Musiklehrpersonen an den Musikhochschulen integriert werden. Eine Datenbank soll Informationen zu Programm und Kursleitenden transparent zugänglich machen. Ausgebaut werden sollen auch die Leistungs- und Wirkungsmessungen. Ab 2022 plant der Bund überdies, auch ein eigenes Programm zur Begabtenförderung anzubieten, mit dem pro Jahr rund 1000 Talente erfasst werden können. Den Kern soll eine «Talentkarte Musik» bilden, die «den Zugang zu geeigneten (kantonalen) Förderangeboten ermöglicht». Die Idee einer Talentkarte sei, laut Vitali, in der Vernehmlassung allerdings nicht überall auf Wohlwollen gestossen. Deshalb soll nun vorerst von Bund, Kantonen und weiteren Involvierten partnerschaftlich ein Rahmenkonzept erarbeitet werden.

Im Fokus des Bundes seien, so Vitali weiter, zudem die Musikschultarife. Das Ziel bleibe ein «chancengerechter Zugang für alle Kinder und Jugendlichen zu musikalischer Bildung». Eine auch hier realisierte Evaluation hat ergeben, dass die Tarifdifferenzen für Erwachsene und Jugendliche innerhalb der Bildungsregionen signifikant unterschiedlich sind. Rund ein Achtel der Musikschulen kennt keine subventionierten Tarife bis Abschluss Sek II, rund zwei Drittel keine einkommensabhängige Tarifstruktur und über die Hälfte keine erweiterten subventionierten Angebote für Begabte. Seit 2016 habe sich diese Situation kaum geändert, räumte Vitali ein. Die Vorschläge des Bundesrates, wie dem beizukommen wäre, bleiben dabei noch recht vage: Er will die Musikschulträger weiter für das Thema sensibilisieren und erneut evaluieren.

Massnahmen für Musikschaffende

Über die nahe Zukunft der nationalen Kulturstiftung Pro Helvetia informierten deren Direktor Philippe Bischof und der Abteilungsleiter Musik Andri Hardmeier. Laut Bischof will die Kulturstiftung gezielter darauf hinarbeiten, dass Finanzhilfen verstärkt mit fairer Entlöhnung der Kulturschaffenden verknüpft werden. Auch die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen möchte Pro Helvetia fördern. Zudem sollen Anstrengungen unternommen werden, um eine solide Kulturwirtschaftsstatistik aufzubauen.

Die Kulturstiftung wolle, erklärte Andri Hardmeier, der Tatsache Rechnung tragen, dass sich Kunst- und Kulturformen immer schneller wandelten und vermischten. Formate, die dem bisher im Musikbereich angewandten Werkbegriff nicht entsprechen, sollen künftig im Rahmen der Werkförderung besser berücksichtigt werden. Hardmeier erwähnte etwa ortsspezifische oder kollektive Arbeiten, Klanginstallationen und Klangkunst oder multimediale Werke. Auch die Förderung des Musiktheaters soll «konsolidiert und weiterentwickelt» werden. Ein Anliegen ist Pro Helvetia zudem die kantonsübergreifende und internationale Verbreitung neuer Werke.

Dem Schweizer Musikrat genügt dies noch nicht. Er wünscht sich, wie er in einer Stellungnahme schreibt, «die Erarbeitung von längerfristigen Entwicklungsstrategien für die drei Genres Volksmusik, Aktuelle Musik (Pop, Rock, Jazz, Neue klassische Musik) und Klassische Musik». Als Vorbild dienen könnte dabei etwa die deutsche Initiative Musik gGmbH oder die European Agenda of Music (EAM) des Europäischen Musikrates. Überdies anerkennt der Musikrat zwar, dass die Sichtbarkeit der Schweizer Musik im Ausland teils «substanziell verbessert werden konnte», der Musikexport werde von seinen Mitgliedern aber als zu zersplittert und damit zu wenig schlagkräftig wahrgenommen. Um die Wirksamkeit zu verbessern, müsse der Export aus Sicht des Musiksektors koordinierter und mit mehr Mitteln erfolgen.

Der Schweizer Kultursektor steht zusammen

Der Kultur- und Veranstaltungssektor hat sich in Bern mit dem Bundesamt für Kultur und Pro Helvetia getroffen. Er erwartet rasche und griffige Massnahmen wegen Covid-19.

PM/SMZ

In einer Medienmitteilung teilt der Schweizer Musikrat mit Sonart – Musikschaffende Schweiz und vielen andern Verbänden mit, der Kultur- und Versammlungssektor zeige sich «erfreut über den konstruktiven Austausch mit den Bundesbehörden» am 12. März.

Gemeinsames Ziel sei, die vielfältige Schweizer Kulturlandschaft sowie ihre Orte, Veranstalter und Arbeitsplätze zu erhalten. Dafür müssten und wollten alle Akteurinnen und Akteure am gleichen Strick ziehen. Schnell greifende Massnahmen seien nötig, um Schäden wegen der «Coronakrise» zu verhindern oder zumindest abzumildern, die die Branche im Speziellen, aber auch die wirtschaftliche Entwicklung des ganzen Landes nachhaltig treffen können.

Die Forderungen lauten:

«1. Temporäre ALV im Kulturbereich für Selbstständigerwerbende und alle, bei denen die Kurzarbeit jetzt nicht greifen würde (z.B. EinzelunternehmerInnen, Freischaffende, Geschäftsleitungen, InhaberInnen sowie TeilhaberInnen)
2. Unkomplizierter Zugang zu Kurzarbeit für alle KMU im Bereich Kultur
3. Kompensation für ausgefallene Veranstaltungen, inkl. Künstlerentschädigung
4. Notfallkasse für existentiell bedrohte Kulturschaffende und -Betriebe
5. Öffentliche Gelder in Kultur müssen weiterfliessen, Kulturförderer (auch private) sollen sich koordinieren
6. Weiterhin direkter Einbezug der Organisationen von Kulturschaffenden und VeranstalterInnen bei Ausgestaltung und Umsetzung der konkreten Massnahmen»

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